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Was, wenn Medusa nie das Monster war? Mit »Schlangen und Stein« hat James A. Sullivan eine eindrucksvolle Neuinterpretation der Medusen-Sage geschaffen, die den antiken Stoff über die Themen Verfolgung, Unterdrückung und Gemeinschaft in die heutige Zeit transportiert: Medusa wurde von Perseus getötet, ist jedoch in Form von neun Schwestern wiederauferstanden. Im Verborgenen haben sie überlebt, doch ihr Ziel ist es, eines Tages wieder eins zu werden. Sema und Elena, eine Medusenschwester und eine Gargoyle, setzen alles daran, dies Wirklichkeit werden zu lassen. Ein Weg, auf dem sie alles gewinnen, aber auch alles verlieren könnten.
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© Piper Verlag GmbH, München 2024
Redaktion: Werner Bauer
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Covergestaltung: Guter Punkt, München
Coverabbildung: Stephanie Gauger, Guter Punkt München unter Verwendung von Motiven von iStock / Getty Images Plus und AdobeStock
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Cover & Impressum
Widmung
Kapitel 1
Am Rande von Irland
Aus dem Buch der Gorgonen – I
Von Schwestern und Vertrauten
Medusenblicke – Zwischen Sema und Umae
Die Zuflucht aus dem Traume
Kapitel 2
Das Haus in der Eifel
Aus dem Buch der Gorgonen – II
Die Vertrauten der Umae
Medusenblicke – Eine neue Gemeinschaft
Kapitel 3
Eine Gemeinschaft in Köln
Aus dem Buch der Gorgonen – III
Metamorphosen
Medusenblicke – Der Zeit entwachsen
Gargoyles
Gestalten
Medusenblicke – Zwischen Gargoyles
Ras
Kapitel 4
Gefangenschaft
Aus dem Buch der Gorgonen – IV
Ruhelos
Kapitel 5
In Bewegung
Medusenblicke – Auf alten Spuren
Die magische Höhle
Medusenblicke – Die Macht unserer Feinde
Eine Spur führt nach Westen
Kapitel 6
London
Aus dem Buch der Gorgonen – V
Das Haus Durand
Medusenblicke – Auf der Suche
Kapitel 7
Der Außenseiter
Aus dem Buch der Gorgonen – VI
Das Geheimnis
Eskapaden
Medusenblicke – Von Gleichzeitigkeiten im Hause Durand
Die Flucht aus dem Hause Durand
Kapitel 8
Wales
Medusenblicke – Die Zeit des Erwachens
Eine Spur vor ihrer Zeit
Aus dem Buch der Gorgonen – VII
Die Zeit der Zusammenkunft
Kapitel 9
Alyscamps
Medusenblicke – Die Zeit der Vereinigung
Der Zauber
Die Vertrauten der Gorgone
Medusa
Anhang
Personen
Glossar
Tags & Inhaltswarnungen
Tags zum Inhalt
Inhaltswarnungen
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Für #TeamMedusa
Wir folgten dem steinigen Küstenpfad, der sich die Klippe entlangschlängelte. Unter uns rauschte das Meer, über uns drohten Regenwolken, und die Feinde waren auf unserer Fährte. Wie vor zwei Jahrzehnten waren wir auf der Flucht, und wie damals gab es nur uns – Elena und Sema, eine Gargoyle und ihre Medusa.
Wie unsere Feinde – die selbst ernannten Söhne des Perseus – uns in Dublin aufgespürt hatten, wusste ich nicht, aber seither waren wir in Bewegung. Da Sema lange im Medusenschlaf gelegen hatte, schwankte ihre Konzentration. Auf das Hellwachsein folgte schnell felsenschwere Müdigkeit. Dazu kam, dass Sema per Gedanken mit ihrer Medusenschwester Umae in Kontakt stand und dadurch oft von der Wirklichkeit um sie herum abgelenkt war. Es war an mir, den klaren Blick auf unsere Umgebung zu wahren.
Die ruhigen Jahre in Irland, die Sema fast ausschließlich im Schlaf verbracht hatte, waren vor drei Wochen in einer Nacht in Dublin mit meiner letzten Heimkehr in unser schmales Haus vorbei gewesen. Seit unserer Auseinandersetzung, bei der Sema einige unserer Feinde versteinert hatte, waren wir mehrmals in Bedrängnis geraten, hatten aber auch versucht, unsere Verfolger zu Verfolgten zu machen. Wir hatten sie sogar belauscht und den Magier, den sie dabeihatten, nach einem vergeblichen Versuch Semas, ihn zu versteinern, in die Irre geführt.
In uralten Verstecken im Nordwesten Irlands hatten wir von Sema vergrabenes Gold und Schriften geborgen. Das Gold hatten wir heimlich verkauft, die Schriften ersetzten Bücher, die wir in den 1990ern bei unserer Flucht aus Vancouver verloren hatten – darunter Das Buch der Gorgonen.
Den Schatz zu bergen, hatte jedoch einen Preis gehabt: Unsere Feinde hatten unsere Spur wieder aufgenommen. So befanden wir uns nun am Rande von Irland, im Süden auf der Halbinsel Dingle an einer Klippe, und sahen, dass die Söhne des Perseus nicht nur hinter uns waren, sondern auch vor uns auf dem Weg hinab zur Straße lauerten.
Wir suchten Zuflucht auf einer Wiese, an der der Pfad vorbeilief. Bei Tag war dies sicherlich ein wunderschöner Aussichtspunkt, doch nun in der Abenddämmerung, vom Regen getrübt, wurde es zu dem Ort, an dem wir unseren Feinden die Stirn bieten würden. Ob die Söhne des Perseus uns in die Enge getrieben oder wir sie in die Falle gelockt hatten – diese Frage hing allein von Semas Verfassung ab. War sie müde und verwirrt, dann war es das eine, war sie hingegen wach und konzentriert, war es das andere.
Als wäre es eine Antwort auf meine Erwägungen, setzte sich Sema ins nasse Gras und schien darum zu kämpfen, die Augen offen zu halten, als wäre sie ein Mensch, der sich dem Schlaf kaum noch zu entziehen vermochte. Sie schaute sich um, als schwirrten Geister über die Wiese. Dann hob sie den Blick zu den Möwen, die kreischend unter den grauen Wolken umherflogen, als flüchteten sie vor dem Meer.
Die sich anbahnende Konfrontation war wie all jene in den 1880ern in Maryland, als wir zwischen Potomac und Chesapeake Bay den wiederkehrenden Angriffen der Feinde begegnet waren. Unsere Widersacher wussten längst, dass Pistolen und Gewehre nicht genug gegen uns ausrichteten, um uns daran zu hindern, an sie heranzukommen.
Die beiden Gruppen unserer Feinde vereinten sich auf dem Pfad und rührten sich nicht. Ich war zwar nicht gut darin, Magie zu spüren, hatte aber in den letzten Wochen so oft mit den magischen Dolchen zu tun gehabt, dass ich diese Waffen nun bei der Hälfte unserer elf Widersacher wie beinahe verloschene Fackeln gewahrte. In dieser vom Regen getrübten Abenddämmerung mochten Sema und ich kaum mehr als Schatten für sie sein. Mit dem Grauen Blick, der mir als Gargoyle gegeben war, konnte ich sie hingegen noch so gut ausmachen, dass ich den Magier zwischen ihnen erkannte. Er wirkte jung, und ich fragte mich, ob ein Zauber ihn vor dem Altern bewahrte. Er schaute immer wieder unter seinen Leuten umher, und ich glaubte, daran Unsicherheit abzulesen.
Ich ließ meine Kräfte fließen, und mein Körper verwandelte sich von einem aus Fleisch und Blut in einen aus Stein und Magie. Es war, als bildeten sich kleine Kügelchen unter meiner Haut, die nach innen strebten und alles auffüllten – winzige Steine in meinen Adern und große in meinem Magen, die aufglühten und die Wut der Gorgonen in mir entfachten. Mein Herz hatte eben noch gepocht, nun war es zu einem Felsbrocken erstarrt, schob aber mit Zaubermacht die Magie durch meine versteinerten Adern. Aus Fleisch war Stein, aus Blut war Magie geworden. Die Organe waren umgewidmet: In der einen Gestalt waren sie trotz Magie noch teilweise menschlich, in der anderen waren sie die eines Zauberwesens. Nur die Formen erinnerten an das alte Leben.
Für einen Augenblick überlegte ich, ob ich meinen Körper in der Schwebe halten sollte, irgendwo zwischen Fleisch und Stein. Es hatte mir in der Vergangenheit oft genützt, äußerlich weich und verletzlich zu erscheinen, innerlich aber aus Stein zu sein. Stattdessen vollzog ich die Verwandlung jedoch vollständig, und sogar die Kleidung, die ich am Leib trug, wurde zu Stein.
Ein Schuss ertönte, und ich erschrak, obwohl ich wusste, dass ich die Geschosse nicht zu fürchten hatte – solange unsere Feinde keinen Weg fanden, Kugeln zu fertigen, denen der Zauber ihrer Klingen innewohnte.
Ich stellte mich schützend vor Sema. Die meisten Geschosse prallten einfach von mir ab, einige aber sprengten mir Steinstücke von Schulter, Arm und Hüfte. Der aufflammende Schmerz wurde nur noch von der Peinigung durch den Zauber übertroffen, der in mir loderte und die gerissenen Kerben wieder auffüllte.
Die Männer – die Söhne des Perseus bestanden nur aus Männern – kamen näher. Die mit den Dolchen liefen voran, der Magier und die anderen hielten sich dahinter. Das waren zu viele, um sie allein zu besiegen. Drei, vielleicht vier würde ich abhalten können. Aber sobald mich einer der Dolche berührte, wäre es, als würde dessen Klinge glühen und mich zugleich schneiden und verbrennen. Wenn in der Vergangenheit zwei Gegner auf mich eingestochen hatten, nahm ich es hin und schlug mit meinen Steinfäusten nach den Angreifern. Um die Wunden kümmerte ich mich später.
»Sema! Du musst was tun!«, sagte ich. »Nur du kannst …« Ich brach ab, denn so sehr Sema an diesem Tag verwirrt schien, so sehr überwältigte mich der magische Hauch, der jetzt von ihr ausging. Der Regen hatte ihr Haar schwer gemacht. In dicken Locken fiel es ihr auf die Schultern. Ihre dunkle Haut, die dunkler war als die meine, war von glänzenden Tropfen bedeckt, und ihre Augen waren ganz schwarz geworden. Ihr Haar hob sich, als hätte es der Wind trotz aller Feuchtigkeit erfasst. Es waren ihre Schlangen, die sich zischelnd aufrichteten – diesmal waren sie grün wie das trübe Gras, und sie schauten sich um, als sähen sie die Welt zum ersten Mal.
Über das Schlangenhaupt ging Semas Verwandlung nicht hinaus. Insbesondere die Schwingen, die sie aus ihrem Rücken herauswachsen lassen konnte, hätten uns in diesem Augenblick zur Flucht verhelfen können. Doch ihre entschlossene Miene sagte mir, dass sie eine Konfrontation wollte.
Ich machte ihr Platz, und was ein Angriff unserer Feinde werden sollte, geriet ins Zögern. Der eine ließ dem anderen den Vortritt. Jene, die mit Pistolen bewaffnet waren, gaben weitere Schüsse ab. Semas Schlangen fauchten und richteten sich nach vorn, als wollten sie den Feinden entgegenspringen. Blitzschnell nahm Sema ihre eigene Steingestalt an. Alles wurde grau, sogar ihre Kleidung. Sie blieb jedoch beweglich, und die Schlangen schienen lediglich ihre Farbe gewechselt zu haben. Auch an ihr prallten die meisten Kugeln ab, und die wenigen, die an ihrem Körper nagten, schienen ihr keinen Schmerz zu bereiten.
Als wäre es eine unmittelbare Folge der Verwandlung, erstarrte einer der Männer. Erst schien es, als hätte ihn die Angst gepackt, doch die Schreie seiner Kameraden und ihr Zurückweichen sagten mir, dass Semas Macht wirkte, noch ehe ich es selbst mit dem Blick erfassen konnte. Als ein weiterer beim Weglaufen erstarrte, machten alle kehrt, und ich fragte mich, wie viel man diesen Männern gesagt hatte. Wussten sie, dass es bei der Macht der Medusa nicht darauf ankam, dass diese sie sahen, sondern nur darauf, ob sie von ihr gesehen wurden, wenn sie ihren Zauber wirkte?
Einer nach dem anderen erstarrten die Söhne des Perseus in ihren Fluchtbewegungen. Auch der Magier hielt inne, aber ich sah, dass er zitterte. Falls er so mächtig war, dass er Semas Zauber widerstand, mochte er für uns eine Gefahr werden; falls nicht, wäre es nun bald mit ihm vorbei.
Langsam näherten wir uns dem Magier, und ich fragte mich, ob Sema ihn teilweise versteinert hatte, sodass er nicht fortlaufen konnte. Als wir bei ihm waren, erblickte ich Angst in seinen braunen Augen. Der Regen hatte sein blondes Haar verdunkelt, und im Grau des nahenden Abends wirkte er für meinen Gargoyleblick mit seiner blassen Haut beinahe wie eine Statue aus Kalkstein.
Er atmete stoßhaft ein und zittrig aus. Sobald Sema ihn versteinerte, würden wir unserem Ruf als Monster gerecht und würden ihn und all die anderen von der Klippe ins Meer stoßen. Niemand würde sie finden – zumindest nicht für eine Weile. Sema jedoch hielt inne und musterte den Magier lediglich. »Dir ist klar, dass ich hier und jetzt dein Leben beenden könnte«, sagte sie.
»Dann tu es«, erwiderte der Magier mit einer tieferen Stimme, als ich im zugetraut hätte. »Wo ich herkomme, gibt es andere, die dich und deine Schwestern finden werden.«
Ich wunderte mich über das Wort Schwestern. Er verwendete es wie der Vertraute einer Medusenschwester. Sicherlich meinte er nicht Stheno und Euryale, die wir in unseren Kreisen als Gorgonenschwestern bezeichneten. Seine Wortwahl nährte unseren Verdacht, dass die Söhne des Perseus inzwischen fast alles über uns wussten.
Sema fasste die Hände des Magiers, und ich spürte seine Zauberkraft, die wie ein Windhauch von ihm ausging und Sema entgegenwehte, sich in den Schlangen verfing und sie tanzen ließ, als berauschten sie sich an der Macht des Magiers.
»Wie heißt du?«, fragte Sema.
»Bertram … Setterfield.«
»Bertram. Ich lasse dich laufen. Aber solltest du mir jemals auf diese oder ähnliche Weise wiederbegegnen, werde ich dich versteinern. Halte dich fern von uns!«
Bertram Setterfield schwieg, und als hätte es irgendjemand befohlen, wandte er sich um und lief davon.
»Mach ihn zu Stein«, sagte ich. »Sonst macht er uns nur wieder Ärger.«
»Er ist nicht ihr Anführer«, erwiderte Sema, während wir dem Magier nachschauten, wie er den Weg zum Küstenpfad abkürzte und auf halbem Weg ins Stolpern geriet, aber auf den Beinen blieb. »Er ist nur ein … Handlanger.« Sema atmete tief durch, und das Seufzen kannte ich nur zu gut. Sie war erschöpft.
»Ich hoffe, er hat nicht gemerkt, dass du geschwächt bist«, sagte ich.
»Hat er nicht«, erwiderte sie und geriet ins Taumeln; und sie wäre gestürzt, hätte ich sie nicht aufgefangen. Die Schlangen ließen sich fallen und verwandelten sich in Semas Lockenhaar, das begierig den Regen aufnahm.
Sema wollte sich erheben, aber ich legte ihr die Hand auf die Schulter. »Bleib sitzen«, sagte ich. »Ich kümmere mich um alles.« Dann sah ich, dass Setterfield auf dem Pfad nach links gelaufen war, und hoffte, dass er uns nicht unten bei unserem Wagen erwartete.
Allein machte ich mich daran, die Versteinerten zum Rand der Klippe zu zerren und sie in die Tiefe zu stoßen. Die meisten zerbrachen an den Felsen, die anderen versanken in den Wogen des Meeres. Es hätte ohnehin keine Hoffnung für sie gegeben. Nicht einmal Sema konnte eine endgültige Versteinerung rückgängig machen. Nur mit den vereinten Kräften der Schwestern war dies möglich – oder wenn sie alle wieder zu Medusa verschmolzen. Denjenigen, deren Steinkörper dort unten nicht zerbrachen, würde das Leben nur allmählich entschwinden. So oder so: Ich stürzte hier unsere Feinde in den Tod, und ich schämte mich nicht dafür.
Beim letzten Versteinerten ging Sema mir zur Hand, als hätte sie nie Erschöpfung geplagt. Gemeinsam warfen wir die Statue in die Tiefe.
»Vielleicht hätte ich sie nur eine Weile aus dem Spiel nehmen sollen«, sagte Sema. In all den Jahren hatte ich nur zweimal erlebt, dass Sema jemanden zeitweise versteinerte. Es verlangte viel mehr Kraft und Konzentration. Weder über das eine noch über das andere verfügte sie gerade.
»Nur um ihnen dann wieder zu begegnen?«, erwiderte ich. »Nein. Lass uns hoffen, dass dieser Magier uns nicht beim Wagen erwartet. Ach, Fakke! Ich hätte ihn auch lebendig von der Klippe stoßen können.«
»Das hättest du tun können?«, entgegnete Sema, und mit ironischer Stimme fügte sie hinzu: »Einfach einen hilflosen Menschen in den Tod stoßen?«
»Inzwischen könnte ich ihnen alles antun«, antwortete ich. »Und … Setterfield ist gefährlich. Er mag zögerlich wirken, aber er hätte uns heute erledigen können. Wir sind beide nicht auf der Höhe unserer Kräfte.«
»Tut mir leid, dass ich so viel in Gedanken war«, sagte Sema. »Das hindert mich daran, gänzlich zu erwachen.«
»Wir brauchen eine Ruhepause«, erwiderte ich. »Hätten wir diesen Schatz nicht verkauft, hätten sie uns nicht erwischt. Wir hätten stutzig werden müssen, dass dieser Händler nur zu Fuß zu erreichen war.«
»Das spielt keine Rolle mehr«, sagte Sema. »Ich habe eine Zuflucht für uns gefunden.«
»Eine Zuflucht?«, fragte ich verwundert, denn normalerweise suchte ich uns einen sicheren Ort.
»Umae hat es mir zugeflüstert. Sie hat alles in die Wege geleitet. Wir müssen nach Cork. Und dann sagen wir dieser Insel Lebewohl.«
»Das heißt, Umae wird uns helfen.« Mir war klar, dass Sema mit ihrer Medusenschwester im Gedankenaustausch stand, aber dass Umae so schnell für uns eine Flucht organisiert hatte, damit hatte ich nicht gerechnet.
Ich nahm nun auch meinerseits wieder meinen Körper aus Fleisch und Blut an, und auch meine Kleidung verwandelte sich zurück und war ebenso nass wie zuvor. Da mein Zauber in der Versteinerung alle Kerben und Breschen geschlossen hatte, war auch meine Kleidung unversehrt – so, wie sie vor der Verwandlung gewesen war.
Auf dem Weg hinab zum Parkplatz an der Straße erblickte ich unseren roten Nissan. Daneben standen die beiden Wagen, die wir schon bei unserer Ankunft bemerkt hatten. Von Setterfield war nichts zu sehen. Und da unser Wagen in Ordnung zu sein schien, stiegen wir ein. Ich mochte diesen alten Kleinwagen. Er war jedenfalls besser als das kotzgelbe Wrack, das ich vor ein paar Wochen noch gefahren hatte und mit dem wir in den ersten Tagen unserer Flucht alles andere als unauffällig gewesen waren.
»In Killarney wartet ein neuer Wagen auf uns«, sagte Sema, und mir war klar, dass Umae das tat, was ich jahrelang vermieden hatte: Kontaktleute in Anspruch zu nehmen.
Semas Stimme erklang in meinem Kopf. »Wir haben keine Wahl, El.« Sie in mir zu hören, hatte ich über die Jahre vermisst. Früher hatte sie sogar durch mich Magie wirken können und mir damit gezeigt, wozu mein Körper fähig ist, falls ich all seinen Zauber je meistern sollte. Ihre Stimme bescherte mir ein Gefühl von Nähe, zugleich aber von Schuld. »Vielleicht war ich zu misstrauisch«, sagte ich.
»Dein Misstrauen hat uns jahrelang Sicherheit beschert.«
Immer noch von der Sorge erfüllt, Setterfield und die anderen könnten den Wagen manipuliert haben, startete ich den Motor. Nachdem wir am Parkplatz durch einen schmalen Tunnel gefahren und der sich windenden Küstenstraße ein Stück gefolgt waren, überlegte ich, was ich anders hätte machen können, und sagte schließlich: »Heute Morgen dachte ich noch, wir könnten auf einer der Inseln untertauchen und ein paar Jahre den hübschen Anblick genießen.«
Sema fasste meine Hand, als sie auf dem Schalthebel lag, und die Wärme trieb einen Schauer über meinen Arm. Ich schaute sie kurz an und sah das liebevolle Lächeln. Sie sagte: »Wenn wir wieder mal einen Ort brauchen, an dem uns niemand erwarten würde, kommen wir einfach zurück.«
Euryale, Stheno und Medusa verließen früh ihre Heimat Soralûn und erkundeten den Weltenozean, der alle Gefilde miteinander verbindet. Sie besuchten Inseln wie Tjorsan und Burlevain, wo die Macht der Welten aus Quellen sprudelte, und bewunderten in Iliyorn die Kraftstränge, die in den Gewölben sichtbar und greifbar waren und die Pforten zu den Welten mit der Macht aus den Quellen nährten.
Durch eine der Pforten gelangten sie in unsere Gefilde. Hier wurden sie als Die drei Schwestern verehrt – zuerst auf den Inseln, die westlich der Meeresenge liegen, die wir einst die Säulen des Herakles nannten. Später kannte man die Schwestern unter verschiedenen Namen und in unterschiedlichen Gestalten auf der ganzen Welt. Wir kennen sie unter ihren griechischen Namen.
Keto hatte ihre Töchter ein ums andere Mal daran erinnert, dass sich ihr göttliches Erbe an ihnen in unterschiedlicher Weise manifestiere. Euryale und Stheno würden, sollten sie in unserer Welt sterben, in ihren Heimatgefilden Soralûn wiedergeboren – in den steinernen Wasserbecken, aus denen sich der Fluss Varuleya speist. Dort hatte Keto ihnen einst das Leben geschenkt. Der Tod wäre für Stheno und Euryale nur eine Heimreise und machte sie, wie die meisten Enkel der Gaia, zu Unsterblichen.
Medusa jedoch wurde nicht in den Quellen des Varuleya geboren, sondern auf einem Schiff zwischen den Welten. Sie vor dem Schicksal des Todes zu bewahren, bedurfte eines Zaubers, dem auf dem Weltenozean Grenzen gesetzt waren. Keto vermochte die Seele nicht an ihr eigenes Blut zu knüpfen, und ebenso wenig an die Quellen, die Flüsse und die Seen ihrer Heimat. Bei ihrer Tochter Echidna hatte sie den Zauber unvollendet gelassen, und so wurde Echidna, die viele Tode starb, ein ums andere Mal bei wechselnden Eltern wiedergeboren, als schwebte ihre Seele immer aufs Neue durch die Welten auf der Suche nach der nächsten Geburt.
Von dem Wunsch getrieben, Medusa dieses Los zu ersparen, knüpfte Keto deren Seele an deren eigenes Blut. Da sie nicht wusste, ob der Zauber geglückt war, verschwieg sie ihren Töchtern, was sie sich erhoffte. Sie entschied, ihnen Respekt vor dem Tod beizubringen, und behauptete, Medusa sei als Einzige der Gorgonen sterblich. Stheno und Euryale gebot sie, ihre Schwester zu beschützen.
Die Gorgonen aber wollten nichts von Tod und Wiedergeburt hören. Sie wähnten sich unangreifbar und wurden als erhabene Wesen betrachtet. Für die Gemeinschaften, die sie verehrten, waren sie liebevolle Beschützerinnen, doch den Feinden der Beschützten brachten sie den Tod.
Sthenos Berührung und Euryales Stimme konnten zwar besänftigend, tröstend und sogar berauschend sein, doch binnen eines Augenblicks mochten sie zur Waffe werden: Wesen und Dinge wurden unter der Macht der einen zu Schlangen, unter der anderen zerfielen sie zu Steinmehl. Doch von allen Kräften verbreitete die Medusas den größten Schrecken, denn jene, die ihr unterlagen, wurden zu versteinerten Gestalten, für immer in Posen des Entsetzens gefangen. Die Macht der Gorgonen war dabei so beschaffen, dass zwei der Schwestern stets vereint die Macht der dritten wirken konnten. Und wenn sie alle drei zusammenkamen, galten sie als unbesiegbar.
Das Wirken der Gorgonen blieb den sogenannten Göttern nicht verborgen. Während Athene in ihnen eine Gefahr für ihre eigene Macht sah, erkannte Poseidon sie als seelenverwandte Wesen, als Kreaturen des Meeres. Euryale und Stheno gingen den Olympischen Göttern aus dem Weg; Medusa jedoch begegnete – auf unberührten Inseln des Südens – Poseidon. Sie vertraute ihm; er vertraute ihr. So gestanden sie einander ihre Geheimnisse, ihre Hoffnungen, ihre Sehnsüchte und schließlich ihre Liebe. Auf blühenden Wiesen kamen sie zusammen, zwischen Rinnsalen und klaren Teichen und in verstreuten Hainen, die Schatten spendeten.
Wie so viele, die sich, als die Welt noch jung war, vereinten, begegneten sie einander in verschiedenen Gestalten – mal in menschlichen Körpern, mal in denen von Pferden und ähnlichen Wesen: Poseidon falb mit blauschwarzer Mähne, und Medusa grau mit nachtschwarzen Schwingen.
Die Nähe zwischen Medusa und Poseidon sah Athene mit Argwohn. Die Töchter der Keto wurden ihr zu Rivalinnen. Um sie zu beseitigen und sich deren Macht und Gefolgschaft anzueignen, wandte sie sich an Perseus, Sohn des Zeus und der Danaë, und schürte dessen Ambitionen.
Athene wusste, dass Stheno zu stark und Euryale zu aufmerksam war, als dass sie sich bezwingen ließen. Zudem würden beide sofort in Soralûn wiedergeboren. Doch sie hatte erfahren, dass Keto Medusa zwischen den Welten geboren hatte, und vermutete, dass sie Echidnas Schicksal teilte – dass sie in der Fremde wiedergeboren würde, als Kind göttlicher Eltern. Ein Kind, das erst erfassen musste, was es war, und das vielleicht nie von der eigenen Herkunft erfuhr und dessen Macht ihr von Nutzen sein mochte.
So stattete Athene Perseus aus und sandte ihn gegen Medusa. Sie aufzuspüren, war jedoch kein leichtes Unterfangen. Die Gorgonen wechselten oft zwischen ihrer Heimat und unserer Welt. Sie schwebten durch Portale und überflogen den Weltenozean, nur um dann in unseren Gefilden zu erscheinen. Um sie zu finden, folgte Perseus Athenes Rat und machte sich die Sicht der Graien zunutze. Diese vermochten andere Ketoniden mit einem gemeinsamen Blick zu sehen. Gegen ihren Willen konnte Perseus sich ihre Macht nicht nutzbar machen, doch mit List brachte er sie dazu, preiszugeben, wo sich Medusa befand. Da die Graien zwar den Blick auf ihre ketonidischen Schwestern hatten, jedoch nicht mit Gedankenstimmen über die Distanz zu ihnen sprechen konnten, waren die Gorgonen nicht gewarnt.
Auf diese Weise erfuhr Perseus, dass die Gorgonen sich in ihrer Heimat Soralûn aufhielten. Um zu ihnen zu gelangen, musste er zwischen Welten reisen. Durch die Graien wusste er, dass auf einer Insel im Westen die Pforte lag, die die Gorgonen nutzten, um auf den Weltenozean zu gelangen.
Mit seinem Schiff reiste Perseus schneller als die Graien auf ihren grauen und trägen Wasserdrachen. Weit jenseits der Säulen des Herakles fand Perseus die Inseln der Gorgonen, wo Menschen arglos lebten und ihn nicht entdeckten. Er tötete eine Verkörperung des Wächters Weldamûn, eines von Keto erschaffenen Steinwesens, das in vielen Gestalten lebt, die ihr Wissen und ihre Gedanken miteinander teilen. Doch der Austausch zwischen den Körpern des Weldamûn vollzog sich nicht unmittelbar über Welten hinweg, sondern mit einer Verzögerung.
Im Vertrauen auf das Wissen Athenes und den nagenden Zweifeln unter seiner Besatzung trotzend, fuhr Perseus durch das Portal auf den Weltenozean hinaus, passierte die Inseln, die wie kleine Welten neben der Welt waren, und mied vor allem die Stadt Iliyorn, die tausend Namen hat und die wir in unseren Gefilden heute Troja nennen. Dort gab es zu jener Zeit sowohl Abgesandte als auch Verbündete der Gorgonen.
Durch die sogenannte Schlangenpforte gelangte Perseus nach Soralûn mitten auf den See der Stadt Keromyr, wo die Gorgonen sich von ihrer Reise durch die Menschenwelt erholten. Auch hier tötete er eine Verkörperung Weldamûns. In dieser Welt jedoch wussten die Wächter der anderen Pforten im selben Augenblick, dass Gefahr drohte, und eilten von allen Richtungen auf Keromyr zu. Wären die Gorgonen wach gewesen, hätten sie die Rufe ihres vielgestaltigen Wächters gleich einem Chor vernommen. In der Furcht, die Gorgonen könnten aus ihrem Schlaf geweckt werden, schlich sich Perseus – dank der von Athene gewährten Macht beinahe unsichtbar – in das Haus der Gorgonen ein.
Wie aus dem Nichts erschien er in Medusas Gemach und musterte sie. Für einen Moment nagte ein Zweifel an ihm. Er fragte sich, ob das alles recht sei. Medusa gewahrte seine Gefühle und Gedanken in ihrem Schlaf. Sie riss die Augen auf, und ehe sie Herrin über ihr Schicksal werden konnte, überwand Perseus seine Zweifel und schlug Medusa mit drei ungezügelten Schwerthieben den Kopf ab.
Euryale und Stheno schreckten aus ihrem Schlaf auf. Durch die drei Hiebe, mit denen Perseus seine Tat vollzogen hatte, waren die Bande zwischen ihnen und ihrer Schwester gekappt. Sie eilten in Medusas Gemächer und fanden dort deren kopflosen Körper – umgeben von klagenden Vertrauten.
Vom Fenster aus erblickten sie Perseus, wie er auf dem See, um den sich die Stadt legte, mit seinem Schiff durch die Weltenpforte davonsegelte. Im Glauben, dass Medusa nicht wiedergeboren würde, verfielen die beiden Schwestern in Trauer und Hilflosigkeit, die binnen eines Moments in ungezügelte Wut umschlug. Sie schrien ihren Schmerz und ihren Hass in die Welt hinaus, während sie ihre Schwingen ausbreiteten und Perseus nachsetzten. Ihre Stimmen hallten über Keromyr bis zum Portal, und angesichts dieser Klage glaubten die Bewohner der Stadt, dass Medusa verloren sei.
Stheno und Euryale verfolgten Perseus und seine Mannschaft vor Wut rasend durch die Pforte auf den Weltenozean. Auf dem Weg, den sie gekommen waren, konnten Perseus und die Seinen nicht zurück, denn dort nahten die Graien auf ihren grauen Drachen, die ein Dutzend Schiffe voller Verbündeter anführten. Ein weiteres Mal kam Athene Perseus zu Hilfe: Sie lotste ihn und seine Mannen unbemerkt dicht an der Stadt Iliyorn vorbei zu einer anderen Pforte.
In den Winden des Weltenozeans vernahmen Stheno und Euryale Athenes Stimme. Während Stheno vor Wut die Stimme versagte, konnte Euryale nicht schweigen. Ihr vielstimmiges Klagen weckte sogar die im Weltenozean versunkenen Seelen. Irgendwo in den Weiten zwischen den Welten verloren Stheno und Euryale die Spur ihres Feindes.
Während Stheno und Euryale in Verzweiflung versanken, wohnten die Vertrauten Medusas daheim einem Wunder bei: Aus dem vergossenen Blute erwuchsen die beiden Söhne Medusas und Poseidons: Chrysaor war von menschlicher Gestalt, Pegasos ein geflügeltes Pferd.
Nachdem Euryale und Stheno zurückgekehrt waren und die Trauer sich angesichts der Neugeborenen in Trost verwandelte, erwuchsen aus dem Blute ihrer Schwester weitere Wesen: neun Kinder, denen der Hauch ihrer Schwester anhaftete. Dem Gesang der Hesperiden entnahmen sie die Botschaft ihrer Mutter: »Ich sagte euch einst, Medusa sei als Einzige sterblich, um euch ihren Tod unerträglich zu machen – auf dass ihr sie beschützt.«
Stheno und Euryale glaubten, darin eine Anklage zu hören, und bekannten sich des Versagens schuldig, doch Keto sprach: »Es gibt keine Schuld, denn Medusa lebt. Die neun Kinder sind ihre Töchter, ihre Schwestern und zugleich ihr gespaltenes Selbst. Eure Stimmen haben mein Herz berührt, aber ich bereue nicht, euch getäuscht zu haben. Denn wer eure Stimmen vernahm, muss annehmen, dass ihr eure Schwester für immer habt verloren. Möget ihr es mir im Angesicht dieser Kinder verzeihen.«
Stheno und Euryale betrachteten die Neugeborenen mit Erleichterung. Sie stellten ihrer Mutter Fragen, und Keto antwortete: »Sie werden als Medusenschwestern leben, bis sie einst wieder zu einem Wesen verschmelzen. Doch ein Teil von ihnen steckt im abgeschlagenen Haupt Medusas. Perseus wird es als Waffe missbrauchen und zu Athene bringen. Und wann immer eine der Medusenschwestern ihr Leben verliert, geht ein Teil ihres Wesens auf die anderen Schwestern über, alles andere dringt ins Haupt der Medusenmutter.«
Die Gemeinschaft der Gorgonen trennte die Schwestern zu deren Schutz. Neun Schwestern, die erst mit der Zeit erkannten, wer und was sie sind – Schwestern, die von Vertrauten umgeben im Verborgenen leben und zwischen denen sich ein magisches Band spannt. Eines Tages werden sie zusammenkommen; eines Tages werden sie verschmelzen. Und nach Jahrtausenden wird so Medusa wiedergeboren.
DAS BUCH DER GORGONEN, niedergeschrieben von Kyot dem Fremden, übersetzt und erweitert von Sema Medusa. S. 14–22.
Im Bauch des Frachters Little Georgina überkam mich erstmals seit Wochen ein anhaltendes Gefühl der Erleichterung. Die Besatzung hatte Sema und mir hier die Zuflucht gewährt, die Umae uns aus der Ferne versprochen hatte. Der Kapitän schien davon auszugehen, dass wir zum organisierten Verbrechen gehörten und Feinden entgehen wollten. Was genau man ihm gesagt hatte, wusste ich nicht, war mir aber sicher, dass er und seine Männer nichts von der Wahrheit ahnten. Hätten sie es getan, hätten sie ihre Furcht und ihre Faszination nicht verbergen können. Sie sahen zwei Schwarze Frauen, eine in ihren Zwanzigern, eine in ihren Vierzigern, dem Akzent zufolge US-Amerikanerinnen, mit langem Lockenhaar. Sie sahen nicht eine Gargoyle, die sich in ihrer fleischlichen Gestalt zeigte, und sie sahen gewiss nicht eine Medusa, die selbst in ihrer Erschöpfung dazu fähig wäre, sie das Fürchten zu lehren.
Mit der schwindenden Anspannung verwandelte ich mich in meine Steingestalt – in den Körper, in dem ich Kräfte sammelte. Meine Kleidung nahm ich diesmal von der Verwandlung aus, denn ich mochte es, Stoffe auf meiner steinernen Haut zu spüren. Aber ich genoss auch die Kälte, die hier wie ein dünner Schleier über meine Hände und meine Stirn glitt. Dabei lauschte ich sowohl auf die Geräusche, die uns im Bauch des Frachters umgaben, als auch auf Sema.
Meine Medusa hatte seit Stunden nicht mehr mit mir gesprochen – weder mit ihrer Stimme noch mit ihren Gedanken. Letzteres, so sagte sie, falle ihr noch schwer, wenngleich sie es seit Dublin ab und zu getan hatte und sich zudem über weite Distanz mit Umae austauschen konnte.
Das Auf und Ab des Frachters, das mir ein Schwindelgefühl bescherte, erinnerte mich daran, dass ich ungern auf Schiffen fuhr. Es führte mir die Erzählungen meiner Mutter vor Augen, die sie ihrerseits von ihrer Großmutter gehört hatte. Von der qualvollen Überfahrt über den Atlantik. Doch diese Fahrt mit Sema auf der Little Georgina war eine andere als die meiner Vorfahren. Sie führte fort von Verfolgung, Versklavung und Tod. Sie fühlte sich wie damals an, als Sema und ich Mitte der 1920er mit dem Schiff von New York nach Hamburg gefahren waren. Wir hatten fast ein Jahr in Europa verbracht und waren mit vielen neuen Eindrücken nach Amerika zurückgekehrt. Auch diesmal würde wieder etwas Neues beginnen – mit der Hilfe der Medusenschwester Umae.
Wie schon in Dingle beschlich mich der alte Zweifel, ob es richtig war, Kontaktleute in Anspruch zu nehmen. Denn wurde die Kontaktperson enttarnt, mochte man unsere Fährte aufnehmen. Der Zweifel an meinem Netzwerk an anonymen Verbündeten hatte mich vor zwanzig Jahren vorsichtig sein lassen und nach Irland geführt. Ich wusste aber nicht, ob unsere Feinde damals wirklich über unsere Verbindungen an uns herangekommen waren. Früher oder später hätte ich sie ohnehin in Anspruch nehmen müssen, um meine Papiere zu erneuern. Da ich anders als Sema mein Aussehen nur in engen Grenzen verändern konnte, musste ich nach einigen Jahrzehnten eine neue Identität annehmen, während Sema in größeren Zeiträumen denken konnte. Meistens jedoch hatten wir gemeinsam neue Ausweise erhalten, die wir, einmal erstellt, auf gewöhnlichem Wege verlängern konnten. Es waren keine Fälschungen. Unsere Kontakte sorgten dafür, dass unsere Daten in den verschiedenen Datenbanken erschienen, als wären sie schon immer dort verzeichnet gewesen.
Auf dem Papier war ich inzwischen eine Frau Anfang vierzig, aber mein Körper war der einer Mittzwanzigerin – der Körper, den ich gehabt hatte, als ich zur Gargoyle wurde; sogar der Körper, den ich gehabt hatte, ehe mich all die Dolchstiche der Perseussöhne getroffen hatten. Der Zauber, der mich zur Gargoyle gemacht hatte, war meine letzte Chance gewesen zu überleben.
Hier in unserem Versteck in Semas besorgte Miene zu blicken, das weckte alte Ängste in mir. Sema hatte mir Umaes Einschätzung mitgeteilt, dass die Zeit des Erwachens nahe sei. Aber was bedeutete es, wenn die Medusenschwestern sich zu einem Wesen vereinten? Würde ich Sema dann noch erkennen oder würde sie in der vereinten Medusa verschwinden? Diese und andere Fragen nagten wieder einmal an mir, während ich Semas Miene im Auge behielt. Ich glaubte, Sorge darin zu lesen. Irgendetwas hatte sie mit ihrem Medusenblick erfasst, und ich wartete, dass sie endlich den Blick aus dem scheinbaren Nichts ins Hier und Jetzt zurückholte und mir erzählte, was sie bedrückte.
Aus den Tiefen des Schlafes zurückgekehrt, bin ich mit Elena wieder einmal auf der Flucht. Unsere Feinde haben schon oft geglaubt, uns alles genommen zu haben – schon am Anfang. Perseus raubte unseren Kopf und unsere Macht, Athene und die Ihren raubten unsere Geschichten. Aus Zauber wurde Fluch, aus Taten wurden Missetaten – und aus Beschützerinnen wurden Monster.
Doch wir sind Kinder der Keto und des Phorkys, Enkelinnen der Gaia und des Pontos. Unter anderen Bedingungen wären wir in dieser Welt als Göttinnen in Erinnerung geblieben. Doch unsere Feinde prägen bis heute unser Bild.
In mich selbst versunken und zugleich Elenas Blicke spürend, rufe ich in Gedanken nach der einzigen Medusenschwester, die wach genug scheint, um mich zu bemerken: Umae. Vermeidet sie es, mich zu erhören, weil Elena und ich den Söhnen des Perseus zu nahekamen? Die Antworten, die ich nun auf ihre Anrufung erhalte, werden nicht mit der sanften Stimme meiner Schwester vorgetragen, sondern durch Gefühle, Sinnesregungen und Ahnungen an mich herangetragen. Ich weiß, dass sich Umae mit ihren Vertrauten irgendwo in den Pyrenäen befindet. Einige von ihnen sind Menschen, andere sind von ihr erschaffene Gargoyles, und sie alle warten auf den Tag der Vereinigung.
Umaes Innerstes erbebt, und wie im Traum bin ich bei ihr und spüre ihre Angst, als wäre diese meine eigene. Im Grunde ist es meine eigene – die Angst der Medusa. Es weckt alte Erinnerung an Beldyrae im Tempel der Athene; an das, was sie dort erlitt, und an die Ängste, die sie auf ihrer Flucht durchlebte, ehe die Perseiden ihr den Kopf abschlugen. Diese Erinnerungen und die damit verbundenen Gefühle reichen zurück bis zu meinem ursprünglichen Leben.
Eine doppelte Angst breitet sich in mir aus. Die eine ist Umaes Todesangst, die andere ist meine Angst, die Schwester zu verlieren. Umae war stets eine Träumerin und suchte nur selten den Weg in die Wachwelt. Meist liegt sie im Halbschlaf und spricht zu ihren Vertrauten – zu den einen mit ihrer Flüsterstimme, zu den anderen mit ihrer Gedankenstimme. Zuletzt erhob sie sich in den 1990ern aus dem Schlaf, und ihren Vertrauten gelang das, woran wir so oft scheiterten: Sie entrissen den Perseussöhnen das Medusenhaupt, den Kopf unseres ursprünglichen Selbst.
Die Zeit der Vereinigung könnte nahe sein, doch viele unserer Schwestern liegen in so tiefem Schlaf, dass Umae nicht an sie herankommt; und meine Fähigkeiten, Kontakt mit den anderen aufzunehmen, lässt zu wünschen übrig, solange ich nicht ganz in der Wachwelt angekommen bin. Aber bald schon werde ich bei Kräften sein, und gemeinsam wird es uns gelingen, unsere Schwestern wachzurütteln und die Zeit der Vereinigung heraufzubeschwören.
Es bröckelt vor Umaes Wimpern. Zuletzt erlebte ich das Mitte des 19. Jahrhunderts. Es geschah oft, wenn ich lange in einer Steingestalt im Schlafe lag. Den Steinkörper wählen wir meist nur dann, wenn wir keine Vertrauten um uns herum haben und als Statue erscheinen wollen. Aber ich traue dem Steinschlaf nicht mehr. Er schottet mich zu sehr von meiner unmittelbaren Umgebung ab und zwingt mir immer das Gefühl auf, Opfer der eigenen Magie zu sein. Für Umae aber ist der Steinschlaf wie ein Schutzwall vor der Wachwelt.
Ich atme schwer, weil Umae schwer atmet. Wir ziehen magische Kraft aus der Luft – ich hier bei Elena, sie dort in ihrem Haus. Es ist finster um sie herum, und der Zauber, der Umaes Augen in der Dunkelheit sehen lässt, sitzt noch in ihr fest. Ein weiteres Bröckeln, und sie kann sich aufrichten. Steinchen fallen von ihr ab. Die Rückverwandlung in einen Körper aus Fleisch und Blut (und bei ihren Kleidern von Stein in Stoff) geschieht so schleppend, dass ich ungeduldig werde. Ich will, dass Umae sich schnell erhebt; ich will, dass das Schwindelgefühl, das sie erfasst, rasch vergeht, denn ich spüre, dass Gefahr sie umgibt.
Schmerzensschreie lassen Umae zusammenzucken – und damit auch mich. Ich höre Elenas Stimme. »Was ist los?«, fragt sie. Doch ich antworte nicht, denn ich bin nicht hier bei ihr, sondern dort bei Umae, wo sich alles zu einem Sturm aus Wut und Schmerz vermischt. Ich sehe tote Menschen und habe Namen im Kopf: Christophe, Jeannette und Achilles. Zwei Menschen aus Fleisch und Blut und ein Gargoyle.
Achilles! Er und die beiden anderen Gargoyles sind von einer anderen Art als Elena. Sie waren ruhelose Geister, die Umae an Statuen band und zum Leben erweckte. Elena ist ein Mensch gewesen, den ich zur Gargoyle machte. Es sind zwei Wege, die zu beseeltem Stein führen.
Drei Gargoyles unter den Vertrauten verleihen einer Medusenschwester Macht, belasten aber auch. Denn wir können durch unsere Gargoyles die Welt gewahren, und oft drängen sich uns ihre Eindrücke auf. So gewahre ich nun durch Umae, dass Hector und Christabel entkommen sind. Sie haben John Reberg, einen der menschlichen Vertrauten, bei sich.
Reberg – den Namen kenne ich. Kaum denke ich über Familienbande nach, hallt Umaes Stimme in meinem Kopf. Sie ruft Christabel und Hector zu, John in Sicherheit zu bringen. Er ist ihr Stratege, ihre Verbindung zur Außenwelt und mit seinen Kontakten ihre einzige Hoffnung auf Flucht.
Umae sagt ihnen, dass sie in das Haus in der Eifel gehen sollen, wo ich und Elena zur Ruhe kommen wollen. »Wir alle werden uns in dem Haus treffen«, sagt Umae ihren Vertrauten mit ihrer leisen und lieblichen Gedankenstimme, aber zu mir sagt sie: »Du musst dich ihrer annehmen!«
»Flieh mit ihnen!«, erwidere ich. »Und mach das wahr, was du ihnen gesagt hast. Wir alle treffen uns in dem Haus!«
»Die meisten sind bereits tot, und Achilles liegt im Sterben«, erwidert Umae. »Ich kann ihn nicht zurücklassen.« Qualen drängen sich an Umae heran, als stächen ihre Feinde ihr mit magischen Dolchen in den Leib.
»Er opfert sich, damit du entkommen kannst«, sage ich. »Sie fügen ihm Schmerz zu, um dich zu locken. Das weißt du!«
»Und sie werden dafür sterben!«
»Tu es nicht! Ohne dich schaffen wir es nicht.«
Umae lacht. »Mein Wissen wird in euch weiterleben.« Sie atmet schwer und läuft voran.
»Tu es nicht!«, wiederhole ich. »Es würde uns um Jahre zurückwerfen. Die Vereinigung – sie mag nur Monate entfernt sein und würde nun wieder in die Ferne rücken.«
»Wir haben alle Zeit der Welt!« Damit verstummt Umae, doch ich spüre, was sie spürt: erst Zuversicht, dann aufschäumende Wut. Ich sehe, was sie aus dem Schutz des finsteren Ganges heraus sieht: einen Steinkörper, der sich am Boden windet und sich vor den Stichen fremder Gestalten zu schützen versucht. Es ist Achilles, den Umae einst aus einer Statue des griechischen Helden schuf.
Er bäumt sich auf, und Umae hat die Hoffnung, dass es noch nicht zu spät ist. Auch ich fasse Mut. Als wäre der Steinkörper nicht nur ein Abbild des Heroen aus der Ilias, sondern auch sein Geist eine Reinkarnation desselben, schlägt Achilles um sich, trifft seine vermummten Widersacher und treibt sie gegen Möbel und Wände.
Vom Krachen und von Schmerzensstöhnen der Feinde umgeben, tobt die Verzweiflung in Achilles. Er weiß, dass er Hector und Christabel nie wiedersehen wird, obwohl er noch so viele gemeinsame Jahre vor sich glaubte. Alle Bande, die sich über zwei Jahrhunderte knüpften, sind im Begriff, abzureißen. Erinnerungsfetzen aus Liebe und Lust, Trost und Geborgenheit, Leiden und Mitleiden, aus Versöhnung und Heilung schwirren durch seinen Geist. All das wird er verlieren, ohne dass es auch nur einen Augenblick des Abschieds gibt. Nur die Hoffnung, dass sein Opfer seine Geliebten und seine Medusa retten wird, versöhnt ihn mit diesem Ende – doch dann sticht sein Gargoyleblick in den dunklen Gang hinein, und er erkennt Umae. Sie sieht sich durch seine Augen; ich sehe ihn durch ihre Augen … wie sie ihn sieht, und alles dreht sich wieder und wieder im Kreis.
»Nein!«, ruft Achilles. Er ist nur kurz gefangen von Umaes Anblick, doch dieser Moment reicht den Söhnen des Perseus: Sie stürzen sich von allen Seiten auf ihn und stechen mit ihren magischen Dolchen ein ums andere Mal auf ihn ein. Seine Augen sehen nichts mehr, seine Ohren hören nichts mehr. Seine Welt besteht nur noch aus Qualen. Der körperliche Schmerz und die Gewissheit, alles verloren zu haben, peitschen seine Schreie an. Sie gipfeln in Todesschreien, als Umae den Raum betritt.
Ein Gewitter aus Gefühlen durchzieht sie und mich, als Achilles von Wunden übersät verstummt und jeder Zugang zu seinen Sinnen sich verschließt. Die Söhne des Perseus fahren herum und richten zitternd ihre Dolche auf Umae, doch sie ist in Gedanken noch nicht bei ihnen, sondern bei Achilles. Sie hat ihn verloren, ihren Beschützer, den Helden ihrer Gemeinschaft. Und nun kennt sie nur noch Wut und Vergeltung.
Ich fürchtete um Sema, und als sie endlich die Augen aufschlug, fragte ich sie: »Geht’s dir gut?« Ihre gedankliche Abwesenheit hatte mir in Irland schon Sorgen bereitet, nun fürchtete ich, sie versinke immer tiefer darin und könnte vergessen, dass sie sich mit mir an ihrer Seite hier im Bauch des Frachters Little Georgina befand und dass sie sich darüber im Schlaf verlieren würde.
Sema blinzelte, und der Ausdruck ihres Gesichtes schwankte zwischen Furcht und Schmerz.
»Du machst mir Angst«, sagte ich. Mit ihrem suchenden Blick und ihren zitternden Schultern wirkte sie hilflos.
»Umae – ist in Gefahr«, sagte sie und schaute nach oben, als lauerte dort etwas. Ich fürchtete schon, dass die Crew sich gegen uns wenden würde. »Es ist … es ist, als würde ein Sturm aufziehen – ein Sturm der Eindrücke.«
»Du fürchtest um Umaes Leben?«, fragte ich. »Aber sie lebt doch abseits von allem.«
Sema wich meinem Blick aus und sagte: »Ich fürchte, dass es bereits zu spät ist und mich die Gewissheit und alles, was damit verbunden ist, wie eine gigantische Welle fortreißt. Du musst stark sein, falls ich es nicht bin.«
»Ich bin stark«, sagte ich, aber allein die Vorstellung, dass Umae tot sein könnte, vertrieb die Hoffnung, auf dem Weg in Sicherheit zu sein.
»Sie glaubt, sie werde sterben«, sagte Sema und erzählte mir von dem Befehl, den Umae ihren beiden Vertrauten, Christabel und Hector, gegeben hatte. »Sie werden in das Haus kommen – mit ihrem Strategen, John Reberg.«
»Ist er mit Alfred Reberg verwandt?«, fragte ich und dachte an den Vertrauten Umaes, von dem mir Sema vor Jahren erzählt hatte, dass er einen Großteil des Netzwerks aus Kontaktleuten aufgebaut hatte.
»Er ist sein Enkel«, sagte Sema.
»Und um welches Haus geht es?«
»Haus Agelstern – ein Haus in der Eifel. In Deutschland. Wenn sie überlebt, wird sie dort sein.«
»Und wenn nicht?«
»Dann werden ihre Vertrauten dort sein – falls sie entkommen können.«
»Und falls auch das nicht geschieht?«
Sema atmete tief ein und weit wieder aus. »Dann werden wir in eine Falle laufen. Das fürchtest du, nicht wahr?«
Mit einer Stimme, die für meinen eigenen Geschmack zu düster klang, sagte ich: »Nach allem, was wir durchgemacht und verloren haben, vertraue ich niemandem mehr außer dir.«
Sema nickte, und ein winziges Lächeln quälte sich auf ihre Lippen. »Ich habe überlebt, weil ich, wenn ich in Schwierigkeiten war, Leuten vertraut habe. Hätte ich damals deinen Eltern nicht vertraut, wäre ich nicht hier. Und du wärst nicht bei mir.«
Ich biss mir auf die Lippen, denn die Ermordung meiner Eltern hatte ich immer noch nicht überwunden.
»Vielleicht habe ich alles schlimmer gemacht«, sagte Sema. »Vielleicht hatten deine Eltern und du ein Recht darauf, ein Leben ohne Gorgonen zu führen.«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich glaube, von allen, denen du auf der Flucht damals dein Vertrauen hättest entgegenbringen können, hättest du niemand Besseres finden können als meine Eltern.«
»Und dich.«
»Wie nur konnten sie Umae aufspüren?«, fragte ich.
»Vermutlich genau so, wie sie uns aufgespürt haben.«
»Du glaubst also auch, es gibt einen Verräter unter den Kontaktleuten?«
Sema schüttelte den Kopf. »Warum sind wir dann hier und nicht bereits tot? Hätten uns Umaes Kontaktleute verraten, hätten Setterfield und die Söhne des Perseus uns hier an Bord aufgelauert.«
»Du glaubst also auch, dass der Magier seine Lektion nicht gelernt hat«, erwiderte ich.
»Wenn uns die Erfahrung eines lehrt, dann, dass Magier die Dinge meist erst dann erkennen, wenn es zu spät ist.«
»Bleiben wir also bei dem Plan?«
Sema nickte. »Wenn Umae entkommen sollte, dann wird das meine erste Begegnung mit einer meiner Schwestern seit unserer Geburt. Zwei von uns an einem Ort! Wer wollte uns da in die Knie zwingen?«
»Und wenn nicht? Was, wenn sie es nicht schafft?«
»Dann müssen wir uns ihrer Vertrauten annehmen.«
»Das gefällt mir nicht. Es endet immer in dem Gedanken, dass wir in eine Falle laufen. Die Welt ist nicht mehr so einfach wie früher. Wir hinterlassen mehr Spuren denn je.«
»Wir haben keine Zeit, uns neue Vertraute zu suchen. Und diese sind etwas Besonderes. Sie haben unser ursprüngliches Haupt zurückgeholt.«
Ich erstarrte vor Verwunderung. Das Haupt der Medusa – das tatsächliche Haupt, das Perseus abschlug und Athene brachte. Die Perseussöhne hatten es lange behütet und viel ihrer Macht daraus bezogen. Sie wollten die Medusenschwestern töten, damit sich deren gesamte Kraft im Medusenhaupt ansammelte. Ihnen den von Magie durchdrungenen Kopf nach all den Jahrhunderten zu entreißen, klang wie eine Heldentat.
»Die an unserer Seite zu haben, die das Haupt zurückholten, das wäre was«, sagte ich, doch die Sorge vermochte diese Aussicht nicht abzuschütteln. »Aber was, wenn sie, vielleicht ohne es zu wissen, …«
Sema fasste meine Hand. Ihre war warm. »So oder so: Wir werden in dieses Haus gehen. Falls es eine Falle sein sollte, sind Umae und ihre Vertrauten tot. Und dann werden die, die dort auf uns lauern, Schlangen sehen und zu Stein erstarren – Schlangen und Stein wird ihr letzter Gedanke sein.« Sema lächelte. »Falls es eine Falle ist.«
Die Ankunft in Ostende erlebte ich wie im Halbschlaf. Auf der Little Georgina herrschte inzwischen wieder Ruhe, die umschlug in einen hastigen Abschied von der Crew. Unter grauen Wolken fuhren wir mit einer kostenlosen Fähre von der einen Seite des Hafens zur anderen. Die alten, schmalen Häuser, die hier ab und zu von breiteren, neueren Bauten bedrängt wurden, erinnerten mich an unser kleines Haus in Dublin. Sie wirkten wie verzauberte Gebäude, die nur zeitweise zwischen den anderen hervortraten, um Wesen wie uns eine Zuflucht zu bieten. Doch wie im Traum gingen wir an ihnen vorüber, spazierten über die vom Regen leer gespülte Strandpromenade und ließen unseren Blick immer wieder hinaus aufs Meer ziehen.
Sema war überrascht, an der Stelle, an der wir bei unserem letzten Besuch das majestätische Casinogebäude mit seinen Bögen und Türmen bewundert hatten, ein weit weniger beeindruckendes Bauwerk zu finden. Die Stadt war wie ein Wesen, das sich vor unseren Augen verwandelte, um möglichst wenig von dem preiszugeben, was wir vor hundert Jahren hier gefunden hatten. Selbst das kleine Hotel, in das wir eincheckten, war halb hinter einem verhüllten Baugerüst verborgen. Dort war ein Umschlag mit einem Autoschlüssel für uns hinterlegt – zusammen mit einer Nachricht, dass der Hausschlüssel unserer Zuflucht hinter einem losen Stein neben der Tür zur Familiengruft versteckt war. Ob ich, nachdem wir unser Gepäck aufs Zimmer gebracht hatten, tatsächlich mit Sema das griechische Restaurant in der Nähe besucht hatte, wusste ich am Abend nicht mehr zu sagen. Der Tag war wie eine Mischung aus Träumen, die ich auf See gehabt hatte, und dem, was wir tatsächlich getan hatten.
Ein Restaurantbesuch war nicht abwegig. Wenngleich weder ich noch Sema Nahrung zu uns nehmen mussten, taten wir es vor allem des Geschmacks wegen oft. Ich hatte mich über die Jahre, die ich in Dublin als Gargoyle unerkannt unter Menschen gelebt hatte, an die magische Verdauung gewöhnt. Der Zauber, der in mir wirkte, sorgte dafür, dass mein Körper weitgehend die gleichen Funktionen wie einst hatte, diese aber auf einem komplett anderen Fundament beruhten. Das galt auch für Sema, wenngleich ihre Magie anders beschaffen und anfälliger war für übermäßigen Verzehr von Speisen. Ihr war nun unwohl. »Wie immer«, sagte sie.
»Das letzte Mal, als du wach warst, hast du erst mal nichts gegessen«, sagte ich.
»Weißt du noch, damals, als wir nach Köln kamen?«
Ich lachte. »Du hast dich tagelang übergeben.«
»Tut mir selbst nach fast hundert Jahren noch leid«, erwiderte Sema grinsend. Sie war damals besorgt gewesen, doch ich hatte sie beruhigt. Diesmal aber war ich diejenige, die sich Sorgen machte. Ich fürchtete noch immer, dass Bertram Setterfield und die Söhne des Perseus wie schon in Irland erneut unsere Spur aufnahmen.
Voller Zweifel legte ich mich am Abend im Hotelzimmer ins Doppelbett, und nur in den Armen Semas gelang es mir, die Sorgen für eine Weile abzustreifen. Sema erinnerte mich flüsternd an die gemeinsamen Abenteuer – wie wir Ende des vorletzten Jahrhunderts den Perseussöhnen eine Niederlage nach der anderen beigebracht hatten. Meinen ersten Menschen hatte ich nach meiner Verwandlung getötet, und das Ausbleiben von Reue hatte ich als Zeichen genommen, dass ich nicht nur äußerlich ein anderes Wesen geworden war.
»Tut es dir inzwischen leid?«, fragte Sema. Diese Frage stellte sie mir alle paar Jahrzehnte. Die Entscheidung zwischen sterben und zu einer Gargoyle gemacht zu werden, war mir damals leichtgefallen. Sema hatte mich mit der Verwandlung geheilt. Die tödlichen Wunden wurden zu Rissen und Kerben in meinem Körper aus Stein, die sich allmählich auffüllten. Obwohl es meine Rettung war, hatte Sema damals Skrupel gehabt, mich zu verwandeln. »Du wirst nie wieder die Gleiche sein«, hatte sie damals gesagt.
»Ich bin jetzt mehr, als ich mir je erhofft hätte«, antwortete ich auf ihre Frage. Schon vor Jahren hatte ich Sema erklärt, dass ich sie vorher nicht so geliebt hatte, wie ich sie seit der Verwandlung liebte. »Die Wiedergeburt ist das Beste, das mir je passiert ist.«
»Wiedergeburt«, flüsterte Sema. »Vielleicht ist diese Sicht auf die Wandlung treffender als meine.«
»Du akzeptierst also endlich, dass ich nichts bereue?«
Sema strich mir eine Lockensträhne aus dem Gesicht. »Du bist noch jung. Das Leid, die Zeit zu überdauern, wird eines Tages auch an dir nagen. Es war bisher bei allen so.«
»Auch nach anderthalb Jahrhunderten scheine ich deiner niemals müde zu werden, und vielleicht schützt mich das vor dem Leid, die Zeit zu überdauern.«
Semas Lächeln wirkte nun gequält. Sie drückte mich an sich, und in mein Ohr flüsterte sie: »So viel Zeit wie in den letzten Tagen hatten wir lange nicht mehr. Es tut mir leid, wenn ich ein bisschen abwesend wirke.«
»Das letzte Mal hast du Monate gebraucht, ehe du auch nur das Haus verlassen hast. Glaub mir: Es ist in Ordnung.«
In Semas Armen schlief ich ein – ihrem ruhigen Atmen lauschend.
Am nächsten Tag legte der Regen eine Pause ein, und wir bewegten uns durch eine belebte Stadt, deren Bewohner und Gäste uns als Schwarze Frauen wahrnahmen, nicht aber als Gargoyle und Gorgone. Als wir im Parkhaus ankamen, den blauen Ford fanden, der für uns dort abgestellt war, und weder die Söhne des Perseus auf uns lauerten noch irgendwer sonst, war ich erleichtert, aber längst nicht beruhigt. Was, wenn unsere Widersacher uns folgten und wir sie direkt zu Umae und ihren Vertrauten führten?
Erst einmal verließen wir das Parkhaus mit dem Wagen und fuhren in die Außenbezirke. In einem Wohngebiet hielten wir vor einem Einkaufszentrum, und ich kaufte dort Oliven, weil sich Sema nach dem Geschmack sehnte.
Als ich wiederkehrte, fragte sie mich: »Wie lange brauchen wir zu dem Haus?«
Ich hatte das Gebiet in der Eifel auf meiner Karten-App markiert und ließ mir den Weg anzeigen. »Drei bis vier Stunden«, antwortete ich.
Sema schaute auf mein Phone. »Das hat dir das Ding wieder mal verraten.« Ich hatte das Gerät zwar auch in Irland benutzt, aber Sema war so abwesend gewesen, dass sie es offenbar nicht bemerkt hatte.
»Dieses Ding ist auf der Flucht vielleicht der wichtigste Gegenstand, den wir dabeihaben«, sagte ich.
»Hättest du es nicht mit Magie verglichen, ich hätte dir nicht geglaubt«, erwiderte sie mit einem Lächeln.
Während sie grüne Oliven aß, zeigte ich Sema, wozu das Phone nützlich war. Wir lasen Nachrichten, hörten einen Song der Band Seas of Hypnos, die in der Nacht unserer Flucht aus Dublin dort ein Konzert gegeben hatten. Später hatten wir ihren Tourbus auf dem Weg nach Galway gesehen.
Als ich Sema zeigte, dass die Welt Medusa nicht vergessen hatte, sondern inzwischen sogar auf unterschiedliche Weise verehrte, machte sie große Augen. »Du meinst, sie könnten unsere Verbündeten werden?«
Ich grinste sie an. »Wenn sie wüssten, dass Wesen wie wir existieren, würden sie sich uns anschließen. Ganz sicher.« Ich hatte oft, wenn ich mich einsam gefühlt hatte, unter dem Hashtag #TeamMedusa viel Bewunderung für die Gorgonen gefunden.
Sema lachte beim Anblick einer Zeichnung, auf der jede der Schlangen auf dem Haupt der Medusa ihre eigene Wintermütze trug. Anhand von Fotos erklärte ich ihr dann, was Cosplay ist, während sie die Medusenkostüme mit glänzenden Augen bewunderte. Es gab sogar Videos, in denen Leute ein Zeichen darboten: Sie machten eine Faust, legten die freie Hand dahinter, hoben deren Finger und ließen sie zappeln – das Haupt der Medusa und ihre Schlangen. »Und die Faust als Symbol der Gorgonenwut«, sagte ich.
In einer App öffnete ich ein geschlossenes Forum und zeigte ihr die Dinge, die ich dort gefunden hatte – vor allem Zeichnungen von Medusa, die nicht oder noch nicht für die Augen der Allgemeinheit bestimmt waren. Besonders beeindruckt war sie von einer Konzeptzeichnung eines Kamins, der das Haupt der Medusa darstellte und für eine TV-Serie gedacht war. Das Feuer brannte im Mund der Gorgone. Wir bewunderten die Zeichnung, und als ich scherzhaft erwähnte, dass die Fähigkeit, Feuer zu speien, Sema unbesiegbar machen würde, sagte sie: »Meiner Schwester Gora sagt man nach, dass sie und ihre Schlangen Feuer speien konnten. Aber ich weiß nicht, ob das wirklich stimmt.«
Sema dankte mir, dass ich ihr #TeamMedusa vorgestellt hatte, dann aber verging ihr Lächeln, und mit sorgenvoller Miene fragte sie: »Was, wenn Umae verloren ist?«
»Müsstest du es dann nicht längst gespürt haben?«, erwiderte ich, während vereinzelt Regentropfen auf die Windschutzscheibe trafen.
»Manchmal dauert es«, antwortete Sema, und es klang so, als hätte sie schon oft eine ihrer Medusenschwestern verloren. Dabei waren es nur drei gewesen – drei von neun. Ich war damals weder dabei noch am Leben gewesen.
Die erste Medusenschwester, die starb, war Beldyrae, deren Schicksal Ovid inspirierte. Die zweite war Myaramae, die die ersten Medusenblicke niederschrieb. Die letzte war Dorae gewesen, die sich im 10. Jahrhundert mit ihren Vertrauten darangemacht hatte, das Wissen um die Gorgonen und deren Magie zu verbreiten. Doch das bedrohte sowohl das Herrschafts- als auch das Glaubenssystem. Ein Bündnis aus Feinden – alte wie neue – ging gegen sie vor. Doch ehe sie sie töten konnten, nahm sie sich selbst das Leben.
Der Gedanke, dass nun Umae tot sein könnte, schürte meine Ängste wieder, und diesmal schwieg Sema dazu. Sie hielt mir die Plastikschale mit den Oliven hin, und ich nahm eine und genoss den würzigen Geschmack mit geschlossenen Augen. Sogar den Kern schluckte ich hinunter. Auch er würde sich auflösen und zu Magie werden.
Nachdem wir über einige Umwege und nach zahlreichen Pausen die Grenze nach Deutschland hinter uns gelassen hatten, suchten wir den Weg zum Kloster Steinfeld, merkten unterwegs aber, dass Umaes Beschreibung über die Stadt Gemünd führte und wir den Weg in Schleiden hätten abkürzen können. Dennoch nahmen wir den zusätzlichen Umweg in Kauf, um exakt nach Umaes Beschreibung den Weg in Richtung der Abtei Marienwald zu nehmen. In deren Nähe folgten wir einem der Wege, der tief in den hügeligen Wald führte.
»Wenn es aussieht, als würde es nicht weitergehen, sollen wir ihm dennoch folgen«, sagte Sema.
»Sofern sich nichts verändert hat«, erwiderte ich. »Umae dürfte selbst nie hier gewesen sein, oder?«
»Doch, sie war hier«, antwortete Sema. »In den 1920ern lebte sie in dem Haus. Ihr Gehilfe – das war Alfred Reberg: – hat sie dann später aus Deutschland fortgebracht.«
»Das heißt, sie war hier, während wir damals in Köln waren?«, fragte ich.
»Ja«, antwortete Sema. »Und ich habe nichts davon geahnt. So nahe, und doch nahmen wir keine Notiz voneinander.«
»Das spricht für die Arbeit ihrer Vertrauten.«
»Und für deine Arbeit«, sagte Sema.
Ich konnte immer noch nicht gut mit Semas Komplimenten umgehen, also kam ich auf das Haus Agelstern zurück. »Was, wenn die Beschreibung nicht mehr stimmt?«
»Alfred hat immer dafür gesorgt, dass Zufluchten gepflegt wurden«, erwiderte Sema. »Und ich bin mir sicher, dass sein Enkel es ebenfalls gelernt hat.« Ich hatte viel Gutes und Bewundernswertes über Alfred Reberg gehört, doch über John Reberg wusste ich nichts.
Als sich der Waldweg im spärlichen Licht des Abends spaltete, stoppte ich den Wagen. Das Scheinwerferlicht reichte auf den schmaleren Pfad weit hinaus, auf dem breiteren erfasste es kleine Sträucher und Gräser – und Fahrrillen, die bewiesen, dass hier ab und zu jemand entlanggekommen war.
»Der breite Weg«, sagte Sema. »Den hat vor Kurzem jemand genommen.« Kaum war ich einige Meter gefahren, sagte sie: »Mach die Scheinwerfer aus.«
Ich folgte der Bitte. Zuerst war es finster, doch dann erwachte mein Grauer Blick, der mich die Dinge bei Nacht so sehen ließ, als wäre es Dämmerung. Eine nahezu komplett überwucherte Mauer, etwa hüfthoch, strebte zur Linken parallel zum Weg voran. Die Pflanzen knickten sich unter den Wagen und streiften links und rechts an der Karosserie entlang.
Zunächst ging es ein Stück geradeaus, dann wand sich der Weg steil bergan und führte anschließend an einem Abgrund entlang. Zur Linken wölbten sich die Baumkronen über uns, zur Rechten fiel mein Grauer Blick auf einen lang gezogenen See, an den sich der Wald ringsum anschmiegte.
Als der Weg wieder vom Abgrund wegführte, erblickte ich einen Schatten in der Ferne. An den Giebeln erkannte ich ihn als ein Gebäude – ein stilles, allem Anschein nach verlassenes Haus, das zwischen den wogenden Bäumen ruhte. »Halte hier«, sagte Sema. »Den Rest gehen wir zu Fuß.«
Kaum hatten wir den Wagen verlassen, führte Sema mich zur Seite in den Wald, und im Schutz der Baumstämme näherten wir uns dem Haus. Nichts schien sich dort zu rühren. Es wirkte wie ein altes Herrenhaus – schlicht verziert, in die Breite gezogen und mit einer doppelflügeligen Eingangstür.
Die hohen Fenster verliehen dem Haus etwas Lebendiges – als hätte es über eine Ewigkeit hinweg in den Wald hinabgeschaut und als wartete es nur darauf, sich Eindringlinge einzuverleiben.
Am Rand der Lichtung, von wo aus sich ein klarer Blick zur Front des Hauses bot, schaute ich mich zu allen Seiten um. Die Fenster des Gebäudes waren unbeschädigt und zum Teil mit Fensterläden verschlossen. Neben dem Haus stand ein silberner Minivan – ein neuer Hyundai mit einem Frankfurter Kennzeichen. Anhand der Kopfstützen zählte ich acht Sitze.
»Was glaubst du?«, fragte ich Sema und hoffte, sie würde Umae spüren können, doch sie schüttelte nur den Kopf. »Ich weiß nicht. Da könnte alles auf uns warten.«
»Bleib du hier«, sagte ich. Sema versuchte nicht einmal, etwas zu entgegnen. Die Grenze zwischen Beschützerin und Beschützter wurde wieder einmal neu gezogen.
Langsam näherte ich mich dem Haus und schaute einige Male zu Sema zurück, die selbst für meine Augen beinahe wie ein Fels zwischen Bäumen wirkte.