Schluchtenscheißer - Heidi Hohner - E-Book

Schluchtenscheißer E-Book

Heidi Hohner

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  • Herausgeber: Piper ebooks
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2016
Beschreibung

Wie gern wäre Ludwig Lämmermeier Polizist geworden! Aber da er den Eignungstest nicht bestanden hat, arbeitet er nun in seinem Heimatdorf als Polizeireporter. Nicht, dass es da viel zu berichten gäbe, ist Geröllharting doch der sicherste Ort Bayerns – bis der Ferkelzüchter Harald Ammetsbichler tot aufgefunden wird. Eindeutig Herzversagen, wie der Arzt feststellt, eindeutig Mord, wie Lucky meint. Er ermittelt auf eigene Faust und stößt bald auf geheime Liebschaften, einen Skandal in der Schweinezucht und auf die hinreißende Tierschützerin Fritzi, die ihm komplett den Kopf verdreht ...

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Ein Fall für Lucky Lämmermeier

ISBN 978-3-492-97555-1 November 2016 © Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2016 Covergestaltung: bürosüd, München Covermotiv: Felbert + Eickenberg/Getty images Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck

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Da kann ich unmöglich kommen. Weil ich um die Zeit immer daheim bin.    Gerhard Polt

1

Am Wochenende hätte es in Geröllharting beinahe eine Leiche gegeben.

Aber leider nur beinahe.

»Der Herzstillstand vom Hausberglift ist über den Berg!«, ruft meine Kollegin Walburga Angerer und lehnt sich an den Türrahmen von meinem Büro. Als hätte ich sie hergebeten. Hab ich aber nicht.

»Über den Berg? Ich dachte, das heißt: über den Jordan?«, frage ich und schau von meinen Recherchen hoch, Thema »Plötzlicher Herztod«.

»Ach, Lämmermeier, Sie wieder. Nein, im Gegenteil! Der Herr Käsner hat im Sankt Ignaz in Rosenheim angerufen. Und die Ärzte haben gesagt, diese Frau Heilmüller aus Rosenheim ist außer Lebensgefahr. Und zwar, weil der Günter von der Liftstation sie reanimiert hat, gleich nachdem sie in der Gondel zusammengebrochen ist!«

Da sieht man gleich den großen Unterschied zwischen der Angerer und mir: Sie liebt nämlich gute Nachrichten. Ich nicht.

»Wollen Sie damit sagen, Frau Kollegin, dass jetzt die Leiche keine Leiche mehr ist, sondern aus dem Gröbsten raus? Und das habe nicht ich herausgefunden, sondern der Herr Käsner, der bei Ihnen in der Abteilung Praktikant ist?«

Weil ich nämlich gar keinen Praktikanten habe, als Ein-Mann-Abteilung. Und obwohl mir die Mama immer sagt, ich soll froh sein, dass ich eine Arbeit habe, so schön nah von daheim, halte ich der Angerer meine Visitenkarte hin.

»Was steht da? Chiemseewoche Presse GmbH, Lucky Lämmermeier. Und dann nicht Redakteur für Garten und Dorfleben, sondern: Po-li-zei-re-por-ter!«

Die Angerer gratuliert mir dazu, dass ich so eine aufregende Stellung habe bei unserer schönen Geröllhartinger Regionalzeitung. Und fragt mich dann zuckersüß, ob ich denn weiß, wer die Titelstory von heute geschrieben hat. Dabei liegt die heutige Zeitung vor mir auf dem Schreibtisch, und neben dem Artikel »Richtfest für die neue Mehrzweckhalle« ist ein kleines Foto von einer Frau mit schattigem Gesicht und sehr kurzen Haaren abgedruckt. Und das ist, wie unschwer zu erkennen, die Angerer höchstpersönlich.

Wenigstens kommt der Attila an und stellt sich auf die Hinterbeine, damit ich ihm die Ohren durchzwiebeln kann. Wir mögen uns nämlich, der Attila und ich, was man von seinem Frauchen und mir nicht behaupten kann. Die dreht sich um und geht weg. Und ich sehe leider erst jetzt, dass hinter ihr der Chef gestanden hat – und es ist nicht so, dass der Chef eine halbe Portion ist. Und jetzt steht er da, und zwar mit den Lauschern weit offen.

»Spielen Sie sich nicht so auf, Lämmermeier! Fahren Sie lieber ins Krankenhaus und finden heraus, wann der Herzstillstand wieder entlassen wird!«

Er nimmt sich einen Kugelschreiber von meinem Schreibtisch und rührt damit in seinem Kaffee herum.

»Und dann berichten Sie, wie diese, diese …«, er schaut auf den Zettel, den die Angerer mir auf den Schreibtisch gelegt hat, »… diese Kräuterhexe dem Günter von der Liftstation ein paar Pralinen überreicht. Am besten oben auf dem Hausberg, mit Gipfelkreuz im Hintergrund.«

»Genau das mache ich. Und am nächsten Tag schreibe ich: Der Günter hat sich an den Mon Cheri überfressen, aber ansonsten ist alles wunderbar.«

»Dass Sie immer so negativ sein müssen, Lämmermeier!«

Der Chef wirft den Stift zurück auf meinen Tisch.

»Titeln Sie doch einfach: ›Der Lebensretter von der roten Gondel‹, ›Schutzengel im Einsatz‹ oder etwas Ähnliches.«

»Das sind keine Schlagzeilen, das sind Kitschpostkarten«, murmle ich.

»Ach, und noch was, bevor Sie nach Rosenheim fahren.« Der Chef wedelt mit einem rosa Flyer. »Schauen Sie am Marktplatz vorbei. Da ist nämlich heute Eröffnung!«

Ich nehm den Flyer ungern, denn Informationen auf rosa Papier bedeuten meistens nichts Gutes. Jedenfalls nicht für einen Polizeireporter wie mich.

»Gmahde Wiesn, Gutschein für einmal Bikinizone, Wert: zwanzig Euro. Was soll das sein?«, frage ich misstrauisch.

»Ein Waxing-Studio! Ganz was Neues hier in der Gegend. Da machen Sie mir einen flotten Sechszeiler, ja?«

»Die Eröffnung von so einem Beautyschmarrn fällt nicht in mein Ressort. Das betrifft eindeutig die Abteilung Garten und Dorfleben!«

»Ich bitte Sie, Lämmermeier. Die Frau Angerer und Herr Käsner haben mehr als genug zu tun, jetzt vor dem 1.Mai. Was man von Ihnen nicht behaupten kann, Lämmermeier.«

»Was kann ich dafür, wenn in diesem Scheißkaff nie etwas Gescheites passiert?« Das sage ich zwar so leise, dass es der Chef es nicht versteht, aber gesagt werden muss es trotzdem, und nehme mir die alte Strickjacke mit den Hirschhornknöpfen von der Stuhllehne, die mir die Mama heute früh nachgetragen hat, wegen der Eisheiligen.

Die Sonne scheint durch die gläserne Eingangstür und wirft die Schatten der Klebebuchstaben auf die Spitzen meiner Cowboystiefel: Chiemseewoche Presse GmbH, spiegelverkehrt. Ich schaue kurz darauf, um mich zu sammeln.

»Geht’s los?«, fragt mich die Gitti vom Empfang, ich nicke und starte durch.

Die Jolly steht mit dem Heck zur Hauswand, und ich muss zum Losfahren nicht wenden. Bei Sekunde fünf lande ich mit Powerslide auf der Hausbergstraße und biege nach ein paar Hundert Metern rechts ab. Weil ich in den Haarnadelkurven Richtung Panoramagaststätte in den Ersten runterschalte, schaffe ich die Strecke bis nach Hause unter viereinhalb Minuten. Trotz der sechshundert Höhenmeter.

Der Milchreis ist schon fertig, genau wie ich ihn mag: ohne Rosinen, aber mit einem Stück Zitronenschale. Die Mama bringt ihn mir in den Biergarten, wegen tipptopp Frühlingswetter – fast zu warm für die Jahreszeit und mit einem Stich ins Schwüle.

Nach dem Essen poliere ich der Jolly noch schnell ein paar tote Fliegen weg von dem grünen Streifen an der Seite. Und weil ich es heute einfach mal nicht eilig habe, bügle ich der Mama noch die Schürzen, zwei fürs Dirndl, zwei zum Bedienen. Beim Huberwirt wohnen ist für uns beide nämlich eine feine Sache. Die Mama hat es nicht weit zur Arbeit, und ich habe es nicht weit zur Mama. Danach mache mich auf den Weg zum See.

»Servus, Uwe!«, brülle ich aus dem Fenster und drehe im Kreisverkehr nach dem Ortsschild noch eine Runde mehr, vorbei an den drei Wegweisern nach Osten, Süden und Norden. Traunstein, Salzburg, Rosenheim. Da sieht man gleich, wo unser Geröllharting liegt, mitten im Bermudadreieck der Sommerfrische.

»Lucky, wohin geht die Reise?«, schreit der Mann mit der schwarzen Wollmütze und der orangefarbenen Latzhose zurück und winkt aus dem Blumenbeet in der Mitte vom Kreisel.

»In die Mittagspause.«

Der Uwe schaut kurz auf die Uhr und streckt den Daumen nach oben. »Respekt! Heute Abend dann bei mir, ja?«

Nach zwei weiteren Runden im Kreisverkehr habe ich mit unserem Gemeindediener geklärt, welchen Tatort wir uns später mit dem Highspeedinternet vom Uwe aus dem Netz holen wollen, und biege ab, die einzige Ausfahrt ohne Wegweiser. Es ist eigentlich ein schöner Tag, links von mir leuchten die Berge in der Sonne, silbern wie die Schultersterne von einem Polizeihauptkommissar. Rechter Hand ziehen sich die Felder grün und gelb bis zum Chiemsee, dazwischen immer mal wieder ein Bauernhof, seit dem Wochenende mit roten Geranien an den Balkonen.

Die Straße gabelt sich nach ein paar Minuten und führt zwischen ein paar dünnen Birken zum See hinunter. Ich fahre ein kurzes Stück am Ufer entlang und rolle mit der Jolly zum Wasser.

Mit einem Ratsch fährt der Fahrersitz in die hinterste Position, damit ich die Füße auf das Armaturenbrett legen kann. Ich klebe zwei extralange Zigarettenpapiere zu einem L zusammen und drücke beim Soundsystem der Jolly auf Play und Repeat. Die Bläser setzen ein. Weil man unmöglich den Eröffnungssong der Blues Brothers dreimal hintereinander hören kann, ohne Luftsaxophon zu spielen, will ich gerade zum Solo ansetzen. Aber leider bekomme ich Besuch.

»Servus, Steff«, sage ich und versuche etwas zu spät, den Joint nach unten zu halten.

»Lucky, was macht du denn hier?«

»Stress in der Arbeit.« Ich drehe die Musik ein bisschen leiser.

»Ah. Sieht man gleich«, bemerkt der Steff.

»Wusste gar nicht, dass du noch hierher an den See kommst. Hast dich gut eingearbeitet?« Direkt höflich klingt die Frage – für meine Verhältnisse. Also für das Verhältnis vom Bruckner Steff und mir. Der poliert erst einmal einen unsichtbaren Fleck an meinem Außenspiegel weg, bevor er antwortet.

»Na ja, weißt du, in München war schon mehr los bei der Polizei. Aber wenn die Babsi hier einen Job kriegt, war doch klar, dass ich mich nach Geröllharting versetzen lasse.«

»Hast du denn für heute schon frei?«

»Frei? Nein. Ja, doch. Ich, wir, äh, die Babsi hatte einen Arzttermin in Traunstein. Und danach wollt ich irgendwie an den See. Wie früher.«

Das Wort »Arzttermin« sagt er so, dass ich auf seine Hand schauen muss, die immer noch auf dem Außenspiegel liegt, und auf den Ehering daran.

»Was ist denn mit der Babsi?«, frage ich und schaue wieder geradeaus. »Kann der Doktor Sprengel seine Sprechstundenhilfe nicht selber untersuchen?«

Weil – er hat schon recht, der Steff. Hier am See war früher unser Lieblingsplatz. Bis ich der Babsi nähergekommen bin. Und dann die Babsi dem Steff nähergekommen ist. Und der Steff in der Polizeischule genommen worden ist und ich nicht. Und dann keiner von uns mehr irgendwohin gegangen ist mit dem anderen.

»Eigentlich nicht. Sie ist ja auch gar nicht richtig krank.« Ich sage nichts, und der Steff druckst ein bisschen herum. »Es ist nur so, also, wir kriegen ein Baby.«

Das haut bei mir ganz schön rein, und ich nehme schnell noch einen Zug. Und noch einen. Dann führe ich die Hand vor den Mund und schreie in ein unsichtbares Funkgerät.

»Achtung, Schnullerfahndung!«

Der Steff lacht nicht und meint, ich solle vorsichtig sein im Umgang mit Genussmitteln. Ich sage ihm maximal lässig, dass ich alles unter Kontrolle habe und sowieso erst einmal ein Schläfchen halten werde. Der Steff steigt in seinen Passat, ich stelle mir die Blues Brothers auf Nickerchen-Lautstärke und schließe die Augen.

Als ich wieder aufwache, ist es fast fünf. Über dem Hausberg ist der Himmel schwarz, und am Ufer entlang blinken die orangefarbenen Lichter der Sturmwarnung.

»Richtig unheilschwanger«, berichte ich der Jolly und hänge mich übers Lenkrad, um die dunklen Wolken besser sehen zu können.

Und auf einmal hebt sich meine Stimmung schlagartig, denn unheilschwanger, das ist gut.

2

Ich nehme mir vor, die Sache mit dem Herzstillstand später telefonisch zu regeln und mir zuerst das Waxing-Studio vorzunehmen. Die Jolly stelle ich auf dem Behindertenparkplatz direkt am Brunnen vor der Antoniussäule ab und mache mir erst einmal ein Bild der Lage. Der Valentino steht vor seiner Eisdiele, schaut in den Himmel und räumt dann den Mülleimer in Form einer hüfthohen Eiswaffel nach drinnen. Ich winke ihm zu, damit er weiß, dass ich später noch vorbeikomme.

Das Haus, in dem bis vor Kurzem die Landmetzgerei Moser war, steht gegenüber vom Valentino auf der anderen Seite vom Marktplatz. Die Gulaschsuppendosen sind aus der Auslage verschwunden, und die Scheibe ist neuerdings abgeklebt. Gmahde Wiesn, steht in großen Buchstaben auf der rosa Folie, und kleiner darunter: Waxing-Studio, Inhaberin: Maria Perez.

Ich beschließe, erst einmal in Ruhe alles von außen zu fotografieren. Weil mich aber links im Bild ein gelber Sonnenschirm stört, lasse ich die Kamera wieder sinken. Die Blonde, die gerade einen zweiten Schirm vom anderen wegrückt, damit eine bedruckte Plane dazwischen straff gespannt wird, habe ich noch nie hier gesehen.

»Tiere leiden auch in deiner Nähe. Initiative gegen Massentierhaltung« steht auf dem Banner, und auf einer Stelltafel vor einem Bistrotisch hängt ein Poster mit ein paar federlosen Hühnern mit aufgerissenen Glupschaugen. Das hätte der alte Moser sicher nicht vor seiner Metzgerei geduldet wegen Umsatzrückgang bei der Geflügelwurst, was aber wegen der jungen Frau schade gewesen wäre. Sehr schade.

Das nächste Foto vom Waxing-Studio rutscht mir irgendwie nach links, und so sehe ich im Display, wie die Blonde auf mich zukommt, mit Klemmbrett und strahlendem Lächeln. Ihre Haare schweben um das Gesicht herum wie Zuckerwatte, und ihre Knie schauen unter einem absolut frühlingshaften Frühlingsrock heraus. Die will sicher mit mir reden. Aber mit der Angerer streiten ist eins, und mit so einer jungen Frau etwas zu tun zu haben ist etwas ganz anderes.

»Hast du einen Moment Zeit?« Sie duzt mich gleich, ich dagegen habe eine ziemliche Ladehemmung und kann nur nicken. Sie spricht alle Wörter und Endungen schön deutlich aus, was sie aber sagt, kommt irgendwie nicht bei mir an. Das geht, zuhören, ohne zuzuhören. Ich schau nur auf die blonden Locken, die bei jedem Wort mitwippen, und als sie mir fünf Minuten später die Hand hinstreckt, weiß ich zwar immer noch nicht, wie sie heißt, bin aber Mitglied im Verein Tiere sind Familie e.V.

Im Waxing-Studio riecht es wie beim Huberwirt in der Weihnachtsbäckerei, wenn die Backbleche mit Bienenwachs eingelassen werden. Die Maria Perez ist eine kleine, dralle Person mit dunklen Kulleraugen, die mir gleich ein »Herzlich willkommen!« entgegenzwitschert und total aus dem Häuschen ist, weil ich von der Presse bin.

»Schön geworden, nicht?«, flötet sie und führt mich herum. Es hat sich wirklich so ziemlich alles verändert. Nicht dass ich noch die Fleischtheke vom Moser erwartet habe, doch das Gmahde Wiesn sieht vor lauter Ambiente gar nicht mehr aus wie ein richtiger Laden. Hinter einer geschwungenen weißen Theke mit rosa Neonröhren biegt die Maria Perez mit mir nach hinten ab in ein diskretes Nirgendwo. Sie zieht einen Vorhang zurück und will mir die Behandlungskabine zeigen, aber für sechs Zeilen muss ich nun wirklich nicht zu sehr ins Detail gehen.

Die Perez erklärt mir trotzdem, dass sie eine echte brasilianische Depiladora ist, und als ich sie frage, was denn der Pfarrer dazu sagt, muss sie lachen und sagt, eine Depiladora, das ist eine Waxing-Expertin, und nur die Brasilianerinnen können das richtig, mit viel Schwung und wenig Schmerz.

»Und warum sprechen Sie so gut Deutsch, Frau Perez?«

»Ich war in São Paulo auf der deutschen Schule, weil das die beste in unserem Viertel war«, sagt sie und zeigt mir die kleine Küche mit einem Spülbecken und zwei Kochplatten, auf denen ein Topf steht. »Da ist das heiße Wachs drin«, erklärt sie mir und dass sie niemals das Rezept dafür hergeben würde, weil die heiße Pampe nicht auf der Haut kleben darf, an den Haaren aber schon.

»Und da hatten Sie einen bayerischen Lehrer, auf Ihrer deutschen Schule? Oder wem ist der Name Gmahde Wiesn eingefallen?«

Die Perez sagt: nein, alles ist auf ihrem Mist gewachsen, und führt mich nach hinten, und ich muss beim Hinterhergehen zwangsläufig auf ihre Rückseite in dem strammen Kittel starren, bei dem man an den kleinen Röllchen genau sieht, wo darunter die Unterwäsche anfängt und wo sie aufhört.

Das schaut ganz interessant aus. Meine Nervosität hält sich diesbezüglich aber in Grenzen, weil es seit der Tierschützerin bei den Frauen heute optisch nur noch bergab gehen kann. Ich nehme mir daher vor, zur erneuten Kontaktaufnahme noch einmal zu der Frau von Tiere sind Familie hinüberzuschlendern, und verlasse das Gmahde Wiesn, ohne eine weitere Frage gestellt zu haben.

Leider hat sich schon einer vorgedrängelt, denn am Infostand steht ein stämmiger Mann, zwei Köpfe größer als die Tierschützerin, die Schultern doppelt so breit. Er kommt bunt, aber ziemlich elegant daher, sein Gesicht jedoch kann ich nicht sehen, weil er mir den Rücken zudreht. Ich stehe kurz herum, während die beiden diskutieren, und schaue dann lieber beim Valentino vorbei, zum Abkühlen und für die Nerven.

Ein paar Minuten später hat mein Strohhalm die letzten Tropfen vom Bananenshake aus dem Glas geröchelt, und ich lege dem Valentino vier Euro auf die Theke.

»Grazie, Luigi«, sagt er, ohne mich anzusehen.

»Prego!«, entgegne ich, denn nach so vielen Jahren als Stammgast spreche ich natürlich so gut wie fließend Italienisch, und folge seinem Blick Richtung Tierschutzstand.

»Bella, eh?«

»Mhm«, mache ich. »Kennst du sie?«

»No«, schüttelt der Eisdielenbesitzer den Kopf und küsst die gespitzten Finger seiner linken Hand. »Wohnt hier ganz neu, in oberste Stock. Ist neue ragazza, bellissima!«

Anscheinend leistet die neue ragazza volle Überzeugungsarbeit, denn sie diskutiert immer noch mit dem Eleganten.

»Und ihn?«

»Kenne ich nicht. Aber Hose hellblau, Sakko gelb? Mamma mia. Ist Mann oder Wellensittich?«

Leider ruft ausgerechnet jetzt der Chef an und will mich wegen einer dringenden Angelegenheit bei der Abendkonferenz dabeihaben, obwohl ich finde, dass ich mit dem Waxing-Studio und dem wiederauferstandenen Herzstillstand schon genug gute Nachrichten auf dem Buckel habe. Ich nehme mir einmal Himbeervanille mit auf den Weg und gehe zur Jolly zurück. In der Luft steht so eine Elektrizität, und als ich mich noch einmal nach der Tierschützerin und dem Typen mit dem gelben Sakko umdrehe, stellt es mir die Haare auf, als würde ich in Plastikschlappen über einen Polyesterteppich laufen.

3

Im großen Konferenzzimmer der Chiemseewoche sitzt schon die Redaktion zusammen und wartet auf mich. Die Gitti hat mir sogar einen Kaffee hingestellt, vor den leeren Stuhl rechts vom Chef. Ich nehme Platz und freue mich direkt, weil da sonst immer nur die Angerer sitzen darf.

Der Chef macht eine Pause, um mir beim Hinsetzen zuzusehen. Ich mache eine Handbewegung, dass er ruhig weitersprechen darf, so ein Aufheben muss er jetzt auch wieder nicht machen. Macht er aber. Er streckt sogar die Hand aus, um mir höchstpersönlich die Kaffeetasse wieder wegzunehmen, und sagt: »Der Platz ist nicht für Sie, sondern für die Frau Bürgermeister!«

Als ich das höre, schaue ich ganz automatisch auf das Foto, das neben dem Geröllhartinger Stadtplan an der Wand hängt. Es zeigt eine Frau, Typ eiserne Lady, im Lodenkostüm und mit einer Nase, die aus dem Gesicht heraussticht, als würde sie einen Bus früher erwischen wollen. Bevor ich fragen kann, was unsere Bürgermeisterin bei der Themenkonferenz einer unabhängigen Regionalzeitung zu suchen hat, rauscht sie auch schon herein, der Ramsauer, Geröllhartinger Pressesprecher und ihre rechte Hand, hinterher, und beide stellen sich direkt hinter mich.

Jetzt kann ich gar nicht mehr aufstehen, selbst wenn ich wollte, obwohl mich der Chef anschaut, als würde er mich am liebsten in seinen Kaffee rühren.

»Meine Herren, die Damen, ich gehe gleich einmal in medias res.«

Die Frau Bürgermeister klappt die Mappe auf, die ihr der Pressefuzzi aus dem Rathaus hinhält.

»In Zusammenarbeit mit der Polizei Oberbayern und dem Statistischen Bundesamt verleiht …«

Ich drehe mich um, weil mich was im Nacken kitzelt. Vor meinen Augen baumelt das Charivari, das die Frau Bürgermeister sich über den Trachtenrock geschnallt hat. In der Mitte hängt, in Silber gefasst, der Unterkiefer eines kleinen Raubtiers. Ich drehe mich schnell wieder nach vorne und höre, wie ihre Stimme nach oben geht und verkündet: »… das Bayerische Staatsministerium für Wirtschaft und Tourismus unserer Marktstadt Geröllharting den Titel: Der sicherste Ort Oberbayerns!«

Kurze Stille, dann stürmischer Beifall von allen Seiten. Der Ramsauer kämmt sich mit der Hand die Haare nach vorne, die ihm der liebe Gott noch am Kopf gelassen hat, und darf den Rest erzählen. »Keine Diebstähle, keine Einbrüche, keine Trickbetrüger. Geröllharting ist die Nummer eins in puncto Bürgerwohl!«

In drei Wochen, sagt er und gibt in der Stirnmitte noch einmal extra Druck auf die Strähnen, wird es bereits so weit sein und unser schöner Ort eine Urkunde erhalten in maximal festlichem Rahmen.

»Großartig!«, ruft der Chef. »Da ist natürlich das Thema mit drin, dass wir das in unserer Heimatpresse ganz groß aufhängen.«

»Ganz wunderbare Idee!« Die Frau Bürgermeister legt mir die Hand auf die Schulter. »Die Walburga und der Wiggerl machen die Berichterstattung, ausgemacht. Die offizielle Verleihung der Urkunde findet in circa drei Wochen am 18.Mai in einem Festzelt auf dem Marktplatz statt.«

Eigentlich darf nur meine Mama Wiggerl zu mir sagen, aber der Chef gibt mir einen Tritt unter dem Tisch, und ich beschließe, mich zu beschweren, wenn die Frau Bürgermeister weg ist.

»Wie kann es sein, dass ich von diesem Preis noch nie gehört habe?«, frage ich stattdessen.

»Weil er zum ersten Mal verliehen wird.«

»Und warum wird er schon so bald verliehen?«, fragt jetzt die Angerer. »Wir könnten doch sonst den ganzen Sommer darauf hinschreiben!«

»Freuen Sie sich lieber darüber, dann greift das in der Hochsaison noch für den Fremdenverkehr. Das ist doch wunderbar. Ganz gleich, wo man heutzutage hinfährt, fliegt einem etwas um die Ohren. Das Böse ist immer und überall – nur bei uns in Geröllharting nicht!«

Leider bin ich mir nicht so sicher, was so eine Auszeichnung für mich und meinen Berufsstand bedeutet, und als die Konferenz vorbei ist, klatsche ich nicht wie die anderen. Ich bleibe lieber noch eine Weile sitzen und ziehe mir die morgige Ausgabe vom Stapel in der Mitte des Konferenztisches her. »Die Maikäfer sind zurück« steht als Schlagzeile direkt unter den blauen Buchstaben der Chiemseewoche, und natürlich ist schon wieder das Foto von der Angerer daneben. Erst auf der dritten Seite finde ich einen Artikel von mir.

Nur ein Maßkrug weniger

Aus Sicht der Polizei war das diesjährige Frühlingsfest wieder eine sehr gelungene Veranstaltung. »Die gute Sicherheitslage der vergangenen Jahre konnte auch heuer wieder fortgesetzt werden«, so Einsatzleiter Stefan Bruckner. Die meisten Besucher beherzigten die Präventionshinweise der Polizei und hielten ihre Siebensachen zusammen. Auch das Phänomen Maßkrugdiebstahl verliert weiter an Bedeutung, es musste nur ein Fall aufgenommen werden. LL

Nichts als positive Bilanzen also in puncto Verbrechensstatistik, und das werden wir jetzt bald auch noch amtlich haben. Und so hänge ich meinen düsteren Gedanken nach, reibe mir den Bauch, weil es mich in der Nabelgegend so zwickt, und trinke den Kaffee von der Frau Bürgermeister aus.

Als das Zwicken langsam unangenehm wird, gehe ich eine Tür weiter, um Druck abzulassen. Der Chef steht am Pissoir und lässt gemütlich laufen. Er wirft mir einen kurzen Blick zu.

»Warum sind Sie eigentlich in so einer desolaten Stimmung, Lämmermeier?«, fragt er mich und sieht wieder nach vorne.

»Da fragen Sie mich? Ich war heute in einem Waxing-Studio, als Polizeireporter! Und jetzt werden wir auch noch der Sicherste Ort Oberbayerns.«

»Ich würde sagen, da ist das Thema mit drin, dass ein guter Journalist aus allem eine gute Story machen kann«, sinniert der Chef und betrachtet weiter die lindgrün gekachelte Wand vor ihm. »Wenn Ihnen unsere Themen nicht gefallen, dann schauen Sie sich halt woanders um. Zeitungen gibt es ja genug. Wobei Sie keine journalistische Ausbildung genossen haben, da könnte es schon schwer werden, nicht wahr? Aber hier bei der Chiemseewoche, Lämmermeier, da brauche ich Sie in Zukunft eher bei der Frau Angerer in der Abteilung. Basta. Was nutzt Ihnen ein eigenes Ressort, wenn Sie darin nichts zu tun haben?«

»Das sagen Sie jetzt, Chef!«, rufe ich. »Aber mich zwickt es überall. Ich weiß einfach, dass bald etwas passieren wird, bei dem Sie einen Polizeireporter brauchen können. Ich habe das sozusagen im Urin.«

»Im Urin, soso. Bilden Sie sich nichts ein, Lämmermeier, das ist der viele Kaffee.« Der Chef schüttelt ab und zieht den Reißverschluss mit einem energischen Ruck hoch.

»Wissen Sie, ich habe Sie damals angestellt, weil ich Ihre Frau Mutter sehr schätze. Und die hat zu mir gesagt, wenn ich Polizeireporter in Ihren Vertrag schreibe, dann kommen Sie eher darüber hinweg, dass es mit dem Gesetzeshüter nichts geworden ist. Aber das war’s auch schon mit der Existenzberechtigung Ihrer Arbeitsstelle. Daher arbeiten Sie entweder ab sofort Hand in Hand mit der Frau Angerer zusammen und beweisen mir, dass Sie zu einer Regionalzeitung im Sichersten Ort Oberbayerns passen. Oder ich werfe Sie hinaus. Und Sie können schauen, wie Sie das dann Ihrer Mutter erklären. So einfach ist das.«

Und dann knallt er die Tür zu, und ich zucke zusammen und fabriziere eine Riesensauerei an der Wand über dem Pissbecken.

Die Wolken hängen immer noch schwefelgelb und schwarz in den Bergen, und auf dem Weg nach Hause haut es ein Gewitter vom Himmel, dass die Blütenblätter von den Kastanien nur so durch die Luft fliegen. Ich parke die Jolly daher lieber nicht vor dem Biergarten, sondern auf der anderen Straßenseite. Der Uwe schickt mir eine SMS, wo ich bleibe, aber ich schalte das Handy aus und werfe mich aufs Bett, ohne zu antworten.

4

Am nächsten Morgen steht die Jolly blitzblank da, von der Frühsonne getrocknet, und ich kann direkt losfahren. Das ist allerdings das Beste an meinem Start in diesen Dienstag, denn in der Redaktionskonferenz überkommt mich das ganz große Gähnen, als meine neue Chefin mich begeistert zutextet.

»Wie schön, dass Sie jetzt offiziell bei uns in der Abteilung sind. Als Erstes, hab ich mir gedacht, übernehmen Sie für unsere Rubrik ›Natur des Jahres‹ den Artikel über die Kleine Moosjungfer! Klingt doch hübsch, nicht? Sie ist, falls Sie das nicht wissen, zur Libelle des Jahres gewählt worden.«

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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