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An einem sonnigen Oktobermorgen findet ein Jogger im Vater-Rhein-Brunnen des Heidelberger Schlossparks eine männliche Leiche mit eingeschlagenem Schädel. Einige Spuren am Tatort sind völlig rätselhaft, und gegen Abend kündigt eine Computerstimme am Telefon für Mitternacht einen zweiten Mord an – in Gedichtform. Hauptkommissar Travniczek, der gerade erst seine neue Dienststelle in Heidelberg angetreten hat, und seine Mitarbeiter suchen verzweifelt nach Wegen, den Mord zu verhindern. Vergeblich. Und am Tatort greifen sie dann ein verschüchtertes kleines Mädchen in Festtagskleidung auf. Sie ahnen, hinter den beiden Morden verbirgt sich ein noch viel größeres Verbrechen. Es folgen achtundvierzig Stunden, die sie nie vergessen werden und in denen sie Dinge erleben, die selbst dem hartgesottensten Kriminalisten den Schlaf rauben.
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Seitenzahl: 517
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Zur Serie Heidelbergkrimi
Impressum
Christoph Wagner
Der Autor
Motto:
MITTERNACHT
DER ERSTE TAG
MITTERNACHT
DER ZWEITE TAG
MITTERNACHT
DER DRITTE TAG
MITTERNACHT
„DICHTUNG UND WAHRHEIT“
Der Chef der Mordkommission Heidelberg, Hauptkommissar Joseph Travniczek, ist ein sehr ungewöhnlicher Kriminalist. In seiner Ermittlungsarbeit geht er zusammen mit seinen Mitarbeitern Martina Lange und Michael Brombach eher wie ein Profiler vor als wie ein klassischer Kriminalkommissar. Er will die Psyche von Täter und Opfer verstehen, will wissen, wie sie ticken. Das sieht er als unabdingbare Voraussetzung, um einen Fall lösen zu können.
Aufgewachsen ist er in einer Musikerfamilie und wollte als Jugendlicher eigentlich Konzertpianist werden, ging dann aber nach prägenden Erlebnissen als Zivildienstleistender in einer Jugendstrafanstalt zur Polizei. In der Polizeidirektion Heidelberg hat er ein elektronisches Klavier in ein kleines Zimmerchen gestellt. Dorthin verschwindet er immer, wenn die Ermittlungsarbeit besonders angreifend wird, spielt Bach, um „sein Gehirn zu reinigen“.
Das Ermittlerteam wird bei seiner Arbeit auch immer wieder zu den markanten Plätzen Heidelbergs geführt. Dabei sind die Texte so konzipiert, dass sie nicht nur für Einheimische, sondern gerade auch für Menschen interessant sind, die Heidelberg gar nicht oder nur wenig kennen. Hauptkommissar Travniczek war, bevor er seinen Dienst bei der Heidelberger Kripo antrat, noch nie in dieser Stadt. Der Leser wird Zeuge, wie er sich die Stadt allmählich aneignet und sie kennen und lieben lernt. Darüber hinaus gibt es über alle mit *) bezeichneten Orte und Sehenswürdigkeiten im Heidelberg-Glossar auf www.heidelbergkrimi.de Erläuterungen, Bilder und oft auch weiterführende Links.
Diese Serie will nicht nur spannende und aufwühlende Kriminalgeschichten bieten, sondern ausdrücklich auch Lust auf Heidelberg machen.
Alle Rechte vorbehalten
Copyright©2012 Christoph Wagner
Druck: Verlag Lindemann, 63075 Offenbach
ISBN 978-3-00-040668-3
Cover-Foto: Pulverturm, Schloss Heidelberg
Copyright©2012 Christoph Wagner
Schlag auf Schlag
Hauptkommissar Joseph Travniczek:
der erster Fall
Christoph Wagner wurde 1953 in Jever (Norddeutschland) geboren. Er lebte von 1959 bis 1983 in Heidelberg, besuchte dort die Grundschule, von 1964 bis 1972 das Kurfürst-Friedrich-Gymnasium und studierte danach Musik und Mathematik. Seit 1983 arbeitete er bis Ende des Schuljahrs 2015/16 als Musik- und Mathematiklehrer in Frankfurt am Main. Der Kontakt zu Heidelberg blieb immer bestehen.
Zu der Reihe „Heidelbergkrimi“ sagt er:
Ich will hier meine Liebe zu Heidelberg, das ich für eine der schönsten und interessantesten Städte überhaupt halte, verbinden mit der Frage nach der Psychologie des Bösen. In diesem ersten Roman habe ich meine Grundfrage Hauptkommissar Joseph Travniczek in den Mund gelegt. Angesichts eines brutal erschlagenen Mannes sagt er: "Wie unendlich viel muss in der Seele eines Menschen zerstört worden sein, damit er zu so einer Tat fähig wird? ... Kein Kind wird als Mörder geboren."
Dabei interessieren mich vor allem Menschen, die nicht einfach nach den Kategorien Gut und Böse eingeordnet werden können, und Themen, die politische, gesellschaftliche oder ethische Bedeutung haben.
Als Motto über die ganze Reihe diene ein Ausspruch von Robert Louis Stevenson:
„Im Schlechtesten der Menschen steckt noch so viel Gutes
und im Besten noch so viel Böses,
dass keiner befugt ist zu urteilen und zu verurteilen.“
Das eben ist der Fluch der bösen Tat,
daß sie, fortzeugend,
immer Böses muß gebären.
Friedrich Schiller, „Wallenstein“
1. Teil: die Piccolomini: 5. Akt, 1. Auftritt
Er muss sterben – unbedingt sterben – schweigen muss er für immer – denn wenn er redet – ist alles verloren – gescheitert der Kampf – gegen Dämonen der Kindheit –
die Menschen – denen das Kind vertraute – gedemütigt – erniedrigt – und um das eigene Leben betrogen – zerstörten sie seine kindliche Seele – aber sie merkten es nicht –
lange ist das jetzt her …
Zwar konnte ich vieles erreichen – um die Dämonen zu bannen – doch noch ist der Kampf nicht entschieden –
Dämonen der Kindheit – sie zwingen mich immer wieder – zu handeln, wie ich nicht will – und bleibe im Ekel zurück – vor meinen ruchlosen Taten –
Dämonen der Kindheit – sie will ich für immer besiegen –
es wird mir gelingen – doch vorher darf niemand erfahren – wozu sie mich immer noch zwingen …
*
Es war kurz vor Mitternacht an einem Sonntag im Oktober. Dichte Nebelschleier hatten die Stadt eingehüllt. Es war vollkommen windstill. Da hastete ein stattlicher Mann mit langem braunem, leicht gelocktem Haar und klassisch ebenmäßigen Zügen auf der Hauptstraße*1 an Heiliggeistkirche*, Rathaus*, Kornmarkt* und Karlsplatz* vorbei und bog mit schnellen, hämmernden Schritten in den Friesenberg* ein, um noch rechtzeitig den Schlosspark zu erreichen. Seinen Blick starr auf die feucht glänzenden Pflastersteine geheftet, nahm er seine Umgebung kaum wahr und hielt krampfhaft mit der linken Hand den Griff eines kleinen schwarzen Aktenkoffers umfasst. Der Schein der wenigen Straßenlaternen an einigen Hauswänden drang kaum durch den milchigen Nebel und ließ die Häuser und hohen Stützmauern an den Seiten nur wie verschwommene dunkle Schatten erscheinen, gleich Spiegelbildern seiner düsteren Gedanken. In den menschenleeren Straßen war der Lärm des Tages erstorben. Nur seine hämmernden Schritte hallten durch die neblige Nacht.
*
Er muss sterben – unbedingt sterben – schweigen muss er für immer –
doch wer muss sterben? – wer muss schweigen? – wer hat herausgefunden – dass es mich doppelt gibt? – zwei Namen – zwei Personen – die nichts miteinander gemein haben – die sich hassen und die sich niemals begegnen dürfen – einer hat es durchschaut – was niemand durchschauen durfte – der Plan war perfekt – an alles gedacht – Entdeckung unmöglich – wo lag mein Fehler? – verstellt die Stimme am Telefon – ich müsste sie kennen – kommt das von den Russen? – wollen die noch mehr? – das glaube ich nicht – denn sie verdienen fantastisch durch meine schändliche Arbeit – oder haben die einen gefunden, der ihnen noch mehr bringt? – doch wenn nicht die Russen, wer dann? – kenne ich ihn überhaupt? – woher kennt er mich? – warum bestellt er mich an den Brunnen im Schlosspark? – weiß er, was dort geschah? – was mich in den siebenten Himmel erhob – was später den Riss durch mein Ich noch unerträglicher machte? – vielleicht weiß er nur das – aber er will 100.000 – dann weiß er alles – es macht keinen Sinn, ihm das Geld zu geben – denn ich kann ja nicht wissen, ob er nicht immer mehr fordert – ihm zu vertrauen ist Wahnsinn – also gibt es nur eines: er muss sterben – unbedingt sterben – schweigen muss er für immer …
*
Der Mann durchschritt das Tor zum Schlossgarten. Hie leuchteten die Laternen heller als am Friesenberg, und so konnte er seine Schritte weiter beschleunigen. Der schmale und steile Anstieg durch das tief eingeschnittene Tal zwischen Scheffelterrasse* und Ostseite des Schlosses führte ihn zwischen großen Bäumen hindurch, die im neblig fahlweißen Licht der Laternen am Wegrand Gespenstern glichen. Kurz leuchteten linker Hand im feurigen Orange der Scheinwerfer einige Bögen der Scheffelterrasse schemenhaft auf. Über enge Serpentinen eilte der Mann weiter, während hoch oben die hell erleuchtete Ostfassade des Schlosses mit Glockenturm*, Ottheinrichsbau* und Apothekerturm* immer deutlicher aus dem Nebel hervortrat. Er ließ genau in dem Augenblick den Nebel unter sich und trat in die klare Nachtluft, als er den ersten Bau des Schlosses erreichte, den Karlsturm*, der wie von der Faust eines Riesen zerschlagen sein dunkles Inneres nach außen kehrte und ihm wie der drohende Rachen eines mächtigen Ungeheuers erschien, das gnadenlos alles verschlingt, was sich ihm nähert. Unter dem schwarzen, sternenübersäten Himmel führte ihn der jetzt schnurgerade Weg weiter an den vollständig restaurierten unteren Befestigungsanlagen entlang auf die wuchtige Spitzkasematte zu, vor der sich der Weg nach links wendete und kurz den Blick freigab auf den vor mehr als dreihundert Jahren geborstenen Pulverturm*, einem Mahnmal gleich für alles, was unwiederbringlich zerstört ist. Durch eine letzte, steil ansteigende Biegung des Weges erreichte er die Scheffelterrasse.
*
Er muss sterben – unbedingt sterben – schweigen muss er für immer – ich will ihn töten – er hat keine Chance – trifft ihn die Kugel nicht gleich – dann wird ihn der Sender im Koffer verraten – der wird mich zu ihm führen – wohin er auch geht – damit rechnet er nicht – das ist sein Fehler – ich will triumphieren – die heutige Nacht – nur eine Episode – denn ich will weiterkämpfen – gegen Dämonen der Kindheit – ich will sie vernichten – mit ihnen mein dunkles Ich – meine Seele heilen – und trotz meiner heutigen Taten – wird, wie einstmals für Faust, – auch für mich dann der „Chor der Engel“ singen:
‚Wer immer strebend sich bemüht,
den dürfen wir erlösen.‘ 2
*
Völlig erschöpft durch den Aufstieg spürte der Mann, wie sein Herz raste und ihm bis zum Halse schlug. Er hielt an, drehte sich um und stützte sich mit der rechten Hand auf der steinernen Balustrade der Scheffelterrasse ab. Den Kopf tief gesenkt, atmete er mit geschlossenen Augen einige Male langsam und tief aus und ein. Allmählich öffneten sich seine Augen wieder und sein Blick fiel auf die im Nebel verschwommenen Lichter der Altstadt und die vor dem schwarzen, sternenbedeckten Nachthimmel feurig hell erleuchtete Ostfassade des Schlosses. Doch diese grandiose Kulisse erreichte sein Inneres nicht. Mit starrer Miene ging in den Schlosspark hinein. Vor ihm standen weit ausladende, uralte Bäume, deren Blätter sich ganz leicht im kaum spürbaren Wind bewegten. Rauschen von Wasser durchzog die Luft. Es deutete auf das Ziel seines Weges, den Brunnen des Vater Rhein*, den man in der südöstlichen Ecke des Parks mehr ahnen als sehen konnte, da er vom rötlichen Scheinwerferlicht nur matt erleuchtet war.
Auf diesen richtete sich jetzt sein Blick und blieb auf ihm haften, während er langsam die Scheffelterrasse entlangging. Die Brunnenfigur wurde immer deutlicher, während der Mann an der ersten Wegkreuzung zunächst zögerte und dann nach links einbog. Kurze Zeit später stand er dem Vater Rhein gegenüber. Umringt von den hohen Fontänen des Springbrunnens, blickte die auf Felsbrocken liegende steinerne Figur mit verträumten Augen in unendliche Fernen. Viel musste sie gesehen haben in den fast vierhundert Jahren, die sie hier bewegungslos lag.
*
Er muss sterben – unbedingt sterben – schweigen muss er für immer –
Aber – darf ich ihn töten? – wenn ich ihn töte – dann überschreite ich eine Grenze – unwiderruflich – da wird es kein Zurück mehr geben – doch auch Faust hat getötet3 –
aber – kann ich denn morden? – wird meine Hand nicht zittern, wenn ich die Waffe erhebe? – dann wird er nur höhnisch lachen – und mein Kampf ist für immer verloren – – –
aber – muss ich denn kämpfen? – ich kann die Waffe auch gegen mich selbst richten – und alle Not hat ein Ende – die Dämonen der Kindheit gebannt – ewiger Friede in meiner Seele –
aber – wenn ich doch Rechenschaft ablegen muss – was werde ich sagen? – kann denn ein ewiger Richter ermessen, was es bedeutet, für immer Opfer zu sein? – immer wieder zu scheitern – zwanghaft tun zu müssen, was man nicht will? – ich sollte es darauf ankommen lassen – nur eine kleine Bewegung – und es ist alles vorbei …
*
Plötzlich war alles still. Die Fontänen des Brunnens schwiegen. Auch das warme rötliche Scheinwerferlicht war erloschen. Die hell strahlende Schlossfassade war nur noch eine dunkle Silhouette mit gespenstisch leeren Fensterhöhlen. Es blieb das kalte weißliche Licht der Weglaternen. Zwölf Mal durchbrachen die Glockenschläge der Uhr vom Torturm* die mitternächtliche Stille. Das Gesicht des Vater Rhein war aschfahl geworden. Es schien, als ob er ausgeträumt hätte und ihn hellsichtig Schrecken ergriffe vor dem, was nun geschehen sollte.
*
Die Fontänen verstummt – die Scheinwerfer dunkel – es ist jetzt Mitternacht – warum meldet er sich nicht? – ich will es hinter mich bringen – –
ich darf mich nicht töten – denn ich werde gebraucht – ich muss doch noch denen helfen, die keinen Ausweg mehr sehen – ich muss ihnen zeigen, wo ihre verborgenen Wege liegen – und meine Kinder – Sebastian und Hannes – sie brauchen den Vater – ich muss ihre Unschuld bewahren – wenn der Vater sich tötet – bricht ihre Welt zusammen – dann wird auch offenbar das Tun meines dunklen Ichs – dann sind die Seelen auch dieser Kinder zerstört – und das Spiel beginnt wieder von vorn – das muss ich verhindern – sie muss ich bewahren vor einem Schicksal, das mich selber so quält ...
*
Sein Handy klingelte und riss ihn aus seinen Gedanken. Er hörte wieder die verstellte Stimme: „Sie gehen jetzt langsam auf das Portal der Grotte vor Ihnen zu bis zum Absperrgitter und stellen den Aktenkoffer an der linken Seitenwand ab. Dann bleiben Sie stehen. Behalten Sie das Handy am Ohr und warten Sie auf neue Anweisungen!“
*
Diese Stimme – woher kenne ich sie? – es will sich nicht zeigen – aber der Platz für den Koffer kommt meinen Plänen entgegen – ich kann mich verstecken – und wenn er sich den Koffer holt, wird meine Kugel ihn treffen …
*
„Jetzt gehen Sie rückwärts ganz langsam wieder ins Freie, bis Sie den Beckenrand berühren.“
*
Was soll das? – spielt er mit mir? – es liegt etwas Furchtbares in der Luft – mir ist, als greife eine kalte Hand nach meinem Herzen – was will er von mir? – will er kein Geld, sondern nur Rache? – will er mich töten? – oh, auf einmal wird alles klar – es kann ...
*
„Du sollst jetzt wissen, wer ich bin! – – ICH BIN DER GEIST, DER STETS VERNEINT!“4
*
Die Stimme – nicht mehr verstellt – jetzt erkenne ich sie – ich hätte sie längst schon erkennen müssen – o Gott, ihn kann ich nicht töten – nicht diesen Menschen – das wäre Verrat – was bleibt mir zu tun? – was hat er vor? – warum gibt er sich ausgerechnet jetzt zu erkennen? – was – – –
*
Wie glühender Stahl durchfuhr ein nie gekannter Schmerz seinen Schädel und ließ ihn bersten. Das Dunkel der Nacht zerfetzten tausend gleißend grelle Blitze, sogleich verschlungen von vollkommenem Schwarz. Und das vollkommene Schwarz zerrann ins bodenlose, allumfassende Nichts.
Stille. Die Nebeldecke über der schlafenden Stadt ließ kein Geräusch mehr bis hier herauf dringen. Der aufgehende Mond warf ein fahles Licht auf die Fassaden des Schlosses, während der Vater-Rhein-Brunnen noch im Schatten der Berge lag, die hinter dem Park groß und schwarz vor dem blass erhellten Nachthimmel standen. Am Boden der Tote. Vor ihm sein Mörder, reglos, die blutige Keule in der rechten Hand, seinen triumphierenden Blick auf das Opfer gerichtet.
*
Ich hab es getan – mich wird Mephisto jetzt loben –
hast du tatsächlich geglaubt, ich wollte dein Geld? – mich interessiert dein Geld nicht – ich bin kein gewöhnlicher Mörder – nein, ich bin vom Schicksal ausersehen – ich muss seine Notwendigkeiten vollenden – und du hast dein Leben verwirkt – vielfach – durch dein furchtbares Tun – und mein Leben hast du dann auch noch zerstört – was mir gehörte, hast du genommen, – und mir deshalb den Weg aus der Hölle verlegt – ich kann ihn nun nie mehr finden – ich fühle das …
*
Es war etwas Wind aufgekommen. Die Blätter der alten Bäume des Parks rauschten in leichter Bewegung. Der Himmel wurde heller. Der Mond würde bald auch hier aufgehen.
*
Ich muss mich schützen – ich habe noch Pflichten zu erfüllen – mich dürfen sie noch nicht finden – ich muss sie verwirren und falsche Spuren legen – ich nehme dem Toten, was ihnen verrät, wer er ist – ich werfe ihn in den Brunnen und bedecke das Blut auf der Erde mit Kies – ich stelle den Koffer mit dem Geld auf den Brunnenrand – sie sollen sich das Hirn zermartern – warum stiehlt einer die Brieftasche, lässt aber 100.000 Euro stehen? – sie sollen sich im Kreise drehen – und ich habe Zeit – ich kann tun, was Mephisto verlangt – ich könnte es nicht ertragen, gerichtet zu werden von denen, die das normale Leben lieben – die nicht erkennen, dass all ihr Tun vergebens ist – dass es keinen Sinn geben kann – und wenn ich alles getan habe, was ich tun muss? – ich werde Mephisto sein im grandiosen Finale – eine Apotheose des Nichts ...
*
Wie er beschlossen hatte, nahm er dem Toten Handy und Brieftasche ab, schleifte ihn zum Brunnenrand und ließ ihn so sachte ins Wasser gleiten, als ob er die Stille der Nacht nicht stören wollte. Dass dabei etwas aus der Hosentasche des Toten fiel, bemerkte er nicht. Dann holte er den Geldkoffer und stellte ihn auf den Brunnenrand. Noch lange Zeit verharrte er vor dem Brunnen, den Blick auf sein Opfer gerichtet. Dann drehte er sich langsam um und entfernte sich mit gesenktem Kopf in Richtung der Scheffelterrasse. Dass die ganze Zeit zwei scharfe Augen das Geschehen beobachtet hatten, war ihm entgangen.
Der Mond war inzwischen hinter den Bergen hervorgekommen. Die vom auflebenden Wind leicht gekräuselte Oberfläche des Brunnenwassers schimmerte silbrig. Vom Körper des Toten ragte in zwei schwarzen, kaum wahrnehmbaren Kreisen nur etwas vom Kopf und Rumpf aus dem Wasser. Vater Rhein thronte wie ein Wächter über der Szenerie. Stiller Friede legte sich über den Ort des schaurigen Geschehens.
1Für alle mit * gekennzeichneten Begriffe finden Sie Erklärungen, Bilder und ggf. weiterführende Links unter www.heidelbergkirmi.de
2„Der Mann“ bezieht sich hier auf die Schlussszenen von Goethes „Faust II“. Faust hat in seinem Leben manche Schuld auf sich geladen und insbesondere die im christlichen Sinne schlimmste denkbare Sünde begangen, als er mit dem Teufel (Mephisto) einen Pakt schloss. Dennoch wird er nach seinem Tod in den Himmel aufgenommen. Mephisto geht leer aus. Goethe etabliert hier ein Moralgesetz, das sowohl dem katholischen Begriff der Werkgerechtigkeit (Erlösung durch die Guten Werke) wie auch dem lutherischen Begriff der Erlösung als göttlichem Gnadenakt entgegensteht. Demnach kann erlöst werden, wer sich um ein rechtes Leben bemüht, unabhängig davon, wie erfolgreich dieses Bemühen war.
In dieser Schlussszene entwirft Goethe eine himmlische Hierarchie von Engelswesen, zu der auch die „Seligen Knaben“ gehören.
Die letzten beiden Zeilen sind wörtliches Zitat aus Faust II.
3Faust hat mit Hilfe Mephistos Gretchen zur Geliebten gewonnen und sie geschwängert. Valentin, der Bruder Gretchens, will sie rächen und stellt Faust zum Zweikampf. Faust tötet ihn mit Mephistos Hilfe. Später verlässt Faust Gretchen, die ihr Kind zur Welt bringt und aus Verzweiflung tötet. Währenddessen vergnügt sich Faust in der Walpurgisnacht. Gretchen wird in den Kerker geworfen und soll hingerichtet werden. Im letzten Moment besinnt sich Faust ihrer und will sie, wieder mit Hilfe Mephistos, befreien. Gretchen, inzwischen wahnsinnig geworden, nimmt diese Hilfe nicht an und stirbt.
4Mit diesem Satz stellt sich in Goethes Faust Mephisto (= das Böse/der Teufel) dem Faust vor.
Es war Montagmorgen kurz nach sieben Uhr. Das Büro der Mordkommission in der Polizeidirektion Heidelberg lag noch verwaist in der Wochenendruhe. Im Morgengrauen drang wenig Licht durch die Glasfront an der Längsseite des zweckmäßig eingerichteten Raumes. Gegenüber der Fensterfront waren die ganze Wand entlang mehrere Aktenschränke aus dunkelbraunem Holz und silbern glänzenden Edelstahlstützen aufgereiht. Wenn man durch die Tür in der Mitte der Stirnwand hereinkam, schaute man links vor den Aktenschränken auf den Schreibtisch der Sekretärin Frau Siebert, die auch für technische Recherchen zuständig war. Auf der rechten Seite stand vor der Fensterfront ein runder Tisch mit fünf Stühlen, der zu Gesprächen verschiedenster Art diente. In der Mitte des Raumes hatten Oberkommissar Michael Brombach und Oberkommissarin Martina Lange ihre Arbeitsplätze, die einander gegenüberlagen, damit man bei der Arbeit problemlos Kontakt miteinander aufnehmen konnte. Vor der Rückwand dann der groß dimensionierte Chefschreibtisch, von dem aus man leicht den ganzen Raum überblicken konnte. Er war leer geräumt, weil der langjährige Leiter der Mordkommission, Eduard Bamberger, am vergangenen Freitag in seinen wohlverdienten Ruhestand verabschiedet worden war. Heute sollte sein Nachfolger Joseph Travniczek seinen Dienst antreten. Auf die Idee, den Raum durch Zimmerpflanzen oder Bilder an den Wänden etwas freundlicher zu gestalten, war bisher wohl noch niemand gekommen.
Wie fast jeden Tag kam auch heute die Sekretärin Melissa Siebert schon deutlich vor dem eigentlichen Dienstbeginn ins Büro. Die etwas rundliche, recht klein gewachsene Endfünfzigerin konnte sich nur mühsam fortbewegen, denn sie hatte drei große Blumensträuße und mehrere Plastiktüten voll mit Backwerk mitgebracht. Für den Einstand des neuen Chefs wollte sie das sonst eher sterile Büro freundlicher, lebendiger und wärmer erscheinen lassen. Sie nahm aus dem untersten Fach eines Aktenschranks drei Vasen, füllte sie mit Wasser, stellte die Sträuße hinein und arrangierte sie sorgfältig. Dann ließ sie ihre stets freundlichen hellblauen Augen durch den großen Büroraum schweifen, um zu entscheiden, wo die Blumen ihre größte Wirkung entfalten könnten. Sie stellte dann einen Strauß von zwanzig roten Rosen auf den Besprechungstisch, Sonnenblumen vor den Arbeitsplatz von Brombach und Frau Lange und einen bunten Herbstblumenstrauß direkt auf den Chefschreibtisch.
Sie hielt nochmals inne, um sich mit prüfendem Blick davon zu überzeugen, dass ihre Wahl gut war, und wandte sich dann der Kaffeemaschine zu. Es war ein tägliches Morgenritual. Mindestens zwei Löffel Kaffeepulver mehr als normal musste sie in den Filter schütten, weil sie wusste, dass das Team ohne ständigen Nachschub an starkem Kaffee nicht wirklich arbeitsfähig war und deshalb sämtliche Mörder im Großraum Heidelberg weiter unbehelligt frei herumlaufen würden. Als das Wasser durch die Maschine zu laufen begann, öffnete sich schwungvoll die Tür und Kommissar Michael Brombach trat ein, Enddreißiger, groß gewachsen, forscher Blick, erkennbar stolz auf seine durchtrainierte sportliche Figur, seine fast schwarzen Haare und die sonnengebräunte Haut. Er trug sehr enge schwarze Jeans, ein ebenso eng anliegendes, schwarz-weiß gestreiftes, oben offenes Hemd und graue Sportschuhe.
„Guten Morgen, Herr Kommissar!“, begrüßte ihn Melissa Siebert.
„Morgen!“, entgegnete Brombach und nahm mit spöttischem Lächeln den Blumenschmuck zur Kenntnis. „Der gute Melissengeist hat mal wieder für Leben in der tristen Bude hier gesorgt. Schlechte Zeiten für Heidelbergs Mörder. Die fangen wir jetzt doppelt so schnell.“
„Ach, Brombach, wenn du meinst, ich hätte die Blumen für euch Ignoranten besorgt, so irrst du gewaltig. Hast du vergessen, dass heute ein besonderer Tag ist?“
„Das fällt mir jetzt grad nicht ein.“
„Aber heute kommt doch unser neuer Chef! Und der soll doch gleich einen guten Eindruck von uns bekommen. Du weißt doch: Der erste Eindruck ist immer der wichtigste.“
„Ach, jetzt versteh ich. Du willst dich bei dem Neuen, Tawizik, oder wie der heißt, einschleimen!“
„Jetzt red doch keinen Quatsch! Wir haben hier eine Reihe von Jahren gut zusammengearbeitet und …“
„Eben“, unterbrach Brombach.
„Was heißt ‚eben‘?“
„Eben heißt eben! Wir haben hier in der Tat seit fast zehn Jahren mit dem alten Bamberger blendend zusammengearbeitet, haben anerkanntermaßen sehr gute Arbeit geleistet. Wir hatten mehrere Jahre hintereinander landesweit die höchste Aufklärungsrate. Dann verabschiedet sich Bamberger in den Ruhestand. Zur Abschiedsfeier kommt sogar der Innenminister, labert herum, überschüttet uns, die Heidelberger Mordkommission, mit Lobeshymnen und was dann? Sie setzen uns diesen Tschechen oder Slowaken vor die Nase!“
„Also, Kommissar Brombach, bitte keine fremdenfeindlichen Ressentiments! Du hast wohl im Geschichtsunterricht geschlafen. Es gab vor dem Zweiten Weltkrieg das Sudetenland, aus dem nach Kriegsende über drei Millionen Deutsche vertrieben worden sind, von denen viele tschechisch klingende Namen hatten. Und übrigens, der Mann heißt Travniczek.“
„Das mag ja alles sein und ich hab gegen den Mann auch nichts persönlich. Ich bin nur sauer auf diese hochherrschaftlichen Verwaltungsfuzzis. Nach dem, was wir hier geleistet haben, hätte ich, oder meinetwegen auch Martina, die Leitung der Mordkommission übernehmen müssen.“
„Da geb ich dir natürlich recht. Aber du weißt ja …“
Da klingelte das Telefon.
„Aha, die Arbeit ruft!“, meinte Brombach wenig erfreut, während die Sekretärin den Hörer abnahm und dem Anrufer eine Weile zuhörte. Melissa Siebert verdeckte das Mikro des Hörers mit der Hand und wandte sich an Brombach.
„Kommissar, die Pforte ruft an. Sie hätten dort einen Herrn Meyer-Hampel oder so ähnlich, der unbedingt mit jemandem von der Mordkommission sprechen will. Er wollte auch keine Andeutungen machen, um was es geht.“
„Dann sollen die uns diesen Hampelmann hochschicken. Wahrscheinlich wieder so ein üblicher Wichtigtuer, dem angeblich zwei Mörder durch den Vorgarten gelaufen sind. Und wenn man das nachprüft, dann waren’s nur zwei Katzen. In der Regel Zeitverschwendung.“
Das Gespräch zwischen Brombach und der Sekretärin über den neuen Chef und die Ungerechtigkeit dieser Personalentscheidung wurde bald durch leises Klopfen an der Tür unterbrochen.
„Ja, bitte!“, rief Brombach in barschem Ton. Die Tür öffnete sich zögerlich zunächst nur einen Spalt. Es erschien ein ziemlich großer Kopf, der aber einem recht kleinen Mann gehören musste. Zwei verschmitzt lächelnde, recht weit auseinander stehende blaue Augen überflogen prüfend den Raum. Über buschigen Augenbrauen erhob sich eine leicht fliehende Stirn mit tiefen Geheimratsecken. Das hellbraune, schon etwas schüttere Haar war nach hinten gekämmt. Die Backenknochen standen leicht vor, der Mund war breit mit dicken Lippen und einem etwas struppigen Oberlippenbart. Im Zentrum prangte, gleich einem Leuchtturm auf einer Insel, eine große Adlernase.
„Hm, Entschuldigung, wenn ich störe. Bin ich hier richtig bei der Mordkommission?“
„Da sind Sie goldrichtig“, erwiderte Kommissar Brombach etwas ungeduldig. „Treten Sie bitte näher!“
Die Tür öffnete sich und gab den Blick frei auf die ganze Gestalt. Der große Kopf saß auf einem kurzen dicken Hals und einem im Verhältnis zum Kopf zu klein geratenen, aber doch sehr kräftigen Körper. Er trug eine hellbraune Lederjacke, ziemlich abgewetzt und wohl schon lange in Gebrauch, über einem lila Hemd, dessen zwei obere Knöpfe offen waren und den Blick auf eine dichtbehaarte Brust freigaben. Dazu trug er graue Leinenhosen, deren Bügelfalten ihren Namen nicht mehr verdienten, und dunkelbraune Schuhe, die offenbar schon länger mit keiner Schuhbürste mehr in Berührung gekommen waren.
„Darf ich Platz nehmen?“, fragte der Besucher.
„Aber gewiss doch“, antwortete Brombach und zeigte auf einen der Stühle an dem Tisch neben dem Eingang, auf dem Melissa Siebert den Rosenstrauß platziert hatte.
„Rote Rosen bei der Polizei! Damit hätte ich nicht gerechnet.“
„Sehen Sie“, gab Brombach lächelnd zurück, „die Polizei ist gar nicht so schlimm wie ihr Ruf. Aber zunächst einmal: Mit wem habe ich das Vergnügen?“
„O je, wie ungeschickt von mir! Ich hätte mich gleich vorstellen müssen. Das gehört sich ja eigentlich so. Aber Sie müssen entschuldigen, ich bin etwas nervös, Sie müssen nämlich wissen, ich hatte mein Lebtag noch nie mit der Polizei zu tun, und da ist man beim ersten Mal schon, ja, Sie wissen sicher …“
„Also, da machen Sie sich mal keine Sorgen. Angst haben müssen vor uns nur die Spitzbuben, und die richtig, aber für alle anderen sind wir – Sie kennen den Spruch – Freund und Helfer. – Aber jetzt zur Sache. Sie sind?“
„Meyer-Hampel, Wilfried.“
„Wohnhaft?“
„In München, Schwanenthalerstraße 14.“
„Sie wollen uns etwas mitteilen? Also, bitte.“
„Ja, entschuldigen Sie, aber das ist nicht so einfach, ich weiß nicht so recht, wo ich anfangen soll.“
„Vorne am besten.“
„Ich will Ihnen natürlich nicht Ihre sicher sehr kostbare Zeit rauben. Aber um mich verständlich zu machen, muss ich etwas weiter ausholen.“
Während des Gesprächs war Melissa Siebert an den Tisch getreten, sah den Besucher freundlich lächelnd an und fragte: „Darf ich Ihnen eine Tasse Kaffee anbieten?“
„Ach, ganz herzlichen Dank.“
„Aber ich warne Sie. Bei der Polizei trinkt man sehr starken Kaffee.“
„Dann vielleicht doch nicht. Wissen Sie, das Herz … ist nicht mehr ganz so, wie es sein sollte. Aber vielleicht ein Glas Wasser?“
„Aber selbstverständlich. Einen Augenblick.“
Brombach sah sie strafend an wegen ihrer, wie er fand, völlig überflüssigen Freundlichkeit und weil sie ihm keinen Kaffee angeboten hatte. Zu Meyer-Hampel gewandt: „Das ist hier unsere gute Seele. Ohne sie wäre es hier gar nicht auszuhalten. Aber jetzt endlich zur Sache. Was haben Sie zu sagen?“
„Entschuldigen Sie, aber eine Frage noch: Sind Sie hier der Chef?“
„Das nicht. Der hat gerade woanders zu tun. Aber Sie können sich ruhig mir anvertrauen. Also, jetzt endlich, schießen Sie los!“
„Na so was, bei der Polizei schießt man gleich! Aber Spaß beiseite. Also, das ist so. Ich habe vor Jahrzehnten hier in Heidelberg gelebt und habe neun Jahre im altehrwürdigen Kurfürst-Friedrich-Gymnasium* verbracht und da 1974 Abitur gemacht. Dann ging ich nach München zum Studieren und habe dann dort eine Familie gegründet und mich beruflich etabliert. Meine Eltern starben früh, und so ist mein Kontakt zu Heidelberg abgerissen, da ich keine anderen Verwandten hier hatte.“
„Sie sind doch sicher nicht hergekommen, um uns das zu erzählen“, warf Brombach mit zunehmender Ungeduld ein.
„Natürlich nicht! Natürlich nicht! Aber Sie müssen entschuldigen, die Sache ist sonst nicht zu verstehen. Also – jetzt habe ich den Faden verloren – wo war ich stehengeblieben? Ach ja! Ich hatte, wie gesagt, den Kontakt zu Heidelberg verloren, es kamen Kinder, drei Mädchen, hinreißend süß waren sie, als sie klein waren. Ich müsste noch irgendwo Bilder aus dieser frühen Zeit haben. Aber das brauchen wir vielleicht wirklich nicht. Sie sind übrigens mittlerweile alle drei aus dem Haus, zwei sind verheiratet und haben selbst Kinder, ja die Enkelchen, das ist wirklich wunderschön mit ihnen. Aber entschuldigen Sie, ich schweife jetzt doch etwas ab. Also, um es kurz zu machen, es ist jetzt ungefähr ein halbes Jahr her, da traf ich am Viktualienmarkt – Sie kennen den Viktualienmarkt? Einer der schönsten Plätze auf der Welt, wie ich finde ...“
„Nein, kenne ich nicht, hatte noch nicht das Vergnügen, in München zu lustwandeln.“
„Das ist aber ein Fehler! Wissen Sie, München ist eine der schönsten Städte der Welt, die muss man gesehen haben!“
„Da haben Sie sicher recht, aber wir haben eben hier eine ganze Menge zu tun, und deswegen wäre ich Ihnen jetzt wirklich sehr dankbar, wenn Sie endlich zur Sache kämen.“
Inzwischen hatte auch Kommissarin Martina Lange das Büro betreten und Melissa Siebert zu verstehen gegeben, dass sie wieder einmal auf der Ziegelhäuser Landstraße im Stau gestanden hatte. Sie setzte sich neben Brombach an den Tisch.
„Darf ich vorstellen: meine Kollegin Lange.“
„Oh, sehr erfreut, sehr erfreut, aber mir fällt gerade auf, ich habe wohl Ihren Namen vergessen, oder – haben Sie ihn gar nicht genannt?“
„Jetzt muss ich mich entschuldigen: Kommissar Brombach.“
„Oh, sehr erfreut, Herr Kommissar. Ach, wo war ich denn stehengeblieben? Ach ja, bei den Enkelchen, aber ich wollte ja die Sache abkürzen, nein, richtig, ich war ja schon einen Schritt weiter, am Viktualienmarkt. Wirklich wunderschön dort, das müssen Sie mir glauben. Also, dort traf ich, wie gesagt, vor etwa einem halben Jahr ganz zufällig einen alten Klassenkameraden. Wir kamen ins Gespräch über die vergangenen Zeiten, über die vielfältigen Schönheiten von Heidelberg. Natürlich auch die Mädchen, ja, damals waren wir noch jung. Das waren Zeiten. Wir erinnerten uns, dass wir gerne miteinander Schach gespielt hatten. Kurz und gut, nachdem wir unsere Adressen ausgetauscht hatten und ich merkte, dass er gar nicht …“
„Zur Sache bitte, unsere Zeit ist begrenzt und unsere Geduld nicht unendlich.“
„Ja, entschuldigen Sie, die Sache ist eben doch kompliziert und das Problem nicht so leicht zu verstehen. Also, wo war ich noch mal stehengeblieben? Ach ja, also, wir trafen uns, froh, uns wiedergefunden zu haben, seitdem regelmäßig zum Schach und zum Erzählen über alte Zeiten, und dann hatte mein Schulkamerad schließlich die wirklich hervorragende Idee, unsere Erinnerungen an Ort und Stelle aufzufrischen und eine gemeinsame Reise nach Heidelberg zu unternehmen, ohne Familien, nur wir zwei, um in die alten Zeiten einzutauchen.“
Er nahm einen genussvollen Schluck aus dem Glas Wasser, das ihm die Sekretärin inzwischen hingestellt hatte. Brombach und Lange warfen sich gequälte Blicke zu und nur Melissa Siebert bemerkte, dass die Augen des merkwürdigen Besuchers immer listiger und spöttischer blinzelten. Ihr schien, dass er sich ausgesprochen wohl fühlte und sich glänzend amüsierte. Sie hatte mehr und mehr das Gefühl, dass hier irgendetwas nicht stimmte. Er fuhr fort: „Also, wir kamen dann vor drei Tagen hier in Heidelberg an. Wir haben keine Kosten gescheut und sind im Hotel Ritter* abgestiegen – Sie kennen doch sicher das Hotel Ritter, ist doch sehr berühmt, oder?“
Brombach wurde jetzt erkennbar ungehalten: „Natürlich kenne ich das Hotel Ritter, ich bin schließlich gebürtiger Heidelberger und habe noch nie in einer anderen Stadt gelebt. Aber jetzt bitte weiter und endlich zur Sache!“
„Ja, ja, wir sind ja schon am Punkt“, setzte Meyer-Hampel seine Ausführungen fort, unterbrach sich aber noch einmal, um einen weiteren genüsslichen Schluck aus dem Wasserglas zu nehmen. Inzwischen war auch Kommissarin Lange der eigenartige Gesichtsausdruck ihres Gastes aufgefallen. Irgendetwas schien auch ihr nicht zu stimmen.
„Also“, fuhr Meyer-Hampel endlich fort, „gestern Abend, nachdem wir einen sehr unterhaltsamen Tag in Heidelberg verbracht hatten, nach einigen Gläsern köstlichen Pfälzer Rotweins, sagte mein Klassenkamerad ziemlich überraschend, er wolle noch vor dem Schlafengehen kurz an die Luft. Und dann, Sie werden es nicht glauben, kam er einfach nicht wieder, blieb verschwunden.“
„Aber dann“, unterbrach ihn Brombach, „sind Sie bei uns völlig falsch. Ich nehme an, Sie wollen eine Vermisstenanzeige aufgeben, aber dafür sind andere zuständig. Wir sind die Mordkommission und geben uns mit solchen Lappalien nicht ab.“
„Nein, nein, von wegen Lappalie. Wissen Sie, ich kenne meinen alten Schulkameraden gut genug, um sicher, vollkommen sicher zu sein, dass hier etwas Schlimmes passiert sein muss. Und ich habe schon Erkundigungen eingezogen. Ein Unfall mit Personenschaden ist gestern Abend, nachdem er mich verlassen hat, nicht geschehen. Er muss, verstehen Sie, er muss einem Verbrechen zum Opfer gefallen sein.“
Brombach blickte zu seiner Kollegin Lange, sah sie fragend an und sie schüttelte kaum merklich den Kopf. Zu Meyer-Hampel gewandt, sagte Brombach: „Also, wissen Sie, ich verstehe ja Ihre Aufregung. Aber sie ist wahrscheinlich völlig unbegründet. In den meisten Fällen, bei denen wir hören, jemand müsse umgebracht worden sein, taucht derjenige kurze Zeit später kerngesund wieder auf, und für die ganze Geschichte gibt es irgendeine völlig banale Erklärung. Also, ich würde Ihnen jetzt raten, gehen Sie in Ihr Hotel zurück und warten Sie noch bis mindestens heute Abend, Ihr Schulfreund wird mit ziemlicher Sicherheit wieder auftauchen. Aber wenn Sie ihn unbedingt jetzt schon als vermisst melden wollen, begeben Sie sich bitte einen Stock tiefer in Raum 141, dort finden Sie einen dafür zuständigen Kollegen. Ich betrachte unser Gespräch jetzt als beendet. Wir haben hier wahrlich jede Menge zu tun und können uns mit dieser Angelegenheit nicht weiter befassen.“
Herr Meyer-Hampel erhob sich und nahm plötzlich eine völlig andere, sehr selbstbewusst wirkende Körperhaltung an, sein Blick wurde durchdringend und er fuhr Brombach mit einer auf einmal sehr kräftigen sonoren Stimme an: „So geht das nicht, Herr Kommissar! Ich lasse mich von Ihnen nicht wie einen dummen Jungen abweisen. Ich bin sicher, dass hier ein Verbrechen geschehen ist, und ich bestehe darauf, dass Sie in der Sache aktiv werden!“
Brombach und Martina Lange sahen sich verdutzt an. Diese Wendung kam überraschend. Allerdings war bei der Kommissarin der Verdacht, dass dieser Besucher irgendein merkwürdiges Spiel mit ihnen trieb, in den letzten Minuten immer größer geworden. Ohne Brombach zu fragen, ergriff sie daher die Initiative.
„Also, Herr Meyer-Hampel, jetzt regen Sie sich bitte nicht zu sehr auf. Wenn Sie sich Ihrer Sache so sicher sind, können wir Folgendes tun. Wir nehmen Ihre Aussage zu Protokoll und sehen dann, was wir unternehmen können. – Folgen Sie mir bitte zu meinem Schreibtisch!“
Meyer-Hampel folgte ihr, nahm unaufgefordert neben ihrem Schreibtisch Platz, verschränkte die Arme vor der Brust, schlug die Beine übereinander und blickte überlegen lächelnd, aber doch freundlich in die Runde.
Martina Lange wandte sich wieder an ihn: „Einen Moment noch, ich muss den Computer erst hochfahren.“
Im Hintergrund flüsterte Brombach zu Siebert: „So ein komischer Kauz ist mir noch nie vorgekommen. Irgendwie kann ich mir da keinen rechten Reim drauf machen. Auf jeden Fall bin ich froh, dass der neue Chef nicht ausgerechnet während dieses Gesprächs hereingekommen ist.“
„Warten wir’s ab“, entgegnete Frau Siebert wissend lächelnd, „ich hab da so einen ganz bestimmten Verdacht.“
„Was meinst du?“
„Abwarten!“
Inzwischen war der Computer auf Martina Langes Schreibtisch startklar. Sie wandte sich betont freundlich an Meyer-Hampel: „Also, Herr Meyer-Hampel. Wir wären so weit, Sie können loslegen. Vielleicht zuerst die technischen Dinge. Geben Sie mir bitte Namen und Adresse des Vermissten!“
„Sein Name ist Joseph Travniczek.“
„Wie bitte?“, fragte Martina Lange etwas verwirrt, während Melissa Siebert auflachte und Brombach einen triumphierenden Blick zuwarf.
„Zugegebenermaßen für die Zeitgenossen etwas schwer zu schreiben. Das war in meiner Jugend noch anders. Also, ich buchstabiere: Theodor – Rudolf – Anton – Victor – Nordpol – Ida – Cäsar – Zeisig – Emil – Karl. Vorname: Joseph, bitte mit „ph“, darauf hat er immer Wert gelegt.“
Martina Lange tippte den Namen in den Computer, verschrieb sich aber dreimal, da ihr allmählich schwante, was hier gespielt wurde. Sie fragte weiter: „Und was ist Herr Travniczek von Beruf?“
„Polizist.“ – Martina Lange suchte vergebens den Blickkontakt zu ihrem Kollegen, der mit offenem Mund völlig entgeistert in die Leere starrte.
„Welcher Dienstgrad?“
„Hauptkommissar, er war bis vor kurzem Leiter der Münchner Mordkommission.“
Stille – man hätte eine Stecknadel fallen hören –, bis Melissa Siebert sich nicht mehr halten konnte und laut losprustete. Der vermeintliche Herr Meyer-Hampel erhob sich, blickte verschmitzt lächelnd in die Runde und sagte ganz freundlich: „Also, meine Herrschaften, wir können die Komödie jetzt beenden. Herrn Meyer-Hampel gibt es nicht. Ich habe ihn frei erfunden. Ich bin Joseph Travniczek, Ihr neuer Dienststellenleiter.“
Brombach und Lange standen verlegen mit langen Gesichtern im Raum. Vor allem Brombach hätte sich wohl gerne in eine Maus verwandelt, um das Terrain fluchtartig verlassen zu können. Nur Melissa Siebert schien sich köstlich zu amüsieren.
„Also“, fuhr der neue Chef fort, „vielleicht muss ich mich für diese kleine Komödie entschuldigen. Aber ich wollte möglichst schnell erfahren, wie Sie hier so arbeiten, und da schien mir dieser etwas unkonventionelle Einstieg ganz effektiv. Und außerdem hat mir Theaterspielen immer schon unheimlich viel Spaß gemacht.“
Martina Lange befreite sich als Erste aus der Verlegenheit und fragte: „Ein besonders gutes Bild haben wir da wohl gerade nicht abgegeben?“
„Nun“, entgegnete Travniczek beruhigend, „was mich sehr beeindruckt hat, unsere Sekretärin hat mein Spiel wohl als Erste durchschaut. Und es spricht immer sehr für eine Dienststelle, wenn auch, wenn ich so sagen darf, die niederen Dienstgrade konstruktiv mitdenken und zu Problemlösungen beitragen. Ansonsten – nun, ich habe es Ihnen nicht einfach gemacht und einen Trottel gegeben, wie es ihn in der Wirklichkeit kaum geben wird. Und so war es sicher eher schwierig, instinktiv auf die richtige Spur zu kommen. Aber, ohne jetzt auf Einzelheiten einzugehen, kann ich Ihnen gleich zu Beginn meine Philosophie des Dienstes bei der Kriminalpolizei vermitteln. Mir ist es wichtig, dass wir alle Menschen, mit denen wir zu tun haben, vorurteilslos ernst nehmen, ganz gleich, ob sie freundlich, garstig, intelligent, dumm, verlegen, schüchtern, arrogant, gutmütig oder abgrundtief böse sind. Wir dürfen nie urteilen, sondern immer nur beobachten, um aus unseren Beobachtungen Schlüsse zu ziehen. Und wir dürfen vor allem nie vergessen: Es handelt sich um Menschen, die immer das Recht haben, ernst genommen zu werden. Das klingt selbstverständlich, ist es aber nicht. Man müsste einmal eine Statistik erheben, wie viele Verbrechen nicht aufgeklärt oder nicht verhindert wurden, weil die Ermittler mit Vorurteilen, die sie selbst oft gar nicht kennen, an eine Sache herangegangen sind. Also, genug der Vorrede, setzen wir uns zusammen und klären einige technische Details.“
Alle vier nahmen an dem runden Besprechungstisch Platz, auf den Melissa Siebert schon Kaffeetassen und zwei Teller mit Keksen und anderem Gebäck gestellt hatte. Sie goss ein, und nach kurzer Pause begann Travniczek: „Nun, vorweg, was mich auch sehr gefreut hat, waren die drei wunderschönen Blumensträuße hier im Raum. Das bringt hier Leben hinein, wo so viel vom Tod die Rede ist. Ich weiß jetzt nicht, ob das eine Begrüßungszeremonie für mich war oder ob es bei Ihnen so üblich ist. Ich lege Wert darauf, dass es so bleibt. Ein paar dauerhafte Grünpflanzen wären sicher gut. Das heißt, meine erste Dienstanweisung in meiner neuen Position geht an Sie, Frau Siebert. Sie tragen ab sofort die Verantwortung dafür, dass es hier ein wenig lebendiger wird. Kosten spielen keine Rolle, das wird sich lösen lassen. Des Weiteren müssen wir klären …“
Das Telefon auf Brombachs Schreibtisch klingelte und unterbrach den neuen Chef. „Das riecht nach Arbeit. Ich geh ran“, sagte Brombach etwas missmutig, eilte zu seinem Schreibtisch und nahm den Hörer ab. Eine Weile hörte er nur zu. Dann: „Wann? – Wo? – Ist schon jemand vor Ort? – O. k., wir kommen so schnell wie möglich. Ich denke, spätestens in einer halben Stunde sind wir da.“
Er legte den Hörer auf und wandte sich den anderen zu: „Die technischen Details müssen warten. Es gibt Arbeit. Die Heidelberger Kriminellen haben sich wohl auch einen Einstand für den neuen Chef der Mordkommission ausgedacht. Männliche Leiche im Schlossgarten, hinten beim Vater-Rhein-Brunnen12.“
Travniczek erhob sich sofort: „O.k., dann fahre ich da jetzt gleich hin. Frau Lange, begleiten Sie mich bitte. Herr Brombach, Sie halten hier die Stellung, um mögliche Hinweise entgegenzunehmen. Und sicher gibt es ja auch noch irgendwelchen Bürokram zu erledigen.“
„Herr Travniczek“, erwiderte Brombach, „noch eine persönliche Frage: Haben Sie selbst, so wie Meyer-Hampel behauptet hat, am Kurfürst-Friedrich-Gymnasium Abitur gemacht oder war das auch frei erfunden?“
„Das war in der Tat auch frei erfunden. Ich war noch nie in Heidelberg, und da die Entscheidung, dass ich hier diese neue Stelle antrete, innerhalb von zwei Tagen fiel, hatte ich auch kaum die Möglichkeit, mich vorzubereiten. Es hat nur zum Erwerb eines Stadtplans und eines Reiseführers gereicht.“
„Na, dann haben Sie Glück“, schaltete sich Martina Lange in das Gespräch ein, „denn gleich Ihr erster Fall führt Sie an den berühmtesten Ort unserer Stadt: das Heidelberger Schloss.“
Der neue Chef der Mordkommission eilte mit Martina Lange durch die Gänge der Polizeidirektion. Sie verließen sie durch den Haupteingang und wandten sich zum Parkplatz. Travniczek nutzte die Gelegenheit, seine Kollegin näher von der Seite zu betrachten, und war durchaus empfänglich dafür, es mit einer ausgesprochen reizvollen Kollegin zu tun zu haben. Eine schlanke, durchtrainierte Gestalt, ein wohlgeformter kleiner Kopf mit ovalem Gesicht, schulterlangen, dunkelblonden, leicht gelockten Haaren und einem schmalen Mund, dessen Lippen dezent mit Rouge nachgezogen waren. Aber am auffälligsten waren ihre blaugrünen, hellwachen Augen, die ganz und gar nicht frei von Schalk waren. Sie trug enganliegende dunkelgraue Jeans und ein weißes, weit geschnittenes Top. Das alles machte durchaus Eindruck auf ihn. Aber er verbot sich sofort weitergehende Gedanken, da es sein eisernes Prinzip war, nie Berufliches mit Privatem zu vermischen.
„So, das wäre unser Dienstwagen“, sagte Martina Lange, als sie den Parkplatz erreichten. „Da Sie Heidelberg nicht kennen, ist es sicher gut, wenn ich fahre. Und wenn es Ihnen recht ist, werde ich die Fahrt dazu nutzen, Sie etwas mit der Stadt bekannt zu machen.“
Travniczek nickte dankend. Sie bestiegen das Auto und fuhren los. Nach wenigen Metern erreichten sie den Römerkreis.
„Wir kommen jetzt gleich in die Kurfürstenanlage*. In diesem Bereich von Heidelberg finden Sie nur neuere Gebäude. Das sieht hier so aus wie in fast allen anderen deutschen Städten, die nach den kriegsbedingten Zerstörungen in den Fünfzigerjahren neu aufgebaut wurden. Hier ist es aber anders. Wissen Sie, Heidelberg ist die einzige deutsche Großstadt, die im Krieg nicht bombardiert wurde. Das verdankt sie der Sentimentalität der Amerikaner. Sie haben schon immer für Heidelberg geschwärmt. Für sie ist es der Inbegriff der deutschen Romantik. Und so hatten sie schon frühzeitig beschlossen, nach gewonnenem Krieg ihr Hauptquartier hier aufzuschlagen. Und dafür sollte das alte Heidelberg erhalten bleiben.
Was nun den Bereich der Kurfürstenanlage angeht: Dort war früher der Heidelberger Hauptbahnhof, ein Sackbahnhof, der in den frühen Fünfzigerjahren durch den jetzigen, etwas weiter westlich liegenden ersetzt wurde. Dadurch wurde in der Stadtmitte dieses große Areal frei, das dann neu bebaut werden konnte.
Die Grünanlage mit dem großen Springbrunnen vor uns ist der Adenauerplatz*, zusammen mit dem Bismarckplatz* links davon, den Sie jetzt nicht sehen können, das Zentrum des neuen Heidelberg. Wir fahren jetzt gleich rechts an dem Platz vorbei durch einen Straßentunnel. Der ist ein Überbleibsel des alten Bahnhofs. Die Eisenbahnstrecke durchs Neckartal führte früher da hindurch.“
Nach der Fahrt durch den gut dreihundert Meter langen Tunnel setzte Martina Lange ihre ‚Stadtführung‘ fort. „Da, direkt vor uns. sehen Sie die Peterskirche*. Es ist die älteste Kirche Heidelbergs, bis zum Bau der Heiliggeistkirche, die man jetzt nicht sehen kann, Heidelbergs Hauptkirche. Danach wurde sie Universitätskirche und ist das bis heute geblieben. Ganz kurz können Sie links dahinter einen prachtvollen Bau sehen, der aber gar nicht so alt ist, wie er aussieht. Er wurde erst Anfang des 20. Jahrhunderts errichtet. Es ist die Universitätsbibliothek*, in der neben anderen auch die „Manesse-Handschrift“ aufbewahrt wird, eine der weltweit bedeutendsten mittelalterlichen Liedersammlungen. Und da rechts das Klingentor*, einziges erhaltenes Stadttor des alten Heidelberg aus dem frühen 17. Jahrhundert.
Wir biegen jetzt von der Hauptlinie, die ins Neckartal führt, rechts ab und fahren über die Neue Schlossstraße hoch zum Schloss. Die Straße wird jetzt sehr eng. Sie ist in den steilen Hang hinein gebaut. Aber trotzdem stehen an den Straßenseiten dichtgedrängt alte Häuser. Auf der rechten Seite sind sie aus dem Auto schwer zu sehen, da sie oberhalb dieser hohen Stützmauern errichtet wurden. Wer hier wohnt, muss ständig viele Treppen steigen. Das hält sicher fit. Nach der Spitzkehre dort vorne achten Sie rechts auf ein ganz besonderes Prachtstück: ein burgähnlicher Palast. Genaueres weiß ich aber darüber nicht. Das Schloss selbst lassen Sie zunächst einmal einfach auf sich wirken. Dazu könnte man stundenlang erzählen. Und dazu haben wir jetzt sicher keine Zeit.“
Sie kamen an der Bergbahnstation vorbei zum Haupteingang des Schlossgartens, der natürlich für Autos normalerweise gesperrt ist. Jetzt aber stand dort ein Verkehrspolizist. Sie mussten sich ausweisen und konnten dann weiterfahren.
An einem Montagmorgen im Oktober sind auch bei sonnigem Wetter noch fast keine Touristen unterwegs. Dennoch steuerte Martina Lange ihren Wagen jetzt nur im Schritttempo weiter. Sie wollte ihrem neuen Chef doch die Möglichkeit geben, einen ersten Eindruck von der Schlossanlage zu bekommen. Der Park lag noch in tiefem Schatten, während die Berge auf der nördlichen Neckarseite schon sonnenbeschienen waren.
„Ein paar Angaben zu dem, was Sie hier sehen, will ich doch machen“, setzte Martina Lange ihre Erklärungen fort. „Hier gleich links der Stückgarten*. Hier stand früher eine lange Reihe von Geschützen, die im Falle eines feindlichen Angriffs das ganze Tal bestreichen konnten. Und da steht ein kleines Tor eigentlich völlig nutzlos in der Gegend, das Elisabethentor*. Irgendeiner der hier herrschenden Kurfürsten hat es in einer Nacht erbauen lassen, um es seiner Frau, Elisabeth mit Namen, zum Geschenk zu machen. Und hinter diesem Garten die Ruinen vom Dicken Turm* und Englischen Bau*. Und gleich da rechts das neue Service-Center, das sie in die ehemalige Sattelkammer gebaut haben, man kann es auch Touristenmelkstation nennen. Links gegenüber das Brückenhaus* und der Torturm, komplett erhalten. Da kommt man in den Schlosshof.* Früher kam man da immer umsonst hinein, aber seit einiger Zeit muss man tagsüber leider Eintritt zahlen. Und gleich da vorne links der für mich spannendste Bau hier oben, der Krautturm oder auch Pulverturm*. Der ist einst explodiert. Der abgesprengte Teil liegt noch so da wie vor über dreihundert Jahren. Sehen Sie sich diese Mauern an, mehr als fünf Meter dick. Das muss damals furchtbar gekracht haben.“
Jetzt näherten sie sich dem Tatort im südöstlichen hinteren Eck des Schlossgartens*. Er war bereits weiträumig abgesperrt. Das wäre kaum notwendig gewesen. Denn der Park war noch fast menschenleer und nur ein paar vereinzelte Schaulustige standen am Absperrband, um Genaueres sehen zu können. Martina Lange parkte den Wagen etwas entfernt vom Geschehen. Die letzten Meter gingen sie zu Fuß in der noch sehr kühlen morgendlichen Herbstluft. Dabei scheuchten sie einen Schwarm schwarzer Krähen auf, die mit lautem Krächzen aufflogen, ein paarmal tief über ihnen kreisten, einen großen Bogen über den Tatort, die Scheffelterrasse, zum Schloss hin zogen und sich zum größten Teil auf den Resten des obersten Stockwerks des gesprengten Pulverturms niederließen.
„Todesvögel, so nannte man sie früher. Es ist schon merkwürdig, dass die uns hier empfangen“, meinte Travniczek nachdenklich, während er sich mit seiner Kollegin unter der Absperrung hindurch duckte. Sofort kam ihnen ein uniformierter Beamter entgegengelaufen und rief ihnen in scharfem Ton zu: „Sie können hier nicht einfach reingehen! Bitte sofort hinter die Absperrung zurück!“
Sie blieben etwas verdutzt stehen und Travniczek sprach den Uniformierten ruhig und freundlich gelassen an: „Guten Morgen, Herr Kollege, ich habe hier beruflich zu tun. Joseph Travniczek mein Name, Leiter der Mordkommission, meine Kollegin Lange. Und mit wem habe ich das Vergnügen?“
„Oh, entschuldigen Sie vielmals!“, entgegnete der Uniformierte verlegen und wurde rot im Gesicht. „Ich hatte mit dem alten Bamberger gerechnet. Ich bin Polizeimeister Gerhard Metz.“
„Mit Bamberger ist nicht mehr zu rechnen. Der hat sich in den wohlverdienten Ruhestand zurückgezogen. In Zukunft müssen Sie mit mir vorliebnehmen.“
„Freut mich, Sie kennenzulernen.“
„Ganz meinerseits“, antwortete Travniczek. „Waren Sie der Erste am Tatort?“
„Ja, mit meiner Kollegin Annette Abramczik. Ein morgendlicher Jogger hat die Leiche gefunden, die 110 angerufen und wir wurden dann hierher geschickt.“
„Und wie ist die Lage?“
„Männliche Leiche, wohl zwischen vierzig und fünfzig, lag im Vater-Rhein-Brunnen*, man hat ihm offenbar den Schädel eingeschlagen.“
„Ist schon jemand von den Kollegen da?
„Ja, Dr. Melchior, der Gerichtsmediziner, und Breithaupt mit einigen Kollegen von der Spurensicherung.“
„Und der Finder der Leiche?“
„Sitzt in der Nähe des Tatorts. Ist wohl völlig fertig. Er meinte, er habe noch nie einen Toten gesehen.“
„Dann sehen wir uns die Sache doch an.“
Sie näherten sich mit schnellen Schritten dem Tatort. Die Leiche war nur zur Hälfte bedeckt. Ein sehr großer hagerer Mann mit Vollglatze und kleinen runden Brillengläsern kniete neben ihr und untersuchte sie. Martina Lange stieß Travniczek von der Seite an und deutete auf diesen Mann: „Das ist Dr. Melchior, der Gerichtsmediziner, mit dem wir meistens zusammenarbeiten. Fachlich absolut kompetent, aber im Umgang oft schwierig, vor allem, seit er vor zwei Jahren an Krebs erkrankt ist.“
„Er wird mich schon nicht fressen.“ Travniczek näherte sich vorsichtig dem Doktor, beugte sich zu ihm hinunter und sprach ihn leise an: „Dr. Melchior?“
„Ich kenne Sie nicht. Was wollen Sie? Sie sehen doch, dass ich arbeite.“
„Entschuldigen Sie vielmals. Ich bin Hauptkommissar Joseph Travniczek und leite seit heute die Mordkommission. Gut, dass wir uns so schnell kennenlernen.“
„O. k., das wäre erledigt. Wollen Sie sonst noch etwas?“
„Wenn es nicht zu viel verlangt ist: Können Sie schon etwas über Todesursache und Todeszeitpunkt sagen?“
„Die Todesursache sieht doch jedes Kind. Diesem Herrn hat jemand den Schädel eingeschlagen. Der Todeszeitpunkt ist vor der Obduktion nur sehr vage anzugeben.“
„Und das wäre?“
„Zwischen 22 und 2 Uhr. Mehr kann ich jetzt noch nicht sagen.“
„Und wann kann ich mit Ihrem Bericht rechnen?“
„Morgen früh.“
„Früher geht nicht?“
„Ich kann auch nur arbeiten.“
„Natürlich. Aber wäre wenigstens der genaue Todeszeitpunkt früher zu ermitteln? Das ist für uns die wichtigste Information.“
„Ihr Polizisten seid elende Quälgeister. Gute Arbeit braucht ihre Zeit. Ich will sehen, was sich machen lässt. Versprechen kann ich aber nichts.“
„Ich danke für Ihre Mühe im Voraus.“
Travniczeks Blick blieb noch eine Weile auf den Toten gerichtet. Der Kontrast zwischen dem ausgesprochen schönen, leicht femininen Gesicht und der klaffenden Hirnschale war erschütternd. An seine Kollegin gewandt, sagte er leise mit resignierter Stimme: „Ich weiß nicht, ich bin schon ziemlich lange in diesem Geschäft, aber gewöhnen kann ich mich an solche Bilder wohl nie. Wie geht es Ihnen dabei?“
Martina Lange schüttelte nur stumm den Kopf. Auch sie hatte der Anblick des Getöteten tief getroffen. Es fiel ihr schwer zu sprechen.
„Wissen Sie“, fuhr Travniczek fort. „Je länger ich mich mit dem Phänomen Mord beschäftige, je mehr Mordopfer, teilweise grauenhaft zugerichtet, ich gesehen habe, umso entscheidender wird für mich die Frage: Wie unendlich viel muss in der Seele eines Menschen zerstört worden sein, damit er zu so einer Tat fähig wird? Haben wir es nicht letztlich nur mit Opfern zu tun? Kein Kind wird als Mörder geboren.“
Er riss seinen Blick von dem Getöteten los und wandte sich wieder an seine Kollegin: „Lassen wir besser das Philosophieren und machen uns an die Arbeit. Befragen Sie doch den Finder der Leiche. Ich mache mich in der Zwischenzeit über die Spurenlage schlau. Wer hier ist Breithaupt?“
„Der kleine Dicke dort am Brunnen“, entgegnete Martina Lange und machte sich auf die Suche nach dem Jogger.
Breithaupt war gerade im Gespräch mit zweien seiner Mitarbeiter. Travniczek trat von hinten an ihn heran und tippte ihm leicht auf die Schulter. Schneller, als man es bei seiner Körperfülle erwartet hätte, drehte der sich um und rief: „Oh, haben Sie mich erschreckt! Ich dachte schon, die Leiche sei von den Toten auferstanden und wollte mich umarmen. Aber wer sind Sie und was wollen Sie?“
„Travniczek, Joseph, Hauptkommissar. Ich führe die Ermittlungen, nachdem ich vor etwa einer Stunde die Leitung der hiesigen Mordkommission übernommen habe.“
„Ja, richtig! Der alte Bamberger ist ja in Pension gegangen. Schade, das war ein doller Kerl, kann ich Ihnen sagen. Wenn wir mal nach Dienstschluss im Goldenen Hecht gelandet waren, hat er uns alle unter den Tisch gesoffen. Da treten Sie ein schweres Erbe an.“
„Was das betrifft, mache ich mir keine Sorgen, auf diesem Gebiet habe ich keinerlei Ambitionen, mit Bamberger zu konkurrieren. Aber erst einmal zu diesem Fall. Was können Sie jetzt schon zur Spurenlage sagen?“
„Sie haben ja wirklich Pech – oder ist es vielleicht Glück –, dass Sie zu Ihrem Start hier gleich so einen heftigen Fall aufgeladen bekommen. Also, wir haben bis jetzt schon Folgendes: Der Täter hat das Opfer zwischen der Grotte dort und dem Brunnen offenbar von hinten mit einem stumpfen Gegenstand erschlagen. Tatwaffe – bis jetzt Fehlanzeige. Er hat ihn dann in den Brunnen gezogen und versucht, das Blut auf dem Boden mit Kies zu bedecken, aber völlig unzureichend, so dass sofort klar war, wo die Tat geschehen ist. Was haben wir bei dem Opfer gefunden? Leider nichts, was auf seine Identität hinweist. Er hatte nur einen Schlüsselbund und – wohl gemerkt – eine Pistole bei sich, eine Sportwaffe. Zwischen Tatort und Fundort der Leiche im Brunnen lag ein merkwürdiges Elektronikteil. Irgendwie selbstgebastelt. Ist mir noch nicht ganz klar, wofür es gut ist. Es dürfte irgendetwas mit einem Sender zu tun haben. Müssen wir erst im Labor genau untersuchen. Mehr haben wir leider noch nicht.“
„Aber das ist doch schon eine ganze Menge“, bedankte sich Travniczek und suchte nach seiner Kollegin. Sie trat von der Seite an ihn heran und meinte: „Die Befragung des Finders der Leiche war wenig ergiebig. Er hat sie beim Joggen im Brunnen liegen sehen, ist furchtbar erschrocken und steht etwas unter Schock. Aber dass er mit der Tat irgendetwas zu tun hat, erscheint mir denkbar unwahrscheinlich. Ich habe ihn aber auf jeden Fall für morgen in die Direktion bestellt, um ein Protokoll zu erstellen.“
„Gut“, sagte Travniczek. „Dann sind wir ja hier erst einmal fertig und können zurück ins Büro.“
Nach einigen Metern hielt Travniczek noch einmal an und schaute zurück. Sein Blick blieb an der Figur des Vater Rhein hängen.
„Sehen Sie sich dieses Gesicht an, Frau Lange. So traurig, wie der dreinschaut, hat der sicher alles gesehen, was hier letzte Nacht passiert ist. Da hätten wir auf jeden Fall einen Zeugen.“
„Na ja“, warf Martina Lange ein, „allerdings ist es ein steinharter Bursche. Aus dem wird man nicht leicht etwas herausbringen.“
„Aber wenn Sie Ihren Charme spielen lassen, werden Sie ihn doch sicher erweichen können. Und dann wird er alles vor Ihnen ausbreiten.“
„Ich weiß nicht. Ich mag ja Komplimente, aber da überschätzen Sie mich jetzt doch wohl ein wenig.“
„Da bin ich aber enttäuscht von Ihnen. Von einer guten Polizistin hätte ich nun schon erwartet, dass sie so etwas kann.“
„Also, dann ein Vorschlag zur Güte. Wir machen Arbeitsteilung. Sie sorgen dafür, dass dieser Herr morgen auf der Direktion erscheint, und ich nehme ihn dann ins Kreuzverhör, und da wird er alles sagen, was wir wissen wollen. Im Übrigen: Der Mann liegt hier schon seit fast vierhundert Jahren. Und da hat er schon sehr viel gesehen. Auch die Zerstörung des Schlosses lief vor seinen Augen ab. Sein trauriger Blick hat sicher nicht nur mit dem Mord heute zu tun.“
O Gott, o Gott – was für ein Albtraum! – es ist nicht wahr – Gottfried ist nicht weg – er ist im Unterricht – aber die Schule hat angerufen – er ist nicht gekommen – der Mann von der Notrufzentrale – Gottfried vermisst melden – auf dem Polizeirevier Nord – wie komm ich zur Furtwängler-straße? – Dossenheimer Landstraße, dann Berliner Straße – dann links abbiegen – darf man dort abbiegen? – ich bin völlig durcheinander – kann ich überhaupt fahren? – das gab es noch nie – in all den Jahren – mein Gottfried war da – immer – hat mir geholfen – für alles gesorgt – wenn ich nicht weiter konnte – wenn alles schwarz war – wenn ich ihn vor mir sah – diesen Scheißkerl – hat mein Leben ruiniert – vierzehn Jahre ist das her – und immer noch Panik – er steht plötzlich vor mir – obwohl er weit weg ist – hoffentlich tot – und jetzt ist auch Gottfried weg – einfach weg – das kann nicht sein – er lässt mich nicht im Stich – wenn ihm was zugestoßen ist – das ist das Ende – allein kann ich nicht – – wo ist der verdammte Autoschlüssel? – durch die ganze Wohnung bin ich gerannt – er ist nirgends – – gestern Abend – alles wie immer – wieder seine Kopfschmerzen – wie so oft – er ist in den Wald – den er so liebt – dann geht es ihm besser – – da hängt er ja – wo er hingehört – so durcheinander – ich schaffe es nicht - die einfachsten Dinge – – er ist nicht nach Hause gekommen – so war es ja oft – hab gar nichts gemerkt – nichts Böses gedacht – – und dann ruft die Schule an – er ist nicht gekommen – und jetzt zur Polizei – hoffentlich finde ich die – der Mann in der Notrufzentrale – ein unfreundlicher Kerl …
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Elvira Wolters, eine unscheinbare kleine Frau von einundvierzig Jahren, verließ völlig konfus ihre Wohnung in der Mühltalstraße 150 und schlug die Wohnungstür hinter sich zu, ohne abzuschließen. Ihr Wagen, ein dunkelblauer VW Golf, stand vor der Haustür. Ihre Hände zitterten so sehr, dass sie nur mit Mühe die Wagentür aufschließen konnte. Sie setzte sich hinter das Steuer, ohne sich anzuschnallen, und es gelang ihr erst nach mehreren Versuchen, den Zündschlüssel in das Schlüsselloch zu stecken und das Auto zu starten. Viel zu schnell fuhr sie in Richtung Handschuhsheim* Zentrum.
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