Schlechtwetterzonen - Werner Schwarz - E-Book

Schlechtwetterzonen E-Book

Werner Schwarz

0,0

Beschreibung

Eine Geschichte wie sie sich nicht alle Tage ereignet, eine Biografie, welche ihresgleichen sucht. Der Autor, Heimkind in den 1960er und 70er Jahren, erfuhr ein Leben einerseits als aufgezwungenes Schicksal, geprägt von in jener Zeit in Kinderheimen herrschender sinnloser Gewalt, anderseits aber auch als fortlaufenden Wechsel prägender Ereignisse: mehrere Heimwechsel, sowohl kirchlich als auch weltlich, zwangsläufige Schulwechsel, Wechsel der Erzieher und Kameraden. Immer zu wenig Zeit, um Bindungen einzugehen und um sich selbst zu schützen, unwissend immer mehr Kälte als Wärme erlernen zu müssen. Ein junges Leben, welches vor allem auch ein Ringen ums Überleben war - körperlich und auf jeden Fall seelisch. Und dann der immerwährende Wunsch, diesen Druck der staatlichen Fürsorge endlich zu entrinnen. Schließlich seine lang ersehnte und verrückte Berufswahl, von der er zu Beginn noch nicht ahnte, dass sie ihn fortan prägen wird und diese zu seiner Passion werden würde. Im Wechsel zwischen packender Schilderung der Ereignisse, Reflektionen und umfangreichen Informationen wie die folgenden, die man als Motto, es wären immer nur sich bald auflösende Schlechtwetterzonen, die die gesamte Schilderung sehen kann: "Es ist gut, dass jeder Mensch sein Leben nach seinem Wohlgefallen, in welcher Form auch immer, gestalten kann. Das Individuum Mensch ist in der Evolutionsgeschichte als einziger in der Lage, dies selber zu entscheiden."

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 580

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Vorwort

Erinnerungen ...

Lost in Space ...

Quo vadis – wohin gehe ich ...

Aufbruch in ein neues Leben ...

Der Weg in die Freiheit ...

Sonnenhalde: Wie kann man diesen Ort mit der Wärme der Sonne verbinden ...

Der Weg ...

Abschied ...

Aufbruch in die Freiheit ...

Was für ein Tag ...

Regensburg ...

Von Witthoh, Kakerlaken und ...

Mein erster Drogenkonsum ...

Er war ein Verbrecher ...

Wieder einmal Abschied ...

As time goes by ...

Schleusen ...

Auf dem Main ...

Erinnerungen an die Kanalisation in Regensburg ...

Dorfprozelten ...

Ein neuer Plan ...

Barmherzige Schwestern und was sie darunter verstanden ...

Einmal Hölle und zurück ...

Mr. Kimble auf der Flucht ...

Spezialbehandlung ...

Einzelhaft, sie werden schon zeigen wo es langgeht ...

Vom Glück, Eltern zu finden … Oder: Michi, der Glückspilz ...

Von Ochsenaugen und anderen Geschäften ...

Hirschau … Oder: Kindersklaven ...

Die verlorene Zeit ...

Bärenbrüder? ...

Auf zu neuen Ufern ...

Auf dem Weg in die große weite Welt ...

Der Rhein ...

Weißenthurm – dolce vita ...

Leb wohl ANNI ...

Dicke Backen machen lässt erahnen, es schmeckt nicht besonders ...

Von Wünschen und anderen unbekannten Dingen ...

Auf zu neuen Ufern ...

Und täglich grüßt das Murmeltier ...

Girls, Girls, Girls ...

Aus der Trickkiste der Technik ...

Tante Emma auf dem Wasser ...

Wiedersehen mit dem „alten“ Schiffmann ...

Ankermanöver, dann dreh das Ding mal raus ...

Zuhause in Weißenthurm ...

Mein erster Winter auf dem Schiff ...

Ich bekomme eine Familie ...

Überwintern in Erlenbach ...

Das große Schiff muss an Land ...

Weihnachten … Familie ...

Unser Schiff wird schick gemacht ...

Werner lernt schwimmen … Oder: Mann über Bord ...

Zuhause in Weißenthurm ...

Flieg, Vöglein flieg … Erinnerungen an Witthoh ...

Schulalltag ...

Veränderungen ...

Mein erster Sommer an Bord ...

Time to say goodbye … Oder: die letzte Reise ...

Kein Weg zurück ...

The long run ...

Staub zu Staub ...

Das große Nichts ...

Und nun? ...

Manchmal muss man gewohnte Ufer verlassen, um neue Welten zu entdecken ...

Zum Autor

Vorwort

… grundsätzlich hat der Mensch, meist im höheren Alter, einen Augenblick, einen kurzen Gedanken, nur ein paar Minuten, in denen er in sich geht und sich Fragen stellt wie: „Was wird mit all dem, was ich hinterlassen habe?“ „Was ist es eigentlich, was ich hinterlassen werde?“ oder „War mein Leben so interessant, dass ich überhaupt etwas hinterlassen muss oder möchte“?

Hat er, dem Durchschnitt gerecht werdend, ein Kind gezeugt, ein Haus gebaut und einen Baum gepflanzt, dann hat er grundsätzlich der Standardform der Hinterlassenschaften genüge getan und die Fragen sind schnell beantwortet.

Hat er all das nicht, weil eben sein Lebensweg dies erschwert oder verhindert hat, dann kann er sich noch zu Lebzeiten mit der Tatsache arrangieren, dass seine Geschichte womöglich direkt nach seinem Ableben, nach dem Leichenschmaus oder nach ein paar Stammtischfloskeln seiner gleichaltrigen Freunde, also nach kürzester Zeit ein Ende finden wird.

Eventuell bleibt bei Freunden und Bekannten nur noch sein Name im Gedächtnis haften, der seine einstige Existenz in Erinnerung ruft, ganz nach dem Motto, „Ich kannte auch mal einen Werner“.

Nun hat jeder einzelne Mensch seine eigene Geschichte, die kann bei dem einen eher ganz normal und durchschnittlich ausfallen, aber sich bei einem anderen derartig irre und verrückt gestalten, dass man sie fast nicht glauben möchte.

Ich zähle meine eigene, durchlebte Geschichte, doch zu den recht turbulenten und ungewöhnlichen. Ich habe mich mit deren Schwere verbündet und gleichzeitig intensiv mit dieser überdurchschnittlichen Vergangenheit auseinandergesetzt und mich dann vor ein paar Jahren dazu entschlossen, alles daran zu setzen, dass meine Geschichte erhalten bleibt.

Erfreulich ist, dass in der heutigen Zeit, Literatur nicht nur in Buchform gespeichert und aufbewahrt wird, aber noch erfreulicher ist, dass man erlebte Geschichte und Geschichten auch heute noch gerade und vor allem durch das Buch mit anderen teilen kann …

Berlin, Januar 2019, Werner Schwarz

Erinnerungen …

Es ist ein Sonntagnachmittag, ich sitze auf „meiner“ Bank an der Donau und hänge meinen Gedanken nach. Die Blätter der Pappeln raunen sanft im Wind – es ist ein vertrauter Platz und während am Himmel ein paar Wolken an mir vorüberziehen, lehne ich mich zurück und lasse zu, dass meine Erinnerungen langsam und noch zaghaft Zeit und Raum bekommen.

Wie ein Kaleidoskop kommen und gehen meine Gedanken – wechseln von tiefstem Schwarz bis hin zu leuchtendem Rot – und zwischen all diesen Gedanken und Farben macht sich ein Song breit, der ganz wunderbar zu meiner Geschichte passt:

„How many roads must a man walk down, before you call him a man?

How many seas must a white dove sail, before she sleeps in the sand?

Yes and how many times must a cannon ball fly, before they're forever banned?

The answer my friend is blowing in the wind,

the answer is blowing in the wind …“

Hunderte Male auf eigene Art gesungen, unzählige Male gehört, doch hat letztendlich auch der Refrain, alle vorher im Text gestellten Fragen, die scheinbar so einfach und leicht vom Wind übermittelt wurden, nicht wirklich beantwortet. Bob Dylan, ein Held meiner Jugend, veröffentlichte schon 1963 jenen Welthit, in dem der Wind eine solch große Rolle spielt. Der Wind, der grundsätzlich alle Fragen beantworten könnte, wenn er nicht eben die Antworten auf all die Fragen in seiner Eigenschaft als Wind einfach davon tragen würde. Es half nicht immer, aber irgendwie beruhigte dann doch manchmal die Erkenntnis, dass es nicht immer möglich ist, eine Antwort auf eine schwierige Frage zu erhalten.

Die Wellen kräuseln sich nach einer immer wiederkehrenden Ordnung und so wie der Fluss seinem Lauf folgt – so muss und werde auch ich dem Lauf meines Lebens folgen. Ich lernte ein Schiff zu navigieren und manches Mal wünschte ich mir, man könnte die Navigation durch das eigene Leben ebenfalls erlernen. Und zwar früh genug … schmerzlos, problemlos, womöglich ereignislos, letztendlich sogar sinnlos? Nein, alles gut. Es ist gut, dass jeder Mensch sein Leben nach seinem Wohlgefallen, in welcher Form auch immer, selber gestalten kann, dass er die Möglichkeit hat, sich mit allem, was auf ihn zukommt, alldem Guten und Schlechten Handeln aber auch dem behandelt werden, arrangieren kann – was immer ihn auch in seinem Leben ereilt hat. Es ist extrem wichtig, er sollte es einfach versuchen. Das Individuum Mensch ist in der Evolutionsgeschichte als einziges Individuum in der Lage, dies selber zu entscheiden. Kein Fisch weiß, dass ihm nach dem Angelhaken die Bratpfanne droht, kein Hund weiß, dass ein Auto ihn angefahren hat, wenn er im Graben liegt, kein Vogel weiß, dass er zu Boden stürzt, wenn ihn die Schrotladung des Jägers trifft. Billionen Tonnen Papier könnten mit solchen Beispielen gefüllt werden. Nur der Mensch kann sich diese Frage „Was passiert wenn“ stellen, erfand aber auch diese Worte: „Was ist Fluch, was ist Segen“? Dennoch reagiert und handelt er oftmals nicht so, wie es sein sollte oder erwartet wird. Begreift oder erkennt sich manchmal selber nicht, ist oftmals auch erstaunt, wie er das, zur Zufriedenheit – und zur Unzufriedenheit auch anderen gegenüber, alles gemeistert hat.

Auch wenn es spät ist, wenn man erst spät in der Lage ist zu begreifen, spät Verständnis und sogar Akzeptanz findet, Worte verstehen und Verzeihen lernt, eintaucht in das Handeln anderer, alles, auch das eigene Handeln Revue passieren lassen kann und dennoch, nach all den Analysen, ob gut oder schlecht, Hand in Hand mit diesem Arrangement weitergeht, wird so einiges sehr viel leichter …

Lost in Space …

Damit fängt alles an. Kinderlachen, gemeinsame Mahlzeiten mit Vater und Mutter, Besuche bei den Großeltern, Ostereiersuchen, Nikolausbesuche und Geschenke zu Weihnachten, daheim Hausaufgaben machen, mit den Geschwistern toben und streiten und sich wieder vertragen, Sonntagsausflüge in die Umgebung zum Picknicken, Gute-Nacht-Geschichten vorgelesen bekommen, mit den Eltern zum Flohmarkt gehen, mit Vater den Zaun streichen, Mutter beim Plätzchenbacken helfen, Kissenschlachten mit den Geschwistern, alle zusammen „Lassie“ am Fernseher anschauen, von den Eltern aufgeklärt werden, Hühnersuppe für die Seele und Pflaster für die vielen Schrammen, zuhause seine Grenzen austesten, alles besser wissen als Vater und Mutter, Allianzen mit den Geschwistern bilden, zuhause heimlich aus dem Klofenster rauchen, fit gemacht werden fürs Leben, eine Wärmflasche bei Bauchweh, eine gut gefüllte Schultüte, Pausenbrot von daheim, die erste Tanzstunde und daheim mit Mama üben, unter Großvaters Anleitung endlich Rad fahren lernen, schlechte Noten in der Schule verheimlichen, mit Mutter zum Zahnarzt gehen, mit den Geschwistern ein Baumhaus bauen, Nachbars Briefkasteninhalt mit Knallern sprengen, Zusammenhalt, Kleingeld für gute Schulnoten bekommen, die erste Liebe mit nach Hause bringen, Füreinander, Miteinander – all das blieb mir und meinen Geschwistern verwehrt …

All das, was für die meisten Menschen völlig normal war, das werden meine Geschwister und ich nicht kennenlernen. Man kann sich vieles im Leben aneignen, aber so manches bleibt bei dieser Geschichte doch für immer verborgen.

Heute – mit bald 60 Jahren – schaue ich zurück – und lecke meine Wunden längst nicht mehr, habe alles im Griff soweit.

Nein, ich hasse meine Eltern nicht – Hass ist etwas, das ich selbst damit nicht in Verbindung bringen kann – ich kenne sie ja nicht einmal!

Quo vadis – wohin gehe ich …

Diese Verlorenheit, dieses Gefühl, keine Wurzeln zu haben, ist es, was mich so manche Nacht nicht schlafen ließ und mit dem ich zu leben lernen musste. Die Suche nach dem „Woher“ und nach dem „Warum“, meine persönliche Reise in die Vergangenheit – sie wird die prägendste all meiner Reisen werden – und es ist an der Zeit, sich dieser Reise zu stellen …

Aufbruch in ein neues Leben …

August 1978 – es war das Jahr der drei Päpste. Soweit ich mich erinnern kann, starb einer, weil er einfach alt war. Ein anderer, der gewählt wurde, starb kurze Zeit später, weil er eigentlich auch zu alt war und derjenige, der danach gewählt wurde, lebte erstmal noch.

Helmut Schmidt war Bundeskanzler und der „Hoch auf dem gelben Wagen“ sitzend singende Walter Scheel war Bundespräsident. Jimmy Carter war amerikanischer Präsident, Reinhold Messner bestieg mal wieder den Mount Everest – diesmal allerdings ohne Sauerstoffgerät. In England wurde das erste Retortenbaby geboren und ich, ja ich war hier in Nürnberg.

Hier soll er nun beginnen, mein neuer Lebensabschnitt und mein Berufsleben. Den ganzen Tag ist es bedeckt und hat hin und wieder geregnet. Wir waren schon seit dem frühen Morgen unterwegs. Ich habe die Rücklehne etwas zurückgestellt und lümmle mich halbschlafend auf dem Beifahrersitz eines alten, hellblauen Opel Kadett.

Die Karre ist, schau ich mich mal so um, irgendwie total versaut. Überall liegt Müll, leere Fanta-Dosen, Tüten von irgendwelchen Knabbereien für zwischendurch und der Boden und alles andere ist verstaubt, es ist einfach so richtig dreckig. Der Aschenbecher ist voller Kippen, von denen allerdings nicht eine einzige von mir stammte, obwohl ich zwischendurch sehr gerne mal eine geraucht hätte.

Eine ganze Zeitlang stehen wir schon am Nürnberger Hafen, es gibt viel zu sehen, sehr interessant all das. Links von mir bewegen sich gigantische Kräne mit lautem Gedonner und Geheule, die irgendwelche Frachten aus irgendwelchen Schiffen ausladen und auf die andere Seite, fast über unsere Köpfe hinweg, auf riesige, staubende Haufen warfen. Rechts von mir brettern fortlaufend Lastwagen vorbei und der Wagen, in dem ich sitze, wird davon ständig erschüttert.

Die gesamte Gegend besteht aus Lagerhäusern und Beton – also nichts Schönes oder etwas Grün – nur eintönige Industrieanlagen, die noch nicht ganz fertig erbaut scheinen.

Und ich? Ich warte und zwar auf die Person, die mich heute hier „abliefern“ soll.

Herr Walter, ein staatlich geprüfter Erzieher, ist schon eine Zeitlang draußen im Hafengelände unterwegs und sucht das Schiff, auf dem ich heute als Schiffsjunge zu einer sechsmonatigen Probezeit anheuern soll.

Drei Bewerbungen hatte ich geschrieben und in den letzten Wochen immer mal wieder vollkommen brotlos irgendwo irgendwelche Praktika absolviert, nur damit ich überhaupt irgendeine Beschäftigung hatte.

Nun erhielt ich vor zwei Monaten doch noch eine Zusage von einem Partikulier. Ein Schiffseigner aus Dorfprozelten am Main, einem Familienunternehmen, das im Besitz zweier Schiffe ist. Meinem seit Jahren gehegten Kindheitstraum – Kapitän zu werden – bin ich nun immerhin schon mal gute 400 Kilometer (von Scheidegg im Allgäu bis nach Nürnberg) näher gekommen.

Endlich habe ich die Möglichkeit, dieser ständigen Überwachung durch irgendwelche Ersatzeltern, denen nach meinem Empfinden mein „angebliches“ Wohlbefinden sehr am Herzen liegt, endgültig zu entfliehen. Während also im Radio die BeeGees ihre Angebetete fragten „How deep is your love“, stellte ich fest, dass ich noch nicht mal ganz 17 bin und mich unter normalen Umständen weiterhin, also bis zu meiner Volljährigkeit, von „staatlich bestimmten Vormündern“ in all meinen Gedanken und Handeln beeinflussen lassen müsste.

Aber damit ist jetzt Schluss, dieses Thema und noch einige andere werde ich heute durch meinen Start ins Berufsleben beenden.

Hier wird es nur noch einen geben, der mir etwas zu befehlen hat – der Kapitän des Schiffes, auf dem ich heute meinen ersten Arbeitstag beginnen und in ein völlig neues Leben starten werde.

Der Weg in die Freiheit …

Es ist kaum zu glauben, ich habe es fast geschafft!! Nur noch ein, zwei Stunden – dann bin ich raus aus den Fängen der Menschen, die stets glaubten, mein Leben gestalten zu müssen.

In Kürze wird Herr Walter, der den Auftrag hatte, mich hier abzuliefern, seine Pflicht getan haben. Er wird seine Heimreise nach Scheidegg ins Allgäu antreten und mich endlich, nach fast 16 Jahren voll von Bevormundung, Pflicht und Gehorsam meinem Schicksal überlassen.

Ich werde mir wahrscheinlich heute Abend – wo, weiß ich selbst noch nicht, wieder einmal in einem fremden Bett, wieder einmal in einer absolut neuen und fremden Umgebung Gedanken machen, was nun alles auf mich zukommt, und die Eindrücke des ersten Tages auf mich einwirken lassen.

Herr Walter wird abends wieder in Scheidegg im Kinderheim der sozialpädagogischen Einrichtung Sonnenhalde sein. Es liegt etwas außerhalb des Dorfes Scheidegg an einem Berg direkt am Waldrand und wird geleitet von der Inhaberin, der für uns Kinder und Jugendliche so Furcht einflößenden „Grand Dame“ – Frau Elfriede Köhler.

Sie war es, die letztendlich davon lebte, indem sie bei diversen Jugendämtern, in dessen Obhut auch ich stand, und diversen Eltern, die mit der Erziehung ihrer Kinder gescheitert sind, ein wahrscheinlich nicht unerhebliches „Kopfgeld“ pro Kind abrechnete. Die ihr anvertrauten Kindern sollten hier und unter ihrer „Fürsorge“ irgendwann einmal etwas „Anständiges“ werden.

Sonnenhalde: Wie kann man diesen Ort mit der Wärme der

Die letzten eineinhalb Jahre, welche ich in dieser Einrichtung verbringen musste, bahnen sich ihren Weg in meine Gedanken. Die Zeit war mal wieder viel zu kurz, um Kameradschaft oder gar Freundschaften wachsen zu lassen. Es gibt viele positive aber auch ein paar negative Ereignisse in Verbindung mit dieser Einrichtung.

Meine Schwester Dagmar – ein Jahr jünger als ich – sie ist jetzt allein in dieser Einrichtung und ich habe nicht die geringste Vorstellung, wie es bei ihr weitergehen soll und was mit ihr geschehen würde.

Allerdings wusste ich, dass sie ganz gerne in dieser Einrichtung war. Schon alleine wegen den ganzen Viechern usw. gefiel es ihr doch ganz gut dort. Sie war also ganz gut aufgehoben, zumindest hoffte ich das mal.

Ich weiß nicht, so richtig froh werde ich dann heute Abend wahrscheinlich erst mal doch nicht sein.

Meine Kameraden werden es genossen haben, dass Herr Walter mal einen Tag nicht im Haus war, weil er die Aufgabe hatte, mich zu meinem ersten Arbeitsplatz zu bringen.

Obwohl, so schlecht war er gar nicht, der Herr Walter. Er war so um die 45, hatte eine normale Statur, rauchte Ernte 23, Stirnglatze, graue Haare, Vollbart, Brille und war ungefähr so groß wie ich, also ca. 180 cm. Ein Naturbursche, der stets Kniestümpfe, Knickerbocker und festes Schuhwerk trug. Ein Bergsteiger und leidenschaftlicher Wanderer, den ständig – immer und überall – ein Berg rief.

Irgendwie war er sehr sozial und auch immer sehr locker und gelassen, gar nicht so richtig reizbar oder aggressiv, wie wir renitenten Zöglinge dieser Anstalt es manchmal gerne gehabt hätten.

Die Erzieher hatten es sicher nicht leicht mit einer Gruppe von ein Dutzend mehr oder weniger renitenten jugendlichen Jungs – alle zwischen 12 und 18 Jahren. Es gab auch noch eine Erzieherin: Sie wohnte als einzige Frau auch noch auf der gleichen Etage wie unsere Gruppe und hatte eine dicke, alte, taube und schwarzgraue Langhaardackeldame, die stets eine Schleife im Haar hatte und Hexe hieß.

Jeder Neuzugang, der in unsere Gruppe kam, stellte sich, genau wie ich vor eineinhalb Jahren, dieselbe Frage – wer ist denn nun die Hexe von den beiden, der Hund oder sie?

Sie war mindestens 50 Jahre alt, groß und schlank, hinkte ziemlich heftig, hatte ein sehr markantes unschönes Gesicht und lange, (wie sollte es anders sein) schwarzgrau und fettig herunterhängende Haare wie ihre Dackeldame. Gut, eine Schleife trug sie nicht, aber sie hatte furchtbar vergilbte, pferdegebissähnliche Zähne und trug ständig die ganze Zeit über, die ich dort verweilen musste, die gleiche graublaue Hausfrauenschürze und ihr unter uns Jungs verwendeter Spitzname war natürlich „Hexe“.

Doch es entging ihnen fast nichts, unseren Hexen. Ihr tauber Dackel kläffte ständig vollkommen grundlos, anscheinend um zu beweisen, dass er wenigstens noch kläffen konnte. Sie war ständig auf der Hut und wachte wie besessen über uns.

Morgens weckte sie uns mit einem geheuchelten, fröhlich singenden und laut gerufenem „Guten Morgeeen“, während sie die Zimmertür aufriss und das Licht einschaltete. Abends schaltete sie es mit einem sehr bestimmenden „Gute Nacht“ bei den Großen, also den Jugendlichen ab 15 Jahren, pünktlich um 21:00 Uhr aus.

Aber irgendwie hatten wir, vor allem die Älteren, doch die gleichen Interessen und somit hatten wir sie und ihre List, alles zu sehen und zu hören, ganz gut im Griff.

Die Jungs kamen meist aus zerrütteten Familien, waren Scheidungsopfer, lebten in Armut oder waren – sagen wir es mal so – nicht wirklich leicht erziehbar. So war es in fast allen anderen Heimen, in denen ich so viele Jahre verbrachte, auch.

Es waren von den vielen hundert Kindern, mit denen ich gemeinsam einen Teil meiner Zeit durchlebte, gar nicht so viele dabei wie ich. Ein Kind wie ich, das schon mit zwei Jahren zusammen mit seinen Geschwistern – allein durch den Staat und von niemandem sonst entschieden – in ein Kinderheim kam.

Und meine, mir die ganze Zeit meines Lebens gestellte Frage, was damals vorgefallen war, ist noch lange nicht beantwortet. Vielleicht wäre es besser, keine Antwort zu finden, vielleicht wird es auch keine Antwort geben. Ich weiß es nicht und kann nur hoffen, dass meine Seele das, was ich in Erfahrung bringen werde, verkraftet. Nichts hat mich darauf vorbereitet, ganz allein und mit mir selbst all das auszuloten, was mich ausmacht.

Viele Berliner, eine recht bunte Mischung von verschiedenen Charakteren, waren in der Sonnenhalde untergebracht, schön weit weg von dieser „ach so gefährlichen“ Großstadt …

Es war schon sehr abenteuerlich, sich z. B. nachts die Treppe aus dem Dachgeschoß, indem wir untergebracht waren, hinunter zu schleichen, um eine Zigarette zu rauchen.

Die Treppen knarrten fürchterlich in dieser alten, großen Fachwerkhütte, die außen in den oberen Etagen mit dunkelbraunem Holz vernagelt und unten nur ganz grob verputzt war. Dies führte unabdingbar zu gemeinen Schürfwunden, wenn man mal in das eine oder andere Fenster steigen wollte.

Wer diese knarrenden Stufen nicht kannte, war nach der ersten Stufe schon verraten und von unserer Haushexe (die ihr Zimmer leider unmittelbar neben dem Treppenhaus hatte) erwischt worden.

Da außer der Küche, dem Speisesaal und den Duschen im Erdgeschoss und der ersten Etage, in der die kleineren Zöglinge zwischen 6 und 12 Jahren untergebracht waren, nichts war, was uns interessierte, zog es uns dann zum Rauchen oder zu nächtlichen Treffen meist in den Speisesaal, wo man noch die eine oder andere Stunde heimlich verbrachte. Die Fenster hatten wir weit aufgerissen, um eine abendliche Gutenachtzigarette zu rauchen und um über die einen oder anderen Vorkommnisse des Tages zu diskutieren.

Aber eben nur, wenn der heimliche Ritt durchs Treppenhaus gelang.

Ansonsten hat dich die Hexe geholt und dann war es vorbei mit den nächtlichen Ausflügen. Entweder man hatte für die Wächterin der hölzernen Treppe eine gute Ausrede parat oder es war um 21:00 Uhr wirklich Zapfenstreich.

Was einigermaßen als Begründung zog, wenn man erwischt wurde, war die Mitleidstour – furchtbarer Hunger, schnell mal eine Scheibe trockenes Brot aus dem angrenzenden Speisesaal neben der Küche holen zu wollen, weil man doch aus einem „erfundenen“ Grund das Abendessen verpasst hatte oder weil einem beim Abendessen so speiübel war, dass man nichts essen konnte – das ging dann schon mal.

Nur eine Scheibe Brot würde jetzt wirklich sehr helfen, um die Nacht zu überstehen.

„Du bist in 5 Minuten wieder oben und klopfst an meine Tür“, kläffte sie fast standardmäßig!

Man wandelte, da es ja jetzt offiziell war, die knarrenden Treppen zurück in sein Schlafzimmer, sagte, man ziehe sich dann doch besser einen Morgenmantel an und bat leise einen Zimmergenossen, doch in 5 Minuten an das Zimmer der Hexe zu klopfen, die dann annahm, dass der nächtliche Ausflug des zuvor erwischten Nachtwanderers beendet wäre.

Somit war immer eine gewisse Zeit im Kreis seiner Kameraden gesichert.

Aber ich, ich brauchte keine Ausreden. Ich kannte nach eineinhalb Jahren den Klang jeder einzelnen Stufe, ich übte schon seit Monaten tagsüber, wie ich das Treppenhaus ohne Knarren bewältigen konnte.

Für mich existierte diese Treppe gar nicht. Punktgenau wusste ich, wo ich meinen Fuß aufsetzen musste. Mal ganz links oder besser mittig oder am besten gleich über zwei hinweg auf die nächste Stufe – ich kannte jeden Tritt und wandelte darüber wie über ein Minenfeld und es war jedes Mal ein unglaubliches Erfolgserlebnis.

In den Sommermonaten kletterten wir meist, wenn's nicht gerade regnete, durch die Dachfenster und dann trafen wir uns auf dem Dach des Hauses.

Das war dann weniger schwierig und es war auch sehr viel schöner da oben.

Da das Dach sehr flach gebaut war, konnte man sich auf die noch von der Tagessonne erwärmten Dachziegel legen und fantastische Sternenhimmel beobachten.

Oft saßen wir mindestens zu zweit, zu dritt oder manchmal noch mehrere in Unterhosen oder Schlafanzügen auf dem Dach des Hauses und genossen so eine Freiheit der anderen Art. Es war absolute Stille und nur Natur, nichts anderes. Flüsternd, leise und gar nicht so sehr viel redend verbrachten wir so manchen Abend auf dem Dach in der Sonnenhalde.

Im Winter war dazu natürlich keine Chance vorhanden, es gab Schnee, sehr viel Schnee. Da durften dann doch nur einige „Auserwählte“ auf das Dach, um dieses von den Schneemassen zu befreien, wenn es zu viel wurde. Unsereiner durfte eher wieder die Fenster am Boden freischaufeln, die von den lawinenartigen Schneeabgängen verdeckt waren.

Frau Köhler, die Hausherrin, war eine alte aufgetakelte Dame, welche die kleineren Insassen Tante Elfi nannten.

Sie war schlank und sehr groß, rauchte sehr stark, hatte dunkles gewelltes Haar und war mindestens (wie ihr auffallend faltiges Gesicht verriet) schon 60, immer braun gebrannt und fuhr einen goldmetallicfarbenen Renault 16.

Ihr Mann hieß auch Walter, ein kräftiger Typ mit Glatze und Brille, der einen roten BMW 2002 fuhr und ich glaube, ihm fehlte irgend ein Arm, welcher, weiß ich jetzt gar nicht mehr. Viele Jahre sind seit dem ins Land gegangen.

Wenn ich in all der Zeit mal Worte von ihm gehört habe – dann waren es vielleicht ein oder zwei, aber sicherlich nicht mehr. Walter Köhler ging das alles am Arsch vorbei und ich sah ihn eher selten bis gar nicht.

Eigentlich hatte Tante Elfi mit all dem nicht mehr so viel zu tun.

Sie lebte in einem anderen Haus, dem Haus 2, das zwar zu dieser Anlage gehörte, aber ca. 200 Meter entfernt auf einer weiteren Anhöhe stand.

Ein relativ neues, schlichtes und großes Gebäude im Vergleich zu dem Haus, in dem wir leben mussten.

Dort war auch die Hauptküche, in der unser tägliches Mahl von einer dicken Köchin zubereitet wurde. Das wurde dann täglich von dem eingeteilten Tisch- und Küchendienst im Sommer mit einem Bollerwagen und im Winter mit einem großen Schlitten von dort oben abgeholt. Das Essen wurde in unserem Haus, in unserer kleineren Küche am angrenzenden Speisesaal zu Mittag ausgegeben.

Man konnte sich sehr glücklich schätzen, wenn man im Haus 1 lebte, irgendwie war zwar alles alt und marode, aber man war „weg vom Schuss“, wie man so schön sagt.

Wir bekamen im Großen und Ganzen nichts davon mit, was im Haus 2 abging und keiner wollte wirklich (aus welch mysteriösem Grund auch immer) dort leben.

Da war alles diktatorisch fest im Griff und wer für das Personal im Haus 1 zu schwierig wurde, der wurde kurzerhand ins Haus 2 verlegt. Und das war für die zukünftigen Tage, Monate oder sogar Jahre der Unterbringung kein gutes Omen.

Immerhin lebte dort die Chefin von allem, Tante Elfi, sowie ihr Sohn Gerd, der eigentlich das Sagen hatte, mit seiner Frau Dagmar und Tochter Britta (14). Gerd und Dagmar Köhler arbeiteten also auch in dieser Einrichtung im Haus 2 und ich weiß bis heute nicht, ob die beiden tatsächlich staatlich anerkannte Erzieher waren oder irgendetwas Ähnliches – aber ich tippe mal eher nicht.

Es war halt ein Familienunternehmen, bei dem das Geld verdient wurde wie bei einem größeren Bauernhof oder so, alle mussten mit anpacken, damit die Milch aus den Kühen kommt.

Ich kann auch wirklich nicht sagen, wie viele Kinder im Haus 2 betreut wurden, da die beiden Häuser irgendwie immer voneinander getrennt waren. Wir hatten nur sehr selten Zugang. Außer, wenn die Chefin aus unerfindlichen Gründen alle Kinder zu einem, sagen wir mal, „Massenanschiss“ gerufen hatte und wir alle im großen Speisesaal antreten mussten.

Gerd Köhler war ein echter Playboy – ca. 35/40 Jahre alt, groß und kräftig gebaut – und fuhr immer einen Alfa Romeo der neusten Generation. Er hatte rote, schulterlange Locken und einen Oberlippenbart in einem noch intensiveren Rotton.

Ständig trug er eine Sonnenbrille – entweder auf der Nase, in den Haaren oder in den Händen – ein Gerd Köhler ohne Sonnenbrille war undenkbar.

Er war ein unglaublicher Angeber und zudem sehr aggressiv und dominant.

Da konnte es schon mal passieren, dass man so richtig eine aufs Maul bekommen hat, wenn man Mist gebaut hatte! Wenn der Befehl kam, ins Haus 2 zu kommen, um einen Rechenschaftsbericht abzulegen, dann war das schon sehr unangenehm.

So gefürchtet wie Gerd auch war, umso netter war seine Frau – Dagmar Köhler, ca. 35 Jahre, lange blonde Haare, eine normale Figur, sehr viel Humor und mit einem sehr angenehmen und mitreißenden Lachen. Im Gegensatz zu ihrem Mann Gerd fuhr sie einen alten, dunkelgrünen VW Käfer.

Die Tochter der beiden war natürlich so etwas wie die „heilige Kuh“ auf dem Gelände und der Papa hielt stets seine schützende Hand über ihre Genitalien, damit ja keiner der pubertären Zöglinge in Versuchung geraten könnte, ihr zu nahe zu treten.

Aber insgesamt war es nicht wirklich schlecht in der sozialpädagogischen Einrichtung Sonnenhalde im Allgäu und irgendwie waren sie schon in Ordnung, der Walter, die Hexe und die anderen.

Wenn ich nach all meinen Vergleichen mit anderen Heimen, in denen ich leben musste, zwischen 1 und 10 Punkte vergeben sollte – dann bekäme die Sonnenhalde immerhin 6 Punkte für das, was sie uns letztendlich boten. Alles in allem waren es akzeptable Erzieher, eine akzeptable Unterbringung, es gab Ponys, Hunde, Ziegen, einen riesigen Spielplatz für die Kleinen und – das Essen war zwar wie überall billig – aber wir wurden satt.

Der Fußweg in die Schule war das erste halbe Jahr ganz erträglich. Ich besuchte im ersten Halbjahr die Hauptschule in Scheidegg und im letzten Schuljahr fuhr ich mit dem Schulbus wie viele andere auch in die Hauptschule nach Lindenberg, wo ich letztendlich auch meinen Abschluss machte.

Im Winter lag oft sehr viel Schnee und es war auch oft sehr kalt. Es gab viel Natur und jede Menge Viehzeug auf den Weiden – vor allem Kühe, Unmengen von Kühen, deren Fladen sich recht gut als Frisbeescheiben verwenden ließen, wenn sie im Hochsommer gut durchgetrocknet waren.

Wir konnten Ski fahren und die Menschen, die im Dorf lebten, waren meist mehr oder weniger Arbeiter oder einfache Milchbauern. Wir Heimkinder hatten dann doch eher mehr Kontakt zu deren Kühen auf den Weiden oder deren Kindern in der Schule – falls wir ihre Namen doch mal kannten. Touristen gab es das ganze Jahr über.

Rückwirkend betrachtet, war es doch auch eine lebenswerte Station in meinem Leben, wo nicht alles nur schlecht war.

Der Weg …

Noch heute sehe ich ihn – so wie damals – auf sein Auto zugehen. Herr Walter kam etwas angekotzt auf mich zu und stapfte mit seinen sonst immer sauberen Schuhen auf der Straße, heute jedoch waren sie mit einer weißen, modrigen und schleimigen Masse total versaut.

An der Beifahrerseite seines Wagens, dessen Fenster ich bereits heruntergelassen hatte, sagte er sehr stinkig und etwas lauter als normal: „Nun schau Dir mal die Sauerei an, so ein Mist. Mann, Mann, Mann – so ein Dreck!“

Meckernd deutete er mit beiden Händen auf seine unglaublich verdreckten Schuhe und meinte: „Wir müssen ungefähr 1.000 Meter in die Richtung“ und dabei zeigte er mit dem Arm in die Richtung, von der er gerade gekommen war.

„Na, da fahren wir doch mit dem Auto hin“, sagte ich, noch immer im Beifahrersitz lümmelnd und mehr oder weniger fragend. „Das ganze Gepäck, sollten wir das tausend Meter schleppen oder wie? Und dieser Dreck da vorne, was macht das denn für einen Eindruck, wenn ich an meinem ersten Arbeitsplatz am ersten Arbeitstag mit so versauten Schuhen auftauche!“

Wortlos ging er auf die Fahrerseite und ich konnte seinen Hals richtig fett anschwellen sehen, was wohl letztendlich auch meine Äußerung verursacht hatte. Leise fluchend und brummelnd setzte er sich auf den Fahrersitz seines Wagens und entfernte mit einem Ast den gröbsten Dreck von seinen Schuhen, bevor er dann doch mit dem Auto direkt vor das Schiff fuhr.

Wir stiegen aus, traten an den Rand der Kaimauer – und da lag er nun, der Dampfer, auf dem ich heute als Schiffsjunge anheuern sollte. Wir standen da, ich mit sauberen und Herr Walter mit seinen eigentlich braunen Wildleder-Schnürschuhen, die immer noch furchtbar mit diesem weißen Zeug versaut waren.

Wir standen auf der Pier und betrachteten erst einmal dieses Gefährt. Es war ein Binnenschiff, ein Frachter. Die Länge, das Alter oder was auch immer, konnte ich mit meiner geringen Ahnung natürlich nicht so richtig abschätzen. Aber irgendwie war es ein recht langes Schiff, vielleicht 70 oder 80 Meter, sehr farbenfroh und alles in allem doch sehr ansehnlich.

„ANNI – Dorfprozelten“ stand hinten am Heck mit großen roten Buchstaben geschrieben. Als großer Fan der damaligen Fernsehserie „MS FRANZISKA“ mit Paul Dahlke, Jochen Schröder u. a., die vom Leben einer Binnenschifferfamilie handelte, wusste ich natürlich sofort, dass es sich hierbei um den Namen und den Heimathafen des Schiffes handelte.

Für mich, und das stand zu der Zeit noch im Vordergrund, war neben dem Interesse zu diesem Beruf einfach wichtig, einen Weg gefunden zu haben, um so schnell wie möglich aus den Fängen meiner Vormünder entfliehen zu können.

Zumal dieser Beruf auch noch sehr gut bezahlt wurde im Vergleich zu den Berufen an Land – das war neben meiner beruflichen Vorstellung geradezu eine Ideallösung. Irgendwie konnte ich das alles noch gar nicht fassen. Ich war unbeschreiblich froh und total aufgeregt. So tippelte ich dann etwas auf der Kaimauer hin und her und betrachtete das Ding, auf dem heute mein neues Leben beginnen wird.

Die Kräne, die das Schiff gerade ausluden, drehten sich noch und in diesem Steuerhaus, indem ich nur ein großes Steuerrad erkennen konnte, war jemand am Arbeiten.

Als dieser uns erblickte, kam er mit festem Schritt auf uns zu. Er war so 180 cm groß, ca. 40 Jahre, trug dunkelblaue Jeans und ein schwarzes T-Shirt, er hatte an der Seite gescheitelte schwarze Haare, die links und rechts seitlich an markanten Koteletten endeten. Er war zudem braun gebrannt, mit dunklen Augenbrauen, kräftig gebaut mit mächtigen Oberarmen und einem schwarzen Oberlippenbart, der so weit ins Gesicht hing, dass man seinen Mund kaum mehr erkennen konnte.

Er reichte Herrn Walter zur Begrüßung die Hand und mit einer ruhigen, dunklen, sehr gelassenen und angenehmen Stimme kam ein „Markert, ich bin der Schiffsführer“ über seine unsichtbaren Lippen.

Dann wandte er sich zu mir, kam etwas näher, reichte auch mir die Hand, legte die andere Hand auf meine Schulter und fragte: „Und Du, wer bist Du?“

„Werner“, sagte ich total nervös, „Ich bin der Werner.“

„Aha, der Werner“, wiederholte er meine Worte, „ein sehr schöner Name. Werner der Beschützer also, ein alter von den Germanen abstammender Name, wusstest Du das? Willkommen an Bord, Werner, und wir werden schon klarkommen, wir Zwei“, bemerkt er noch.

Ich konnte, da sein Mund unter diesem furchtbaren Oberlippenbart nicht auffindbar war, nur in seinen dunklen Augen, die meinen Augenkontakt suchten, ein sehr warmherziges Lächeln erkennen.

Etwas verschämt und sehr verdutzt über die Namenslehre, aber doch positiv überrascht, nahm ich die überaus angenehme Begrüßung gerne an.

„Ach du heiliger Strohsack, Ihre Schuhe“, sagte er zu Herrn Walter und fast hämisch teilte er uns mit, „Das ist Kaolin, ein furchtbarer Dreck – vor allem, wenn er nass wird.“

Tja, wenn er jetzt noch mein innerliches Grinsen hören könnte, dann wäre es vorbei, denke ich mir und drehte mich etwas aus dem Sichtfeld der beiden.

Herr Walter – etwas verschämt angepisst, sagte: „Ja, ja, ich habe es bemerkt (räusper), ich bringe Euch einen neuen Schiffsjungen, kann ich denn auch mal den Kapitän sprechen?“

Er klärte uns mit ein paar Worten auf: „Der Ausdruck Kapitän ist nicht mehr so geläufig in der Binnenschifffahrt, man sagt dann doch schon eher Schiffsführer oder Schiffsmann und das bin dann mal ich, ich habe Sie schon erwartet.“

Währenddessen kam aus etwas größerer Entfernung ein junger Mann meines Alters auf uns zu, so ca. 18 Jahre, 185 cm groß, schlank, blond und auch in Jeans und T-Shirt und etwas eingestaubt von der Ladung, zumindest nahm ich das an.

Er rief schon aus der Ferne: „Onkel Werner, wir sind gleich leer, soll ich schon mal die Löschbescheinigung holen?“

Ahaaaaa, schoss es mir in den Kopf, darum das Wissen über den Namen „Werner“. O. k. – mein Käpt'n hieß also auch Werner, „aber ist er auch ein Beschützer?“, fragte ich mich innerlich und im gleichen Augenblick meines Gedankens sah er zu mir herüber und lächelte wieder freundlich wie zuvor.

„Nein, Wolfram, komm mal her, das mach ich dann schon selber mit den Papieren. Hier, das ist unser neuer Schiffsjunge, er heißt auch Werner, hilf ihm mal das Auto ausladen und bringt sein Gepäck an Bord, ich hole dann die Papiere und dann können wir auch gleich losfahren.“

Als Wolfram zur Begrüßung näher herangetreten war, stellte uns der Käpt'n einander nochmals vor.

„Wolfram, das ist Werner, unser neuer Schiffsjunge, Werner, das ist Wolfram, unser Matrose“, und wir begrüßten uns per Handschlag doch eher zögerlich.

Während also der Matrose und der Schiffsjunge nun das Auto ausluden, unterhielten sich Herr Walter und der Käpt'n noch kurz.

Das Standardgespräch, dachte ich mir, „Wie ist er denn so, der Werner?“, usw. usw.

Wobei Wolfram und ich beim Ausladen des Autos kein einziges Wort wechselten, außer: „Stell das mal dahin, den Rest machen wir dann später.“

Der Käpt'n ging weg, um die Papiere zu holen. Das Auto war leer und Wolfram wurschtelte irgendetwas auf dem Schiff herum.

Abschied …

Nun war es soweit, ich war auf der Pier und saß so mit einer A…backe auf dem Sockel vorm Kran, der unser Schiff noch auslud, direkt neben dem alten hellblauen Opel Kadett von Herrn Walter.

Jetzt wird er gleich stattfinden, mein Abschied von der letzten Person, die irgendetwas mit meiner Erziehung, meinen Heimaufenthalten oder mit der Gestaltung meines Lebens zu tun hatte, ging es mir durch den Kopf.

Er stand vor mir, stecke sich eine Ernte 23 an und sagte, während der Kran fast über uns hinweg die Ladung aus den Schiff holte: „Und? Was glaubst Du, ist es das, was Du Dir vorgestellt hast?“

Ich erwiderte: „Ja, beruflich soll es das sein, was ich mir seit meinem 11. Lebensjahr gewünscht habe und was meine Freiheit betrifft, wird es das werden, was ich mir mein Leben lang gewünscht habe.“ Wobei ich das „Leben lang“ besonders betonte …

„Na, nun komm, Du Klugscheißer!“, sagte er etwas lauter, „So alt bist Du nun auch wieder nicht und so schlecht war es bei uns auch nicht, oder? Tust ja grad so, als äh äh äh“, und er fuchtelte wild mit seinen Armen umher und so endete dieser Satz etwas lauter – empört, enttäuscht und er blieb eher unvollendet.

Ich sagte betonend: „Nein, nein, es war ja o. k., sehr viel besser als in all den anderen Heimen, aber trotzdem – es reicht!! Dieser Job gibt mir mit allem, was ich bisher schon darüber weiß, auch irgendwie jetzt schon meine Freiheit.“

„Freiheit, Freiheit, es wird wichtigeres geben als Freiheit“, sagte er, gerade so, als ob ich das nicht wüsste.

„Aber nicht im Augenblick“, konterte ich, „wenn ich Bäcker in Scheidegg geworden wäre, dann hätte ich noch fast zwei Jahre bei Euch bleiben müssen bis ich 18 bin und dann? Was wäre dann gewesen? Ich würde selbst im dritten Lehrjahr nicht genug Geld verdienen, um auf eigenen Beinen stehen zu können, und wäre am Ende wieder von irgendjemandem abhängig. Nein, nein, noch zwei Jahre unterordnen, Anordnungen und Befehle befolgen, um 21:00 Uhr das Licht aus und nicht wissen, was danach kommt usw. Nein, nein, das passt schon so. Hier hab ich alles, was ich brauche, ein Dach über dem Kopf, ich reise durch die Weltgeschichte und gutes Geld verdiene ich zudem noch.“

„Ist ja schon gut, ist ja schon gut“, kam es zurück, gerade so, als wollte er mich etwas beruhigen. „Du darfst nicht glauben, dass ich Dich nicht verstehe“, unterbrach er meine Rechtfertigung. „Das Jugendamt hat Deiner Ausbildung zugestimmt und mein Job endet hier, wir müssen da nicht drüber diskutieren.“

Er nahm seine Kippe in die linke Hand, kam etwas näher und reichte mir zum Abschied die Hand.

„Ich wünsche Dir alles Gute, Werner. Du kannst Dich jederzeit bei mir melden, wenn Du mal einen Rat oder Hilfe brauchst“, sagte er dann doch etwas wehmütig oder vielleicht sogar etwas traurig? Dass ich das niemals tun würde, das konnte er sicherlich erahnen.

Ich weiß es heute nicht mehr so genau, aber sie war allgemein irgendwie blöd, die ganze Situation eben und ganz anders als die anderen endgültigen Abschiede, die ich sonst schon so oft erlebt hatte.

„Jaaa, danke“, meinte ich und drückte – vielleicht auch als eine Art Zeichen meines Dankes – beim Händeschütteln so fest ich nur konnte zu. „Ich wünsche Ihnen 'ne gute ‚Heim‘-Fahrt, haha wie treffend“, meinte ich dann locker, um natürlich auch für mich die Situation zu entspannen und hämisch lächelnd, „zurück ins Heim nach Scheidegg in die Sonnenhalde, grüßen Sie die anderen und meine Schwester, sagen Sie ihr, es ist alles in Ordnung und es geht mir soweit gut.“

Ein bisschen schüttelte er den Kopf, als wenn er sagen wollte, sehr witzig, dann stieg er in seinen alten Kadett und fuhr los in die Richtung, aus der wir hergekommen waren, durch den weißen Schmadder, der sich Kaolin nennt.

Aufbruch in die Freiheit …

Da stand ich nun mit meinen knapp 17 Lenzen allein auf weiter Flur und sah ihm nach, griff in die Hosentasche meiner schwarzen Cordhose, drehte mir aus schwarzem Krauser-Tabak und Efka-Blättchen eine Kippe und steckte sie mir an. Tief inhalierte ich den Rauch und stieß ihn langsam in den Himmel blasend wieder aus. Oh verdammt, dachte ich, die erste Zigarette heute und einen besseren Augenblick konnte es wirklich nicht geben, als eben diesen.

Ich bin frei! Und keiner ist mehr da, der mir das Rauchen verbieten würde, denn hier rauchten alle, immer und überall. Aber letztendlich wusste ich dann doch nicht, ob ich jetzt heulen oder lachen sollte.

Ich sah ihn gar nicht kommen, als unverhofft der Käpt'n von hinten an mich herantrat. In der Hand hielt er zusammengerollte Papiere und stellte sich neben mich.

Wir sahen beide dem hellblauen Opel Kadett nach, er steckte sich eine Krone an und fragte, als er den Rauch auspustete mit seiner weichen, beruhigenden, tiefen Stimme: „Na, Werner, ist alles klar, geht's?“

„Ja, ja“, sagte ich nickend und doch etwas wehmütig, „alles o. k., alles o. k.“

Er lächelte erneut mit seinen Augen, legte seinen Arm über meine Schultern, drehte sich mit mir um und meinte beruhigend: „Na dann ist es ja gut, nun komm mal an Bord, wir wollen doch gleich losfahren.“

Da hatte ich dann doch etwas mit mir zu kämpfen, aber es war ein sehr angenehmes und mir nicht so sehr bekanntes Gefühl, eben dieses Gefühl des Trostes für mich.

Wir gingen an Bord und bewegten uns zum Vorschiff, das sich an der Spitze des Schiffes befindet und auch Bug genannt wird.

Hier befand sich die Unterkunft der Decksmannschaft, also die der Schiffsjungen, der Matrosen und Steuermänner. Meine Koffer und der ganze Kram standen noch vor der Eingangstür.

Der Käpt'n blickte in die weit offene Eingangstür der Wohnung und rief: „Wolfram, bist Du da?“

Von innen vernahm man die Worte: „Ja, ja, kommt ruhig rein.“

Der Käpt'n zog seine Schuhe aus, drehte sich zu mir um und erklärte mir: „Wir ziehen immer die Schuhe aus, bevor wir in unsere Wohnungen gehen, damit wir den Schmutz, der an Deck liegt, nicht mit in die Wohnräume tragen. O. k., alles klar Werner?“

Das klang sehr viel besser, als wenn er gesagt hätte, „Hast Du verstanden?“, dachte ich mir.

Also bejahte ich seine Frage, zog ebenfalls meine Schuhe aus und wir stiegen eine steile, vierstufige Treppe hinunter in einen kleinen Korridor, ein Meter fünfzig mal einen Meter und mit rotem Stragulaboden. Rechts war eine Tür mit dem Bad dahinter, dieses war mit Kunststoffplatten in einem hellen Blauton und der Boden mit schwarz-weißen, marmorierten Fliesen ausgelegt.

Eine kleine Sitzbadewanne, ein Waschbecken, eine Toilette, die über zwei Stufen erklommen werden musste, so dass man direkt unter der Decke wie auf einem Thron saß.

Beim Strullern im Stehen musste also jemand in meiner Größe den Kopf weit nach vorne neigen, damit man sich nicht an der Decke stieß, was wiederum den Vorteil hatte, dass man gezwungen war, sich auf sein Geschäft zu konzentrieren.

Der Blick zur Kloschüssel war somit unabdingbar und die Gefahr, daneben zu pinkeln, reduzierte sich enorm.

Der Käpt'n bemerkte meine Bewunderung für die erhöhte Toilette und erklärte unaufgefordert: „Da schaust Du, was? Aber wenn die Toilette ebenerdig am Boden stehen würde, dann würde im beladenen Zustand des Schiffes das Wasser durch die Toilette hereinlaufen, weil die Schüssel dann unter dem Wasserspiegel stehen würde.“

„Aha, dann geht das alles also in den Fluss, was wir da rein, ähhhh, machen oder so“, fragte ich etwas verlegen.

„Sehr gut aufgepasst, Werner, genauso ist es – die Fische wollen doch auch leben“, kam es grinsend von ihm, so als wenn er sagen wollte, ist doch logisch oder?

„Und was ist, wenn's mal Wellen gibt, die übers Schiff schlagen – dann ist doch der Wasserspiegel auch kurzfristig höher, also viel höher als dieser Thron da, da muss man, glaube ich, nicht gerade drauf sitzen, wenn's soweit ist?“, fragte ich mit einer etwas ekligen Vorstellung und nicht ganz zufrieden mit all der Logik.

„Dann muss man, bevor die Wellen anfangen, unten in Deinem Schlafzimmer, wo das Fallrohr vom Bad nach Außenbords durchläuft, ein Ventil schließen – damit der ganze Scheiß hier nicht bis an die Decke spritzt.“

Mahnend, aber doch augenscheinlich grinsend hob er den Zeigefinger und zeigte zur Decke, „Aber das zeigt Dir Wolfram noch“, fügt er hinzu.

Nun ja, das klang sinnvoll und ich war nun recht zufrieden, was die Unterweisung und Nutzung der Toilette betraf.

An der Wand hing ein Durchlauferhitzer, der mit Gas versorgt wurde. Die Flaschen hierzu befanden sich außerhalb der Wohnung.

Das war es dann auch schon in Sachen Bad – nicht besonders groß, aber es war alles vorhanden.

Durch den kleinen Korridor kam man in eine Wohnküche: eine Eckbank, ein Tisch, zwei Stühle, eine Anrichte mit Spüle, ein paar Hängeschränke, ein Gasherd, ein großer Kühlschrank, der auch mit Gas funktionierte, ein Ölofen, ein Durchlauferhitzer an der Wand und sogar ein kleiner tragbarer Schwarzweiß-Fernseher, der auf dem großen Kühlschrank stand.

Alles war geradezu steril sauber und der rote Stragulaboden, der durch den ganzen oberen Wohnbereich auch in den Korridor verlief, glänzte wie ein Affenarsch. Unglaublich, oje, oje, ein Reinheitsfanantiker dachte ich, das wird was werden.

Wolfram zeigte mir gleich, wo sich alles befand, Teller, Töpfe, Pfannen, Besteck usw.

„Hier in diesem Schrank habe ich für Deine Lebensmittel Platz gemacht und im Kühlschrank kannst Du das unterste Fach nutzen“, sagte er relativ bestimmend.

In der Küche war ein zum Bug zeigender Niedergang mit ca. acht sehr steilen Stufen. „Da geht's zu den Schlafkammern“, sagte Wolfram, als er vor mir hinunter stieg.

Am Ende der Treppe war noch ein kleiner Korridor mit rotem Stragulaboden – dieser reichte ebenfalls in die Schlafkammern hinein.

Links nach einer Tür befand sich somit mein neues Reich – ein mittelgroßer Raum mit Etagenbett, einem Einbauschrank, einem Tisch, einem Stuhl und einem Ölofen.

Die Außenwände, die wie die Bordwand hier vorne am Bug schräg waren, waren weiß mit einer Art Kunststoffplatten verschalt und die Möbel waren alle in dunklem Teakholz.

„Und hier“, zeigte Wolfram in die Ecke hinter dem Etagenbett, „hier ist das Fallrohr vom Bad und da unten ist das Ventil, das geschlossen werden muss, wenn wir schlecht Wetter kriegen oder wenn wir Schleusen fahren“, sagte er, als er in die Hocke ging, an einem Rad drehte und ich verstand: nach rechts drehen ist zu und nach links drehen ist offen.

„Du hast ja mitbekommen, warum das so wichtig ist, aber ich sage Dir dann noch mal Bescheid, wann Du dieses Ventil öffnen oder schließen musst. Sobald wir wieder an der Werft sind, werden wir dieses durch ein Rückschlagventil ersetzen, dann brauchen wir nicht mehr drauf achten“, fügte er noch hinzu, „da macht dann automatisch das Rohr von unten dicht.“

„Beim Schleusen auch?“, fragte ich dann doch noch schnell, schließlich habe ich noch nie eine Schleuse gesehen, also kann ich fragen.

„Ja, aber nur, wenn wir beladen sind und zu Berg schleusen – also stromaufwärts fahren. Bei den meisten Schleusen wird das Wasser mit großem Druck bei den Schleusentoren durch hochgezogene Schotten reingelassen und da kann's dann schon passieren dass eben oben“, er hob den Zeigefinger zum Bad zeigend, „das Wasser reindrückt.“

O. k., alles klar, da hatte er mir wohl „einiges“ voraus, dachte ich mir so für mich.

Na ja, o. k., mein erstes Zimmer für mich ganz alleine, dachte ich, kein Zwei- oder Viermannzimmer oder kein Schlafsaal mit 30 Jungs, in welchem die ganze Nacht irgendeiner immer irgendwie Palaver machte, sondern ein Raum für mich ganz alleine.

Wow!

Meinem Zimmer gegenüber war das von Wolfram, diese Tür war aber verschlossen und da er auch nicht daran interessiert war, mir zu zeigen, wie er so lebte, war es mir eigentlich egal.

„So, Werner, nun packst Du mal Deine Koffer aus, beziehst Dein Bett und richtest Dich in aller Ruhe ein, dann ziehst Du Dir Arbeitsklamotten an und kommst nach hinten“, bestimmte der Käpt'n.

„Wolfram, machst Du mal alles fertig, damit wir endlich weiter kommen!?“, sagte er dann doch eher auffordernd zu seinem Neffen.

Während ich nun meine Habseligkeiten in diversen Schränken und Kästen verstaute, bekam ich auch schon leichte Vibrationen am Fußboden zu spüren.

Das wird wohl jetzt der Schiffsmotor sein, der das verursacht, dachte ich mir. Schnell ließ ich alles fallen, ich musste nach draußen – schließlich wollte ich doch dabei sein, wenn das Schiff ablegt! Es beginnt zu fahren und ich werde den Ort auf diese Art der Fortbewegung verlassen – etwas, das mir gewiss in dieser einen Form in ewiger Erinnerung bleiben wird.

Wolfram war nun auch wieder am Vorschiff und durch einen Lautsprecher, der an der vorderen Wohnung verschraubt war, kam vom Käpt'n von hinten aus dem Steuerhaus halbrauschend und knartzend das Kommando, „Leggo, Wolfram, mach los!“, was so viel hieß wie „let's go“ oder „mach das Schiff los“.

Schleichend bewegte sich das Schiff durch den Hafen und außer ein paar Vibrationen unter den Fußsohlen und dem Klappern eines Bleches an der Ankerwinde, war es nicht ganz klar, wer oder was diese Fortbewegung verursachte.

Geschickt und besonnen steuerte der Käpt'n das Schiff aus dem Hafen in die erste Schleuse – ca. fünfzehn Minuten Fahrzeit entfernt.

Wolfram instruierte mich kurz über meine zukünftigen Aufgaben während solch einer Schleusenfahrt und erklärte mir noch ausgiebig das Hantieren mit einem Reibholz, einem ca. 1 Meter langen Balken von 10 x 10 cm, der auf beiden Seiten 45° abgeschrägt war.

Darin befand sich in jeder Hälfte außen ein Loch, in dem ein etwa 2 cm starkes Tau durchgesteckt und zu einem Triangel zusammengeknotet war. An der einen Spitze dieses Triangels war ein einzelnes ca. 2 Meter langes Tau befestigt und an diesem Tau hielt man das Reibholz fest oder knotete es am Schiff an.

Bei einem leeren Schiff hielt man es weiter unten und bei einem beladenen Schiff eben etwas weiter oben an die Wasserlinie. Auf alle Fälle sollte ich es dort dazwischen halten, wo das Schiff bei der Schleuseneinfahrt anzustoßen drohte.

„Wenn der Wind quer aufs Schiff drückt oder zum Beispiel wenn der da oben mal nicht aufpasst“, Wolfram zeigte zum Steuerhaus auf den Kapitän, „besteht diese Gefahr grundsätzlich immer und wenn Du das Reibholz dann nicht rechtzeitig zwischen Schiff und Schleusenmauer oder auch zwischen ein anderes Schiff bringst, dann fliegen die Funken. Lieber ein zerquetschtes Reibholz als eine Beule im Schiff“, bemerkte er noch abschließend.

Während Wolfram das Schiff in der Schleuse am Vorschiff fest machte, war es mein Job, das Schiff am Achterschiff zu befestigen. Was also hieß, dass gleich am ersten Tag das Hantieren mit Seilen und Tauen begann.

Das Schiff war nun in der Schleuse und der Käpt'n kam von oben aus dem Steuerhaus die Treppe herunter und erklärte mir jeden zukünftigen meiner Handgriffe während der Schleusenfahrt – wie schon vorher – ganz ruhig und gelassen.

„Nur langsam, Werner, schön langsam“, sagte er, „Rom wurde auch nicht an einem Tag erbaut. Pass bloß auf Deine Finger und Füße auf und dass Du immer frei stehst und nicht in irgendeinem Drahtsalat“, ermahnte er mich und zeigte auf das etwas unordentlich verwickelte und verdrehte Drahtseil, das vor mir an Deck lag.

Er erzählte mir von schrecklichen Arbeitsunfällen, bei denen Schiffsjungen und Matrosen ganze Finger, Hände und sogar Beine verloren haben, weil sie durch eigene Unachtsamkeit mit ihren Gliedmaßen in irgendwelchen Drahtschlingen standen. Durch die Fortbewegung des Schiffes im Schleusenbetrieb wurde die Schlinge zusammengezogen und ihre Extremitäten wurden langsam abgequetscht oder sie wurden dabei schwer entstellt.

Andere brachten beim Hantieren mit den Drahtseilen Finger und sogar Hände zwischen die Poller und Drahtseile, was immer zu schweren Quetschungen und Teilamputationen führte. „Also schön langsam und aufpassen, lass lieber alles fallen, wenn Du den Überblick verlierst, o. k.?“

„Na toll“, dachte ich, da war es wieder, dieses Wort, „zerquetscht“, „wie aufbauend“.

„O. k., vielen, vielen Dank“, sagte ich etwas schockiert und beunruhigt, nun war ich natürlich noch nervöser beim Hantieren mit den Seilen, Reibhölzern und Tauen, aber er hatte sicherlich nicht unrecht.

Ich stand als Schiffsjunge während der Schleusenfahrten stets „hinten“ auf dem Achterschiff, also dem Heck des Schiffes, dort, wo sich der Antriebsmotor befindet, an den Pollern bei der Treppe vom Steuerhaus.

Und so musste ich immer von der Backbordseite auf die Steuerbordseite oder umgekehrt mehr oder weniger rennen, um zu sehen, ob da nicht irgendwo das Schiff an der Schleusenmauer anzustoßen drohte und ich meiner „Reibholzdazwischenhaltepflicht“ nachkommen musste.

Anfänglich gab es da natürlich Fehlschläge und beide, der Käpt'n und Wolfram, begannen heftig zu meckern. Das war, was ich sehr bald feststellte, einer der wenigen Punkte, bei dem sich die beiden immer einig waren.

Hinter mir befand sich die Wohnung des Käpt'ns, wovon ich bisher noch nicht viel gesehen hatte. Bei dieser aufregenden Beschäftigung, das Schiff sicher in der Schleuse festzumachen, hörte ich eine niedliche und kindliche Stimme hinter mir rufen, „Hallo, bist Du der neue Schmelzer?“

Ich drehte mich um und sah einen kleinen blonden Wuschelkopf im Schlafanzug aus einem der Fenster schauen.

Fast gleichzeitig ertönte eine Frauenstimme: „Michi, komm jetzt rein, es ist spät!“

„Mama, schau mal, da ist der neue Schmelzer“, rief dieser kleine Blondschopf lautstark mit ausgestrecktem Arm und dem Zeigefinger auf mich zeigend.

Neugierig beugte sich nun auch die Frau aus dem Fenster und sagte mit angenehmer und freundlicher Stimme: „Hallo und willkommen an Bord, ich bin Werners Frau Sigrun und das ist unser Michi – so und Du kommst jetzt mit ins Bett!“ Sie schnappte sich ihren Sohn, rief mir noch „einen schönen Abend“ zu und verschwand.

Gut, nun war ich also auch noch ein Schmelzer? Was immer das auch sein mochte.

Irgendein HiWi oder so? Keine Ahnung, ich würde es noch früh genug erfahren.

Als wir aus der Schleuse kamen, stieg ich die achtstufige Eisentreppe hinauf zum Steuerhaus, der Käpt'n stand breitbeinig vor dem großen Steuerrad und sah mich durch die Fenster.

Ich hatte keine Ahnung, wie ich mich zu verhalten hatte, also klopfte ich an die Tür, bevor ich eintrat.

„Komm rein, komm rein!“, meinte er, „Du musst hier nicht klopfen, Du gehörst doch zur Besatzung, komm einfach herein und streif Dir vorher draußen die Schuhe ab!“

Es war sehr beeindruckend von hier oben – man konnte durch die Fenster im Steuerhaus rundherum schauen, hatte das ganze lange Schiff vor sich und von hinten vernahm man durch die geschlossenen Fenster das Geräusch des Motors, der immer ganz schnell aneinanderhängend „KartoffelKartoffelKartoffelKartoffel“ brummte. Der Käpt'n bemerkte natürlich, wie sehr mich all das faszinierte, bevor er mich ansprach: „Siehst Du, Werner, von hieraus wird das Schiff gesteuert“, und er begann mir all die einzelnen Gerätschaften sehr präzise zu erklären.

Dass z. B. die Funkgeräte bei allen Schiffen, die gerade am Fahren sind, die Positionsangaben aller anderen Schiffe hören und darauf reagieren müssen, auf dem Schiff/Schiff-Kanal – auf Kanal 10 – stehen. Er zeigte mir die Umsteueranlage des Motors, welche durch Hebel und Räder bedient wird, die elektrische Anlage, Schalter hier und Schalter da usw.

Heftig drehte er währenddessen mit beiden Händen am Steuerrad mal nach links (Backbord) oder nach rechts (Steuerbord), mal schnell, mal langsam oder er drehte eben an diesem halbhoch angebrachten ca. 20 cm Durchmesser kleinen aber massiven Eisenrad, an dem rechts davon ein etwas größeres ca. 40 cm großes Eisenrad angebracht war. All das gehörte zur Umsteuerungsanlage.

Dadurch veränderten sich dann die Motorengeräusche und vor allem die Motorendrehzahl konnte erhöht oder verlangsamt werden. So konnte er das Schiff langsamer oder schneller fahren lassen. Mit dem großen Eisenrad wurde der Motor gestoppt oder neu angeworfen oder gestartet.

Der alte MWM-Dieselmotor, der 6 Zylinder in der Reihe – also hintereinander – und 800 PS Maximal-Leistung hatte, stand unten hinter dem Steuerhaus im Maschinenraum. Er war riesengroß. Mindestens vier Meter lang und gut zwei Meter hoch. Den 12 Ventilen oben konnte man bei der Arbeit zusehen, sie stampfen mit ihrem ständigen klack klack klack klack eher gemütlich und immer schön 4-Takt-Verfahren hoch und runter, so, als würde es nichts geben, was sie aufhalten könnte. Maximal 375 Umdrehungen machte dieser Motor in einer Minute, das war Power, unbeschreiblich! Das alles war sehr faszinierend und weit mehr, als ich erwartet hatte.

Alle zwei Stunden mussten am Motor die offen drehenden Teile, wie die Kipphebel, welche die sechs Ein- und sechs Auslassventile auf und zu machten, sowie die Ventilfedern, aber auch die Stößelstangen, die von der Nockenwelle gesteuert alles in Bewegung hielten, sowie viele andere überall am Motor verteilte Schmierstellen ausgiebig mit Öl aus einer Spritzkanne abgeschmiert werden.

Der Auspuff dieses Giganten war direkt hinter dem Steuerhaus und führte durch einen bunt angemalten ovalen Kamin, der nach hinten gebogen war, nach Außenbord. Nachts konnte man beim Gas geben einen gigantischen Funkenflug erkennen und es bildeten sich manchmal riesige tiefschwarze Ringe, die immer größer wurden, je weiter sie sich vom Schiff entfernten und sich letztendlich auflösten. Es war zu vergleichen mit Zigarettenrauch, nur einfach viel, viel größer.

Die MS ANNI verfügte über kein Getriebe, mit dem man schnell bei sich weiter drehendem Motor die Schraube hätte vorwärts oder rückwärts drehen lassen können. Immer, wenn keine Vorausfahrt mehr benötigt wurde, musste man den Motor komplett abstellen und dann mittels dieser Umsteuerungsanlage auf Rückwärtsfahrt umstellen und den Motor erneut anschmeißen oder starten. Sobald der Motor also in irgendeine Richtung drehte, drehte sich auch die Schiffsschraube in die gleiche Richtung.

Weil alles mit Druckluft funktionierte, machte das einen irrsinnigen Krach!! Manchmal wollte man wirklich in Deckung gehen, vor allem, wenn man draußen an Deck stand. Je schneller der Käpt'n den Motor umsteuerte und neu startete, desto lauter wurde das Ganze. Ich bin die ersten Tage sehr oft erschrocken, bis meine Ohren sich daran gewöhnt und sich auf dieses Geräusch eingestellt hatten.

Während er also hantierte, sagte er: „Wenn Du etwas wissen möchtest, Werner, dann frag' einfach. Fragen ist wichtig, wenn man etwas lernen möchte“, schickte er noch hinterher.

„Na ja“, sagte ich ein bisschen zögernd, „unten an Deck hat mich gerade Ihr Junior als Schmelzer bezeichnet, hmmm, was ist denn ein Schmelzer?“

Meine Frage kam wohl nicht gerade passend zu all dem, was er mir gerade zu erklären versuchte, aber er lächelte: „Ach, dann hast Du unseren Michi schon kennen gelernt! Ich wollte Dir meine Frau und meinen Sohn erst morgen vorstellen, weil es schon so spät ist. Ein Schmelzer ist nichts anderes als der Kosename von einem Schiffsjungen, der aber auch Moses oder Jonas genannt wird“, erklärt er mir, „also nichts Schlimmes.“

Wolfram kam ins Steuerhaus und fragte, ob wir noch zudecken sollen oder ob das morgen auch noch reicht.

„Komm, nimm den Werner gleich mit, macht schnell zu, dann ist das erledigt und regnen kann es dann auch, wann immer es will“, antwortete der Käpt'n.

Ich verstand nur Bahnhof!

Wir gingen an Deck und Wolfram zeigte mir auf einer Seite des Schiffes die Teile des aufeinandergestapelten Lukendachs. Die MS ANNI hatte drei Laderäume und pro Laderaum einen Stapel Luken. Es waren einzelne ca. 1 Meter breite, abgerundete Wellbleche, die ungefähr 7 Meter quer über den ganzen Laderaum gebogen waren, damit das Wasser, egal ob es durch Wellen, Regen oder Schiffschrubben an Bord kam, besser ablaufen konnte. Die Laderaummitte war also mindestens 50 Zentimeter höher als dort, wo es Backbord und Steuerbord auf dem Dennebaum auflag.

„Ich geh jetzt auf die andere Seite und dann werden wir die einzelnen Luken so nehmen und mit einer neben der anderen die drei Laderäume zudecken“, sagte er und zeigte es mir, indem er eine Luke mit der linken und rechten Hand demonstrativ anhob.

Da waren wir durch meinen ungeübten Einsatz doch noch ganz schön beschäftigt bis die Laderäume geschlossen waren. Gut 60 Luken mussten bewegt werden und je näher man an das letzte Luk herankam, desto schwerer wurden die Dinger. Dennoch war es dann geschafft. Die winkelförmigen Klappen, 20 x 15 Zentimeter breit, jeweils ca. 5 Meter lang, also 12 Stück auf jeder Schiffsseite mit Scharnieren am Dennebaum befestigt, mussten, damit die Luken bei Wind nicht wegfliegen können, hochgeklappt und mit Bolzen gesichert werden.

An diesem ersten Tag wurde es dann auch nicht mehr sehr spät.

Bald danach, kurz bevor es ganz dunkel wurde, legte der Käpt'n routiniert das Schiff an, um Feierabend zu machen.

Wolfram meinte: „Komm mit in den Maschinenraum – ich zeige Dir, wie man die Maschine dicht macht!“

„Maschine dicht machen? Hä? Warum dicht machen?“, fragte ich.

„Das liegt wohl daran, dass man einige Ventile und Schieber, zum Beispiel die vom Kühlwasser oder den Pressluftflaschen, schließen oder ‚dicht machen‘ bzw. umstellen muss, wenn der Motor still steht“, sagte Wolfram und ging den Niedergang in den Maschinenraum hinunter.

Im Maschinenraum erklärte er mir, während er von einer Position zur anderen ging, um mir auch alles zeigen zu können, dass der Motor durchlaufgekühlt ist.