Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Am Anfang war der Schmerz. Manchmal auch der Tod. Die Geburt des Jungen verlief qualvoll über endlos erscheinende Stunden hinweg. Das Flügelschlagen des Engels war für Menschen nicht zu hören. Sie, der junge, noch kleinwüchsige Engel mit ihren glutroten Locken aus Feuer, schwebte lautlos und unsichtbar über der blutigen Szenerie dieser schweren Geburt. Engel dürfen sich nicht zeigen. Niemals. Dies ist ein Kodex, welcher nicht gebrochen werden darf. Aufmerksam betrachtete sie die schreiende, schweißgebadete junge Frau unter ihr, aus deren Unterleib ein regloses Kind, nur durch die Wehen der Mutter getrieben, hervortrat. Der Raum war erfüllt vom Keuchen, Stöhnen und Schreien der Gebärenden und den Anweisungen der Ärzte und Schwestern. Und sie, der junge, kindliche Engel, schwebte über allem und betrachtete diese Geburt, wie sie schon viele andere zuvor beobachtet hatte. Doch bald sollte sie erfahren, dass diese anders war als jene, welchen sie sonst beiwohnte, mit all ihrem kindlichen Engelsinteresse, was menschliches Leben betraf.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 765
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Für Luna, Ruben und Eva.
Der Engel, der über meiner Geburt gethront, Sprach:
Kleines Wesen, von Schmerzen und Jubel bewohnt,
Geh hin und liebe,
Ohne dass irgendein Ding auf Erden Dich schont.
William Blake
Es gibt Höhen der Seele,
von wo aus gesehen selbst die Tragödie aufhört,
tragisch zu wirken.
Friedrich Nietzsche
Ein Engel kam zu mir und sprach:
O bedauernswerter törichter Jüngling!
O Schrecken! O fürchterlicher Stand!
Sieh den glutlodernden Kerker,
den du dir selbst bereitest in alle Ewigkeit,
auf den du zuschreitest auf solchem Wege.
William Blake
Die Einsamkeit des Engels
Schmetterlingstraum
Anhang:
Von Engeln
Gedichte
Am Anfang war der Schmerz. Manchmal auch der Tod.
Die Geburt des Jungen verlief qualvoll über endlos erscheinende Stunden hinweg.
Das Flügelschlagen des Engels war für Menschen nicht zu hören. Sie, der junge, noch kleinwüchsige Engel mit ihren glutroten Locken aus Feuer, schwebte lautlos und unsichtbar über der blutigen Szenerie dieser schweren Geburt.
Engel dürfen sich nicht zeigen. Niemals. Dies ist ein Kodex, welcher nicht gebrochen werden durfte.
Aufmerksam betrachtete sie die schreiende schweißgebadete junge Frau unter ihr, aus deren Unterleib ein regloses Kind, nur durch die Wehen der Mutter getrieben, hervortrat.
Der Raum war erfüllt vom Keuchen, Stöhnen und Schreien der Gebärenden und den Anweisungen der Ärzte und Schwestern.
Und sie, der junge, kindliche Engel, schwebte über allem und betrachtete diese Geburt, wie sie schon viele andere zuvor beobachtet hatte. Doch bald sollte sie erfahren, dass diese anders war als jene, welchen sie sonst beiwohnte, mit all ihrem kindlichen Engelsinteresse, was menschliches Leben betraf.
Als der Arzt das Neugeborene hochhielt, erschrak der junge feuergelockte Engel, und die großen majestätischen Außenfedern ihrer Schwingen begannen aufgeregt zu vibrieren.
Im Saal wurde es totenstill.
Was vorher Schreien und Keuchen war, verstummte plötzlich. Für den Engel schien es, als wäre nicht einmal mehr das Atmen der Ärzte und Schwestern zu hören. Nichts war mehr zu hören. Gar nichts. Nur die kreischende Stille, welche an den Kacheln des Kreißsaals abprallte.
Das Baby schrie nicht. Es hing nur leblos, mit blau angelaufenem Köpfchen, in den übergroß erscheinenden Händen des Arztes, der es hielt. Nichts war zu hören. Kein Babygeschrei, kein erstes Zeichen von Leben im Neugeborenen.
Nur Stille. Als stünde die Zeit still, so lautlos.
Die Szenerie schien für einen Moment der Ewigkeit eingefroren zu sein: der Arzt, welcher den kleinen leblosen Leib in die Höhe hält; die Schwestern, welche reglos zu diesem schauen; der tote Körper der Mutter.
Nur Stille.
Und der Engel schaute.
Dann ein Lächeln von Erlösung in ihrem zierlichen, feingeschnittenen Gesicht: den Ärzten gelang es, das Baby wieder zu beleben, welches stranguliert war von seiner eigenen Nabelschnur.
Das hohe Geschrei des neugeborenen Jungen erfüllte Leben verkündend den Saal und der Engel schwebte näher zu ihm hin, um dieses jetzt erst erwachte Leben näher zu betrachten.
Ihr einziger Gedanke war die Vorstellung der Zukunft dieses Jungen, dessen Geburt gleich der Tod war; der in den ersten Momenten seines Lebens bereits das erfahren musste, was jeder Mensch erst am Ende seines Lebens erfahren wird.
Etwas Besonderes umgab diesen gerade erst zum Leben erwachten kleinen Leib, eine Andersartigkeit, welche seltsamerweise den jungen Engel zu berühren vermochte; eine Ausstrahlung, wie sie es bei keinem Menschen zuvor gespürt hatte.
Die Geburt diese Jungen besaß Besonderheit – etwas, was diesen neuen Menschen zeitlebens begleiten würde. Dessen war sie sich sicher.
Es war kein Mitleid, was sie für den Neugeborenen empfand. Sie hatte bereits vielen Geburten beigewohnt, auch welchen, bei denen Kind oder Mutter, sogar beide, verstorben sind, doch noch keiner, bei der es eine Todgeburt gab, dessen Lauf Leben – Tod – und wieder Leben war. Dieser kleine Junge war im Reich des Todes, und kehrte wieder zurück – zum Leben.
Sie selbst war noch ein Kind. Und dennoch: sie wusste, was sie sah, und sie wusste, sie würde diesen Jungen niemals vergessen.
Sie sah, was sie sah. Das Ereignis der Todgeburt löste etwas in ihr aus. Ein Keim entsprang.
Frühlingsanfang. Ich starb an einem Donnerstag im Frühling. Todesursache war ein Tumor in meiner Hirnfront, dessen stechende Schmerzen mich sehr lange peinigten. Für viele Jahre waren sie dann verschwunden und traten nur gelegentlich auf. Als die Schmerzen in meinem Kopf wiederkamen, starb ich auch schon bald darauf folgend.
Zu Lebzeiten als Mensch hatte ich stets fest daran geglaubt, dass mich die zeitweise schwerlastige Dunkelheit einmal zur Selbstverantwortung zwingen, und ich dadurch gehen würde, nicht aber an einer Krankheitsursache.
Aber dem war nicht so, ich wurde zu meinem eigenen Erstaunen sogar recht alt. Mit einem Leben, wie es vielleicht Tausend Andere, vielleicht aber auch niemand sonst geführt hat. Die Anmaßung, eines von beidem zu behaupten, liegt mir fern. Vor allem aber ist es eine Vergangenheit, mit dem einzigen Reiz, dass es vergangen ist – und allen darin vereinten Genüssen des Zurückblickens.
Beigesetzt wurde ich auf einem kleinen Dorffriedhof, unweit meines kleinen Gutshofes, inmitten einer menschenleerer Gegend irgendwo im Spreewald, wo ich den Großteil meines Lebens, abgeschlossen von der Welt, verbrachte.
Im Testament meiner verstorbenen Mutter war einst festgehalten, dass mir der Gutshof samt Haus, Scheune und Ländereien sowie das Gelderbe zustand. Somit war ich einem Zwang, den eigenen Lebensunterhalt bestreiten zu müssen, entledigt. Das Vermögen meiner Mutter, was ich erbte, ergab sich aus dem Vermögen meines bereits verstorbenen Vaters, das meiner Mutter nach seinem Tode zukam. Auf dem Gutshof verbrachte ich einen großen und wichtigen Teil meines Lebens. Ich lebte vom Erbe des Erbes.
Meine Beerdigung war sehr schlicht, einzig zwei Nachbarn, die entfernt meines Hofes wohnten, ließen meinen Sarg mit zwei Helfern in die Tiefe, bedeckten den schwarzbraunen, mit dunkelrotem Samt verzierten Sarg, schütteten mein Grab zu und setzten eine große weiße Marmorplatte darauf, die ich bereits etliche Jahre vorher anfertigen ließ; einzig das Datum meines Ablebens musste nachgetragen werden.
Es war kein großartiges Ereignis, meine Beerdigung. Niemand der Anwesenden sprach ein Wort, es war der erste Tag im Frühling – der Anfang war das Ende war der Anfang war das Ende.
Ein Pfarrer war nicht bei der Beisetzung zugegen.
An diesem Tag war es kühl, obwohl die Sonne ein goldenes, fast fröhliches Licht strahlte.
Nach dem Aufbringen meiner marmornen Grabplatte entfernten sich alle Anwesenden schweigend mit fernen Blicken und lautlosen Schritten.
Auf der einst beige schimmernden gewaltigen Grabplatte stehen in goldenen Lettern die Worte:
Was die Gottesmacht getrennt,
vereint sie liebend wieder.
Da das Gut, all das Land und das Gehöft in meinem Besitz waren, hielt ich im Testament fest, dass all das nicht weitergegeben oder verkauft werden dürfe; die Natur sollte alles wieder zu sich zurückholen, wo es herstammte, und verschlingen. So auch meine Grabstätte auf dem Dorffriedhof.
Falls Sie, der Sie diese Zeilen lesen, einmal in einem abgelegenen Teil des Spreewaldes ein verfallenes, unbewohntes Gutshaus sehen, und viele von wild wucherndem Grün umschlungene Marmorstatuen im Garten ... suchen Sie dann den kleinen Dorffriedhof auf, und schauen nach einer großen Grabplatte in der Nähe einer besonders großen Engelsstatue. Gleich daneben müsste es dann erkennbar sein. Sicherlich wird bereits viel Unkraut darüber gewachsen sein ... aber schauen Sie genauer hin! Dort ist meine Grabstätte.
Es kommt sehr selten vor, dass sich ein Mensch dorthin verirrt, und somit nehme ich mir manchmal die Engelsfreiheit und besuche mein eigenes Grab, schreite durch den wunderschönen, verwilderten Garten, betrachte die aberunzähligen Statuen, die überall inmitten der Bäume stehen. Und manchmal schwebe ich genüsslich erinnernd durch die stillen Flure und Säle des beigefarbenen Gebäudes, dessen Anstrich von den Wänden längst abgeblättert ist und dessen Parkett des Fußbodens längst verrottet – und dennoch ... alles ist gleich geblieben.
Ich besuche zwar selten, aber dennoch gern diesen Platz meines damaligen irdischen Lebens. Es tut nicht weh, zurück zu blicken, nein, vielmehr genieße ich die Vergangenheit.
Hätte mir zu Lebzeiten jemand diese Geschichte erzählt, hätte ich ihn entweder bewundernd und sprachlos angeschaut oder hätte ihn für verrückt erklärt. Wahrscheinlich letzteres. Zu unglaublich und weltfern käme mir solch eine Lebensgeschichte vor – welche ich selbst erleben durfte, erleben musste. Und nun komme ich nicht umhin, sie festzuhalten. Zumindest einige bruchstückhafte Fragmente der Geschichte.
Wie erwähnt, hätte ich solch eine Geschichte zu Lebzeiten vernommen, wäre diese nur schwer zu glauben gewesen. Es zeigt, wie sehr doch Menschen – und nicht nur Menschen – in ihrer realen, weltlichen Logik gefangen sind und selbst das Wundervollste als undenkbar erachten, geschweige denn, dieses Undenkbare als Gelebtes zu denken.
Irgendwo am geistigen Horizont des Geistes beginnt die Dunkelheit, und mir ihr, was nicht mehr zu erkennen und vorzustellen ist. Dort irgendwo fand mein Leben statt.
Aber was nützt ein Leben, wenn es nicht im Bereich des Erkennens und des Lichts liegt, auch wenn es noch so einzigartig und kostbar war? Wo kein Licht, da kein Erkennen; wo kein Wissen durch Erkenntnis, da keine Fragen.
Was also liegt näher, als das Dunkel zu illuminieren, Wissen ins Unwissen und das Undenkbare ins Denkbare zu stoßen.
Selbst, da ich kein menschliches Wesen mehr bin oder lebhaft auf menschlicher Erde, fühle ich mich teils noch recht hingezogen an diese Orte, welche mein so sehr einsames Leben als Mensch einst ausmachten. Und manchmal überkommt mich der Drang, auf Erden zu wandeln.
Es ist so unsagbar schwer zu vergessen, unmöglich, zu verdrängen. Mir ist es gleich, woher diese Anziehungskraft zur einstigen Welt stammt, die mich zu Lebzeiten so sehr emotional und geistig quälte, mich mit endloser Schwermut, Dunkelheit und Melancholie grundlos strafte und mein Leben in einen anhaltenden Schmerz ablaufen ließ, der nur kurz unterbrochen wurde, als ich zwanzig, einundzwanzig war und sie, der feuerhäuptige Engel, in mein Leben trat ... Liebe mit sich brachte ... alles veränderte ... und dennoch alles unverändert ließ.
Damals, mit einundzwanzig, schrieb ich gerade ein Buch, einen Roman, wobei nicht einmal feststand, ob dieses Werk ein Roman werden sollte, da es meine Seele beinhaltete, da es von meiner Seele geschrieben wurde; nein, einfach ein Buch mit Gedanken eines jungen Mannes, sein Leben in der Einsamkeit, sein endloser Kosmos der schwankenden Gefühle, seine Liebe zu einem rotgelockten Engel, die prägender als alles zuvor in seinem kurzen Leben war.
Irgendwann mit einundzwanzig, als der Schmerz der ewigen Einsamkeit, Dunkelheit und Sehnsucht zu schwerlastig wurde, und auch dieser Engel, welchen ich damals abgöttisch mit jeder meiner seelischen und körperlichen Poren liebte, meinem Leben fern blieb, hörte ich eines Tages einfach auf zu schreiben.
Es war kein besonderer Tag, ich glaube, es regnete wie gewöhnlich. Ich vergaß dieses Buch meiner Seele. Erst einige Jahre später, mag sein, dass es drei oder vier waren, fand ich das begonnene Manuskript dieses Werkes wieder, und konnte nicht umhin, noch einige abschließende, vollendende Seiten hinzuzufügen.
Zu diesem Zeitpunkt war ich im Alter von vierundzwanzig. Mein Leben bestand nur aus Leere und Farblosigkeit. Ich lebte eigentlich schon nicht mehr richtig, sondern verbrachte meine Tage in den bittersüßen Erinnerungen an diesen Engel, der ohne Abschied oder sonstigen Schlusspunkt meinem Leben fernblieb. Ich lebte nicht, ich tötete bloß Zeit.
Ich wusste nicht, wieso sie nicht mehr kam, aber meine unbedingte, unschuldige Liebe zu ihr ließ mich die Hoffnung einfach nicht aufgeben. Und so wartete ich.
Die Zeit hatte keinerlei Bedeutung mehr gehabt für mich, und mein Leben spielte sich einzig und allein in einer traumesgleichen Blase statt, in welcher es keine Zeit mehr gab; keine Zeit, nur Erinnerungen an zu kurze gemeinsame Momente mir ihr, dem Engel, dessen Namen ich niemals erfahren habe, und nicht zu vergessen, einen endlosen seelischen Schmerz, der mich ganz und gar ausfüllte, und der auf Sehnsucht beruhte.
So lebte ich, lebte ein Jahr, lebte zwei Jahre ... lebte Jahre irgendwo im Nirgendwo. Dann, irgendwann mit vierundzwanzig fand ich das unvollendete Manuskript dieses besagten Buches, welches den Titel Schmetterlingstraum trug, fügte abschließende Teile hinzu, und gab meinem Leben eine entscheidende Wendung, indem ich diesen geliebt-gehassten Ort verließ, an dem ich weltfern und unwirklich Jahre meines Lebens leblos lebte und wo sich die Begegnungen mit dem rothaarigen Engel ereigneten, die mein ganzes Wesen geformt hatten.
Ich verließ mit vierundzwanzig Jahren diese Schein- und Traumwelt, in der ich zeitlose Jahre meines Lebens wartend und leidend verbrachte, und zog weit weg. Meine Hoffnung, beruhend auf Liebe, gab ich jedoch niemals auf. Zurecht.
Dieses Verlassen war das Aufgeben der Scheune, in der ich lebte, des alten Gutshauses welches gleich daneben stand (und in dessen zweiter Etage, im heiligen Zimmer, ich die wundervollsten Liebesnächte mit dem Engel verbrachte), dazu die menschenleeren Wiesen und Felder, der kleine See, die alte Holzbank am Strand, bei der sich so vieles ereignete, und überhaupt eine ganze Welt, welche mein Leben ausmachten.
Ich verließ meine mir bekannte Welt, meine Traumblase, in der ich Gott und Geschöpf zugleich war, und floh vor mir selbst und vor allen schmerzenden Erinnerungen, und den damit verbundenen Gefühlen, welche mit ihr, dem feuerlodernden Engel, und meiner unerfüllten Liebe im Zusammenhang standen. Was liegt also näher, als von diesem Zeitpunkt meine Geschichte eines Menschenlebens zu beginnen?
Mein Leben davor, insbesondere meine Gedanken, Gefühle, aber vor allem der Beginn der Liebe zum rotgelockten Engel und der alleinigen Geschichte dessen, ist im Buch Schmetterlingstraum niedergeschrieben; niedergeschrieben von mir als Mensch.
Nun also beginnt der Geschichte fortlaufende Niederschrift – von mir als Engel, ein Leben danach – mit dem letzten Satz aus Schmetterlingstraum:
Mein Entschluss steht fest.
Je reifer, älter und klüger ich wurde, desto mehr verzog und steigerte ich mich in die Einsamkeit. Immer deutlicher und klarer wurde das Verständnis für mich selbst, und immer mehr musste ich einsehen, dass ich kein richtiger Mensch war; immer mehr verspürte ich, dass ich nicht nur Mensch allein war, sondern etwas in mir trug, was mich von allem unterschied.
Je tiefer ich in mich selbst und in meinen Geist eintauchte – und dies geschah unweigerlich, ohne dass irgendjemand oder irgendetwas dies aufzuhalten vermocht hätte, nicht einmal ich selbst und mein Wille – desto mehr schwand meine Toleranz für alles und jeden; der Kern meines Wesens verfestigte sich, und andere Formen, welche zu diesen nicht mehr kompatibel und passend waren, wurden von mir nicht mehr akzeptiert, geschweige denn respektiert. Von Respekt konnte in keinem Fall mehr die Rede gewesen sein.
Je intoleranter und eigener ich in meiner Person und Individualität wurde, desto mehr zwang mich eben diese seltene Art von Persönlichkeit den Weg der Einsamkeit zu wählen, und diesen auch zu gehen, indem ich ihn lebte, mit aller Konsequenz.
Mit der geistigen Reife kam auch die emotionale Klarheit, und mit dieser wiederum Verständnis und Einsicht. Die Einsicht, dass alles, was in mir drinnen vor sich ging, von keiner anderen Person verstanden werden konnte.
Diese Einsicht kam zu dem Zeitpunkt, als ich mir eingestehen musste, mich selbst nicht zu verstehen; wer sollte es dann verstehen, wenn nicht einmal ich selbst?
Diese Unverständnis und das grausam quälende Gefühl, gegen Eisblöcke und Steinwände zu reden, zwang mich zum Schweigen, und mit dem Schweigen wurde immer deutlicher der Wunsch in mir zu vernehmen, das Leben in der Einsamkeit sei mein Weg. So wählte ich diesen.
Dahingestellt sei, ob der Weg der Einsamkeit selbst zu wählen sei, oder ob dieser vom allmächtigen Fatum auferlegt wird.
Erst viele Jahre später wurde mir bewusst, dass es in meinem Leben Zeiten und Momente gab, in denen ich verstanden wurde.
Dies war die Zeit meines Alters von Anfang zwanzig, als sie, der so wunderschöne Engel, mein Leben, Denken und Fühlen bestimmte. Und nur mit ihr gab es diese kostbaren, da wahrhaft einzigartigen, einmaligen Momente und Augenblicke, in denen ich sprach – oder nicht sprach ... schwieg ... wortlos mit ihr redete –, diesen Engel ansah und tief in mir dieses Gefühl vernahm, welches mich so deutlich spüren ließ, dass sie mich verstand.
Allein dieser Engel verstand es, nicht einzig die Worte zu verstehen, sondern all den Sinn, den ich in Worte legte, die Welt dahinter.
Wobei oftmals der scheinbare Sinn etwas vollkommen anderes als das Wort zu sein schien – der Engel jedoch konnte zwischen Sinn und scheinbarem Sinn differenzieren und unterscheiden. Ich sah sie an – und wusste es. Sie sah mich an – und wusste es ebenfalls. Es ward uns die Fähigkeit gegeben in des Anderen Herzen, in seinen Geist zu schauen, und dort zu verstehen. Was zwischen Menschen nicht möglich ist, war uns vergönnt.
Ihre Blicke trugen Wahrheit in sich, die sie in mir fand, sie aufsog, und mir als Spiegel meiner selbst wiedergab. Wenn ich sie anblickte, schaute ich mich selbst an; sie war mein Wesen ... in seiner schönsten Form. Sie war ich – ohne dass wir uns gleichen mussten; wir trugen in uns Ergänzung und Anstoß.
Und alles, was sich hinter dieser Brücke durch Blicke zwischen uns verbarg, stellte das dar, was uns niemals wieder auseinander gehen lassen sollte – auch wenn sie, der Engel, mein menschliches Leben nur für einige Momente streifte, und es dann auf immer verließ, als ich im Alter von einundzwanzig Jahren war.
Die Bindung zwischen uns jedoch war nicht an Zeit gebunden. Die Gewissheit, zusammen ein Wesen, ein Ganzes zu sein, stellte die überaus kurze Zeit des Zusammensein als Mensch und Engel im Nachhinein in ein vollkommen anderes Licht. Denn als was betrachtet man Zeit, wenn man erkennt, dass Zeit in manchen Dingen kein beeinflussender Faktor der Sache ist, sondern nur ein leeres und sinnloses Wort?
Stille. Absolute Stille. Der Schnee ringsum lässt keinerlei Geräusche zu und schluckt alles, was zu tönen versucht. Er verwandelt die Welt in einen alles umfassenden Friedhof.
Im wahrsten Sinne des Wortes.
Friedhof.
Das Bedürfnis zum Reden versiegt innerlich, und nichts auf der Welt könnte mich zum Reden veranlassen. Jedes Wort wäre eine Schändung dieser heiligen Stille.
Alles ist dumpf, matt, dunkel, völlig geräuschlos.
Nur die Schneeflocken fallen dicht und dick hinab zur Erde. Geräuschlos. Sie fallen einfach, und jede Schneeflocke ist ein Gedanke, eine Erinnerung.
Ich schwebe weiter. Schweigend.
Und manchmal berühren meine nackten Füße aus Licht den weichen Schnee; ich spüre keine Kälte.
Kein Engel vermag es, Kälte oder Hitze, ins Extrem gesteigert, als Schmerz zu empfinden. Wir spüren schon Kälte und Hitze, jedoch als Empfindung, die nicht weh tut. Wir sind Wesen des Lichts, wir sind Wesen aus Licht, wir sind Licht.
Meine Schwingen schlagen gleichmäßig, ganz ruhig und lautlos. Der Schnee schluckt auch ihre Geräusche. Meine Blicke sind langsam umherschweifend. Die Ehrfurcht vor der weißen Unschuld und Ruhe lässt mich alles mit Bedacht und Langsamkeit ausführen.
Erinnerungen kommen mir in den Sinn.
Als Mensch empfand ich das gesamte Leben, die ganze Welt als unwirklich, surreal und traumesgleich. Ich kann mich daran erinnern, dass ich stets die Angst, aber gleichzeitig die Freude verspürte, wenn ich mir vorstellte, alles sei nur ein Traum, aus dem ich jeden Moment erwachen könnte.
Als Mensch mochte ich die Welt nicht, mochte mein Leben nicht, denn alles war stets mit meist grundloser Qual verbunden, welche mich niemals verließ.
Der Schmerz war zu menschlichen Lebzeiten meine Religion – eine Religion, die ich mir nicht persönlich ausgesucht hatte, sondern welche mir auferlegt wurde, ohne selbst etwas dagegen ausgerichtet gekonnt zu haben. Die Religion des Schmerzes.
...
Irgendwann als ich Anfang zwanzig war, als Mensch, es war ebenfalls Winter und es schneite ebenso, spazierte ich des Nachts die leeren, toten Straßen der Stadt, in deren Nähe ich wohnte, entlang, und blickte nach unten zum Boden während ich lief. Und in diesen Momenten fiel mir auf, wie sehr man sein Leben doch alleinig durch die Richtung des eigenen Blickes verändern und beeinflussen konnte.
Schaute ich davor stets geradeaus, mit stolz erhobenem Haupt, so liebte ich es nun, nach unten zu blicken, während ich ging, egal wohin. Mir waren die Gesichter der Menschen zuwider und ich wollte sie nicht mehr betrachten und anschauen.
Die Menschen tragen ihre Seelen im Gesicht. Und was man dort meist zu erkennen bekam, war teils erschütternd. Ich mied es, sie anzuschauen, wenn es möglich war, und bevorzugte das Leben in der absoluten Einsamkeit, wo ich niemanden sehen musste oder reden. Es kam häufig vor, dass aus meinem Munde tagelang kein einziges gesprochenes Wort kam, tagelang sprach ich manchmal nicht. Und es erlöste mich, da es mich Abstand halten ließ von allem um mich herum.
Zu diesem Zeitpunkt, so sollte ich es erwähnen, hatte ich den rotlodernden Engel, den ich mit aller vorstellbaren menschlichen und nichtmenschlichen Liebe begehrte, bereits etliche Jahre nicht gesehen und lebte nur noch in Erinnerungen an dieses Wesen, mit ihrer außerweltlichen Schönheit, ihrem zartgeschnittenen Antlitz, ihrem weißen Busen und allem anderen ihres einmaligen Lichtkörpers, dessen Duft ich niemals vergessen konnte.
Es gab unzählige Momente der unsterblichen Augenblicke in mir, die ich allesamt wieder und wieder durchlebte, in mir – mein gesamtes Menschenleben lang.
Es war schon merkwürdig wie unglaublich innigst mich die wenigen Monate als Mensch geprägt und zeitlebens verfolgt und gesteuert haben, in denen sie, der Engel, mein Leben betreten hatte und wir unsere Liebe zueinander, von Mensch zu Engel, ausgelebt haben.
Es waren nur wenige Monate, aber die Momente, welche wir schufen, miteinander, voneinander, wurden zum gedanklichen und emotionalen, ja seelischen Fundament meines gesamten restlichen Lebens. Einige Monate reichten aus, um Jahrzehnte, die darauf folgen sollten, mit ihrer Magie und Kraft einzufärben und zu durchtränken. Momente der Erinnerungen, wie wir uns leidenschaftlich geliebt haben, überall, ihre Augen, ihr Duft, der Geschmack ihrer leuchtenden Haut, die Worte, welche gesagt wurden. Nichts war zu Lebzeiten so intensiv, so berührend, so formend und konzentriert, wie diese Momente, in denen der Engel mein Leben mit ihrem leibhaftigen Wesen kreuzte. Seltsamerweise habe ich zu Lebzeiten niemals ihren tatsächlichen Namen erfahren, und redete sie so an, was sie letztlich war: Engel.
Im jungen Alter von einundzwanzig war ich, als dieser Engel, der all meine Liebe, mein Herz und meine Seele gehörte, plötzlich fortblieb und mir nicht wieder erschien, nicht mehr zu mir in meine Welt kam, und für immer fern blieb. Ich dachte ich würde wahnsinnig. Und vielleicht war ich es auch, und wusste es nur nicht.
Man benötigt für etwas, so auch beim Wahnsinn, einen Kontrast und Gegenpol, um dieses Etwas definieren und einordnen zu können; beides besaß ich niemals, das mir gezeigt haben könnte, dass ich wahnsinnig war.
...
Eine Erinnerung an diesen Engel zu Lebzeiten war, wie alle anderen auch, zeitweise, für Wochen oder Monate, besonders intensiv und häufig in meinen Gedanken, und ich durchlebte sie immer und immer wieder erneut.
Es begab sich, dass mich der Engel eines Nachts entführte, aus freien Stücken heraus, was sie manchmal getan hat, und dann mit mir irgendwohin flog, zu einem Ziel, das ich nicht kannte. Wenn man denn vom Fliegen sprechen kann, da es eher eine Art bewegungsloses Gleiten durch die Zeit war, bei dem sich alles bewegte, außer wir uns. Aber ich liebte diese Entführungen über alle Maßen, da sie stets außergewöhnlich waren.
Bei einer diesen Entführungen flog sie mit mir eines Nachts im Winter in eine kleine romantische Stadt im Südosten des Landes; eine Stadt, welche besonders für zwei der ehemals wichtigsten Schriftsteller bekannt war.
Die Stadt lag tief im Schnee und strahlte eine liebevolle Romantik und Verträumtheit aus, die passender zur damaligen Stimmung nicht hätte sein können, und mich noch mehr betörte, als ich es bereits war.
Als wir am Zielort des Engels ankamen, war ich überrascht. Es war ein kleiner, beinah leerstehender, idyllischer Dachboden, der seltsamerweise angenehm warm war. Es brannten Hunderte Kerzen, und ein riesiges weißbezogenes Bett stand vor einem gewaltig großen runden Dachfenster, deren Durchmesser meine Körpergröße überragte, und durch das man einen faszinierenden Ausblick auf diese kleine, schlafende, im Schnee begraben liegende, nächtliche Stadt hatte.
Das Zimmer war durch die vielen Kerzen in weiches Licht getaucht, welches unsere Leiber glühend erleuchten ließ.
Wo die Kerzen und diese mollige Wärme herkam, fragte ich aus Gewohnheit nicht, denn es war für mich selbstverständlich, dass mir durch den Engel Dinge passierten, die rational und logisch nicht zu erklären waren. Ich nahm es als gegeben hin und genoss die Momente mit ihr unbedingt; ohne Fragen zu stellen, denn Fragen vermögen alles zu zerstören, so auch die Schönheit und die Perfektion von Momenten.
Auf diesem riesigen Bett, vor dem gigantischen Rundfenster mit dem Blick auf die Stadt, dem Himmel nahe, liebten wir uns mit aller Gier aufeinander bis in die frühen Morgenstunden hinein, und schliefen dann einander haltend ein. Doch darauf möchte ich nicht hinaus.
Am Morgen jedoch, als ich erwachte, erfolgte dieser eine Moment, an den ich mich noch Jahrzehnte später tief und intensivst zurückerinnerte:
Ich lag, gerade erwacht, im Bett, blickte hinter mir zum Fenster, mattes Morgenlicht schien hindurch, es schneite sehr stark, und in unserem Dachboden war es kühl, und alle Kerzen waren abgebrannt.
Es herrschte eine wundervolle Stille, nichts war zu hören, nur das leise Atmen des schlafenden Engels neben mir im Bett. Ich schaute abermals zum Fenster, sah den lautlos fallenden Schnee und seine weiße Unschuld und endlosen Frieden. Ich lag nackt im Bett und spürte dieses Gefühl von absoluter Geborgenheit, die Schönheit dessen, was ich war, vollkommen rein.
Ich schloss meine Augen wieder und genoss die Augenblicke. Dann durchfuhren mich Myriaden Blitze, Gewitter der Gefühle und körperlicher Empfindungen: ich vernahm das sanfte, aber intensive Gefühl, wie die Fingerspitzen des Engels langsam, ganz langsam und genüsslich, beginnend an meinen Unterschenkeln, höher glitten, über die Rundungen meines nackten Pos, welchen sie so sehr liebte, hinweg über das Kreuz, hinauf zum Rücken und den Schultern.
Dieses schlichte Gefühl des gleitenden Streichelns war es, was sich mir so unendlich tief einprägte, denn alles um mich herum, und vor allen Dingen in mir, kam zusammen zu einem Punkt, welcher mir unvergesslich wurde.
Einerseits war es diese morgendliche Unschuld der Welt, die absolut friedvolle Stille, der stumme fallende Schnee, dann die frische Kühle, welche Reinheit mit sich brachte, dann die Emotionen und Gefühle, neben dem Wesen zu liegen, bei dem ich mich geborgen, seelisch nahe, verstanden, geliebt und zu Hause fühlte, und dessen süßen Duft ihrer Haut, ihrer Haare ich genießend in mich einsog.
Alles in mir war zu diesem Zeitpunkt glücklich, entspannt und mit Seligkeit erfüllt ... und dann dieses überraschende gleitende Gefühl ihrer Hand, ihrer Fingerspitzen auf meinem nackten Leib, wie sie mir über Po und Rücken strich. Dieser Moment des Streichelns hielt die Welt an.
Als sie aufhörte, drehte ich mich langsam zu ihr hin; wir blickten uns an, sprachen nichts, nur Stille, Ruhe und unsere Blicke. Dann liebten wir uns abermals und schenkten einander diesen Rausch aus gieriger Lust und gleichsam tiefster Verbundenheit.
Draußen vor dem Fenster schneite es unentwegt und hüllte die Welt in friedvolles Schweigen. Alles war weiß und rein; die Unschuld wurde mit jeder Schneeflocke, die fiel, verstärkt.
...
Auch jetzt ist es wieder tiefster Winter, und die Welt versinkt im Schnee. Ich schwebe umher und ergötze mich an der puren Schönheit unberührter und menschenleerer Natur. Ich möchte sie umarmen, sie festhalten und ihr danken; alles ist ein Meer aus matten Grau- und Schwarztönen und nächtlichem Weiß. Alles schläft. So ist die Welt am schönsten.
Wieder einmal konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, diese Erdenwelt aufzusuchen, auf der ich solch qualvolle Lebensjahre als Mensch verbrachte, ein Leben voller Entbehrung, Sehnsucht, Einsamkeit und Schwermut; einem Leben, wie ich es niemandem wünsche. Ich habe es gelebt, und das sollte es sein.
Aber all das spielt nun keine Rolle mehr. Die Vergangenheit ist Vergangenheit. Und sollte es auch stets bleiben.
Doch paradoxerweise genieße ich jetzt im Nachhinein die Erinnerungen an dieses vergangene Erdendasein und genieße das Zurückblicken zum Schmerz eines Lebens ... und erkenne erst jetzt, im Nachher, dass alles wundervoll und richtig war, wie es war.
Erst der Lebensschmerz gab meinem Leben als Mensch Wert und Einzigartigkeit. Was ich jetzt ebenfalls erst weiß, jetzt, nach diesem besagten Leben: alles war nur Vorbereitung.
All der seelische und emotionale Schmerz als Mensch ... alles bereitete mich nur auf das vor, was ich jetzt bin ... und somit früher schon war: ich selbst bin ein Engel. Eben so einer, wie sie, der Engel, welchen ich als Mensch mein Leben lang geliebt, vergöttert und vermisst habe.
Ich wurde zu dem, was ich liebte, und wie ich nun weiß, bereits in mir trug – alles war und ist bereits in jedem, und wartet nur auf seine Befreiung.
Als Mensch beschäftigte ich mich viel mit Liebe im weitesten Sinne – so auch der Theorie, da ich die Liebe an sich als Weg zum Sinn des Lebens, der Selbstentfaltung, betrachtete – und oft sagte und schrieb ich, dass die Liebe diese Energie und Macht ist, welche alles überdauert, selbst den Tod. Und ich sollte Recht behalten.
Der Tod, mein Dahinscheiden als Mensch, war nur der nächste Schritt, ebenso wie mein jetziges Dasein als Engel nur ein Schritt auf diesem Weg ist: hin zum Unbekannten. Leben und Tod sind nur Tochter und Sohn, nicht Mutter und Vater.
Da fallen mir Worte des Schriftstellers Stendhal ein:
Ein Jäger gibt in einem Walde einen Schuss ab, seine Beute fällt, er stürzt sich darauf, um sie zu ergreifen. Sein Stiefel stößt gegen einen zwei Fuß hohen Ameisenhaufen, zerstört die Wohnstätte der Ameisen, verstreut die Ameisen weithin, ihre Eier... Die besten Philosophen unter den Ameisen werden nie diesen schwarzen, riesenhaften, schrecklichen Körper begreifen: Der Stiefel des Jägers, dem ein furchtbarer Knall, begleitet von einer rötlichen Feuergarbe, vorangegangen war.
... So wären Tod, Leben, Ewigkeit ganz einfache Dinge für einen, der Organe hätte, weit genug, um sie zu begreifen...
Eine Eintagsfliege wird um neun Uhr morgens an einem Hochsommertage geboren, auf dass sie um fünf Uhr abends sterbe; wie sollte sie das Wort Nacht begreifen?
Gebt ihr fünf Stunden länger zu leben, sie sieht und begreift, was Nacht ist.
...
Als ich als Mensch starb, wurde ich zum Engel, setzte das frei, was schon in mir war ... und nach Jahrzehnten des menschlichen Wartens, der Qualen der Sehnsucht einer unerfüllten Liebe ... vereinte sich doch noch diese Liebe, die als Mensch zu Engel begann: endlich wurde eine Daseinseinigung erfüllt, die sein musste, um zueinander zu finden.
Als Mensch schon erkannte ich, dass diese Liebe von Mensch zu Engel keine Chance, keine Zukunft hatte, da einer von beiden seine Welt hätte aufgeben müssen und gänzlich in die Welt des anderen gehen, um ewig eins zu sein.
Dieser Schritt wurde mit meinem Dahinscheiden menschlicherseits vollzogen: ich verließ meine Welt und begab mich in die neue Welt, in der eine Einigkeit zweier Liebender nun erst möglich wurde: sie war ein Engel, ich wurde zu einem, und beide waren wir in gleicher Welt und Daseinsform.
Ich sollte noch erwähnen, wie verblüffend es für mich war, als nunmehr neuer Engel, festzustellen, dass es meinen Engel, den ich als Mensch ein Leben lang geliebt und vermisst hatte, noch gab, dass sie nicht dahingeschieden war, wie ich es oftmals gedacht hatte; ich liebte sie als Mensch, und liebe sie als Engel nun noch mehr.
Erfreut, aber nicht überrascht, stellte ich fest, dass es ihr in all der Zeit ebenso ergangen war wie mir, all das qualvolle Warten und Entbehren, all die schmerzende Sehnsucht, all die Fragen nach dem wieso und warum ... sie lebte mein Leben in ihrer Welt, in ihrer Form.
...
Die Berührung meines eigenen kalten Marmorgrabsteins ist auf eine gewissen Art wunderschön, da ich mit dem Spüren der Grabplatte weiß, dass der Tod seiner selbst alles wert ist. Auch die Angst vor ihm. Und nun, da ich ihn hinter mir habe, ist es ein gutes Gefühl der Erleichterung, vor meinem eigenen Grab, inmitten der verschneiten Berge und Felder zu stehen und zu wissen: alles war und ist gut. Alles wird gut. Ja, so ist es.
Die ganze Welt scheint verlassen, und meine Faszination für das Flair und die Ausstrahlung einer frisch verschneiten Landschaft hat selbst den Tod überlebt.
Ich genieße es, inmitten der Weiten, in der Nähe des Gehöfts, auf dem ich einst lebte, stillzustehen, stillzuschweben, und mich geräuschlos umzuschauen, um mich an der Schönheit und der spürbaren Unschuld der Natur trunken zu sehen und mich maßlos an dieser Wonne melancholischer Süße zu sättigen. Der Schnee ist ein Zeichen der Macht, die alles schuf, um jedem zu zeigen, dass es noch Reinheit und Unschuld gibt, und ein jeder nicht vergessen sollte, all dieses zu wahren.
Wenn ich schreibe, den mit schwarzer Tinte gefüllten Federhalter in meiner Hand wiege, bin ich ganz und gar Geist, habe keinen Körper mehr, bin nur noch geistiger Strom und Fluss und Fühlen, sonst nichts weiter.
Das Schreiben lässt meine Seele vom Körper trennen, und macht, dass ich ihn, den Leib, verlassen kann, flüchten kann. So war es damals als Mensch, als ich das Schreiben als erdliche Flucht, Droge und Sucht zugleich betrachtete ... und so ist es jetzt, als Engel.
Meine Welt ist eine andere, doch der Effekt des Schreibens ist der selbe: ich bin nur noch Geist, kein Körper mehr, den ich fühlen oder kontrollieren müsste, nur noch Fühlen. Ein Nurnochgeist. Die Hand, welche die Feder führt, ist nicht mehr die meine, sie macht es von selbst, und ich beobachte alles nur mit materielosen Augen – vom Geist durch die Hand aufs Papier.
Das Schreiben kappt das dünne Seil, was Körper und Geist, Leib und Seele zusammenhält, und lässt beides sich selbst genüge und dienlich sein. So ist es auch gut.
Als Engel habe ich die Wahl meines Schreibwerkzeugs im Vergleich zum damaligen Menschsein etwas verändert. Als Mensch schrieb ich stets mit einem klobigen, schwarzen Kolbenfüller, mit weicher Goldfeder und schwarzer Tinte; jetzt als Engel benutze ich meine eigenen Außenfedern der Engelsschwingen, die dann und wann vereinzelt ausfallen.
Dann hebe und bewahre ich sie auf, und mit den schönsten und majestätischsten, so habe ich es mir angewöhnt, bevorzuge ich es, zu schreiben. Nur der Docht muss etwas gespitzt werden, dann in schwarze Tinte getaucht. Ich komme selbst als Engel nicht los von diesen beiden wundervollen Farbpolen des Schwarzen und Weißen; die Pole alles Machbaren vereint zu einer Harmonie, die alles in sich zulässt – und mit weichen Bewegungen sanft über das Papier dirigiert wird.
Der Stil des Schreibens, das Wie, ist die Stimulans und Motivation des Fühlens, Worte zu Papier zu bringen; der Genuss, der damit in Verbindung steht, ist Agens und Lohn zugleich, als Mensch und als Engelswesen. Das zuletzt beschriebene Blatt bleibt stets noch eine Weile auf dem Platz seiner Schöpfung liegen.
Das Medium ist die Nachricht. So auch beim Schreibwerkzeug.
Mit das Faszinierendste ist es, als Engelswesen festgestellt zu haben, dass ich alle Erinnerungen, die ich durch das Leben als Mensch erfahren habe, als Engel weiterhin in meinem Geist habe.
Eine Zunahme um ein Leben, eine Daseinsform. Nichts ging verloren, kein Teil des Fühlens; alles blieb erhalten und wurde nur weitergereicht in die nächste Art des Seins. In mir. Es ist schwierig zu beschreiben, da ich es selbst als Engel nicht vermag, die Fähigkeit eines (weltlichen oder nichtweltlichen) Schriftstellers mein eigen zu nennen.
Am nächsten kommt es dem Gefühl, aus einem Traum zu erwachen ... und man kann sich an den gesamten Traum erinnern, an jede noch so nebensächliche Kleinigkeit, und ist nicht mehr in der Lage, irgendeinen Fakt dieses Traumes zu vergessen. Der Traum wurde gelebt, und der Traum existiert in seiner ganzen Größe im eigenen Geist weiter. Ein Traum, der ein ganzes Leben umspannte, von der Geburt bis hin zum Tod. Ein Traum, der nur einen Moment lang dauerte ... einen zeitlosen Moment ... eine Ewigkeit. Eine Ewigkeit, deren sättigendes Zugleich weiter als Alleserlebtes im Geist, im Fühlen, in der Seele existiert ... ohne vergessen werden zu können.
Ich war Mensch – und nun ist Ich ein Engel. Und alles, was Ich war, ist Ich auch weiterhin. Ich ist immer Ich gewesen, wird immer Ich sein. Mit dem Unterschied, dass es weiterhin Gelebtes aufsaugt und als Geschehenes und Erinnerung in sich behält und wächst, endlos.
Der Kern meines Wesens als Mensch ist gleichsam Kern meines Wesens als Engel. Und jetzt erst, wo ich so lange schon als Engel bin und lebe, weiß ich, dass sich meine damalige Vermutung als Mensch bewahrheitet hat: schon als Mensch war ich Engel. Der Engel steckte bereits überdeutlich in mir und drängte hervor, ließ mich als Mensch von den Menschen abstoßen und unterscheiden. Beides war bereits in mir. Dies erklärt meine lebenslange Fremdheit auf Erden.
Alle Erinnerungen, die ich als Mensch hatte, habe ich weiterhin in mir, lebe und erlebe sie immer und immer wieder in mir lebendig, all das Fühlen als Mensch, all der Schmerz des Seins, die Schwermut und Dunkelheit.
Meine Vermutung, dass ich als Mensch nicht nur einzig und allein Mensch in meinem Wesen war, trieb mich zeitlebens dazu, dieses alleinige Dasein eines Menschenlebens zu verachten und zu verabscheuen. Es drängte mich stets eine Sehnsucht zum Tode hin, und mit dieser verbunden eine Hoffnung, diese rätselhafte Vermutung aufzuklären. Es war so unsagbar qualvoll zu spüren, ja zu wissen, dass das menschliche Dasein nicht das einzige, und somit nicht das wertvollste war.
Als Mensch zu wissen, nicht nur Mensch zu sein, nahm all die menschlich-allzumenschliche Lebensnaivität und Hoffnung, die ein Mensch zu einem glücklichen Leben benötigt. Dazu brannte die Flamme des Anderen bereits zu stark in mir.
Der Engel in mir war bereits zu deutlich – eine Fehlentwicklung, die etwas, einen Schritt, eine Stufe der Entwicklung meines alles umfassenden Seins vorwegnahm, zu früh einsetzen ließ ... und mir dadurch den Schritt des Seins als Mensch gänzlich verdarb und ungenießbar machte, und dieses Leben als Mensch mir als einzigen alles ausfüllenden gewaltigen Seelenschmerz vorkommen ließ, der mir nur in diesen wenigen Stunden genommen wurde, in denen der rothaarige Engel zu mir kam und wir beisammen waren, als wir miteinander fühlten, redeten, liebten ... lebten.
Aber diese Stunden und Momente waren so selten, und auch nur über einen kurzen Zeitraum verteilt. Und was waren einige Monate eines Menschenlebens im Verhältnis zu diesem gesamten Leben mit seinem Zeitraum von so vielen Jahren und Jahrzehnten?
Nüchtern betrachtet kaum erwähnenswert, vielleicht wie ein Regentropfen im Ozean. Aber dieser Tropfen sollte durch seine Intensität und Einzigartigkeit in allen Belangen, besonders die des Fühlens und der Liebe, prägender sein als alles andere in folgenden Lebensjahren und -jahrzehnten. Die unerfüllte Liebe zum Engel begleitete mich mein ganzes Leben lang und strafte mich für meine Liebe zu ihr, indem ich gepeinigt und geplagt wurde vom Schmerz des Daseins.
Die wenigen Monate, in denen der Engel, dessen Namen ich nicht kannte, mein Leben versüßte und erfüllte, ließen mich in ihren Armen, an ihrer weißgleißenden Brust etwas verspüren, was ich niemals wieder in meinem menschlichen Leben verspüren sollte: ein Gefühl, daheim zu sein, oder wie auch immer man es auch nennen mag. Nur in ihren Armen, an ihrer Brust fand ich für einige wenige Lebensmomente eine Heimat. Heimat! Und als sie bald darauf für immer meinem Leben fernblieb, verlor ich diese – meine! – Heimat, in der ich mich geborgen und zuhause fühlte.
In den Jahren und Jahrzehnten die danach folgten, fühlte ich mich stets und ständig heimatlos, ungeborgen, fremd, verloren. Ich fühlte mich nicht in diese Welt gehörig, die mir so unverständlich und schlecht erschien. Im Leben litt ich unter dem daraus resultierenden unsagbaren Heimweh, qualvollen und zerreißenden Heimweh.
Schlimmer noch war das Wissen darüber, dass es keinen Ort, keinen Platz auf jener damaligen Welt gab, an dem ich mich heimisch, aufgehoben und verstanden fühlen konnte, da ich wusste, dass dieser Ort einzig und allein in den Armen des Engels war. Und ich war nur ein Mensch, ein Mensch in einer fremden, befremdenden Welt, die mir als schlechteste aller Welten erschien.
Mein ganzes Leben lang suchte ich nach einem ersetzenden Ort, den ich ebenso Heimat heißen konnte. Es war ein erfolgloses Unterfangen, ich sollte ihn niemals finden, wobei mich stets dieses qualvolle Wissen plagte, dass es diese so sehr gesuchte und herbei gesehnte Heimat doch gab. Nur eben nicht auf jener Welt. Und ich wusste, wie sie aussah, was sie war, wie sie roch, wie sie sich anfühlte. Und dennoch hatte ich als Mensch keine noch so kleine Chance, in diese Heimat vorzustoßen, da ich nicht wusste, wo mein Engel, meine Welt war. Ob sie überhaupt noch war. Meine Sehnsucht nach ihr, der all meine Liebe gehörte, und der Heimat, die sie für mich darstellte, ging niemals von mir.
Ich war im Alter von einundzwanzig, die Jahre vergingen, und in den letzten Jahren meines Lebens auf der Erde war diese Sehnsucht in all ihrer maßlosen Größe und Intensität immer noch ungebrochen in mir, und hatte mich besiegt, mich bezwungen, mir so unzählige Male das Herz gebrochen, mich so oft weinend und schreiend zusammenbrechen lassen.
Als meine letzten Momente des Lebens herankamen und der Tod vor mir stand, fühlte ich mich erleichtert und glücklich darüber.
Es hat lange gedauert, bis mich der Tod endlich erlöst und aus dem Menschsein befreit hatte. Mein ganzes Leben hatte ich diesen Moment erwartet, ihn so unzählige Male herbei gesehnt. Und als es endlich soweit war, fühlte ich mich frei und besonnen.
Ich starb ohne Angst. Meine langen Haare waren bereits aschgrau, ebenso mein Bart. Die Zeit hatte ihre Spuren hinterlassen. Aber in meinen Augen glühte die Vorfreude, die mein ganzes Leben lang angehalten hatte, ungebrochen vom Schmerz.
In dem Moment, in dem ich einsam, alt und allein in meinem Haus starb, explodierte in meinen Augen eine wilde, entfesselte, unkontrollierbare Euphorie der Vorfreude, der Unbeherrschtheit und des Glücks. Ich wusste, ich würde nun nach Hause heimkehren, an den Ort, an dem ich seit so langer Zeit schon sein wollte und mein ganzes Leben darauf gewartet hatte.
Der Tod kam und ein seliges Lächeln erstreckte sich über mein, vom Leben gezeichnetes, graubärtiges Gesicht. Dann erlosch das Glühen in meinen Augen und aus ihrer tiefen Unergründlichkeit wurde trüber Nebel.
Der Moment des Sterbens war ein guter. Er spielte sich in zwei Ebenen, zwei Sphären ab, die sich parallax verschoben. Körper und Geist sterben nicht im gleichen Augenblick.
Der Geist stirb genau genommen überhaupt nicht, sondern verlässt nur den Leib, die Hülle, in dem er für ein Leben lang gefangen war. Es trennt sich, spaltet sich ab, lässt los.
Ich muss dazu erwähnen, dass das Sterben in keinster Weise mit Schmerz und Qual verbunden war. Das Leben tat viel mehr weh.
Der Geist verließ den Körper, noch ehe er den Schmerz des sterbenden Körpers, der sterbenden Organe wahrnehmen konnte.
Als die Organe aufhörten zu funktionieren, zu existieren, war der Geist und was man als Mensch weithin als Seele bezeichnet, längst dem Körper entwichen, ohne den Schmerz des organischen Aufhörens und Stillstehens erleiden zu müssen.
Das geistige Auge der Seele betrachtete sich selbst – ich betrachtete mich selbst, als mein Körper, der ich kurz zuvor noch war, dahinschied und verstarb. Ich selbst sah mich sterben, und es tat in keiner Weise weh.
Ganz im Gegenteil. Diese bewusste Erfahrung war gut, die ganze währende Zeit über verspürte ich ein umhüllendes Gefühl der Wärme. Alles war schützendes Licht, das mich liebevoll und sanft ummantelte und streichelte, behutsam, mit so viel Liebe und Zuneigung. Und ja, ich selbst war dieses Licht.
Jetzt, im Nachhinein, kann ich sagen, dass der Tod und das eigene Sterben der großartigste Teil des Lebens war. Das Leben war der eigentliche Schmerz gewesen. Nicht der Tod war es, was weh tat. Es war das Leben.
Es gibt so viele Erinnerungen, an denen ich mich liebend gern wieder und wieder labe, sie in mir auferstehen lasse, sie neu gebäre, großziehe, sie lebe und vergehen sehe. So vieles, was erzählt werden sollte, aber nicht erzählt werden darf, aus Gründen der Pietät und des eigenen Wertes des Wesens, was ich bin.
Manche Dinge sollten nur diejenigen in sich tragen, die es leibhaftig erleben durften; spricht man es aus, verliert so vieles an Wert und Kostbarkeit ... oder aber gelangt erst durch seine Aussprache in den Besitz dieser wundervollen Einzigartigkeit; es kommt ganz auf das Geschehene an.
Oft stellt sich nur die Frage, ob das bereits Erlebte, die Vergangenheit, kostbarer und wertvoller ist als das Geschehen, was das Jetzt und den Moment ausmacht. Es kommt ganz auf deren Ansicht an, denn wie in allem, so gibt es auch hier nichts Festes, nichts Stillstehendes oder Starres. Und so ist es gut.
Zu Lebzeiten als Mensch verband ich stets die Klänge Chopins, namentlich seine Nocturnes, Albinonis, Pärts, Bruckners und Beethovens, mit den kurzen, aber umso maßlos hochwertig und einzigartigen Momenten und Geschehnissen, die ich mit dem Engel durchlebte.
Nun jedoch, als Engel, haben ebenso die Stücke Mozarts tiefste Wirkung und verzaubern meine Gedanken und Gefühle, reißen sie hinfort ins längst Vergangene und lassen das Damals zum Jetzt auferstehen.
Mich hat es überrascht, dass selbst die Wesen der Engel die klassische Musik der Menschen innigst lieben. Ton bleibt Ton, Harmonie bleibt Harmonie, Musik bleibt Musik. Aber wie sollte es auch anders sein, da die, welche diese Musik schufen, nun diejenigen sind, welche sie wahrnehmen.
Als ich den Engel zum ersten Mal traf, der einst als Mensch Chopin war, nahm es mir kurz die Sprache, und meine Federspitzen zuckten kontrolllos, ebenso erging es mir bei Beethoven, Pärt oder eben Albinoni, mit dem ich oft über meine Erinnerungen als Mensch zeitlose Stunden hindurch sprach, und ihn oft für sein menschliches Werk dankte, da seine, aber nicht nur seine, Musik Speicherschwämme meines menschlichen Lebens sind.
Chopin konnte dieses Lob nicht mehr hören und lachte nur etwas schelmisch, da ich längst nicht der Einzige war, der ihm endlos Dank zusprach.
Nach diesem Vorfall redete ich nie wieder davon, denn mir erschien es plötzlich so, wie es war: selbst einst menschliche Größen wie Albinoni, Pärt oder Chopin waren in der jetzigen Welt der Engel Wesen wie ich selbst auch. Denn wie ich später erfahren sollte, wurden nur einige Menschen zu Engeln.
Meist waren es diejenigen, welche als Mensch Neues schufen, die Menschen damit weiterbrachten, neue Welten schufen als Künstler, und welche der ehrlichen Fähigkeit des Fühlens und Empfindens habhaft waren, und als Mensch einzig für das Schaffen und das Fühlen lebten. Menschen, die etwas schufen, was es bisher nicht gab. Sie wurden zu dem, was sie nun in dieser Welt sind.
Erstaunlich ist auch, dass ein Großteil der Engel, welche einstmals Mensch war, und mit denen ich nun lebe, zu menschlichen Lebzeiten meist frühzeitig, infolge des eigenen Lebensstils, frühzeitig verstarben. Mir war dies leider nicht vergönnt gewesen.
Es scheint, als seien diese schaffenden Menschen, welche unter Menschen als Außenseiter betrachtet werden, nur Engel im Exil, die den Engel in sich verspüren, und mit diesem Gefühl in sich nicht menschlich Leben können und nach einer Erlösung streben ... durch eigenes Schaffen: Kunst, Liebe, Tod.
...
Eine von Mozarts Stücken, das Menuett-Allegro der Kleinen Nachtmusik, ruft in mir immer eine spezielle Erinnerung wach.
Es war Sommer, ich war einundzwanzig, und spazierte mit meinem geliebten rotgelockten Engel in diesem einen gewaltig großen Park umher, welcher in der Nähe der Stadt lag, der sich nächst meiner einsamen Scheune befand, in der ich zu jener Zeit lebte.
In diesem Park gab es ein riesiges prachtvolles Schloss, gestrichen in beige-cremigen Farben. Es hatte unzählige Fenster, vier große Türme, und war ganz und gar im verspielten Barockstil gehalten.
An der Südseite des Schlosses, die zu einem kleinen See hinzeigte, gab es eine großflächige, mit Kieselsteinen belegte Hoffläche, die mit kunstvollen Blumenbeeten umzäumt war. Auf ihr standen drei verzierte Holzbänke im selben Stil, welche sich direkt unter den großen, in die Höhe strebenden, Fenstern des Festsaales des Schlosses befanden.
Eines Nachts, so begab es sich, es war wunderbar mild und die warme Luft streichelte zärtlichst, spazierten sie, der Engel, und ich auf diesem Vorplatz des Schlosses und hörten durch die Fenster des Festsaales des Schlosses hindurch Mozarts Kleine Nachtmusik.
Über uns prunkten endlos Sterne und nur Mozarts sanfte Klänge erfüllten die Sommernachtsluft. Alles war dunkel, und nur ein matter Lichtschein fiel durch des Festsaals Fenster, illuminierte uns jedoch nicht. Wir blieben im schützenden Dunkel verborgen, neben einer der Holzbänke stehend. Dann und wann hörten wir eine Ente quaken, und da sich dieses Quaken stets gleich und nach einer Entenfrau anhörte, nannten wir sie Gina.
Mozarts Kleine Nachtmusik umhüllte uns, und verzauberte durch und durch. Wir standen einfach nur da, hörten die schwebende Musik, hielten uns und genossen diese Momente.
Ich konnte nicht anders, als sie weiter forschend zu berühren. Alles um mich und in mir forderte mich dazu auf, mein Fühlen zu offenbaren, und so glitten meine warmen Hände unter den durchsichtigen Gazeschleier, mit dem der Engel stets umhüllt war, und erforschten ihren schimmernden Körper. Sie schwieg genießend. Nur Nacht und Mozart und Sterne. Und Wärme.
Sie blickte mich mit so viel Liebe und Erfüllung an, was selbst in diesem nächtlichen Dunkel zu sehen war. O, wie habe ich sie schon als Mensch geliebt, diesen rothaarigen Engel!
Bald standen wir entblößt unter freiem Himmel vor den Fenstern des Schlosses, aus denen unaufhörlich Mozarts Klänge tönten, küssten uns gierig und ließen allem seinen freien Lauf. Ein Bein stützte sie auf die Bank, neben der wir verweilten. Wir standen Bauch an Bauch, glühend, aneinander, und ich war in ihr. Und da war es wieder, dieses unglaubliche Gefühl, welches ich nur bei diesem Engel in mir vernahm, dieses Gefühl absoluter Erfüllung und Seligkeit; ich fühlte durch meinen Körper in meinen Geist, und doch war ich körperlos. Und so liebten wir uns im Stehen, mit langsamen, intensiven Bewegungen, ohne Hast, mit aller Zeit der Welt. Das Licht ihres Leibes war Körper, und spürbar wie ein solcher.
Mozarts Klänge wurden zu Farben, diese zu farbigen Gebilden, welche um uns tanzten und schwebten. Außer diesem gab es nur noch sie und mich, die wir ein Ganzes waren.
Als wir auseinander flossen, breitete sie wieder ihre gewaltigen weißsilbrigen Schwingen aus, so majestätisch und stolz, und die Spitzen ihrer Außenflügel entspannten sich mit einer welligen Bewegung nach innen zu und entschlafften sich von der Anspannung der Erregung. Wie ich diesen Anblick liebte! Ihr Blick trug alles Glück in sich. Sie war Spiegel meines Fühlens.
Nacht. Wärme. O Liebe!, du warst das Einzige auf der Welt, wofür es sich zu leben lohnte.
Es kam mir vor, als erfüllte die Hitze meines glühenden Stromes ihren ganzen Lichtschein und brachte ihn zum Glimmen. Ja, sie glühte und leuchtete, ihr Leib war von einem heiligen Schimmern umhüllt, der auch mich in sich einschloss, und uns selbst zum Stern werden ließ, welchen wir durch uns selbst berühren durften.
Alles war wieder zeitlos, nur Fühlen, Wonne, Nacht, Tiefe, schwebende Musik, Glück ... alles war endlos scheinend, ganz und gar ohne Grenze, ohne Zeit, ohne alldem .. alles war, wie es sein sollte, und letztlich auch ist: unendlich. Wie die Liebe selbst, die zwei Seelen über Leben, Welten und Wesensformen hinweg verbindet, immer und immer wieder den Anderen suchen und finden lässt.
Bevor der Engel in mein Leben trat, also vor meinem zwanzigsten Lebensjahre als Mensch, und ich in Beziehung stand, vermied ich eine seelische, emotionale Bindung. Ich vermied, es meine Seele zu öffnen und ungeschützt preis zu geben. Alles, was ich damals wollte, war keine seelische Liebe. Ich wollte mein Wesen, meine geistige Person, nicht offen darlegen und mich innerlich berühren lassen. Was mit meinem Körper geschah, war vollkommen gleich, mein Innerstes jedoch war mir wichtiger als alles andere, es sollte unschuldig und unantastbar bleiben – diesen Zustand ich schaffte, aufrecht zu erhalten, und mich gleichsam in ewige Abgründe der Einsamkeit stieß ... bis der Engel in mein Leben trat.
All die Beziehungen, die ich vor dem Engel hatte, mit denen ich näher zu tun hatte, waren Wesen, deren Welt, die sie für mich darstellten, ferner nicht sein konnten. Da machte auch die körperliche Nähe keinen Unterschied; emotional und seelisch lagen stets Welten dazwischen. Ich vermied es stets bei einer Person, die mir auf diese Weise fremd war, in die Augen zu schauen. Ich konnte es nicht, und wollte es nie.
Dies lief bis zu einem Punkt: Alles änderte sich, als der Engel meine Liebe an sich zog, in jederlei Hinsicht! Bei ihr, dem rotgelockten Engel, verhielt es sich ganz und gar umgekehrt: ich wollte meine Seele so weit es mir möglich war, offenbaren, offen darlegen, ohne Scheu, ohne Scham, ohne falsches Spiel, einfach nur das Wesen wollte ich sein, was ich war, meinen Geist, meine Gefühlswelt und innere Persönlichkeit eben so darstellen.
Ich war es leid, mich in mir selbst zu verstecken, zu verkriechen und mich selbst, mein Sein zu mir selbst, einzugestehen, nicht nur den Schein. Ich wollte, dass sie mein Herz berührt, es in all seiner klaren Wahrheit und Größe sieht, und es sanft umschließt, um es letztlich zu formen. Was sie auch tat.
Plötzlich gab es für mich selbst in mir keine Grenzen mehr, keine Scheu, keine Scham, was mein Innerstes anbelangte. Alles wollte nur noch heraus aus mir, wollte hinausströmen, wollte explodieren, um zu zeigen: das bin ich! Für dich!
Sie lehrte es mich, meine Seele loslösen zu lassen und sich mit der ihren zu vereinen, sie lehrte es mich, dass meine Seele erst der eine Teil war. Der andere war sie, sie allein und nichts und niemand anderes, und erst zusammen, vereint, war man das, was man sein sollte und stets bestrebt, dieses zu erreichen, ein Ganzes, eine Einheit.
Mir konnte es, seit es sie für mich gab, keine Offenheit zu offen sein, keine Bloßlegung zu bloßgelegt. So auch beim Betrachten des Gegenübers. Ich konnte meine Augen nicht mehr von den ihren ablassen. Sie war zum Weinen schön! Wir schauten uns unentwegt an, nur ihr Blick in den meinen und meiner in dem ihren, beide liebten wir es, sich endlos im Blick, in den Augen des Anderen zu verlieren und ganz das Wesen des Anderen zu werden, ja, der Andere zu sein. Mit dem Blick, durch den Blick in den Anderen, zum Anderen als Anderer! Wenn wir uns liebten, schauten wir uns an, was die Explosion in Maßlose hinaufsteigerte.
Einige Jahre, nachdem ich den rothaarigen Engel das letzte Mal sah, ich war beinahe dreißig und hatte mich innerlich von der gesamten Menschheit losgelöst, und lebte in dieser Weise in vollkommener seelischer Einsamkeit in meiner eigenen kleinen Gefühlswelt aus Erinnerungen und Träumen, wurde mir eines besonders bewusst, was im Laufe der Jahre und Jahrzehnte, die danach folgen sollten, zum Kraftquell und zur Hoffnung wurde: ich spürte in mir, dass das, was den Engel und mir wiederfahren war, unsere einmalige Welt der gemeinsamen Emotionen, unsere Magie, welche stets entstand, wenn wir beieinander waren, ein heiliges Geschenk war, welches einfach kein Ende zuließ.
Ich wusste, es sollte kein Ende für uns geben, und dass sie sich so qualvoll lange Zeit nicht bei mir sehen ließ, bedeutete ebenso wenig einen Schlusspunkt, ein Ende. Ich war mir sicher, dass es ein Wiedersehen, Wiedererleben, Wiedervereintsein, eine Weiterführung unserer Einigkeit geben würde. Ich wusste nicht, wann dieses Wiedersehen sein sollte, ob in Monaten oder Jahrzehnten, auch wusste ich nicht, wo und wie dies geschehen sollte, aber ich spürte fest in mir, es würde es geben! Diese Gewissheit besaß unsagbare Tiefe, etwas Absolutes. Es konnte nicht anders sein.
Ich ging in meinen Überlegungen und Fantasien auch soweit, dass ich mir ausmalte, dass dieses Wiedersehen in einer anderen Welt geschehen würde, einer Welt, die ein Beieinander zulassen würde. Auf jeden Fall würde es ein Morgen geben, ein gemeinsames Morgen.
Diese Zuversicht und Hoffnung gab mir ein Ziel, dieses qualvolle schmerzende Sein und Leben als Mensch mit Würde, mehr oder weniger, zu führen und durchzustehen.
Dieses gemeinsame Morgen war alles, was ich wollte, egal wo, in welcher Welt, in ihrer, in meiner oder in einer gänzlich anderen, mir war es gleich. Auch spürte ich in mir, dass dieses Wiedersehen große Veränderungen und Umbrüche mit sich bringen würde, für beide, den Engel und mich. Aber bis dahin sollte eine lange Zeit vergehen, genaugenommen, ein Menschenleben: mein eigenes.
Konnte es sein, dass, so fragte ich mich oft, alle weltlichen und außerweltlichen Ereignisse und Geschehnisse, die ich als Mensch mit meinem so sehr begehrten Engel erlebte, durch Liebe entstanden, vollzogen und durchgeführt bis zum Schluss, nichts anderes waren als ein Test auf das, was ich selbst glaubte zu sein, aber am meisten für sie, was sie glaubte, was ich bin, als Mensch, tief, tief in mir?
Die Nacht auf dem Dachboden habe ich überlebt. Ja, auch die Liebe muss man überleben. Selbst das ist ein gewaltiger Erfolg. Nicht nur bei schlechten Dingen, wie Zorn, Wut, Hass. Die Nacht mit ihr, dem Engel, in jener kleinen Stadt, Kerzen, Myriaden Kerzen, explosives Wahrnehmen, Fühlen, sie. Ich habe jene Nacht überlebt ... wie ich viele dieser Geschehnisse der scheinbaren Vollkommenheit des Fühlens, zusammen mit meinem Engel, überlebt habe, diese ganze Seite des Daseins überlebt habe, die Liebe überlebte habe. Oft schien es mir, als sei die Liebe es, welche das schönste, verführerischste und wundervollste Gesicht, nein, nicht des Lebens, des Todes war.
Jeder seiner Momente der Liebe ist andersartig schlimmer und qualvoller als einer ihrer Gegenteile. Und die Liebe als solche ist verführerisch, reizvoll und süchtig machend wie Mephisto im Faust.
Jahrzehnte, nachdem die Liebesnacht des Engels auf dem kerzenerleuchteten Dachboden stattfand, suchte ich noch einige Male diese kleine, romantische Stadt auf, sah überall die Büsten und Statuen Goethes und Schillers, fand das Haus wieder, in dem sich der besagte Dachboden befand, und genoss das Baden in Erinnerungen, als ich ihn abermals beschritt. Nur diesmal allein, alt; aber auch dieses Mal habe ich überlebt. Mehrmals.
Das Haus mit dem besagten Dachboden war leerstehend, als ich es in meinen späteren Lebenstagen wieder besuchte; leerstehend, beinahe verfallen, niemand bewohnte es und die Türen standen offen. Überall Schmutz und Staub, Dreck vieler Jahrzehnte.
Ich ging die knarrenden Holzdielen mehrere Stockwerke hinauf und öffnete die Tür zum Dachboden. Dunkelheit. Keine brennenden Kerzen. Aber direkt vor mir das große runde Dachfenster, mit Sicht auf die verschlafene Stadt.
Ich liebte mein Leid, dieses bittersüße Wohlgefühl der längst vergangenen Momente der Erinnerungen ... der Duft meines Engels, der süße Sex ... und besuchte die Stadt nur stets Anfangs eines Winters, wenn es begann zu schneien, wie einstmals, was der Stadt ihre Magie verlieh ... durch die Kraft der eigenen Erinnerungen an jede Sekunde des gemeinsamen Miteinander mit ihr, dem Engel.
Totenstill und allein stand ich hin und wieder inmitten des alten dunklen Dachbodens. Nichts ringsum mich herum, nur Schmutz und Schwärze ... und das runde, kathedralähnliche Fenster, welches mich sanft mit seinem Schimmer einnahm. Ich breitete die Arme aus. Schloss die Augen.
Und da war sie wieder, die Magie des Hohen Fühlens. Für einige Bruchteile von Sekunden. In mir sah ich die Myriaden flackernder Kerzen, spürte die mollige Wärme des Dachbodens, roch den betörenden Duft ihres Wesens, ihrer roten Haare, ihrer Pforte, hörte ihre flüsternde Stimme, ihren schweren Atem, ihr Bild des lustvollen Aufbäumens des Leibes – o, ich vermisste und genoss diese Momente so sehr. Zu Lebzeiten sollten sie sich nicht noch einmal erfüllen. Ihre Blicke, der glitzernde Engelsstaub in ihnen, das wollüstige Zittern ihrer Federspitzen ... und das Gefühl, als sie mir am Morgen nach dieser, im wahrsten Sinne himmlischen Nacht, liebevoll mit ihren Fingerspitzen Po und Rücken entlang glitt. Energie, unendliche Spannung und Entladung, ja, so hochkonzentrierter Genuss des Empfindens, der Nähe.
Wenn ich die Augen wieder öffnete, war nichts mehr da. Nur die schlafende, meist verschneite und totenstille Kleinstadt, das runde Dachbodenfenster, mit dem königlichen Blick auf sie, und die schreiende Dunkelheit um mich herum. Kälte. Nacht, nur ich und niemand anderes, alt und vom Geschehen des längst vergangenen Damals gezeichnet, und in die absolute seelische Einsamkeit gezwungen.
Sie, die Liebe, war ein Tier, welches mich auffraß, immer und immer wieder, wie Prometheus am Felsen, die Pein am lebendigen Leibe, bei vollem Bewusstsein aufgefressen zu werden. Die Erinnerungen an die Liebe, und somit an die Pein des Gefressenwerdens, ließ mich in den Jahren des Alterns verkapseln: der Schmerz schmiegte sich liebevoll wie ein eiserner Mantel im meinen weichen, offennervigen Kern aus Anbetung und Offenbarung, und umhüllte ihn mit seiner harten Kruste, auf dass ich für niemanden mehr im Herzen erreichbar sein sollte und mich abschied von der Welt draußen.
Die harte, scheinbar und unscheinbar undurchdringbare Schale um meinen Kern aus Liebe zum Engel wurde durch nichts mehr durchbrochen; sie war der Schmerz, der mich erhielt: das Leben, das Lieben. Und in sich drinnen begann sie, die Liebe, sich selbst zu verdauen, wie ein Organismus aus Fleisch und Blut, geschützt von der Schale des seelischen Leides.
Irgendwann mit Ende zwanzig sah ich es ein, dass ich an einem Punkt angelangt war, an dem die Einsicht mit gleichzeitiger Resignation einsetzte.