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Alles ist wieder ruhig. Die Kerze brennt immer noch, und ich frage mich, ob die Schwierigkeit, die Schwere und Last ein Maß besitzen, eine Maßeinheit. Lasst uns neue Formeln aufstellen! Formeln für die Unendlichkeit des Fühlens! Formeln und neue, differenziertere Bezeichnungen für Freude, Liebe, Hass und Glück! Formeln für die Grenzenlosigkeit dieser Schmerzen, mit all ihren Brüdern und Schwestern, welche vereint so übermächtig stark erscheinen, mit der göttlichen Macht, Leben zu nehmen. Schwestern? Brüder? Wie Sehnsucht, Neid und Trauer? Diese Sprache ist unerforscht, ist unentdecktes Land. Wer ist der König über diese Reiche, deren Sprache noch nicht entwickelt wurde? Wer wird der König der Wörter dieser Sprache? Wer gibt ihr ihre Namen?
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Seitenzahl: 341
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Für Luna.
Ein Engel kam zu mir und sprach:
O bedauernswerter törichter Jüngling!
O Schrecken! O fürchterlicher Stand!
Sieh den glutlodernden Kerker,
den du dir selbst bereitest in alle Ewigkeit,
auf den du zuschreitest auf solchem Wege.
William Blake
Schmetterlingstraum
Anhang:
Die vergessenen Gedichte
(alles ist gleich, alles ist anders
alles zusammen & alles kehrt zurück)
ich träumte einen traum:
ich träume einen traum
das ist der stumme schrei
des schmetterlings
inmitten der wüste
wo niemand ihn hört
ich bin es:
schmetterlingstraum
- so heißt mein leben
der schoß der frau, des engels
der schrei meiner seele
der flug des falters zu den sternen
in das land ohne mond
sehnsucht ist die kraft
die mich fliegen lässt
sie ist die schönheit
die alles durchtränkt & schwängert
eine sehnsucht ohne hoffnung
es gibt kein ende, nur den flug
ich bin deine flügel
und du bist mein leben
und manchmal
endet das leben des einen
mit dem tod eines anderen
dorthin.
der traum ist ein kreis
und in der mitte
ist ein schmetterling
: er lächelt & er weint zugleich
Die höchsten und zugleich tiefsten Momente meines Lebens als Mensch vollzogen sich im Alter von einundzwanzig Jahren. Sie sind es auch geblieben – als ich Engel war.
Zu jener Zeit damals verfasste ich ein Romanwerk namens Schmetterlingstraum.
Entstanden ist dieses aus innerem Lodern und Hoffnung heraus, und fand sein Ende erst Jahre später, als in mir die große Leere eintrat, um zu herrschen, und ich mich im Alter von vierundzwanzig Jahren entschloss, die Orte der Begebenheiten jener höchsten Momente zu verlassen. Es wurde ein Werk der Erinnerung – und somit ein Versuch der Erlösung.
Die Zeit des Geschehens ist jene nach dem letzten Erscheinen von ihr, dem Engel. Ich liebte sie unsagbar. Nur einige Monate, nachdem sich der Engel mir gezeigt und offenbart hatte, blieb sie fern. Zu meinen Menschenlebzeiten kam sie nicht wieder. Erst danach, nach meinem Leben als Mensch.
Dieses Ende, was das Fernbleiben des Engels für mich war, war zugleich der Anfang des Wartens und des Leidens. Schmetterlingstraum ist nichts anderes als ein Dokument jener Zeit. Es ist die Beschreibung der Welt eines jungen, werdenden Mannes, dem das Größte und Wundervollste begegnet ist und wieder verloren ging – mit allen Auswirkungen.
Schmetterlingstraum wurde zu meinen Menschenlebzeiten niemals veröffentlicht. Und nun, da ich selbst ein Engel bin und das Menschsein hinter mir gelassen habe, erinnerte ich mich des Werkes, des vergessenen Manuskriptes – von keinem gelesen, noch seiner Existenz bewusst – an einem geheimen Platz verborgen liegend im Turm, meiner letzten Lebensstation als Mensch.
Obwohl der Turm längst unbewohnt und verfallen war, befand sich das unversehrte Manuskript noch an seinem Platz. Mag sein, dass nun erst der rechte Zeitpunkt gekommen ist, das Werk anderen schwermütigen Geistern und Regenseelen zu offenbaren. Ein Leben später nach seiner Schöpfung.
Damals, als ich das Manuskript von Schmetterlingstraum abschloss, habe ich das Wundervollste meines Seins verloren. Und nun, da ich abermals jenes Kostbarste meines Lebens verlieren musste – sie, den selben geliebten feuerrotgelockten Engel, die mehr Bedeutung für mich hat als alles, seit nunmehr zwei Leben –, ist es an der Zeit, das Dokument aufzuzeigen.
Es ist ein Dokument allen Anfangs: leiblich und mental erfahren und naiv und stürmisch niedergeschrieben von einem jungen, liebenden Menschen, dem das Leben genommen wurde, noch bevor es beginnen durfte.
Das Werk war und ist Teil meiner Seele. Daher bedarf es keinerlei Entschuldigung seiner Existenz, seiner Art und Weise der Darstellung – trotz all seiner Schwächen, Naivität und Widersprüchlichkeiten. Schmetterlingstraum ist ein Teil der Wahrheit, und erst durch deren Aussprache erlangt diese Realität.
Auch ist das Buch Zeugnis eines Schicksals. Und jedes Schicksal ist es wert, Anderen zugänglich gemacht zu werden, auf dass es ihnen Spiegel ist und sie an diesem wachsen mögen.
Der Ablauf der Tage ist fürchterlich kraftraubend und traurig. Es verlangt alle Kraft dieser Welt; jeden Tag. Nur mit dem Unterschied, dass der schwächste aller Zeitpunkte der Morgen ist, und nicht das Ende eines Tages. Der Moment des Erwachens, in dem sich die Welt täglich von neuem offenbart. Jeden Tag eine Weltengeburt, die so schwierig und schmerzend ist.
Am Morgen beginnt der grausame Roman eines Tages – und der Anfang, egal welcher, ist ein einziger Schmerz: zähflüssig, wie der Schnitt einer Rasierklinge, die man sich langsam durch sein Fleisch zieht, um zu erkunden, wie das eigene Innere nun wirklich aussieht. Manchmal glaube ich, alles in mir ist rabenschwarz und leer. Aber habe ich Blut in mir? So bin auch ich ein Mensch.
Morgens öffne ich meine Augen, stehe auf, und bin starr vor Schmerz; ich sehe wieder, sehe diese Welt, sehe die Decke über meinem Bett, und jeder Morgen ist ähnlich: eine Gedankenroutine-Maschine. Ich denke jeden Morgen daran, am eigenen Denken wahnsinnig zu werden, irgend etwas dieser wenigen Kontrolle zu verlieren und vollkommen abzugleiten in die Welt, die ich so sehr liebe, aus Vorstellung und Traum; eine Welt, aus der es kein Entkommen mehr gibt, eine Welt, die kein anderer zu betreten vermag; eine Welt, die das enthält, was ich als Ziel des Denkens ansehe.
Aber ich lebe noch.
Ich bin frei, ungebunden, pflichtenfrei. Ein einundzwanzigjähriger Taugenichts und Tunichtgut, der manchmal zum Stift greift und ein paar Gedankenfetzen zu Papier bringt; elend allein und alles andere als glücklich.
Das ist mein Morgen.
Und bis zum Mittag eines Tages verschlimmert sich diese Traurigkeit, Leere, Apathie und Lethargie, Qual des Seins, unerträgliche Leichtigkeit des Seins ins schier Unermessliche. Wenn ich Morgens schon immer wünschte, nicht mehr zu sein, ist der Mittag auch der Mittag, der Höhepunkt, dieser Gedanken und Gefühle: das Extrem, das tiefste Tief, das höchste Hoch. Jeden Tag. Verfluchte Routine, verfluchter Trott.
Dies ist wieder einer dieser verdammten Abende, an dem kein Platz der Welt mir das Gefühl von Würde, Stolz, Geborgenheit oder Annahme verleiht.
Überall wo ich bin, ganz egal wo, stößt mich etwas schweigend schreiend ab, schlägt mich, ohne mich zu berühren, und alles, was ich machen kann, ist die Flucht; von einem Ort zum anderen, ohne Rast, ohne anzuhalten. Ich fliehe zu einem unbestimmten Ort, werde stumm erniedrigt und fliehe alsbald weiter zum nächsten Ort des Unbekannten.
Solche Nächte enden erst, wenn ich erschöpft, erschlagen, kraftlos, voller nihilistischen Gedankengebäude, im verhassten, einsamen Bett einschlafe, und beim kleinen Bruder vom Tod die Erlösung des Tages finde.
Schlaf. Ja, Schlaf ist wahrlich der beste Freund des Einsamen, des alleinigen Flüchtlings in dieser fremdesten aller Welten.
Wie oft wünschte ich mir, Schriftsteller zu sein, um das zu Papier zu bringen, was eine Person beschreiben kann! Aber ich bin kein Schriftsteller.
Ein Schriftsteller sollte die Gabe besitzen, Menschen und deren Gefühle zu beschreiben; ihnen durch Worte allein die Gestalt in den Köpfen der Leser zu formen, welche die Person, mit ihrer ganzen Individualität, zu verstehen vermag.
Aber dies vermag ich nicht.
Ich schaffe es nicht einmal, mich selbst schriftlich, in normalen einfachen Worten, auszudrücken. Ich bin unfähig, ganz und gar unfähig.
Vielmehr greife ich zum Stift und jage verzweifelt einem Stil hinterher, von dem ich glaube, dass er mich darzustellen vermag. Aber der wahre Stil, welcher jeder von uns in sich trägt und verbirgt, ist der Fluss, ohne die Frage nach dem warum, wie, weshalb, was, wann.
Erst, wenn man etwas vollbringt und aus sich herauslässt, ohne darüber nachzudenken, also im unbedingten Fluss, wird der Stil offenbart, welcher der eigene ist. Die Unbedingtheit und Unbewusstheit sind Mutter und Vater des eigenen Stils.
Wenn ich allein war und bin, so denke ich, dass meine Welt, mit meiner Art des Denkens, des Fühlens, der Ansichten, die Welt aller Wesen um mich herum ist; aber sobald ich mit nur einem Menschen auch nur einen Satz wechsle, so merke ich leidlich, welche Universen zwischen mir und allem anderen liegt.
Ich habe mich durch mich selbst Galaxien weit hinfort katapultiert. Zu einer Rückreise ist es längst zu spät. Es gibt so viele Schritte in diesem Leben, die unwiderruflich gemacht wurden.
Einer davon bin ich.
Ich. Vergeistigt und umnebelt in einer vollkommen einsamen, weiten Welt des ungebrochenen Stromes.
Ich bin ein Witz, den ich mit mir selbst erlaube.
Wenn es dem Mittag entgegenstrebt und der Nachmittag seine Schwingen ausbreitet, wird das Sein zur absoluten Qual. Alles wird tagtäglich in Frage gestellt. Wieder und wieder.
Der Mittag ist gleichzeitig der bitterböse Höhepunkt des eigenen Nihilismus, der Selbstverneinung, der gehassten Wehleidigkeit. Ich trauere mir selbst im Ärgsten nach, und nicht zu selten wird der Mittag durch salzige Tränen durchtränkt. Der Mittag, das sind die Stunden der Apathie, der Unfähigkeit, zu leben.
Am Morgen werde ich als starrer, harter, unbeweglicher Stein in diese Welt geworfen, und je mehr es den Nachtstunden entgegenstrebt, desto mehr verwandle ich mich in einen Schwamm, einen teilweise anpassungsfähigen Organismus, der die Fähigkeit besitzt, alles in sich aufzunehmen und zu speichern, sich zu verformen, sich zusammen zu ziehen und auszudehnen, abzudämpfen und wieder abzustoßen.
Ist der Mittag und Nachmittag aber erst einmal überstanden, beginnt sich die Kraft in mir zu zeigen. Auf einmal geschieht Wunderliches in mir.
Es ist wie die Eroberung neuer Kontinente durch Forscher und Eroberer: sie gelangen in neue unbekannte Welten, und sind außer sich vor Freude über diesen Fund; und jede Euphorie setzt wahnsinnige und gewaltige Kräfte frei. So auch bei mir, jeden Tag – die Eroberung neuer Welten.
Das Schlimmste jedoch am Tag ist dieses fürchterliche Tageslicht, diese grausame Helligkeit, der Schein der Sonne. Alles wird vom Auge wahrgenommen, alles in seiner grausamen Realität, alles in seiner abstoßenden Hässlichkeit, wie es nun einmal ist. So wunderschön. Der Tag macht die Welt hässlich, weil die Schönheit kaum auszuhalten ist, die mich umgibt.
Es ist Nachmittag und der Abend schleicht zärtlich am Horizont umher. Die Sonne ist vergangen. In ein Land, wo sie hoffentlich irgendwann bleiben und niemals wiederkommen wird. Hell ist es zwar noch immer, aber die Undeutlichkeit der Welt um mich herum beginnt die Schönheit derer zu offenbaren.
Starr und regungslos befinde ich mich in einem Zeitkontinuum. Und die Schwäche, diese über alles verhasste Schwäche der eigenen Person, wie sie am Morgen und Mittag das ganze Sein ausmacht, wird nun von der selben Person ausgelacht und höhnisch gehänselt.
Diese Person bin ich. Ich allein. Im Würgegriff meiner eigenen feingliedrigen Hände.
Morgens die Schwäche, Nachts die Stärke.
Die Gedanken verlassen nun die Regionen des Nihilismus, des Infragestellens, und betreten das wundervolle Reich der Stärke, der extraordinären Gedanken, die alle auf eines ausgerichtet sind, ohne dass man dies bewusst steuert. Es ist das Schaffen und das Werk, welches in den Nebeln der Zukunft versunken liegt, aber wovon man doch ganz genau weiß, dass man dieses Werk irgendwann einmal schaffen wird.
Ich weiß nie, wie dieses Werk aussehen wird, aber doch sind all meine Kräfte des Tages auf dieses geheimnisvolle Etwas, welches im Übermorgen liegt, ausgerichtet; und ich laufe jeden Tag Gefahr, dass ich all meine Kräfte, und somit mein gesamtes Leben, ins Leere, ins Nirgendwo verschleudere, und dass alles, was ich war, bin und sein werde, ganz und gar sinnlos war.
Inmitten von Menschenmaßen sitze ich manchmal in kleinen, klischeehaften Cafés, trinke Sekt, heiße Schokolade, Wein, und schreibe; dann blicke ich um mich und merke, dass ich doch nur ein Besucher, ein unschuldiger Fremder auf dieser Welt bin.
Manchmal glaube ich, dass ich kein Teil dieses Lebens bin, sondern einzig und allein ein stiller, beobachtender Fremdkörper, der nur zu Besuch in diesem Leben ist, und sich so sehr nach diesem mysteriösen Daheim sehnt.
Ich habe leidvoll Heimweh und Sehnsucht nach einer Welt, und weiß nicht, wo und was genau jene Welt ist. Oder weiß ich es doch? Aber eines weiß ich doch gewiss: diese Welt, in der ich lebe, ist es auf gar keinen Fall.
Mit dem kalten Stift in der Hand lungere ich am kleinen Cafétisch, starre, umnachtet im Antlitz, ins Leere und denke. Und wie ich mich selbst beim Denken beobachte, könnte ich in einem einzigen Moment ein Buch meiner Gedanken schreiben. Ein Moment sollte doch vollkommen ausreichen um eintausend Seiten eines Buches zu füllen.
Ich will schreiben. Und kann es nicht. In mir verwesen und verfaulen jeden Tag Bücher, und ich leide an meiner Unfähigkeit, nicht schreiben zu können. Aber mich selbst werde ich nicht wieder betrügen und belügen. Man sollte es sich wert sein, niemals eine Lüge gegen sich zu richten.
Dann treten die ersten Stunden der Nacht ein, und dieses bestimmte Gefühl, mit der Dunkelheit geboren zu werden, ist wie der schönste aller Orgasmen mit X potenziert. Und dann noch mal verdoppelt.
Die Dunkelheit ist das Blut meiner eigenen Kräfte. Mit der Dunkelheit erwache ich erst zum Leben, beginne, mich zu regen, beginne, zu leben.
Die Dunkelheit ist mein Tag, meine Zeit, zu leben. Der helle, fürchterliche Tag ist wie ein Stadium des Todes, in dem ich nicht leben kann. Die Helligkeit ist das Reich des Nichtseins, und die Sonne der Teufel, der Herrscher dieses lichten Totenreiches.
Ich lebe gern, ich benötige die Nacht, um mich selbst zu fühlen, um zu denken. Ich benötige die Mystik des Nichtsehenkönnens, um Genuss am Sehen überhaupt zu verspüren.
Aber ich bin nicht gierig, ich weiß, ich werde es irgendwann einmal lernen, zu leben, und sei es der letzte aller Momente.
Leben sollte den Wert eines einzigen Momentes besitzen. Der Wert des Lebens ist nur ein einziger Moment, und dieses Leben ist eine Jagd nach diesem einen Moment, ein Leben lang.
Meine Jagt findet meist in jenen kurzen Stunden des Tages statt, zwischen Einbruch der Dunkelheit und dem Moment des Einschlafens.
Ich glaube, ich habe die Geißel, dass ich schnell ermüde in der Dunkelheit, und dann einschlafe. Somit ist mein eigentlicher Tag nur ein paar wenige Stunden lang.
Das Leben sollte niemals als Ziel haben, ewig, also ein Leben lang, glücklich zu sein. Das Leben war es wert, gelebt zu haben, wenn es auch nur diesen einen vollkommenen Moment gehabt hat. Selbst wenn der Rest ein einziger gewaltiger, alles ausfüllender Schmerz war.
Dies ist meine einzige Hoffnung: der eine absolute Moment, der den Wert des Lebens in sich birgt.
Am Schreibtisch sitzend, es ist Nacht, wird der Geist von einem fremden Geisteswesen heimgesucht, welches Denken heißt. Dieses Geisterwesen ist mir so fremd, so unbekannt, obwohl es seit meiner Geburt in mir haust und einen Teil von mir darstellt. Aber so alt es auch ist, und so lange es in mir ist, es ist mir fremd und unbekannt. Manchmal ist mir dieses Geisterwesen Freund, manchmal Todfeind, und manchmal machen wir uns einfach nichts auseinander.
Es ist schon eine seltsame Art von Ehe, diese Beziehung zwischen Geist und Emotion, zwischen Vernunft und emotionalem Chaos, der inneren Unordnung, welche den Menschen ausmacht.
Ich höre manchmal das höhnische Lachen dieses Wesens, dieser Macht, Energie, wie auch immer, aber ich bin mir nicht sicher, ob es nun mich persönlich auslacht oder etwas, was ich ebenfalls in mir beherberge, und von dem ich ebenfalls nichts weiß und ahne.
In einem Menschen ist so viel verborgen, mehr als die äußere Welt jemals zu bieten hätte. Und es ist so schwer, auch nur eine einzige der unendlichen Türen des Geistes, der Gefühle, der Seele aufzustoßen, um zu sehen, was dahinter steckt.
Nicht zu selten kommt es mir so vor, als würde mein Kopf zerspringen, weil ich nicht dem Tempo folgen kann, mit der mein Geist umherirrt. Jeden Tag – ein Ende ist nicht abzusehen. Ich warte immer, und weiß nicht, auf was ich eigentlich warte. Ich bin ein Taugenichts, der nichts mitbekommt.
Das eigene Geschaffene ist das Irrealste meiner eigenen Sicht. Es ist fiktiv. Und nicht einmal das, obwohl es real ist; real, das heißt: es ist vorhanden. Aber für mich existiert nur meine innere Welt, das, was ich in mir trage und verberge; alles, was außerhalb meiner Welt, meiner Sicht, meines Körpers geschieht, ist für mich alles andere als real.
Alles, was ich durch meine Sinne, Sehen, Hören, Fühlen aufnehme, ist für mich keine Realität, es ist für mich irreal, scheinbar. Meine wirkliche Realität findet in mir statt, nicht außerhalb meiner selbst. Ist dies eine Traumwelt? Ich weiß es nicht.
Meine Welt. Ich habe es aufgegeben, Schablonen auszufüllen. Nun gebe ich mich dem hin, was ich am besten kann: der Hingabe des Unlogischen, das Mitschwimmen im Strom meiner eigenen Gedanken. Es ist anstrengend. Für mich. Für andere.
Früher einmal hatte ich Angst vor mir selbst, vor meinen Gedanken, wie ich dachte. Und ich muss schmerzhaft zugeben, dass sich diese Angst niemals gänzlich gelegt hat. Dann habe ich krampfhaft probiert, mich selbst einzuschränken. Aber das war falsch.
Der Regen erfüllt die Nacht mit rätselhaftem Leben. Jeder Tropfen ist ein Geräusch, ein Wesen, und zusammen ergeben diese Myriaden Tropfen eine zeitweise Symphonie der wundervollen Schwermut und Dunkelheit, der Melancholie und Traurigkeit.
Aber ... oh ja, ich liebe diese Art von Symphonie, genauso wie ich jene von Beethoven mag.
Die Nacht, die Nacht ... sie ist Tag für Tag mein Konzert, und zugleich mein Konzertsaal für die Lieder, die ich in mir trage.
Jedoch bin ich manchmal, sehr oft, um ehrlich zu sein, taub für jeglichen Ton oder Harmonie; ich bin blind für die Nacht und taub für Symphonien, unfähig, die Schönheit des Lebens wahrzunehmen.
Doch ist nicht gerade die Unfähigkeit eine kostbare Fähigkeit, die zu wenig oder zu häufig gekonnt wird? Ich weiß auch dieses nicht. Aber wie sagte schon einst Sokrates: Alles, was ich weiß, ist, dass ich nichts weiß.
Über mir ist ein Glasdach, ich sitze unter einer Veranda. Um mich herum ist Schmutz, dörflicher Schmutz; ich fühle mich wohl.
Gerade regnete es, ich bin allein. Irgendwo krähte gerade ein Hahn. Bienen schwirren umher, ich höre Musik von Pearl Jam. Vitalogy. Eine der besten Platten, welche jemals gemacht wurde.
Musik ist ein Speichermedium, mit dem wir in der Lage sind, unsere Gefühle beinahe ewig festzuhalten, sie zu speichern und aufzubewahren.
Wieso wird Vergängnis nur so gefürchtet?
Weil der Mensch das Unbekannte, das Danach, fürchtet? Der Mensch hat vor allem Neuen Angst. Vor allem, was er nicht kennt. Wie Nietzsche einst schon meinte.
Um kurz bei Nietzsche zu verweilen...
Ich mag alles, was mit leidenschaftlicher Ungezügeltheit, mit Rausch und Triebhaftigkeit im Zusammenhang steht. Ich mag das Dionysische, das dionysische Ideal – ein Ideal, welches ich mir selbst definiere.
Sicherlich, ich habe dazu Anstöße benötigt und bekommen. Anstöße von Nietzsche, Anstöße von Rimbaud, Anstöße von Morrison, Anstöße von Cobain, Anstöße von Miller, Anstöße von Basquiat, Anstöße von ... – es gab und gibt so viele prägende Personen in meinem Leben.
Aber alle verbindet ein Fakt: sie sind tot. Welch Ironie des Schicksals, dass mein Leben von der Vergängnis anderer angestoßen und voran getrieben wird.
Ich mag jegliche Art von Rausch: mein Denken, Drogen, durch extremes Fühlen – ein Geschenk, welches mir meine Bipolarität auferlegt, und wofür ich dieser über alles danke. Extremes Fühlen. Selbst das tiefste Tief ist das schönere Hoch.
Ich liebe das Fühlen und Empfinden an der Grenze, am Abgrund zum Nirgendwo. Mein größtes seelisches Leid liebe ich über alles.
Nichts vermisse ich mehr, wenn ich nicht emotional und seelisch leide, von der grundlosen oder begründeten Traurigkeit und Schwermut zerdrückt zu werden. Ja, das ist mein liebstes Leben.
Ich verstehe nichts vom Leben, aber dennoch glaube ich, der Schmerz und das Leid sind die bessere Wahl, wenn man zwischen diesem und dem Mittelmaß des Fühlens wählen könnte. Und was man stets kann. Eine Wahl, welche mir nicht gestellt wird: meine Qual ist einfach da. Diese Qual heißt Lebensfreude. Die Achterbahnfahrt zwischen Flächenbrand und Dunkelkammer.
Ich liebe dieses Leben. Ich hasse dieses Leben.
Dieser Sommer ist ein wundervoller Sommer: es regnet ständig. Der Himmel ist grau und verhangen. Kein Tag vergeht, an dem es nicht in Strömen gießt, wie aus göttlichen Gießkannen. Die Götter dort oben müssen mich ziemlich mögen, weil sie es so oft regnen lassen. Sei's gedankt!
Meine Wangen beginnen rapide einzufallen; vielleicht sollte ich wieder einmal Nahrung zu mir nehmen. Dieses natürliche Muss der Nahrungsaufnahme ist mir ein böses Übel.
Ich vergesse es manchmal tagelang zu essen, ohne es mitzubekommen. Ich empfinde nichts dabei, finde es abstoßend. Essende Personen, kauend, schlingend, schluckend.
Mir wäre es wahrhaft lieb, wenn es irgendwann einmal Tabletten geben würde, von der man am Morgen eine in sich einwirft, und den ganzen restlichen Tag nichts anderes mehr zu sich nehmen bräuchte.
Ich liebe Tabletten und Pillen jeglicher Art; sie haben so etwas reizvoll Futuristisches an sich, was mich zu vielerlei Tagträumereien und Gefühlstaumeleien verleitet.
Die Einsamkeit war und ist mein prägendster Faktor, sie erst hat mich zu diesem Fremden mutieren lassen – wofür ich ihr danke.
Meine eingefallenen Wangen ... wenn ich sie greifen will, greife ich ins Leere, fühle nur Wangenknochen und bart-stoppelige Haut, welche kratzt.
Auf jeden Fall hat diese Art von Knochigkeit einen großen Reiz, da sie den Körper strukturiert und ihm eine spezielle Ur-Form verleiht, etwas Urhaftes, Fremdartiges. Der poetische Reiz eines Opfers. Aber vielleicht drifte ich auch nur in eine Essstörung hinein, wer weiß.
Dabei denke ich an einen jungen französischen Schriftsteller namens Raymond Radiguet, welcher bereits mit zwanzig Jahren starb. Er hat gerade mal zwei – wundervolle – Romane geschrieben. Er ist das Ideal eines tragischen Künstlers.
Radiguet verdanke ich es auch, dass ich überhaupt mit Schreiben begonnen habe, er war es, der mir den Mut gab, diese tobenden Gewässer zu bezwingen. Ich mag und verehre ihn sehr. Aber ich, ich werde wohl niemals ein Schriftsteller werden. Mir fehlt die Gabe, und vor allem der Wille, Geschichten zu erzählen.
Vielmehr sehe ich das Reizvolle und Wertvolle, was man mit Worten erreichen und schaffen kann, im Unlogischen. Ich bin der Regellosigkeit zutiefst ergeben und verfallen.
Genau diese Art von Wildheit und Regellosigkeit wird es niemals zulassen, dass ich Schriftsteller, nach meinen Vorstellungen, werde.
Was kann ich dafür? Soll mich doch all das Dionysische verschlingen, ehe ich Realist werde! Lieber leide ich unendlich im Rausch- und Triebhaften, als dass ich freiwillig ein glückliches Leben in einem Regelwerk lebe!
Vom Bild der Liebe bin ich fasziniert, da Liebe eine Art wundervoller Selbstbetrug ist, der so viel Gutes und Schönes an sich hat, und auf eine großartige Weise mit Qual und Leid verbunden ist. Ich bin verliebt in die Liebe.
Vielleicht sage ich solche negativen Worte über die Liebe, weil die Liebe es eben ist, die mir das Heiligste auf Erden ist. Ich spüre, dass nur in der Liebe alle Geheimnisse und Kräfte, ja sogar Magie verborgen sind, und dass nur einige wenige wahrhaft und richtig in der Lage sind, zu lieben.
Ob ich einer von ihnen bin, kann ich nicht sagen. Darüber zu urteilen, liegt mir fern.
In meinem Leben gab und gibt es ein Wesen, das meine Liebe in sich trägt. Es ist ein Engel, ein feuerrotgelockter Engel. Sie liebe ich.
Vor meinen Füssen liegt ein Buch von Henry Miller.
Der Regen ist er selbst, er regnet sich dahin, und mein Blick fällt schräg links vor mir auf das einzige Fenster meiner Schlafhöhle der Scheune, in der ich hause.
Ich sitze unter der glasüberdachten Veranda vor dem Gutshaus neben der Scheune. Alles sieht aus wie auf einem Gemälde aus: das Fenster ist mild und zart von innen beleuchtet.
Nacht kehrt ein, es ist schummerig, einer Märchenkulisse gleichend. Überall stehen Bäume, große, kleine und mittelgroße, nichts als Bäume, Grün...
Über dem dicken Stromkabel, was zwischen Scheune, meiner Schlafhöhle, und Veranda verläuft, ranken sich massig Kletterpflanzen, die gesamte Frontseite der Scheune ausmachen und einnehmend ausfüllen. Die Konturen verschwinden in einer geheimnisvollen Undefiniertheit und Schummrigkeit.
Ich komme mir vor, als säße ich inmitten des tropischen Regenwaldes, alles um mich, vor mir, links und rechts, ist dunkelgrünschwarz – Natur, Natur, nichts als Natur und menschenleere Ruhe.
Die Regentropfen spielen an den Kanten der Scheunendachziegel ein lustiges Spielchen. Es sieht so aus, als veranstalteten sie einen Wettkampf. Wagemutig stürzen die Tropfen in geregelten Bahnen gen Erde, wo sie erbarmungslos aufklatschen und sich mit den Pfützen vereinen. – Flüssigkeit, Wasser! Alles lebt!
Die Scheune sieht so idyllisch und romantisch aus. Und dies passt gar nicht zu ihr, wenn ich mir überlege, wie viele ungezählte qualvolle Stunden ich in ihr bereits verbracht habe. Der Platz der Romantik ist gleich dem Ort absoluter und reinster Qualen.
Wochen- und monatelang verbringe ich manchmal damit, mich selbst zu quälen, weil ich mir einrede, schreiben zu müssen, ganz egal was, einfach nur schreiben ... Romane, Geschichten, Poeme, Erzählungen. Aber ich bringe es nicht fertig, auch nur ein einziges Buch zu vollenden. Und meist ist es so, dass nur einige Seiten zur Vollendung fehlen. Der Rahmen bleibt geöffnet, verweigert sich seiner Schließung.
Was das Schreiben – und nicht nur das Schreiben – anbelangt, so glaube ich, ein ... zu sein. Ich will schreiben – warum mache ich es dann nicht tatsächlich? Warum setze ich mich nicht einfach hin und schreibe ein Buch bis zur letzten Seite, bis zum letzten Punkt? Ich kann es nicht.
Ich kann meine Gedanken nicht ordnen, alles schwirrt mir wild und konfus durch den Kopf, wie Tornados oder Wirbelstürme aus Wort- und Gedanken-Fetzen. Aber dies füllt noch lange kein Buch bis zum Schluss.
Dabei ist es so, dass ich ein Übermaß an solchen Gedankenfetzen in mir wüten habe. Aber die Geschwindigkeit des Kommens und Gehens dieser Fetzen erlaubt es mir nicht, auch nur einen einzigen großen Gedankengang, eine Geschichte zu Ende zu denken und als klares eindeutiges Gebilde zu Papier zu bringen. Und wie ich diese Zeilen schreibe, schäme ich mich, nicht schreiben zu können.
Es ist wirklich zum Verzweifeln, wenn die einzige Motivation, überhaupt noch weiter zu machen, das Schreiben ist, und ich einfach nicht in der Lage bin, etwas Gutes zu Papier zu bringen.
Wenn ich die Einleitung zu Tschaikowskis Schwanensee höre, wird mein Leib mit einer gewaltigen, alles beherrschenden Erschütterung und Gänsehaut überschwemmt.
Einer Flut gleichend, regen sich alle Emotionen in mir, türmen sich auf zu einem einzigen Moment der leidvollen Freude, des freudigen Leides.
Die Melodie von Schwanensee begleitete mich beim Drama des rothaarigen Engels, und wird zeitlebens mit diesem verbunden sein.
Besonders in diesen trüben Morgenstunde, wo alles noch schläft, tun die Erinnerungen an diesen Engel weh, die Erinnerungen an die Gefühle zu diesem Engel – Schwäne, überall weiße majestätisch erhabene Schwäne ... in meinem Kopf ... Tränen, nichts als Tränen ... mein Herz schreit ... meine Seele weint ... Schwäne ... ach, Schwäne!
Wenn ich mich mit einem klassischen Stück beschreiben sollte, wäre es das Adagio in G-moll von Tomasso Albinoni. Kein anderes Stück beschreibt mein Fühlen besser, als dieses Adagio. Dies ist mein aurales Daheim.
Mit zwanzig habe ich meinen ersten Roman geschrieben. Damals flüchtete ich vor mir selbst, kaufte mir ein Flugticket in die USA. Dort trampte ich erst mal wochenlang umher und landete schließlich im kalten, ewig verregneten nordwestlichsten Teil der Staaten, an der Grenze zu Kanada: in Seattle.
Ich weiß noch, welches Feuer der Leidenschaft und des Ehrgeizes in mir wütete, das mir die Kraft gab, zu schreiben. Im steten Gedanken an Raymond Radiguet.
Dieses erste Buch war abgrundtief schlecht geschrieben. Ich glaube kaum, dass es jemals auch nur eine Menschenseele lesen wird.
Aber das ist auch egal, da ich selbst etwas dabei erleben und lernen durfte, was mir vorher vollkommen unbekannt war: es war dieser Wahn des Schaffens, ein Wahn, der alles andere verdrängt und nichtig werden lässt.
Wenn ich nun, ein Jahr später, zurückschaue – mir kommt es so vor, als seien während dessen Jahrzehnte vergangen – so kann ich sagen, dass mich erst dieser Schaffenswahn am Leben erhalten hat. Ohne ihn wäre ... ich weiß es nicht.
Aber wie jeder Wahn, so machte auch dieser blind für die Realität, machte blind für das Leben. Manchmal ist gerade dieses Blindsein ein Motor zum Weitermachen.
Dieser Wahn in mir ließ mich dort in Seattle am Leben erhalten. Für all mein Geld erstand ich, nach einigen Wochen des Umhertrampens, einen tragbaren Computer. Und das, obwohl es mein letztes Geld war und ich keine feste Bleibe, keinen Schlafplatz, keinen Job, rein gar nichts besaß.
Das zählte damals alles nicht. Ich wollte nur schreiben. Ich war am Ende, wortwörtlich, und wenn man an einem Endpunkt ist, am Nullpunkt, ist der unlogischste Schritt, den man zu gehen vermag, vielleicht die einzige Rettung.
Ich schlief nachts in Abfallcontainern, da diese Schutz vor Regen und Wind boten. Und ich stank wie ein Schwein. Das ewige Gefühl des Hungers ließ mich geistig und emotional im Delirium schweben.
Tagsüber verkroch ich mich in dunkle Spielhallen, Arcades, wo ich meist einen Stammplatz hatte: in einer dunklen Ecke, in der nie ein Mensch hinging. In einer der Arcades stand ein alter, roter Lehnstuhl.
Morgens, wenn ich vom Dauerregen Seattles geweckt wurde, oder wenn mich die Kälte in einem dieser stinkenden Abfallcontainer nicht zu Ende schlafen ließ, schlenderte ich gedankenversunken, stolz über meine abgrundtiefe Armut und Asozialität zur Bahnhofsmission im Drogenviertel der Stadt, und aß meine einzige Mahlzeit des Tages, die dort an die Armen und Bedürftigen verteilt wurde.
Selbst der schlimmste Fraß war dort, zwischen all den Pennern, ein wahres Festmahl, wobei ich jeden Bissen genoss.
Danach ging ich in diese Spielhalle. In Downtown auf der 7th Avenue, umgeben von gewaltigen funkelnden Wolkenkratzern, zu meinem roten alten Lehnstuhl in der dunkelsten Ecke des Hauses.
Ich setzte mich, schloss meinen Computer an und begann zu schreiben.
Um mich herum existierte nichts mehr. Hätte man mich gefragt, ob ich noch existiere, hätte ich keine konkrete Antwort darauf geben.
Ich schrieb unentwegt, wie in einem Delirium, und der ewige Hunger in mir ließ mich alles klarer, deutlicher und unendlich wertvoller sehen.
Meine Gedanken waren aufs Äußerste gespannt und aufnahmefähig wie ein trockener Schwamm, und das Schreiben behielt mich am Leben.
Als ich Tag für Tag mein Schreiben beendet hatte und wieder auf die verregnete grauschwarze Strasse hinauskam, war es stets schon wieder Nacht, und es war eisig kalt in diesem Herbst und Winter in Seattle.
Manchmal schrieb ich dort an diesem einsamen Platz, ohne irgend etwas anderes zu machen oder gar zu wollen, bis zu zwölf Stunden am Tag, manchmal auch nur zehn oder acht.
Wenn ich Durst hatte, ging ich aufs Klo der Spielhalle, gleich in der Nähe meines Schreibplatzes und trank dort Leitungswasser. Aber ich war glücklich, allein und zufrieden.
Nach ein paar Wochen meines Immüllcontainerschlafenbeidermissionessenundinderspielhalleschreiben-Lebens fand ich, eher durch Zufall, einen kleinen Job in einer Pension, in der ich auch schlafen konnte.
Ich verdiente dort nur sehr wenig Geld, aber immerhin hatte ich freie Kost und Logis, und meine Arbeit dort dauerte auch nur zwei, drei Stunden am Tag.
Aber in meinem Wahn änderte sich nichts, denn auch dort schrieb ich meine zehn bis zwölf Stunden am Tag.
Mein Schreibplatz war im Nebenraum der Küche, gleich neben dem Fenster, wo dieser ewige, nie enden wollende Regen Seattles mir seine wundervollen Symphonien vorspielte und sich in mein Hirn einbrannte und mich grundlegend prägte.
Innerhalb einiger Wochen war mein erster Roman mit über sechshundert Seiten fertig. Zwar war dieser schlecht geschrieben, aber es war ein Buch, und ich glaube, dass selbst das am miesesten geschriebene Buch irgend etwas an Wert und Sinn besitzt.
Als ich zurückkam, also Seattle und dessen ewigen Regen verließ, begann ich meinen zweiten Roman, und meinen zweiundzwanzigsten Lyrikband, der inzwischen beendet ist, sowie den dreiundzwanzigsten Lyrikband; ebenfalls beendet.
Was diesen zweiten Roman anbelangt, so ist er fast vollendet, selbst das Ende ist geschrieben, und doch fehlen noch einige Lücken, die gefüllt werden müssen.
Aber es ist schon eine teuflische Sache, wenn aus heiterem Himmel jegliche Form von Kraft versagt bleibt.
Seit diesem Buch sind sechs Monate vergangen – der Roman liegt brach und ich bin ein faules Schwein ohne Willen.
Aber genau das ist das gute an Büchern: sie sind zeitlos. Ewiger als Musik, zeitloser als Bilder. Und genau wie jedes andere Buch, so liegt auch dieser Roman jetzt irgendwo herum, Schwarz auf Weiß – und er vergeht nicht.
Auch wenn ich mir noch Jahre Zeit für diesen Roman nehme, um ihn zu vollenden, wird er da sein, und irgendwann ist auch dieses Buch geschrieben, Schwarz auf Weiß und zeitlos. Vielleicht wird es kein Mensch jemals lesen, aber das ist mir egal. Man schreibt seine Bücher nicht für andere Menschen, man schreibt Bücher, um sich selbst durch diese zu erkunden; Bücher sind ein Teil des Weges zum eigenen Ich, so auch jenes Buch. Man gebiert ein Buch nur, und danach lebt es selbstständig weiter; meist überlebt es seinen Schöpfer.
Was meine Lyrik anbelangt, so kümmere ich mich kein bisschen um sie; ich schreibe sie einfach. Manchmal wundere ich mich, wie viel dabei schon herausgekommen ist. Mittlerweile habe ich über zweitausend Poeme geschrieben, ohne es irgendwie bewusst mitbekommen zu haben.
Ich schaue diese unzähligen Bücher voller Gedichte an, und fühle mich dabei, als sei es das Werk eines Fremden, aber weiß dennoch, dass ich selbst dieses Zeug geschaffen habe. Aber alles ist so unwirklich. Selbst vor meinem eigenen Werk habe ich keinerlei Achtung oder Respekt. Ich spucke es an, ich lache es aus – ich schaffe weiter. Ich kann nicht anders.
Innerhalb eines Jahres schrieb ich drei Romane, etwa fünf oder sechs Lyrikbände – keine Erfüllung, kein Gefühl in mir, was mich glücklich macht, nur Leere. Die Leere, nichts geschaffen zu haben, die Leere, unfähig zu sein, Gutes zu vollbringen, die Leere, unnütz zu sein – ein Traum nur, kein Leben.
Obenauf auf dem alten Schreibsekretär steht ein Ölgemälde in Schwarz-Weiß, welches ich einmal in einigen euphorischen Stunden gemalt hatte, kurz nachdem ich aus Seattle zurückgekehrt war und die alte Welt mit neuen, klareren Augen sah.
Dieses Gemälde zeigt den Engel als Profil-Portrait, sinnlich-romantisch, aber gleichzeitig geheimnisvoll, ähnlich der Ausstrahlung der Mona Lisa; ein traumhaftes Profil eines femininen Wesens, mit einem Blick, der das Auge des Betrachters bindet.
Dieser Blick des Wesens auf dem Gemälde birgt alle Sehnsüchte und Träume dieser Welt und noch mehr in sich. Schaue ich dieses Bild an, überkommt mich die Trauer. Trauer, weil mir dieser Engel einen wundervollen Lebenskontrast bietet, welcher alles Leid in mir noch leidvoller werden lässt.
Dieser Engel war das Wertvollste, Einzigartigste und Schönste, dem ich jemals begegnet bin. Aber alles geht, und dieser Engel ging auch.
Aber ich bin mir bewusst, dass alles wiederkehren wird. Ich glaube zutiefst an die ewige Wiederkehr aller Dinge. Manchmal ist es ganz gut, dass man lernt zu vergessen. Lerne zu vergessen! Wilde schrieb einmal dazu etwas Wundervolles: Der Reiz des Vergangenen liegt darin, dass es vergangen ist. – Nun ja – Fließen und Genießen!
Vor diesem Gemälde liegt mein Revolver. Ich schaue ihn an, und ein Lächeln erstreckt sich über mein Gesicht. Eine Hunderstelsekunde würde ausreichen, um Leben zu beenden, um den nächsten Schritt vorschnell zu vollführen.
Der Revolver ist schwer, sehr massiv, liegt geschmeidig in der Hand, weich; nicht im Gefühl, aber der Effekt ist der selbe wie das liebevolle Streicheln einer weiblichen Brust – es ist wundervoll, ein ganz und gar einzigartiges Gefühl, welches, einmal probiert, niemals wieder vergessen werden kann.
Und wie bei einer weiblichen Brust, so ist das Fühlen dessen verbunden mit einer tiefen Sehnsucht nach etwas, was man nicht aussprechen kann, aber es dennoch in sich spürt, eine unbewusste Sehnsucht, welche durch das Fühlen dieser Dinge zur Erfüllung zu kommen hofft.
Die Brust nährt neues Leben – der Revolver nimmt es. Paradox klingend, liegt doch beides näher beisammen, als man denkt: beides sind Muttersymbole.
Wenn ich die Wahl hätte – und jeder hat diese Wahl in seinem Leben – zwischen Glück und Drama zu wählen, so würde meine Entscheidung dem Drama zufallen. Und mit diesem das Leid, die Qual, der Schmerz, der Hass und die Liebe – im wahnsinnigen Wechselspiel ihrer Extreme, und die Genugtuung, das Schlimmste bekommen zu haben.
Wer ehrlich ist und sein tatsächliches Wesen zeigt, wird ausgelacht, gemieden, verstoßen oder als Irrer in die Nervenheilanstalt gesperrt. Mir scheint es, als sei dieses Spiel des Lebens seitenverkehrt, die Guten sind die Bösen, und die Bösen die scheinbar Guten.
Die kurzen euphorischen Schaffensmomente in den Nachtstunden verblassen sehr schnell. Sie ähneln eher einem Meteoriten, der kurz, für einige Augenblicke nur, in die Atmosphäre der Erde eindringt, wundervoll, unbekannt und rätselhaftes Glühen und Glitzern an sich hat, und genauso schnell wieder verschwindet, wie er erschienen ist.
Aber dies ist nicht nur des Nachts so. Ich log, denn in den schlimmsten dunklen, schwermütigen, schier endlos langen Stunden des Morgens, Mittags und Nachmittags gibt es teilweise Momente, winzige Augenblicke in meinem Tag, die ebenfalls wie diese Meteoriten sind.
Wenn alles in mir leer und schwarz ist, wenn das einzige Gefühl in mir die absolute Apathie ist, blitzt es auf einmal in mir, und für wenige, ganz wenige Momente, manchmal nur für Minuten, sehe ich mich in der Lage, einem Demiurgen gleichend, neue Welten zu schaffen.
Dann verspüre ich in mir eine unbändige, gewaltige Energie, welche alle anderen Energien bei weitem überflügelt.
Und was vor einem Fingerschnippen noch abgrundtief schwermütig und traurig, leer und sinnlos war, wird in diesen magischen Blitzmomenten von göttlicher Euphorie, Leidenschaft, Motivation und Kraft ersetzt.
Dann sehe ich mich in der Lage, Wunder zu vollbringen, wie ein Heiliger, wie ein Schamane ... wie ein Demiurg, der für kurze Momente von sich selbst geheilt ist, und nun erst in der Lage ist, alle anderen zu heilen.
Eine alte indianische Weisheit besagt, dass sich der Schamane erst selbst heilen muss, bevor er sein Volk heilen kann.
Alles will dann aus mir heraus, alles auf einmal. So schnell es möglich ist, greife ich dann zum Stift und schreibe ... einige Wörter, Sätze, Seite. Und dann sterbe ich wieder in mir.
Genauso schnell, wie ich ein Schöpfer wurde, werde ich wieder zur todesgleichen Apathie in Menschengestalt.
Dann ist alles leer in mir, keine Kraft, kein Wille, keine Motivation, kein gar nichts – nur noch Leere, Nichts, Schwermut und endlose Traurigkeit.
Aber diese kurzen Momente euphorischer Energien lassen alle Stunden der Dunkelheit und Leere nichtig, fast trivial erscheinen. Dies sind die kurzen Momente, die meinen Tagen, meinem Leben ihren Wert verleihen.
Ich bin ein paradoxer Narziss: ich hasse mich so sehr, dass ich diese Leidenschaft, dieses Tiefenfeuer, mit dem ich mich verabscheue, über alles liebe und verehre.
Doch was geschah mit diesem Knaben Narziss der antiken Mythologie? Ertrank er nicht in seinem eigenen Spiegelbild?
Der Engel flüsterte mir einst ins Ohr: der Sinn des Lebens liegt darin, das Leben zu leben.
Ich bin ein Prinz in einem Schloss, ein unglückliches Wesen in einem goldenen Käfig, allein, allein durch eigenen Willen. Ich vertrage keine Menschen um mich herum, am Platz, an dem ich lebe, denke, leide; pflichtenfrei, ganz und gar ungebunden, materiell wunschlos und vollkommen frei – frei, frei, frei. Verdammte Freiheit.
Vielleicht sollte ich der glücklichste Mensch sein, den es gibt, zumindest wenn ein Außenstehender mein Leben betrachtet. Mein Unglück ist es, dass es in meinem Leben kein Unglück gibt, außer jenes in meiner Seele und Geisteswelt.
Ich bräuchte einfach nur zu sein, nichts weiter. Ja, das ist die unerträgliche Leichtigkeit des Seins. Und ich bin der Prinz im Schloss seiner eigenen Welt, seinem Luftschloss ... welches alsbald zerplatzen wird, zerplatzen muss!
Ich werde die schimmernde Blase meines Traum-Lebens zum Zerplatzen bringen; ich lebe in ihr, sie ist meine Welt, und mit einer gezückten Nadel werde ich meine Welt zum Platzen bringen; ich werde in ihr umherschweben, die Nadel blitzt im Funkeln meiner Augen, spiegelt sich wieder und wieder; ich lache, weine vor lauter Lachen, Tränen rinnen meine Wangen hinab und vermischen sich beim Aufprall mit der gläsernen Nährsubstanz meiner Blasen-Prinzen-Luftschloss-Welt, dann steche ich zu ... und falle irgendwohin, ist ganz egal wohin. Ich falle und falle, falle und falle. Um mich herum zischen Universen fremder Leben vorbei, aber sie alle interessieren mich nicht. Mich interessieren keine fremden Leben, sind vollkommen reizlos, stoßen mich ab, sind andere Welten, Universen entfernt.
Alles, was mich anzieht, ist meine neue Welt, die Dunkelheit und deren unzählige Geheimnisse, welche überall nun um mich herum ihre Unendlichkeit ausstrahlt.
Unendlichkeit, Unendlichkeit.
Alles, was ich will, ist die Zeitlosigkeit in allem, was ich bin, fühle, schaffe. Die Ewigkeit, so schrieb Hesse einmal, ist gerade einmal so lang wie ein Moment; in der Ewigkeit gibt es keine Zeit.
Was mich an diesem Leben, dieser Form des Seins stört und aufstoßen lässt, ist die Zeit, dieses Nacheinander der Ereignisse. Ich wünschte mir eine Welt ohne Zeit, in der es kein unbefriedigendes Nacheinander gibt – nein – sondern ein sättigendes, alles befriedigendes Zugleich der Dinge. Und das eben nur einen Augenblick lang ... welcher nie zum Ende kommt.