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Alfred Sanktjohanser ist beunruhigt, denn seine Lehrbrauerei »Sternbräu« soll an ein norddeutsches Molkerei-Imperium veräußert werden. Kurz vor dem Abschluss des Geschäfts wird der Inhaber der Molkerei jedoch tot an der Bavaria aufgefunden. Weil sie auch um ihr eigenes Leben fürchtet, bittet dessen Frau Regula den Sanktus um Personenschutz. Als sich der kaufmännische Leiter der Molkerei auch noch als der leibliche Vater seiner Stieftochter Martina herausstellt, ist das Chaos für den Sanktus perfekt …
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Seitenzahl: 314
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Andreas Schröfl
Schankschluss
Bierkrimi
Letzte Runde „Sanktus, ich werde bedroht!“, keucht Regula von Kessel-Wullmsdorff, Erbin eines Molkerei-Imperiums und neuerdings Käuferin der Münchner Sternbrauerei. Da sie einen Anschlag auf ihr Leben vermutet, bittet sie Alfred Sanktjohanser darum, sie auf der Feier ihres 50. Geburtstags zu beschützen. Der Sanktus sagt zu, da sich Regulas Geschäftspartner Thore als leiblicher Vater seiner Stieftochter Martina entpuppt und sowohl seine Frau Kathi als auch seine Kinder Martina und Schorschi an dem Fest teilnehmen werden. Kurz zuvor war Regulas Ehemann tot an der Bavaria aufgefunden worden. Gemeinsam mit Kommissarin Schranner will der Sanktus dessen Tod aufklären. Doch auch sein Privatleben fordert ihn, denn der Haussegen hängt nach dem Eintritt des neuen Kindsvaters in das Familienleben mehr als schief. Eine irre Woche beginnt. Wird es dem Sanktus gelingen, den Fall zu entwirren?
Andreas Schröfl, 1975 in München geboren und aufgewachsen, erlernte das Handwerk des Brauers und Mälzers in einer Münchner Großbrauerei. Anschließend studierte er an der Universität Weihenstephan und arbeitete fünf Jahre als Braumeister in einer bayerischen Brauerei. Andreas Schröfl lebt mit seiner Familie in einem Dorf am Rande der Hallertau. Die Sanktus-Bier- und München-Krimis vereinigen seine Liebe zum Beruf, die Verbundenheit mit München und der bayerischen Tradition sowie seine langjährige Leidenschaft für Kriminalromane.
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Master1305 / shutterstock.com
ISBN 978-3-8392-7520-7
Für meine Resi. Mi vida, mi amor.
Alfred Sanktjohanser, der »Sanktus«, Bierbrauer und Hobbydetektiv
Familie:
Kathi, seine Frau, Programmiererin, ruhender Gegenpol zu ihrem Mann
Martina, Kathis Tochter, inzwischen fast volljährig
Schorschi, Sanktus’ und Kathis Sohn, ein quirliger kleiner Mann
Der alte Sanktjohanser, Sanktus’ Vater, Familienoberhaupt, oft anstrengend
Sanktus’ Freunde und Ermittler:
Quirin Himsl, der »Graffiti«, Sanktus’ Jugendfreund und zwielichtiger Geschäftsmann, sehr gut aussehend, Bazi
Schlauch-Gernot, Bierbrauer im Gärkeller, cholerisch
Malte Rosen, der »Piefke«, Biersieder im Sudhaus, Erbsenzähler
Giovanni, inzwischen Bierbrauer, aufbrausend
Helmut Ehrensberger, Brauer im Flaschenkeller, ruhig, besonnen
Andreas Fischhuber, der »Haferl«, neunmalklug, der »Neue« bei den Brauern
Bhuphinder Singh, Inder, Wirt und Koch im Stammlokal Neue Kirche, katastrophaler Autofahrer
Ashwini, seine Nichte, Bedienung in der Neuen Kirche, trägt Sari, Schönheit
Hanspeter Häberle, Mitinhaber der Haidhauser Bierwerkel, Bierbrauer, gemütlicher Schwabe
Doktor Jens Engler, der »Drengler«, Steuerberater und Bekannter, Preuße, Schicki-Micki und Gschaftlhuber
Die Polizei:
Bine Schranner, junge Kommissarin, hat alles im Griff
Rudi Bergmann, amtierender Kommissar, Franke, alter Freund von Sanktus, Pfundskerl
Charlie Burgmaier, Polizist, Sanktus’ langjähriger Feind
Lenz Hofer, Polizist, Handlager von Burgmaier
Holger Brinkmann, Gerichtsmediziner, Quotenpreuße
Graffitis Handlanger
Murat, Nikos, Pröbstl, Binser
Weitere
Reinhard Wullmsdorff, »Puddingbaron«, Inhaber eines Molkereiimperiums
Regula von Kessel-Wullmsdorff, seine Frau
Emil Vesely, Arzt
Karolina Vesely, seine Frau
Alexandra Vesely, deren Nichte
Sieglinde Neureuther, Anwältin
Ronny Merkel, ihr Mann
Thore Mommsen, kaufmännischer Leiter der Molkereiwerke
Franz-Xaver Stern, Brauereibesitzer
Maricruz Santiago, Haushälterin bei Mommsen
Theo Wullmsdorff, Reinhards Bruder
Freya Wullmsdorff, seine Frau
Jürgen Wullmsdorff, deren Sohn
Wenn Leute behaupten, ihnen sei es ums Herz schwer, beschreiben sie den immensen Druck, der sich im Brustkorb ausbreitet, wenn du kurz nicht mehr weiter weißt. Der Druck schnürt sich nach unten ab, breitet sich jedoch auch nach oben in Richtung Schädel aus, wo er dir »en passant« die Kehle zuzieht. Du kannst nicht mehr schlucken, und dein Rachen sowie die Nebenhöhlen drohen zu zerplatzen. Der einzige Ausweg wäre ein ad hoc Druckabbau über die Tränendrüsen, aber du bist gerade nicht imstande zu weinen.
Samstagabend, Sauwetter. Langsam sieht der Sanktus am Eingang des großen Brauereitors nach oben und betrachtet das Wappen der Sternbrauerei. Ein kurzes Gefühl der Wärme vergangener Zeiten keimt in ihm auf. Hier hat er seine Lehre zum Brauer und Mälzer gemacht, seine Kathi zum ersten Mal getroffen, Mörder gesucht und viele Jahre seines Lebens verbracht.
Der Regen prasselt auf sein Gesicht. Sein Blick ist verschwommen, und er fühlt den Anflug eines Schwindels in seinem Kopf. Da hilft die kühlende Wirkung der Tropfen auch nichts mehr. Der Druck ist da. Schon die ganze Zeit. Schnell blickt er wieder geradeaus, muss sich jedoch kurz an der Mauer der Toreinfahrt festhalten. Sein Atem riecht nach Whisky. Ob es irischer oder schottischer war, weiß er nicht mehr. Ist auch nicht von Belang. Uninteressant.
Langsam nähert er sich der Gittertür und schafft es dann beim dritten Anlauf, den Schlüssel ins Schloss zu platzieren und aufzuschließen.
Schlurfend nimmt er den Weg zum Sudhaus auf. Diese Stimme. Er hat immer noch diese Stimme im Ohr. Diese Stimme, die ihm genaue Anweisung gegeben hat, was nun zu tun sei. Martina! Mein großes Mädchen. Wie hat alles so weit kommen können? Er hat versagt.
Nun sieht der Sanktus am hohen Malzturm entlang nach oben, öffnet dann die große Glastür rechts im Gebäude daneben, torkelt die breite Treppe hinauf zum Sudhaus und schleicht durch die beleuchtete Schaltwarte zum Kühlschrank in das dahinter liegende Biersiederkammerl. Niemand ist in der Brauerei, denn es ist Wochenende. Er öffnet den Kühlschrank. Das Licht des Geräts blendet ihn, und er schreckt fast zurück. Ein schneidender Schmerz durchfährt sein Hirn.
Aha, Stern Dunkel. Bravo. Dunkel passt. Dunkles Bier für dunkle Stunden.
Mit der Flasche in der Hand steigt er nun die zahlreichen Stufen des Treppenhauses zur oberen Plattform des Malzturms hinauf. Zwischendrin muss er völlig außer Atem rasten. Erst jetzt fällt ihm auf, dass er pitschnass ist.
Oben, im Freien angekommen, lässt er seinen Blick über München schweifen. München, seine Stadt, die ihm alles gegeben und jetzt alles genommen hat. Er setzt sich auf den Betonboden und öffnet die Bierflasche.
Völlig irr. Wahnsinn kein Ausdruck, und der Sanktus mittendrin. Eigentlich hätte er es ja wissen müssen, wie dieser Hanswurst aufgetaucht ist, dieser falsche Fuffziger, also dieser Judas.
Wenn einer schon Thore heißt. Thore, verstehst du? Thore Mommsen. Da hätte man es doch schon wissen können, dass das schiefgeht. Und dann ist dieser Idiot auch noch der leibliche Vater von der Martina, also von seiner Stieftochter. Dolchstoß kein Ausdruck! Der Sanktus hätte die Wände hochgehen können, so geladen war er.
Frage: Wie hatte sich die Kathi denn seinerzeit vor 18 Jahren diesem Volldeppen hingeben können? Und auch noch schwanger werden? Von dem? Die Antwort hat der Sanktus nicht geben können, denn a) überhaupt unerklärbar, und b) hat es nur die Kathi gewusst, und die hat gerade so eine Wut auf ihn gehabt, dass sie nicht mehr mit ihm gesprochen hat. Wie du siehst, sind die Sterne nicht gut über dem Sanktus-Himmel gestanden, und der Haussegen praktisch schief kein Ausdruck.
Der Sanktus hatte schon immer seine Wickel mit seiner Frau gehabt, vor allem, wenn ihn sein Ermittler-Gen in der Vergangenheit zu sämtlichen ungeklärten Morden Münchens hingezogen hatte. Aber da war das logisch, weil die Kathi einfach nur Angst um ihn gehabt hat. Um ihn und ihre Familie, also die Martina und den Schorschi, seinen leiblichen Buben. Mütterliche Instinkte praktisch Anfänger.
Aber dieses Mal war es anders. Sie war richtig stinkig auf ihn und mit den beiden Kindern zum Thore auf sein Anwesen in Planegg gefahren, um die Allerheiligenferien dort zu verbringen. Allein wie dieser Kasperl schon Planegg gesagt hat seinerzeit, also Plan-egg, mit langgezogenem »a«, hätten beim Sanktus schon alle Alarmsirenen losgehen müssen. Da hätte er schon aufschrecken müssen. Aber mei, bist du halt erst einmal so freundlich, wie’s geht, weil der leibliche Vater deiner Stieftochter kommt ja nicht alle Tage des Weges, und man will dem Kind ja den Erzeuger nicht vorenthalten. Da kann man ja nicht draufkommen, dass es sich anscheinend um einen Don Juan oder Casanova handelt, der seine Verflossene wieder einsammeln will, oder was auch immer. Und der Sanktus hätte sich auch nie gedacht, dass die Kathi da drauf anspringt. Auf diesen plumpen Anbiederungsschnickschnack. Grad die Kathi … Hältst du nicht für möglich? Nicht, gell! Es ist aber auch nicht von der Hand zu weisen, dass sie der Sanktus in diese Ecke hineingedrängt hat, mit seiner Eifersucht und Hetzerei gegen dieses Individuum. Und wahrscheinlich hat dann sein Seitensprung das Übrige dazu getan.
Doch heute war sein Tag gekommen, denn Regula von Kessel-Wullmsdorff, die Retterin der Sternbrauerei, hatte seine Hilfe angefordert. Und über diesen Einsatz hat er der Kathi und seinen Kindern auf einmal ganz nahe sein können.
Jetzt fragst du mit Recht, ja, wie ist denn das alles passiert? Und wie hat es so weit kommen können?
Angefangen hat es mit diesen beiden komischen Selbstmorden, und wie die Schranner Bine und Sanktus’ Brauerspezl am selben Tag in die Haidhauser Bierwerkel sozusagen eingefallen waren.
Der ältere Herr keucht atemlos. Er hat Schweiß auf der Stirn, und es ist offensichtlich, dass es ihm nicht gut geht. Alles in allem macht er einen gehetzten Eindruck, und dem aufmerksamen Münchner sollte auffallen, dass der Mann beim Gehen leicht schlingert und sich immer wieder mit einer Hand an die Stelle seines Kamelhaarmantels greift, unter der sich sein Herz befindet. Doch diesen aufmerksamen Münchner gibt es in der heutigen singulären Großstadtgesellschaft nicht mehr. Er ist nur noch mit sich selbst und seinem schwarzen Kasterl in der Hand beschäftigt, und es verwundert, dass eigentlich nicht mehr Unfälle im Straßenverkehr passieren, da niemand mehr seine Umgebung und seine Mitmenschen wahrnimmt.
Mit der zweiten Hand versucht der Herr, der durchaus einen vornehmen Eindruck in Richtung Bogenhausen oder gar Grünwald macht, einen kleinen Stöpsel, der mit seinem Mobiltelefon verbunden ist, in seinem Ohr zu behalten. Zwischendurch blickt er, als wäre er unter gewaltigem Druck, um sich, und es hat den Eindruck, als ob er sich verfolgt fühlt.
Doch er kann noch so oft den Zwischengeschossbereich der U-Bahnhaltestelle Odeonsplatz absuchen, er wird seinen Verfolger nicht erkennen, da zu viele Leute unterwegs sind.
Zügig marschiert der Herr in Richtung Rolltreppe und beginnt die Abfahrt zum Bahnsteig der U4/U5.
Unten angekommen, wendet er sich zum Bahnsteig in Richtung Karlsplatz/Stachus und hastet, so gut es sein Alter zulässt, zum hinteren Drittel, wo sich weniger Leute befinden. Er blickt abermals nervös um sich, doch er scheint nichts zu erkennen. Die Anzeigetafel vermeldet die einfahrende U-Bahn in Richtung Laimer Platz in zwei Minuten.
Eine junge Frau im esoterisch angehauchten Outfit, die mit ihrem Kinderwagen auf die U-Bahn wartet, ist die Erste, der das Verhalten des Mannes merkwürdig vorkommt. Sie kann nicht genau sagen warum. Ist es sein schlingernder Gang oder sein ängstliches Umhersuchen? Hat sie unbewusst die Schweißtropfen auf seiner Stirn wahrgenommen, als er gerade an ihr vorbeiging? Sie kann es nicht genau beurteilen. Sie hat einfach die Gabe, Menschen, die etwas bedrückt, zu identifizieren. Und dieser vornehme ältere Herr hatte einen riesigen Ballast auf seiner Seele. Da war sie sich ganz sicher.
Der Herr drückt nun den kleinen Kopfhörer zitternd und doch vehement in sein Ohr und macht den Eindruck, als würde er angespannt lauschen. Plötzlich scheint ihn ein Blitz zu durchfahren, und er geht für eine fast unmerkliche Sekunde in die Knie.
Genau in dem Moment, als die junge Frau auf ihn zugehen und sich um sein Befinden erkundigen will, erscheinen die Lichter der einfahrenden U-Bahn im Tunnel. Sie will ihm zurufen, ob es ihm nicht gut gehe, aber das Geräusch des weiß-blauen Untergrundzuges wird immer lauter, und sie spürt den aufkommenden Wind, der durch das Luftpolster, das der Waggon vor sich herschiebt, ausgelöst wird. Der Herr sieht ihr kurz in die Augen, und sie meint zu erkennen, dass er ihr zunickt.
Dann scheint er all seine Kraft zusammenzunehmen, läuft in Richtung Bahnsteigkante und lässt sich fallen. Das Quietschen der U-Bahnbremsen ist zu hören und wird kurz darauf von dem losbrechenden Tumult auf dem Bahnsteig abgelöst.
Die Dame in den 60ern, ihres Zeichens erfolgreiche Rechtsanwältin, sieht im Minutenabstand auf ihr Handy, doch der erwartete Anruf ist bisher ausgeblieben. Sie versucht, das mittelmäßige Charity-Galadiner, das in diesem Hotel zugunsten Obdachloser serviert wird, so gut es geht zu genießen und nicht an ihr bevorstehendes Ende zu denken. Ihr Tischnachbar, ein in die Jahre gekommener verkalkter Professor, scheint, den zweiten Frühling entdeckt zu haben und versucht, sich ihr auf plumpeste Weise anzunähern. Sie bewahrt die Contenance und beschränkt sich auf Small Talk und ein Anstoßen von Zeit zu Zeit.
Ihr Tischnachbar passt zum Gesamtniveau der Veranstaltung. Die Zusammenstellung des Menus war lieblos, der Kaviar eine Frechheit, das Roastbeef trocken, und die Meeresfrüchte schmecken nach altem Brackwasser. Nur der Champagner ist in Ordnung, was ihre Henkersmahlzeit ein wenig aufpeppt. Handelt es sich hier um späte Rache, ist ihr Gedanke, oder warum quält man sie mit dieser Mittelmäßigkeit?
Plötzlich leuchtet ihr Handy auf, und sie steckt sich den kleinen Kopfhörer in ihr Ohr. Die Anweisung ist klar und deutlich.
Sie entschuldigt sich kurz beim Professor, nimmt seine Hand von ihrem Oberschenkel und begibt sich aus dem Speisesaal hinaus zur Rezeption in der Hotellobby.
Dort angekommen, nennt sie ihren Namen und erhält eine Schlüsselkarte zu einem Zimmer im vorletzten Stockwerk des Hochhauses. Das Mobiltelefon ist nun stumm.
Sie fährt mit dem Aufzug nach oben und versucht, das junge Pärchen, das sich auf unterster Schubladenebene piesackt, auszublenden, obwohl der Mann äußerst attraktiv ist und sie sich wundert, was er an der landpomeranzenartigen Frau wohl finden mag. Sie wirft dem Mann einen strafenden Blick zu, woraufhin dieser verstummt.
Langsam nähert sie sich nun ihrem auf der Hülle der Schlüsselkarte ausgewiesenen Zimmer, steckt die Karte in den dafür vorgesehenen Schlitz des Türschlosses und öffnet. Sie bemerkt sofort den Luftzug, der ihr entgegenweht. Es liegt daran, dass das Zimmerfenster geöffnet ist. Ein Phänomen, das in den Räumen der höheren Hoteletagen aus Sicherheitsgründen normalerweise nicht auftritt. Langsam beginnt sie zu verstehen.
Sie sieht sich um, entdeckt jedoch keine Kamera im Zimmer, ist sich aber sicher, dass jeder ihrer Schritte beobachtet wird. Auf dem Tisch befinden sich eine Flasche eisgekühlter Champagner und ein einziges Glas. Sie öffnet den Schaumwein, schenkt ein und trinkt heftig zitternd schnell drei Gläser hintereinander, bis sie aufgrund des sich aufbauenden Kohlensäuredrucks in ihrer Speiseröhre aufgeben muss. Ein lang gezogener Rülpser entweicht ihr. Sie muss fast lachen. Früher wäre ihr so etwas nie passiert.
»Scheiß drauf«, ist alles, war ihr einfällt. Sie setzt die Flasche direkt an den Mund und versucht, sich für das Bevorstehende weiter Mut anzutrinken.
Als sie die Flasche fast geschafft hat, macht sich das Telefon wieder bemerkbar, und sie lauscht gewissenhaft. Tränen laufen ihr nun die Wangen hinab, und sie ballt vor Wut und Wehmut eine Hand zur Faust. Am Ende der Anweisung nickt sie, steckt das Telefon in die Jacke, die sie über ihrem Abendkleid trägt, schlüpft aus ihren roten Pumps, stellt den Stuhl des kleinen Hotelschreibtischs zum offenen Fenster und steigt darauf. Kurz verliert sie fast das Gleichgewicht, da der Champagner bereits zu wirken begonnen hat. Sie sieht noch einmal auf ihr Handy und versucht einen klaren, abschließenden Gedanken zu fassen, doch der Alkohol, den sie schon im Blut hat, versagt es ihr.
Sie nimmt einen tiefen Atemzug der kühlen Herbstbrise, blickt noch einmal auf die bunten, glitzernden Lichter Münchens und stößt sich vom Stuhl ab.
Es war ein milder Frühherbsttag und du hast noch im Freien sitzen können, sprich, den Bayern und im Speziellen den Münchner hat es in die freie Natur gezogen. Bei solch einem Wetter hat er »’naus müssen«, sprich in den Biergarten, um die letzten Sonnenstrahlen des Jahres bei einer Maß, gegebenenfalls auch mehr, zu tanken.
So war auch der Hinterhof der Haidhauser Bierwerkel, die der Häberle Hanspeter und der Sanktus betrieben haben, gut besucht. Der Hanspeter hatte inzwischen seinen Job beim Sternbräu aufgegeben und sich rein ihrem Craftbier-Shop mit hauseigener Brauerei zugewandt, da der Verkauf ab Rampe nicht enden wollte. Der Münchner an sich ist anscheinend immer noch auf ein spezielles Bier als Kontrapost zum omnipräsenten Hellen gestanden, und das war gut so.
Die Prognosen hatten der allgemeinen Craftbier-Welle ein abruptes Ende und die Rückkehr zu traditionellen Sorten vorhergesagt, doch die Nachfrage nach bierigen Spezialitäten war bis dato nicht abgebrochen, und die Bierwerkel ist besser dagestanden als je zuvor. Klar, das ganz exotische Super-Duper-Imperial-Stout-angehauchte Session-IPA hat Federn lassen müssen, aber der Wunsch nach Bieren aus kleinen Start-ups war immer noch da, was auch der fulminante Start der Giesinger Brauerei gezeigt hatte.
Heute wurde vor allem das Haidhauser Märzen, ein traditionelles Märzenbier mit einem Schuss Cara Red Malz, ausgeschenkt, das dem Bier im Sonnenlicht eine wohlig-warme rötliche Farbe gegeben hat. Angelehnt an die Farben des Herbstes. Indian Summer zentraler Ausdruck. War natürlich Hanspeters Idee, der sozusagen der »Créateur de la Bière« war. Den Geschmack hatte er mit einem Hauch aus Islay-Whisky-Malz verstärkt. Nur so viel, dass es niemandem aufgefallen ist, der süße Märzengeschmack jedoch einen minimal rauchigen Konterpart hatte. Unterstrichen hat das Ganze die Vollmundigkeit einer Stammwürze von 13,5 Prozent und circa sechs Prozent Alkohol. Der Sanktus hätte sich in das Gebräu hineinsetzen können, so gut hat es ihm geschmeckt.
Der Hanspeter hatte den Biergarten im Griff, und der Sanktus war gerade, angestachelt vom Rauchmalz des Märzens, dabei, einen dunklen Bock mit genau dieser Zutat zu brauen. Dieses Mal jedoch in stärkerer Ausprägung. Er würde das Bier Smokey King Ludwig taufen. Die Idee hatte er sich in einer Brauerei in Hallerndorf in der Nähe von Forchheim in Franken geholt. Allein im Duft der Maische und der Würze hätte er Sunden verbringen können, und er ist sich vorgekommen wir der Jean-Baptiste Grenouille aus dem Roman Das Parfum, der immerzu jeden Geruch in sich aufsaugt. So ist er mit geschlossenen Augen und ausgestreckten Armen vor der Würzepfanne gestanden und hat das rauchige Aroma eingeatmet, als fünf Gestalten mit Zeter und Mordio in die kleine Brauerei eingefallen sind. Seine Brauerfreunde der Sternbrauerei in vollem Elan!
»Hast es schon ghört, Sanktus?«, hat der Schlauch-Gernot mit vollem Organ geplärrt. »Die sperren uns zua. Oder mia machen in Zukunft Joghurt!«
Dann hat er fest durchschnaufen müssen und ist fast in sich zusammengesackt.
Den Sanktus hat es vehement aus seinem Traum von einer schottischen Insel, an deren rauer Küste sich die Wellen bei Wind und Wetter brechen, gerissen, er hat die Augen gerollt und sich mit beiden Händen an sein Herz gelangt.
»Schlau, sag a mal, spinnst du?«, hat er geschrien. »Willst du mi umbringen, oder was?«
»Naa, weil ich mich jetzt dann selber umbring«, hat der Schlauch-Gernot gerufen. »Weil des is mein End! So schaut’s aus!«
»Er übertreibt wieder, wieder«, hat der Ehrensberger Helmut, das letzte Wort, wie immer wiederholend, beschwichtigt und den Kopf geschüttelt.
»So reagiert er gerne, der gemeine Bayer, nöch«, hat der Piefke, also der Malte Rosen, bestätigt. »Und da wollten sie mal wieder Bundeskanzler werden. Konnte ja nur schiefgehen.«
Jetzt hat er überheblich grinsend mit der rechten Hand abgewinkt. Völlig überzogene Hybris sozusagen, dieses Bergvolk hier, sein Ausdruck.
»Ja genau«, hat der Schlauch-Gernot fast geplärrt. »Wär immer no besser als euer Hamperer da g’wesen …«
»Bei unse in Italia«, hat der Giovanni, der inzwischen die Prüfung zum Brauer und Mälzer abgelegt und das ewige Tankwaschen im Lagerkeller hinter sich gelassen hatte, angefangen und schlagartig abgelassen, da der Sanktus die Hand gehoben hatte.
»Stooooooppp!«, hat er gerufen, denn vom unerwarteten Überfall zum Politisieren in zwei Minuten war einfach zu viel für ihn. »Ihr setzts euch jetzt raus in den Verkostungsraum«, den Biergartengästen wollte er diese Hanswurstendelegation nicht zumuten, »lassts euch vom Hanspeter ein Märzen einschenken, und ich komm dann zu euch, wenn die Würzekühlung läuft. Verstanden?«
Einstimmiges Nicken, und nun ist dem Sanktus erst aufgefallen, dass zum ersten Mal ein fünfter Brauer dabei war. Er war etwas kleiner als der Sanktus, hatte einen Ansatz zum Bierbauch, dunkelbraune, wirr abstehende Haare und einen Vollbart. Auffallend waren seine großen, hervorstechenden Augen, die ihm das Aussehen eines Fischs im Aquarium gegeben haben.
»Halt!«, hat der Sanktus gerufen. »Wer bist na du?«
Der neue Brauer ist schlagartig stehen geblieben, so als ob ihn der Blitz getroffen hätte, hat sich ruckartig um 180 Grad gedreht, hat die Hand vorgestreckt und ist auf den Sanktus im Stechschritt zugekommen. Sein Gang hat den Sanktus an eine Henne erinnert, weil er mit dem Kopf nach jedem Schritt ein bisserl nach vorne gezuckt ist.
»Fischhuber, Andreas, Filterkeller«, ist es, wie aus der Pistole geschossen, gekommen, »also Andi. Fischhuber, Andi. Grüß Gott, Herr Sanktus. Hab schon viel von Ihnen gehört.«
»Eigentlich müsst er Gschaftlhuber heißen, beziehungsweise Gscheithaferl«, hat der Schlauch-Gernot aus dem Türrahmen zum Verkostungsraum gerufen.
»Drum heißt er bei uns ›der Haferl‹, Haferl«, hat der Ehrensberger aufgeklärt.
»Cool«, hat der Sanktus gemeint. »Der, mein ich, ist euch grad noch abgegangen.«
Und jetzt seids aufgestiegen zum Deppen-Quintett, hat er sich gedacht und schmunzeln müssen.
Als der Sanktus nach einer guten halben Stunde, er hatte sich extra Zeit gelassen, in den Verkostungsraum gekommen ist, war die Stimmung schon bierselig, da die fünf Brauer bereits beim dritten Märzen waren. Natürlich Halbe, sonst wäre es komplett aus dem Ruder gelaufen.
Genau in dem Moment, als sich der Sanktus zu den Brauern setzen wollte, ist der alte Sanktjohanser, Sanktus’ Vater, vom Biergarten her in die Werkel hereingekommen.
»Servus, Buben«, hat er gemeint. »Griaß di, Fredi. Wollt nur vorbeischauen. Der Garten ist guad voll. Soll ich a Zeitl zapfen? Du hast ja schließlich hohen Besuch.«
Dabei hat er auf das Quintett gezeigt und gelächelt.
»Passt wia d’ Faust aufs Aug’, Papa. Danke«, hat der Sanktus geantwortet. »’s Rauchbier hab ich grad beim Anstellen. Wird a Traum!«
Der alte Sanktjohanser hat die Augenbrauen gehoben und versucht, einen gespannten Eindruck zu machen.
»Wern ma sehen, Bua. Wern ma sehen«, hat er geantwortet und irgendetwas von einem modernen Schmarren gemurmelt.
Der Sanktus hat sich selbst ein Märzen geholt und sich nun zu den anderen gesetzt.
»Also, legts los! Was gibt’s? Wer sperrt zu?«
Und wie du die Brauer kennst, haben nun alle zusammen losgelegt, wobei der Schlauch-Gernot und der Giovanni, wie immer, am lautesten geplärrt haben und du somit kein Wort verstanden hast. Halt, Worte ja, sprich Wortfetzen, aber Zusammenhang chancenlos kein Ausdruck.
Der Sanktus hat sich in die Zeit, als sie zusammen ihren ersten Mordfall gelöst hatten, zurückversetzt gefühlt und hat lachen müssen, weil er seine Freunde ja nun schon seit Jahren gekannt hat, und es war für ihn immer wieder eine Gaudi, ihnen bei dem Versuch, einen Sachverhalt in chronologischer Reihenfolge wiederzugeben, zuzuhören. Jeder hat nun gemeint, er muss den anderen übertönen und hat mit wilden Gesten versucht, seine Position zu verstärken. Kurz vor dem Moment, als es wieder einmal soweit war, dass der Giovanni dem Schlauch-Gernot an die Gurgel gehen und der Sanktus eigentlich einschreiten wollte, hat der Haferl einen Plärrer losgelassen, und alle ringsum waren seltsamerweise auf einen Schlag still, also stad sozusagen.
»Sagts amal, hat’s euch?«, hat der Haferl mit seiner etwas piepsigen Stimme gefragt. »Was denkt denn der Herr Sanktus von uns?«
»Sanktus langt, langt«, hat der Ehrensberger betreten gemeint.
»Definitiv«, der Sanktus.
»Merci, Sanktus«, hat der Haferl geantwortet, ihm abermals ruckartig die Hand hingestreckt und dem Sanktus tief mit seinen Glupschaugen in dessen geschaut. »Andi. Oder einfach Haferl!«
Dabei hat er mit dem Kopf genickt.
»So, wer erzählt?«, hat der Sanktus gefragt.
»Soll er doch gleich selber reden, der Haferl, wenn er so gscheit ist«, hat der Schlauch-Gernot gerufen.
»Ja, genau«, hat der Haferl geantwortet und ihn mit seinem durchdringenden Blick angesehen. »Und dann redest mir bei jedem zweiten Wort dazwischen. Das kenn ich schon. Vergiss es!«
»Sinde wie altes Ehepaare«, hat der Giovanni gemeint.
»Also«, hat der Piefke angefangen, »na muss der Preuße halt mal wieder die Führung übernehmen, nöch. Wie im alten Kaiserreich.«
»Da habts uns schon bschissen«, hat der Haferl hasserfüllt eingeworfen und drohend den Zeigefinger in die Höhe gestreckt. »Da habts den König Ludwig mit viel Geld rumgekriegt, und jetzt müssen wir euch Deppen aushalten …«
Der Ehrensberger hat dem Haferl beruhigend die Hand auf den Arm und seinen Zeigefinger auf die Lippen gelegt. Der Haferl hat sich sofort wieder beruhigt.
»Also, dat war so«, hat der Piefke angefangen. »Die Gerüchte sind ja schon seit Langem herumgegangen, dass die Familie Stern die Brauerei eigentlich veräußern möchte, nöch. Die Grundstückspreise in München rechtfertigen ja einen Industriebetrieb im Stadtgebiet schon lange nicht mehr. Siehste an unsrer Konkurrenz. Die einen sind ja auch hinaus aus der Stadt, weg vom Berg. Beim nächsten gibt’s auch schon Gerüchte, nöch. Na, ja. Auf jeden Fall läuft die Marke Stern gut, und jetzt bekommste halt noch wat für den Schuppen, nöch.«
Ringsherum betretene Gesichter.
»Ja genau. Jahrelang hat die Brauerei das Geld für die Immobilien erwirtschaftet und jetzt ist sie nix mehr wert«, hat der Schlauch-Gernot gebrüllt.
»Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann gehen«, hat sich der Haferl echauffiert und dabei mit dem Zeigefinger in die Luft gestochen.
Nun strafender Blick von Piefke und Sanktus. Der alte Sanktjohanser hat sich bemüht, beim Zapfen möglichst keine Geräusche zu verursachen, um das Gespräch verfolgen zu können.
»Hinzu kommt«, hat der Piefke weitergemacht, »dass das Sudhaus dringend erneuert werden müsste. Die Geräte sind alt, und die Energiebilanz ist mehr als fragwürdig. Hier bräuchte es eine grundlegende Investition.«
»Stichwort Sustainability, Energy Recovery«, hat der Haferl eingeworfen und die eh schon überdimensional großen Glupschaugen weit aufgerissen.
»Fresse!«, seitens Schlauch-Gernot.
»Stai zitto!«, der Giovanni.
Der Haferl hat einen verstimmten Eindruck gemacht und die Arme verschränkt, aber lange hat diese Phase nicht gehalten.
»Und jetzt kommen, wie immer, die Amigos, die Inzucht«, hat er noch einen draufgelegt.
»Na, so schlimm ist es nicht«, hat der Piefke beschwichtigt, »aber es ist schon so, dass die Familie Stern mit der Molkerei Wullmsdorff aus Niedersachsen verwandt ist, nöch.«
»Preißn, das war wieder so klar!«, hat der Schlauch-Gernot gekeucht, was ihm einen Magenrempler vom Ehrensberger eingebracht hat.
Kopfschütteln seitens Piefke.
»Tja, nun ist der alte Wullmsdorff anscheinend ein Liebhaber des Münchner Bieres, denn er hat seine Frau einst auf dem Oktoberfest kennengelernt, nöch. Und ebendieser Herr hat es sich nun auf die Fahnen geschrieben, sich die Marke Sternbräu anzueignen und in die weite Welt hinauszutragen«, hat der Piefke doziert.
»Zu werfen«, hat der Haferl gequiekt. »Hinauszuwerfen, also uns, die Belegschaft. So schaut’s aus!«
»Tja«, hat der Piefke bestätigt. »So sieht’s leider aus, denn eine Brauerei in der Nähe von Hannover sei schon gefunden, die die Produktion unserer Sternbiere kosteneffizient übernehmen kann, nöch. Zuerst hat er noch versprochen, dass das wahrlich bayerische Getränk weiterhin in der Landeshauptstadt mit Herz in der Stern-Braustätte hergestellt werden muss und wir uns alle in Sicherheit wiegen könnten. Doch an diese These kann sich dieser unehrenhafte Milchpantscher leider nun nicht mehr erinnern. Schade, nöch?«
»Kosteneffizient, pah«, hat der Schlauch-Gernot nachgeäfft.
»Sauber«, hast du es vom alten Sanktjohanser an der Theke gehört.
»Heilandsack, bin froh, dass i da nimme schaff!«, hat der Hanspeter bekräftigt, der inzwischen neben seinem Aushilfsschankkellner dem Gespräch gelauscht hat. »Des isch ja furchtbar. Was macht ihr jetscht?«
»Nächsten Montag ist erst einmal eine Betriebsversammlung mit dem zukünftigen Besitzer, der Gewerkschaft und dem Betriebsrat. Dann sehen wir weiter, aber ich denke, wir sollten schon mal anfangen, Bewerbungen zu schreiben«, hat der Piefke geseufzt.
Dem Sanktus war jetzt schlecht. Der Sternbräu zu verkaufen? Seine Lehrbrauerei? Der Anfang seines Bierbrauerdaseins. Sein Stolz. Münchens Stolz. Die Brauerei, die traditionell ausschließlich in der Bügelverschlussflasche abgefüllt hat. Das Stern Dunkel, das beliebteste Münchner Bier neben dem mit dem freundlichen Mönch, ein Auslaufmodell? Das alles hat vorbei sein sollen? Das konnte nicht angehen. Bei dem Gedanken hat es dem Sanktus einen Stich ins Herz gegeben, wie wenn er mit der Trambahn an der früheren Hackerbrauerei vorbeigefahren ist, wo heute nur noch ein nichtssagendes weißes Bürogebäude steht. Nur noch schlimmer, also sozusagen Todesstoß.
»Man muss nachdenken, was man tun kann«, hat der kleine Ludwig Thoma in den Lausbubengeschichten immer gesagt. Dann hatte er die Tante Frieda aus dem Haus getrieben. Aber was hat der Sanktus tun sollen? Er hat ja schlecht gegen den Molkereikonzern Wullmsdorff aufbegehren können. Was haben die eigentlich hergestellt, hat sich der Sanktus gefragt. Irgendwie war ihm kein Produkt geläufig.
»Pudding«, hat der Haferl eingeworfen, als ob er den Sanktus-Gedanken gelesen hätte. »Man nennt ihn auch den ›Puddingbaron‹. Mit dem hat sein Vater angefangen. Später ist alles Mögliche zur Produktpalette dazugekommen. Das ist sozusagen ein Imperium. Ich mag ja am liebsten Schoko-Mango-Grießbrei mit Himbeertopping.«
Dabei hat sich der Haferl über die Lippen geleckt und mit der Hand über den Bauch gestreichelt.
Der Sanktus, dem es bei der bloßen Vorstellung dieser Mischung noch schlechter geworden ist, als es ihm eh schon war, hat einen tiefen Schluck aus seinem Märzen genommen und dezent aufgestoßen.
»Ein Imperium«, hat er geflüstert. »Da wird ma ned viel Möglichkeiten haben. Wie ist der Puddingbaron so drauf? Weiß man das?«
»Anscheinend ein preußischer Sturschädel. Was er sich einmal in den Kopf gesetzt hat«, hat der Piefke philosophiert, »das zieht er durch. Also wenig Chancen auf eine Planänderung. Wie schon gesagt, Bewerbungen schreiben, nöch, meine lieben Leidensgenossen.«
»Ich schule um auf Künstler«, hat der Haferl prognostiziert. »Das war schon immer mein Traum, weil ich spür, dass das ganz tief in mir verwurzelt ist.«
»Und was willst na künsteln, künsteln?«, hat der Ehrensberger gefragt.
»Installationen. Geschweißt aus Brauereiutensilien«, hat der Haferl geantwortet und mit den Armen gerudert, als würde er eine Weltneuheit präsentieren. »Oder Bilder. Weiß noch ned. Ich warte noch, bis mich die Muse küsst.«
Der Sanktus jetzt nur noch am Kopfschütteln.
»Ike gehe suruck nach Italia«, hat der Giovanni dramatisch proklamiert. »Meine Cugino hat in Sicilia eine Bar. Brauchte bestimmt einen Ober. Dann gibt’s da bayerische Bier, das ike importiere und die Touriste für teuer Preis verkauf! Oder ike mache in der Landbergerstraße eine Pizzeria auf. Weiße auck nok nikte.«
Kopfschütteln noch nicht besser.
»Ich bewerb mich beim Mönch«, hat der Schlauch-Gernot gemeint und sein Bier lautstark auf den Stehtisch gestellt. »Zur Not fahr ich da Stapler!«
Dann hat er sein Bier auf ex ausgetrunken.
»Und du, Piefke?«, hat der Sanktus gefragt.
»Ich seh zu, dass ich in Hannover in der dezidierten Brauerei etwas bekomme. Da werden se ja auch wen benötigen, der die bayerischen Prozesse versteht. Weißbier zum Beispiel«, hat der Piefke gelassen erklärt.
»Des is halt der Vorteil, wennst a Preiß bist«, hat der Schlauch-Gernot konstatiert. »Da machts dir nix aus, wennst in den Norden musst. Für unsereinen undenkbar. Sagts, ha?«
Der Sanktus und sein Vater haben nun lauthals rausgeprustet.
»Mir bräuchda vielleicht an Bierfahrer, falls ma nächschtes Jahr an Heimservice starta«, hat der Hanspeter eingeworfen.
»Jetzt schau ma amal, wie sich des alles entwickelt«, hat der Sanktus geschlossen. »Wer weiß, was noch alles kommt …«
Und gekommen ist es wirklich komplett anders.
Ja, gekommen ist es wirklich ganz anders, denn du magst jetzt nicht an den Zufall glauben oder sagen, das ist doch jetzt sowas von an den Haaren herbeigezogen, aber knapp eine Stunde nach der Job-Rallye ist die Schranner Bine, amtierende Kommissarin beim Münchner Mord, in die Bierwerkel gestürmt gekommen und hat gerufen: »Sanktus, ich glaub, mia ham an Fall!«
Dann hat sie die illustre Runde begutachtet und gemeint: »Und die richtigen Leut hamma a scho da. Des passt wie d’ Faust aufs Aug. Perfekt.«
Dann hat sie gegrinst, hat dem Sanktus das frisch gezapfte Märzen aus der Hand genommen und »Prost!« gerufen.
Der Sanktus hat geschaut, wie ein Schwalberl, wenn’s blitzt, die Brauer total verdattert, und der Haferl hat seine Glupschaugen gerollt, dass alles zu spät war.
»Sie!«, hat er fast geschrien und mit dem Finger zitternd, die Augen weit aufgerissen, auf die Bine gedeutet, »Sie müssen die Schranner Bine sein, gell? Fischhuber! Andi Fischhuber, genannt Haferl. Sehr angenehm. Melde mich zum Dienst! Also, stets zu Diensten.«
Jetzt hat er sich verbeugt, mit seinem Arm gerudert und einen Diener gemacht, wie wenn er einen König hofieren würde.
»Wird wieder ermittelt? Dann wär ich der neue … also Detektiv …«
Die Brauer haben jetzt verlegen in den Boden geschaut, und die Schranner Bine hat sich schiefgelacht.
»Wo habt’s denn den her?«, hat sie gefragt.
»Aus dem Filterkeller. Unser neuer Kellergeist. Haferl heißt er, weil …«, hat der Ehrensberger den Satz nicht vollenden können.
»Weil er so ein Gscheithaferl ist«, hat die Bine vervollständigt.
»… er, weil«, hat der Ehrensberger seine letzten Silben wiederholt. »Ja, ja.«
»Was haben wir denn für einen Fall?«, hat der Sanktus wissen wollen.
»Eure Brauerei soll doch übernommen werden. Das wissts ja schon, oder?«, hat die Bine gefragt, und ein Grummeln war aus der Runde zu hören. »Der Chef der Molkerei ist ein gewisser Reinhard Wullmsdorff. Und jetzt haltets euch fest. Der ist gerade tot aufgefunden worden.«
Jetzt Ruhe in der Runde. Andacht kein Ausdruck.
»Ja, verreck!«, hast du nun den alten Sanktjohanser ausrufen hören können. »I werd narrisch!«
»Herr Profiler«, hat sie den Sanktus gefragt. »Würden Sie mir bitte ein weiteres Mal die Ehre erweisen?«
Der Hanspeter hat mit dem Kopf genickt und dem Sanktus somit bestätigt, dass er sich den Rest des Tages freinehmen hat können.
Der Sanktus hat sich bei der Bine untergehakt, und die beiden sind aus der Tür auf die Kuglerstraße, wo der Polizei-Fünfer gewartet hat, hinausgetreten.
Der Haferl hat drinnen einen Schritt in eine, dann einen in die andere Richtung gemacht und verwirrt umeinander gedeutet.
»Ja, und wir?«, hat er gestottert. »Dürfen wir ned mit?«
Der alte Sanktjohanser hat ihm ohne Worte einer Erklärung eine neue Halbe Märzen in die Hand gedrückt.
»Wo fahr ma hin?«, hat der Sanktus gefragt.
»Dahin, wo’s immer am schönsten war«, hat die Schranner Bine geantwortet.
Der Sanktus kurz verdutzt, hat sich schnell wieder an den Monaco Franze erinnert, als dieser von seinem Gspusi, der Elli, Abschied nimmt, da er mit seiner Frau Anette von Söttingen auf die Bermudas auswandern will, beziehungsweise muss.
»Bei dir daheim in der Wohnung?«, hat er nun analog dem Franze geantwortet, aber die Bine hat, wie seinerzeit die Elli, nur den Kopf geschüttelt.
»Das wär ja noch schöner, wenn ich da eine Leich hätt«, hat sie lachend gesagt. »Also, Franze?«
»Na kann’s nur die Bavaria auf der Wiesn sein«, hat der Sanktus geschlussfolgert.
»A Hund bist scho, Franze«, hat die Bine lächelnd bestätigt, das Fenster aufgemacht und das Blaulicht aufs Dach gesetzt.
Jetzt hat der Sanktus gewusst, dass es um seinen Magen erst einmal nicht so gut bestellt sein würde.
Auf der Theresienwiese unterhalb der Treppen zur Bavaria angekommen, ist der Sanktus erst einmal zu einem Grünstreifen geflüchtet und hat sich in hohem Bogen dort hinein übergeben, weil fahr du mal mit der Schranner Bine, mit einem Blaulicht bewaffnet, durch ganz München. Grausam, wenn du da magentechnisch anfällig bist.
»Ah, moin, Herr Sanktjohanser. Oder heißen Sie heut mal wieder Kopfeck? Ist Ihnen nicht gu-ut?«, hat der norddeutsche Rechtsmediziner, der ebenfalls gerade angekommen war und den der Sanktus von den letzten beiden Fällen gekannt hat, geulkt. »Heute ma außerhalb ’ner Kirche.«
Kirche hat er wieder wie Köörche ausgesprochen, und der Sanktus hat die Augen verdreht, sich den Mund abgeputzt und ihn mit einem Blick belegt, sodass der Preuße achselzuckend das Weite gesucht hat.
»Dieser Kletzen scho wieder, Zefix«, hat der Sanktus geflucht, und die Bine hat ihm über den Rücken gestreichelt.
»Den bring ma nimmer los. Wie alle Preißn, die sich mal hier angesiedelt haben. Aber der ist eigentlich ganz nett. Holger Brinkmann heißt er, also seit seiner Scheidung eigentlich wieder Holger Nielsen.«
»Nils Holgersson«, hat der Sanktus grinsend gemeint. »Passt wie die Faust aufs Aug. So schaut’s aus!«
Die beiden sind nun die Stufen zu der riesigen Bronzestatue, die auf einem monumentalen Sockel positioniert war, emporgestiegen. Der Sanktus, praktisch Anti-Sportler, ist direkt ins Schnaufen gekommen und hat sich erinnert, dass das vor ein paar Jahren auf dem Oktoberfest mit ein paar Maß Bier in der Birne leichter zu bewerkstelligen gewesen war. Er hat dringend abnehmen müssen. Da beißt die Maus keinen Faden ab. Man hat wieder einmal sehen müssen, was man tun kann.
Von oben her haben sie schon ein Stimmengewirr hören können, aus dem sich das nölende Organ des Brinkmann herauskristallisiert hat. Sie mussten der Leiche also ganz nahe sein.
Kurz bevor die Personen am Ende der obersten Stufe zu sehen waren, hat der Sanktus auch schon ein näselndes Fränkisch hören können. Der Bergmann Rudi, Bines Chef, war also auch bereits da.
Keuchend ist der Sanktus mit der Bine von der Treppe in Richtung Sockel geschlurft. Das Areal war großräumig abgesperrt, und am Boden, mittig um den untersten Sims des Sockels herum, hat sich eine Menschentraube gebildet gehabt.
»Aber warum is na der jetzt erscht entdeckt worn«, hat der Rudi lautstark in die Runde gefragt.
Der Sanktus hat nur durch das Gewirr an blauen Uniformen einen Blick zum Steinsockel erhaschen können. Dort ist jemand gesessen. Jemand, der sich nicht gerührt hat.
Es war der tote Puddingbaron Wullmsdorff in einem 1A bayerischen Trachtenanzug. In den Händen hat er ein Plakat gehalten, das die Aufschrift »Verräter der Münchner Bierkultur!« getragen hat. Das Plakat war ihm mit einer Wäscheleine um den Hals gehängt worden. Mittig auf seiner Stirn war ein Einschussloch zu sehen. Jetzt hat der Sanktus kurz seinen Spezl, den Bummerl, wieder vor Augen gehabt, als er ihn vor Jahren erschossen aufgefunden hatte.
»Der kann doch ned scho seit in der Früh da so sitzen. Aber beim helllichden Dach kann ihn doch a niemand da herbracht haben. Sach amal, was is’ na des für a Scheiß heut?«, hat der Bergmann gemosert.
»Also, der Mann ist schon seit mehreren Stunden tot. Genau kann ich es nicht sagen. Ich denke aber, dass er schon leblos hierhergebracht wurde«, hat der Brinkmann in seinem Krabbenkutter-Slang doziert. »Tod aufgrund Kopfschusses!«
»Ah geh!«, ist’s vom Sanktus gekommen, und der Rudi hat sich umgedreht.
»Ah, der Weißbier-Profiler«, hat der ausgerufen.
»Sherlock Bergmann. Habe d’ Ehre«, hat ihn der Sanktus begrüßt.
Der Brinkmann hat nur den Kopf geschüttelt und sich verdrückt.
»Bericht folgt morgen. Tschö mit ö!«, hat er gerufen und ist die Treppen sozusagen hinuntergesprungen.