Schönbuchrauschen - Dietrich Weichold - E-Book

Schönbuchrauschen E-Book

Dietrich Weichold

4,7

Beschreibung

Kommissar Kupfer leiht seinem Freund OW - kurz für Otto Wolf - das neue Citybike für eine spätherbstliche Tour durch das Goldersbachtal. Frohgemut strampelt OW durch den menschenleeren Schönbuch - bis sein Ausflug jäh an einem Grillplatz endet, wo ein Toter auf der Bank sitzt. Es stellt sich heraus, dass hier ein äußerst bizarrer Mord begangen wurde. Das Opfer wurde mit mehreren ungewöhnlichen Methoden zugleich getötet - als hätte der Täter mehr als sicher gehen wollen. Die Recherchen des Böblinger Kriminalkommissars ergeben dann allerdings auch das Bild eines nicht ganz unschuldigen Opfers, dessen kriminelles Doppelleben und wechselnde Liebschaften ihre Spuren hinterlassen haben. Mit Hilfe von Facebook und Daten über Geldtransfers Aktiengeschäfte per Internet wird der Kreis der Verdächtigen immer kleiner. Da bringt sich OW im Eifer, seinem Freund bei den komplizierten Ermittlungen behilflich zu sein, selbst in höchste Gefahr ...

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Dietrich Weichold

Schönbuchrauschen

Dietrich Weichold

Schönbuchrauschen

Ein Baden-Württemberg-Krimi

Dietrich Weichold, geboren 1944, studierte in Tübingen Germanistik und Anglistik. Bis zu seiner Pensionierung 2008 unterrichtete er Deutsch, Englisch und Spanisch an verschiedenen Gymnasien in Tübingen, Madrid und Rottenburg. Neben kleineren Veröffentlichungen für den Schulgebrauch sind bisher auch einige Kriminalromane von ihm erschienen. Er lebt mit seiner Frau in Ammerbuch-Entringen.

1. Auflage 2013

© 2013 by Silberburg-Verlag GmbH,

Schönbuchstraße 48, D-72074 Tübingen.

Alle Rechte vorbehalten.

Lektorat: Michael Raffel, Tübingen.

Umschlaggestaltung: Christoph Wöhler, Tübingen.

Coverfoto: © Benbatt – iStockphoto.

E-Book im EPUB-Format: ISBN 978-3-8425-1606-9

E-Book im PDF-Format: ISBN 978-3-8425-1607-6

Gedrucktes Buch: ISBN 978-3-8425-1279-5

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www.silberburg.de

Erster Teil

1

Reifenquietschen, ein ohrenbetäubender Knall, Poltern und Klappern vieler Kisten und Flaschen, die auf der Straße aufschlagen, Klirren, Zischen – alles begleitet von den kreischenden Bremsgeräuschen des Bierlasters. Er kommt in der ansteigenden Rechtskurve zum Stehen. Hinter ihm und vor ihm auf der Gegenfahrbahn das jähe Abbremsen der Pkws. Ein Kleinwagen schafft es nicht mehr und rammt den Lieferwagen vor sich. Motoren werden abgestellt. Ein Moment Stille. Dann schnelle Schritte von allen Seiten.

Glasscherben knirschen unter Schuhsohlen, zerbrochene Flaschen werden auf die Seite geschoben. Bierdunst steigt vom Asphalt auf. Um den schwarzen Golf GTI, der unter dem Laster eingeklemmt ist, bildet sich eine Menschentraube. Handys werden gezückt, 110 und 112 wird gewählt.

»Er ist viel zu schnell in die Kurve gefahren.«

»Dort hat es ihn hinausgetragen, und dann hat er zu stark gegengelenkt.«

»An die kommt man nicht ran. Ohne Schneid- und Spreizgerät nichts zu machen.«

»Leben die noch?«

»Schwer zu sagen.«

Eine Frau wendet sich ab und übergibt sich am Straßenrand.

Die Polizei ist zuerst da. Zwei Polizeiautos. Der Verkehr wird umgeleitet. Zeugenaussagen werden notiert. Der Fahrer des Bierlasters steht unter Schock und wird im Polizeiwagen betreut. Feuerwehr, Rettungssanitäter und Notarztwagen kommen kurz hintereinander an die Unfallstelle.

Scheinwerfer werden aufgestellt. Während die Feuerwehrmänner die Verletzten freischneiden, bereiten die beiden Rettungssanitäter den Abtransport vor und informieren die Klinik: zwei Schwerverletzte, bewusstlos, großer Blutverlust, OP vorbereiten.

»Meinst du, die kommen durch?«

»Der Beifahrer vielleicht. Ob’s der Fahrer noch lange macht? Ich weiß nicht.«

Nach weniger als einer halben Stunde werden die Verletzten in die Klinik eingeliefert.

2

Er wusste, wo der Schlüssel lag. Das ließ ihm keine Ruhe. Es war schon gegen elf, als er hundemüde vom letzten Einsatz nach Hause kam. Er hängte seine Sanitäterjacke an den Haken, streifte die Schuhe ab und nahm eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank. Er setzte den Flaschenöffner an, dann verharrte er und schaute versonnen vor sich hin. Dann stellte er das Bier wieder zurück. Nein, heute lieber keinen Alkohol, sondern Kaffee. Er machte auf seinem Gaskocher Wasser heiß und goss sich einen großen Becher Pulverkaffee auf. Dann lehnte er sich auf dem Sofa zurück, legte die Füße auf den Tisch und pustete mit geschlossenen Augen über die Tasse. Mehrmals nippte er hastig an dem heißen Getränk und spürte, wie sich wohlige Wärme in seinem Körper ausbreitete, vom Rücken abwärts über die Oberschenkel, die Knie, bis in die Füße hinein. Nach einer Weile schlug er die Augen auf und setzte sich aufrecht hin. Er schaute sich um, als wäre er gerade in einem fremden Zimmer aufgewacht, und seine Behausung kam ihm erbärmlich vor. Das abgewetzte Sofa mit der undefinierbaren Farbe, das er sich vom Sperrmüll geholt hatte, die alten Stühle noch aus Großmutters Zeiten, dazu der billige Tisch, das ganze Gerümpel, dem man auf den ersten Blick ansah, wie mühsam er es zusammengetragen hatte. Manchmal schaffte er es, sich seine Wohnung schönzureden, wie überhaupt sein Leben. Aber wenn er so erschöpft war wie jetzt und die Bilder der Unfallopfer nicht loswurde, sah er alles nur noch grau in grau.

Plötzlich setzte er mit einer energischen Bewegung den Kaffeepott ab, so dass etwas über den Rand schwappte, und stand auf. Er bereitete sich ein Abendessen zu aus Schwarzbrot, Fleischwurst und billigem Streichkäse, das er hastig verzehrte. Er machte große Bisse und spülte sie mit dem restlichen Kaffee und einem Glas Leitungswasser hinunter. Seine Gedanken waren nicht bei seiner Mahlzeit, und er war überrascht, als plötzlich nichts mehr auf dem Teller war. Er stand auf und ging zwei Schritte in Richtung Kühlschrank. Dann zögerte er. Er legte die rechte Hand auf den Magen und schaute auf die Armbanduhr: halb zwölf. Er holte den Wecker und stellte ihn auf ein Uhr. So lange wollte er noch warten. In voller Montur machte er sich auf dem Sofa lang und löschte das Licht.

Er schloss die Augen, legte die Hände über der Brust zusammen und versuchte, langsam, tief und gleichmäßig zu atmen. Jetzt wollte er nur an seine Atemzüge denken, nur durchatmen und entspannen, vielleicht sogar ein wenig wegdämmern. Aber dann hätte er den Kaffee nicht trinken dürfen. Sein Puls war zu schnell. Über neunzig Schläge in der Minute. Er begann, seine Atemzüge zu zählen, wie er es oft tat, wenn er nach einem Einsatz nicht einschlafen konnte, weil er die Bilder nicht loswurde. Anfangs hatte er gedacht, dass er mit der Zeit nicht mehr so viel mit heimnehmen würde, wie man bei ihnen sagte, aber da hatte er sich getäuscht. Von einem schlimmen Verkehrsunfall nahm er immer etwas mit heim, das ihn bis in den Schlaf und oft auch darüber hinaus verfolgen konnte. Und der Griff zur Flasche, den er sich heute nicht erlaubte, verwischte die Bilder allenfalls etwas, konnte sie aber nicht ganz auslöschen.

Heute war er noch nicht einmal aus dem Rettungswagen gestiegen, da wusste er schon, wer das Unfallopfer war. Er kannte die Autonummer: BB-FL 1976. Kein Zweifel, es war der GTI von Flipp.

Flipp war zu schnell gefahren. Er musste die Rotenwaldstraße in den Stuttgarter Westen wild hinuntergerast sein. Allem Anschein nach war sein Golf am Scheitelpunkt der letzten scharfen Linkskurve nach rechts ausgebrochen, worauf er zu stark gegenlenkte und auf der linken Spur schräg unter einen Lastwagen fuhr. Der Aufprall war so heftig gewesen, dass auch die Airbags ihn nicht hatten schützen können. Die Masse des Lkws hatte die Karosserie wie eine Nussschale geknackt, und Flipps Oberkörper war wie ein Käfer zerquetscht worden. Er gab ihm eigentlich keine Chance mehr. Seinen Beifahrer, ohnmächtig und schwer verletzt, hatten sie ebenfalls in die Notaufnahme des Marienhospitals gebracht. Wenn einer von beiden durchkommen würde, dann er.

Ob er nun die Augen öffnete oder schloss, immer sah er das völlig demolierte Auto mit den blutüberströmten Unfallopfern vor sich. Die Bilder quälten ihn.

Als der Wecker klingelte, fuhr er hoch. Obwohl es ihm war, als hätte er sich die letzte Stunde nur von einer Seite auf die andere gewälzt, musste er doch etwas geschlafen haben. Er stand auf und ging ins Bad. Er spülte seinen Mund aus und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht.

Dann schaute er aus dem Fenster. Es war noch nebliger geworden, ungewöhnlich neblig für die Jahreszeit. Er zog seinen Anorak an und setzte sich eine wollene Dockermütze auf, die knapp über seinen Augenbrauen saß und die ganze Stirn bedeckte. Darüber schnallte er seinen Fahrradhelm und griff nach seinem Rucksack. Als er schon an seiner Wohnungstür war, kehrte er noch einmal um. Aus dem Regal hinter der Küchentür, wo alles Mögliche durcheinanderlag, nahm er ein kleines Werkzeugset und steckte es in seinen Rucksack.

Leise schloss er die Tür hinter sich. Er blieb stehen und lauschte. Es war so still, als wäre er allein auf der Welt. Wie auf Katzenpfoten schlich er die Treppen hinunter, öffnete im Zeitlupentempo die Haustür und trat hinaus. Weiter als hundert Meter konnte man nicht sehen. Umso besser. Lautlos schloss er sein Fahrradschloss auf und zog das Rad aus dem Ständer, dann trat er in die Pedale. An der Ecke schaute er noch einmal zurück. Der schwache Schein der Straßenlaterne drang kaum durch den Nebel. Er konnte sein Wohnzimmerfenster fast nicht mehr erkennen. Es war genauso dunkel wie alle anderen Fenster des Hochhauses.

Er fuhr schnell, so dass ihm warm wurde. Den kalten Fahrtwind spürte er nur in den Augen.

Als er vom Postplatz in die Gegend unterhalb des Krankenhauses hinauffuhr, schaltete er auf den kleinsten Gang herunter und ließ sich Zeit. Er wollte nicht schwitzen und nicht außer Atem kommen. In einer kleinen Seitenstraße, wo ein paar Büsche ihre Äste über den Zaun hinweg auf den Gehweg streckten, stieg er ab, schloss sein Fahrrad an der dunkelsten Stelle an einen Gartenzaun und ging zu Fuß weiter. Es begegnete ihm niemand.

Er dachte an seine zufällige Begegnung mit Flipp. Neulich erst war es gewesen, in den letzten Augusttagen beim Stuttgarter Weindorf. Nach einer Frühschicht hatte es ihn an diesem schönen Tag nicht gleich nach Hause gezogen. Er wollte das schöne Wetter genießen und fuhr von Degerloch in die Stadt hinunter. Im Weindorf brodelte das Leben. Zwischen der Alten Kanzlei und dem Rathaus drängten sich gutgelaunte Menschen um die Stände, prosteten einander zu und amüsierten sich. Allein kam er sich etwas verloren vor. Seine Kollegen hatten Dienst oder waren im Moment nicht erreichbar, und bis zu Lauras Feierabend waren es noch Stunden. Ziellos schob er sich durch die Menge, ohne sich zu irgendetwas entschließen zu können.

Er hätte Flipp an dem Tisch an der Ecke des Rathauses glatt übersehen, wenn der ihm nicht nachgerufen hätte.

»Theo! Theo!«

»Hallo Flipp! Dich habe ich ja ewig nicht gesehen.«

Flipp war in Begleitung eines Kollegenpaars.

»Was für ein Glück, dass ich dich jetzt gerade treffe. Die beiden wollen nämlich schon heimgehen, und ich habe absolut keine Lust, hier allein herumzustehen. Und nach meiner Wohnung ist mir’s jetzt noch nicht.«

Theo fand Flipps unerwartete Herzlichkeit etwas überraschend, was er sich aber nicht anmerken ließ.

»Okay, ich kann dir gerne ein bisschen Gesellschaft leisten.«

»Theo Krumm oder der krumme Theo«, stellte ihn Flipp seinen Bekannten vor. »Wir haben einmal kurze Zeit miteinander studiert, ehe Theo plötzlich meinte, Pfarrer werden zu müssen.«

Theo konnte dazu nur säuerlich lächeln.

»Theo hat Theologie studiert?«, fragte die junge Frau amüsiert. »Sie sind Pfarrer?«

»Nein, daraus wurde nichts. Ich bin Rettungssanitäter und bin gespannt, was sonst noch aus mir wird.«

»Interessant. Eine offene Zukunft. Aufregend, oder?«

»Ab und zu mal«, tat Theo das Thema ab und machte eine resignierte Handbewegung.

Das Paar verabschiedete sich.

»Setz dich hierher, ich hole uns was«, sagte Flipp, verschwand für einen Moment und kam mit zwei Gläsern Rotwein zurück.

»Lass stecken. Ich gebe einen aus«, sagte er, als Theo nach seinem Geldbeutel griff.

»Also gut, danke. Aber dann zahle ich …«

»Kommt gar nicht in Frage. Heute will ich mir einen gönnen; mir ist’s einfach danach. Lass dich halt einladen.«

Schon beim ersten Glas erzählte er, dass sein Vater im letzten Jahr gestorben war und seine Mutter in einem Pflegeheim gut untergebracht sei.

»Weit weg«, fügte er hinzu, als Theo ein betretenes Gesicht machte. »Ich muss sie nicht jedes Jahr besuchen. Wahrscheinlich kennt sie mich ohnehin nicht mehr.«

Theo wusste nicht, was er dazu sagen sollte, und betrachtete schweigend sein Henkelglas.

»Guck nicht so, als ob das dein Problem wäre«, lachte Flipp und boxte ihm leicht auf den Bizeps, »das ist ja nicht mal meins.«

»Aber du hast doch eine Menge Verwaltungskram an der Backe.«

»Ich? Wieso denn? Das läuft alles irgendwie von allein. Ich konzentrier mich ganz auf meinen Facharzt.«

»Und dann steigst du voll ein. Wann denn?«

»Das steht noch lange nicht fest. Ehrlich gesagt, weiß ich noch nicht einmal, ob ich das wirklich will. Wahrscheinlich ist es angenehmer, noch ein paar Jährchen in aller Ruhe Wissenschaft zu machen und nicht gleich Praxischef zu spielen. Meine jetzige Situation lässt sich gut aushalten.«

Theo konnte sich nicht so recht in ihn hineindenken, was Flipp schnell bemerkte.

»Aber das muss ich dir jetzt auch nicht alles erzählen. Und wie geht es dir ganz privat, sozusagen im Intimbereich?«

»So lala. Das willst du sicher nicht hören. Wie läuft’s bei dir?«

»Na ja, wie das halt so ist, wenn die Partnerin sich mit einem Stipendium für ein Jahr oder länger nach Massachusetts zurückgezogen hat. Da bist du froh, wenn du zwischendurch mal eine Krankenschwester ins Bett kriegst.«

Theos Brauen zuckten zusammen, aber ehe Flipp ihn recht ansah, hatten sich seine Züge wieder entspannt.

Dann bestellte Flipp Rostbraten für beide und dazu noch einen Rotwein, aber diesmal vom besseren, wie er betonte. Er schwärmte von den Weingütern Württembergs, die sich inzwischen sogar einen internationalen Namen gemacht hatten, redete von Stettener Pulvermächer, Fellbacher Lämmler, Untertürkheimer Gips, Rotenberger Schlossberg und anderen Lagen, von denen Theo noch nie gehört hatte. Und es sei auch ganz phantastisch, erzählte er begeistert, dass sich in den letzten Jahren auch eine entsprechende Gastronomie entwickelt habe, die »auf diese neuen Spitzenweine genau zukoche«, wie er sich ausdrückte. Da bestellte man sich nicht mehr den Wein zum Essen, sondern das Essen zum Wein. Das sei geradezu ein kulinarischer Paradigmenwechsel.

Dann hatten sie von gemeinsamen Bekannten geredet, Erinnerungen ausgegraben und waren, leicht angeheitert, einander fast so nahe gekommen wie damals, als sie sich gemeinsam auf das Vorphysikum vorbereitet hatten.

Als sie gegessen hatten, meinte Flipp, jetzt sollten sie nicht mehr länger hier in dem Gewusel sitzen bleiben.

»Ich kaufe noch was Anständiges zu trinken, dann fahren wir zu mir. Da bist du ja auch schon beinahe daheim.«

Theo stimmte zu. Der Tag war ohnehin gelaufen, und er hatte nichts Besseres zu tun. Mit zwei Flaschen Spätburgunder Spätlese vom Großheppacher Kopf fuhren sie nach Böblingen und verbrachten den Rest des Tages bei Flipp.

Sie saßen in Liegestühlen auf Flipps kleiner Terrasse und schauten über die Stadt hin.

»Du lebst hier wie Gott in Frankreich«, hatte Theo gesagt, nachdem er das letzte Glas geleert hatte und sich auf den Heimweg machte.

Er fand den Weg, als wäre er erst gestern hier gewesen. Vorsichtig öffnete er das Gartentor, das in den niederen Jägerzaun eingelassen war, lehnte es hinter sich wieder an und betrachtete das Haus. Still und dunkel lag es vor ihm, nichts regte sich. Er schlich über die Steinplatten auf den Eingang der Parterrewohnung zu. Er kniete nieder und drückte mit der Hand vorsichtig auf die Steinplatten, die an die Hauswand grenzten, und fand die lose Platte sofort.

»Schau mal weg«, hatte Flipp damals spaßhaft gesagt und ihm die Rotweinflaschen in den Arm gedrückt. Und Theo hatte sich umgedreht, als wollte er den Blick auf die Stadt genießen. Dabei hatte er aber zurückgeschaut und beobachtet, wie Flipp mit der Fußspitze auf eine der roten Sandsteinplatten trat, die direkt an der Hauswand lagen. Die Platte kippelte und hob sich an der einen Seite. Flipp zog einen Schlüssel darunter hervor und sagte: »So einen großen Schlüssel kann man nicht immer mit sich herumschleifen. Ich will schon lange ein anderes Schloss einbauen lassen, aber glaubst du, ich komme dazu? Wenn ich daran denke, habe ich keine Zeit, und wenn ich Zeit habe, denke ich nicht daran. Daher das Versteck.«

»Sehr geheim«, hatte Theo lachend gesagt, »ich habe nichts gesehen.« Dabei hielt er sich die gespreizten Finger vors Gesicht und kicherte albern.

»Nein, du hast rein gar nichts gesehen. Aber wenn irgendwer in nächster Zeit meine Bude ausräumen sollte, dann hätte ich schon eine Ahnung, wer dahinterstecken könnte.«

»Da wärst du aber im Irrtum. Dazu hätte ich viel zu viel Schiss. Und so was täte ich im Leben nie.«

»Im Leben nie«, sagte er vor sich hin. In wessen Leben, war die Frage. Sein Leben oder Flipps Leben, für das er keinen Pfifferling mehr gab? Und er wollte die Bude schließlich auch nicht ausräumen.

Er hielt den Atem an. Unendlich langsam und sachte ließ er die Sandsteinplatte kippen und griff darunter. Aber als er den Schlüssel in seinen Fingern fühlte, zog er wie erschrocken seine Hand zurück. Er holte ein Paar Latexhandschuhe aus der Brusttasche seines Anoraks und streifte sie sich über. Er ließ die Platte noch einmal kippen, holte sich den Schlüssel und brachte sie wieder in ihre vorherige Position. Dann stand er auf und atmete leise durch.

Erst als er den Schlüssel ins Schloss stecken wollte, bemerkte er, wie stark seine Hand zitterte. Er musste mit seiner Linken seine Rechte festhalten, damit er den Schlüssel geräuschlos ins Schloss stecken konnte, und führte mit der einen Hand die andere beim Aufschließen.

Er atmete erst auf, als er im Wohnzimmer stand. Kurz mussten sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnen. Dann tastete er sich in kleinsten Schritten zu den Fenstern hinüber und zog im Zeitlupentempo die Gardinen zu. Nun konnte er den Lichtschein seiner Stablampe durch den Raum schweifen lassen.

Der Lichtkegel huschte über das Musikregal. Es reichte vom Boden bis zur Decke, nahm eine ganze Wand ein und bot Raum für ein paar tausend CDs, Jazz und Klassik, alles nur vom Besten, auch ein bisschen Popmusik. Flipp musste Tausende in diese Sammlung investiert haben. Als Theo das erste Mal hier gewesen war, hatte er staunend davorgestanden. So viel Musik konnte man doch im Leben nicht hören.

»Ich habe auch noch längst nicht alles gehört. Aber es ist schön, diese Aufnahmen zur Hand zu haben, wenn man sie hören will. Nur komme ich in letzter Zeit gar nicht mehr dazu. Einfach zu wenig Zeit! Trotzdem ist es schön, sein Geld für so etwas auszugeben«, hatte Flipp gesagt.

»Und ich bin schon froh, wenn ich mir ab und zu das leisten kann, was ich momentan unbedingt hören möchte«, hatte Theo trocken geantwortet.

»Ja, ich bin schon in einer beneidenswerten Lage«, schloss Flipp das Thema ab. Er hatte wohl gemerkt, dass seine letzte Bemerkung nicht sehr glücklich gewesen war.

Theo hatte gestaunt, wie wohlgeordnet die Sammlung war. Flipp war ja schon immer ein ordentlicher Mensch gewesen. Alles musste bei ihm seine systematische Ordnung haben, schon allein, weil er ja nicht alles im Kopf haben konnte, wie er stark übertreibend gesagt hatte.

»Ich schreibe mir alles auf, aber auch alles«, hatte er erklärt.

»Das würde mir nichts nützen. Ich würde meine Zettel nur verlieren oder könnte mich nicht daran erinnern, wo ich was aufgeschrieben habe.«

»Aber das ist doch sehr einfach«, hatte Flipp ihn zu belehren versucht. »Du nimmst dir ein Notizbuch mit einem guten Register, das kannst du an jeder Ecke kaufen, und der Rest ist Gewohnheit. Was du dir merken musst, trägst du ein. Glaub bloß nicht, dass ich meine ganzen Codes und Passwörter im Kopf hätte. Im PC natürlich erst recht nicht, du weißt ja nicht, wer dich da ausspionieren kann. Nein, auf gutem altem Papier, schwarz auf weiß, und du bist auf der sicheren Seite.«

»Und wenn du dein Papiergedächtnis verlierst?«

»Das verlier ich nicht. Das kommt mir nicht aus dem Haus.«

Wo war es also, das Papiergedächtnis? Wie sah es aus? Ehe er nach den Ordnern in dem niederen Regal neben dem Schreibtisch griff, setzte er sich hin und zog die Schublade auf. Voilà: ein dickes rotes Notizbuch mit Register. Er machte Stichproben. Einträge zu Amazon, Ebay, Facebook, Homebanking – alles vollständig. Er lachte vor sich hin. Es war ja alles so leicht, kinderleicht!

Im schmalen Lichtkegel seiner Stablampe glitzerte Schweiß auf seiner Hand. Jetzt erst merkte er, wie warm es in dem Zimmer war. Er war nass unter den Armen und spürte ein Bächlein sein Rückgrat entlangrinnen. War es nur die Wärme oder auch die Anspannung? Er lockerte seinen Schal und nahm den Fahrradhelm und die Dockermütze ab. Dann griff er nach dem Ordner mit der Aufschrift »Finanzen«.

Wie sollte er jetzt all diese Dokumente lesen? Dazu hatte er weder die Zeit noch die Nerven. Er schickte den Lichtstrahl auf die Suche und entdeckte unterm Schreibtisch den Drucker, der auf einem Rollwägelchen stand, eines dieser neueren Modelle mit integriertem Scanner und Kopierer. Er zog ihn hervor, schaltete ihn ein und kopierte Blatt um Blatt, was dieser Finanzordner enthielt.

Er hatte sich bis zur Registerkarte »Homebanking« vorgearbeitet und lächelte genüsslich wie einer, der endlich sein Weinglas füllen konnte, nachdem er sich heftig mit dem Entkorken der Flasche hatte abmühen müssen. Homebanking – das war es doch. Keine Überweisung handschriftlich ausfüllen zu müssen, völlig ohne Unterschrift auszukommen, das war die Einladung, auf die er gewartet hatte. Doch da fiel sein Blick auf ein Schreiben der Bank, das einen neuen TAN-Generator betraf. Die lange Liste unbenutzter Transaktionsnummern, die er eben hatte kopieren wollen, nützte ihm gar nichts mehr. Stattdessen, so stand es in dem Schreiben, musste für jeden Vorgang mit diesem kleinen Gerät eine neue Nummer generiert werden. Das würde die Sicherheit erhöhen. Er spürte einen Kloß im Hals und musste erst einmal schlucken. Da er bei seinen beschränkten Verhältnissen bisher auf Homebanking verzichtet hatte, hatte er von einem solchen TAN-Generator noch nie gehört und wusste auch nicht, wie so ein Ding aussah. Aber die Bank verwies auf ihre Homepage. Dort könne man sich informieren. Und das tat er auch. Im Notizbuch fand er das Passwort des PCs und fuhr ihn hoch.

Das Video auf der Homepage der Bank zeigte ihm, wie der TAN-Generator aussah. Jetzt sah er ihn. Das Apparätchen lag direkt vor seiner Nase neben Flipps Schreibzeug. Er hatte es nur nicht erkannt. Selbstironisch grinsend griff er danach und wollte es in die Tasche stecken. Da zog er die Stirn kraus. So etwas hatte er eigentlich nicht mitnehmen wollen. Doch ohne diesen TAN-Generator würde es nicht gehen. Aber wenn der verschwand, mussten auch alle Hinweise auf Homebanking verschwinden. Er nahm alles, was Homebanking betraf, samt der Registerkarte aus dem Ordner und legte es zu den Kopien. Dann kopierte er den Rest.

Diese gleichmäßige Tätigkeit beruhigte ihn. Aber es war inzwischen gegen drei. Und wie immer, wenn er um diese Zeit wach war, bekam er Hunger. Er musste schnell etwas essen. Er fand den Weg in die kleine Küche. Im Kühlschrank stand eine angebrochene Flasche Chablis und eine Packung Räucherlachs, auch diese schon geöffnet. Er streifte die Handschuhe ab, griff nach der Packung und schob sich die Lachsscheiben zusammengedrückt in den Mund. Mit dem Handrücken wischte er sich das Fett von den Lippen. Dann setzte er die Weinflasche an den Hals und nahm einen langen Zug.

Als er die Kühlschranktür schloss, wurde er auf seine Fettfinger aufmerksam. Mit dem Ärmel seines Anoraks versuchte er, ihre Spuren zu verwischen, ehe er ins Bad ging, um sich die Hände zu waschen. Eben wollte er den Wasserhahn aufdrehen, als die Toilettenspülung im Stockwerk über ihm ging. Er hielt inne und rührte sich nicht, bis er meinte gehört zu haben, wie eine Tür geschlossen wurde. Dann drehte er den Hahn nur ein klein wenig auf, wusch sich die Hände, streifte ein neues Paar Latexhandschuhe über und ging an den Schreibtisch zurück. Das gebrauchte verwahrte er in seiner Hosentasche. Jetzt erst, als er sich das zweite Mal an Flipps Schreibtisch setzte, fiel ihm der kleine Silberrahmen mit dem Foto auf, der unmittelbar hinter dem Monitor an der Wand hing: das glamourös gestaltete Schwarzweißporträt einer jungen Frau. Über ihre bloße Schulter lächelte sie dem Betrachter mit einem verführerischen Augenaufschlag zu. Ein ovales Gesicht mit einem energischen Kinn, über den vollen Lippen eine gerade Nase mit zarten Nasenflügeln, weit gestellte Augen, deren Größe mit Wimperntusche und Lidschatten betont war. Ihr dunkelblondes Haar war kurz geschnitten, so dass man ihre großen Ohrringe sah. Nur eine kleine freche Strähne fiel in die Mitte ihrer Stirn. Theo erkannte sie sofort, obwohl sie sich sehr verändert hatte: Judith Schwenk. Aus dem langhaarigen Schulmädchen im Schlamperlook, das nie einen Friseursalon von innen gesehen hatte, war eine höchst attraktive, gepflegte Frau geworden. Theo war unangenehm überrascht, hier ihr Foto zu finden, und fühlte bittere Eifersucht in sich aufsteigen. Länger, als er wollte, blieben seine Augen an dem Foto hängen. Er ärgerte sich über diese Ablenkung, nahm in einer plötzlichen Anwandlung den Rahmen von der Wand und warf ihn in den Papierkorb. Dann kopierte er weiter.

Als er mit den Dokumenten aus dem Finanzordner fertig war, kroch er unter den Schreibtisch zum Telefonanschluss und zog den Stecker heraus. Dann stellte er den PC auf den Schreibtisch, schraubte das Gehäuse auf, entfernte die Festplatte, die er in seinem Rucksack verschwinden ließ, und gab dem PC sein vorheriges Aussehen zurück. Er stellte ihn genau in seine alte Position zurück.

Er rollte das Bündel Kopien zusammen, machte einen Klebstreifen darum – auf diesem Schreibtisch fehlte es wirklich an nichts – und steckte die Rolle unter seinen Anorak. Dann saß er einen Moment still, ehe er nach dem Ordner »Versicherungen« griff. Auch dort wurde er fündig: Es gab einen Durchschlag eines Versicherungsantrags mit Flipps Unterschrift. Jetzt musste er nur noch den Montblanc mit der Goldfeder einstecken, der parallel zur Schreibunterlage lag, wie er lächelnd bemerkte, und war gerüstet.

In aller Ruhe trat er den Rückzug an. Mit sicherer Hand schloss er die Wohnung ab und legte den Schlüssel unter die Sandsteinplatte zurück. Nur traute er sich nicht, direkt zum Gartentor zurückzugehen, denn er konnte die Fenster der Obergeschosse von seiner Position aus nicht sehen. Wie sollte er wissen, ob nicht jemand oben am Fenster stand, vielleicht eben die Person, die kurz zuvor auf der Toilette gewesen war? Schrittchen für Schrittchen drückte er sich an der Breitseite des Hauses entlang bis zu der Ecke, die dem Zaun am nächsten war. Dort bot ihm eine ausladende Eibe Sichtschutz. Er stieg über den niederen Jägerzaun. Ohne jemandem zu begegnen, gelangte er zu seinem Fahrrad zurück.

Es war schon gegen halb vier, als er vor seiner Wohnung ankam. Irgendein Nachtwandler im zweiten Stock hatte Licht gemacht. Er hoffte, ihm nicht im Treppenhaus zu begegnen, zog die Schuhe aus und lief, immer gleich zwei Stufen nehmend, fast geräuschlos zu seiner Wohnungstür hinauf. Er keuchte, als er die Tür hinter sich geschlossen hatte. Seinen Anorak mit den Kopien und dem Notizbuch warf er auf das Sofa, ließ seine Kleider fallen, wo er gerade stand, und holte sich das Bier aus dem Kühlschrank. Er öffnete die Flasche und trank sie auf einen Zug halb aus. Dann legte er sich ins Bett. Bleierne Müdigkeit überkam ihn. Er konnte gerade noch den Wecker stellen, dann sank er in Tiefschlaf.

Gegen zehn Uhr rief er bei seiner Dienststelle an.

»Es geht mir nicht gut. Ich habe mich heute Nacht immer wieder übergeben müssen. Ich weiß nicht, womit ich mir den Magen verdorben habe … Morgen vielleicht auch nicht. Lieber nicht … Ja, dann bis übermorgen. Da bin ich wohl wieder fit.«

Dann zog er die Bettdecke über die Ohren und schlief aus. Erst am frühen Nachmittag kroch er aus den Federn und machte sich etwas zu essen. Schon während seiner einsamen Mahlzeit begann er mit dem Studium von Flipps Finanzen, indem er jedes Dokument genau durchlas und sich ein paar Notizen machte.

Den Rest des Tages lag er auf seinem Sofa, hörte Musik, träumte und ruhte aus, was er nach den Anstrengungen des Vortags und der Nacht wirklich verdient zu haben meinte.

Nur am frühen Abend strengte er sich für eine halbe Stunde richtig an. Er versuchte, sich mit Flipps Montblanc vertraut zu machen, indem er die Unterschrift auf dem Versicherungsantrag immer wieder kopierte: F. Lipp. F und Li nachzumachen, schien ihm auf den ersten Blick nicht so schwer zu sein. Anders die letzten beiden Buchstaben. Flipp hatte sie so verkümmern lassen, dass man auch Fliyy oder Fligg hätte lesen können. Und dann musste natürlich der Druck stimmen. Flipp hatte sein F mit solcher Energie hingesetzt, dass sich die Feder leicht gespreizt hatte, und bis zum zweiten p hatte der Druck immer stetig abgenommen. Das würde noch ein paar Trainingsstunden kosten, aber egal. Er musste es auch nicht heute schon schaffen. Und mit dem beachtlichen Fortschritt, den die ersten hundert Versuche zeigten, konnte er schon zufrieden sein.

Am nächsten Morgen war er bereits um sechs Uhr auf. Er duschte, wusch seine Haare, rasierte sich sauber und glatt und schlüpfte in seinen einzigen Anzug. Er schlackerte etwas an ihm herum. In letzter Zeit war er etwas mager geworden und hatte den Anzug schon lange nicht mehr getragen, geschweige denn eine Krawatte. Aber heute musste es wohl sein. Mit skeptischem Missfallen betrachtete er die paar Schlipse, die immer noch an der Innenseite der Schranktür hingen. Sie waren völlig aus der Mode gekommen.

»Furchtbare Lappen«, sagte er vor sich hin.

Mit denen würde er keine gute Figur machen. Er würde sich unterwegs einen kaufen.

Noch ehe es ganz hell war, saß er in seinem alten Polo und fuhr auf der A 81 nach Süden.

»Im Leben nie«, sagte er so laut, als säße ein Gesprächspartner neben ihm. Lachend schüttelte er den Kopf und schnalzte leise mit der Zunge, als hätte ihm jemand eben eine unglaubliche Geschichte erzählt. Dann schaltete er das Radio ein und sang mit, wenn er irgendwie konnte. Er kam ganz gut voran. Nur die Baustelle auf der Neckartalbrücke verlangsamte den Verkehrsfluss, dann aber ging es flott weiter.

Als er bei Engen in den Hegau hinunterfuhr, war klare Sicht. In zartem Orange leuchteten die Spitzen der Alpen. Die Schweiz, das Land der schönen Berge und Banken, wo er sich eine schicke Krawatte und ein Nummernkonto aneignen würde, grüßte freundlich herüber.

Zweiter Teil

1

OW war auf Probefahrt. Er hatte sich von seinem Freund Siggi Kupfer dessen neues Fahrrad geliehen, weil er daran dachte, sich ebenfalls eines zu kaufen, und zwar eines, das er fahren könnte, bis er achtzig würde. Aber ein E-Bike sollte es nicht sein. Es ging ihm nicht darum, per Rad von A nach B zu kommen – er hatte schließlich ein Auto –, sondern um die Anschaffung eines Trainingsgeräts, das ihn nicht überfordern würde.

»So eins wie meins: mit ultratiefem Einstieg, Siebengangschaltung und vor allem mit Rücktritt, halt ein Citybike«, hatte Kupfer gesagt.

»Was soll ich in der City?«

»Du musst damit nicht in die City. Das hat dicke Reifen. Mit dem kannst du auch bequem durch den Wald fahren.«

Genau das tat OW.

Es war Anfang November, aber trocken und mild. Die Laubfärbung war immer noch prächtig, und nach ein paar grauen Hochnebeltagen war heute schon am Morgen die Sonne durchgebrochen, so dass es OW nicht zu Hause hielt.

»Heute probier ich endlich Siggis Rad aus.«

»Aber ohne mich«, sagte Emma. »Ich mag mich nicht schinden.«

»Ich schinde mich nicht. Ich fahre gemächlich durch den Wald«, sagte OW bestimmt.

»Durch den Wald?« Emma war skeptisch. »Bis du im Schönbuch oben bist, hast du keine trockene Faser mehr am Leib.«

»Ich kann auch schieben.«

»Und wo willst du dann hinfahren?«

»Durchs Goldersbachtal nach Bebenhausen, über Lustnau nach Tübingen und dann mit der Ammertalbahn zurück.«

Emma runzelte die Stirn.

»Na hoffentlich bist du wieder da, bevor es Nacht wird.«

»Keine Frage. So lange brauche ich nicht. Vom Steighäusle aus ist es nur eben oder geht sogar bergab.«

»Pass auf, dass dich der Sattel nicht bis zum Nabel durchsägt.«

»Jetzt hör doch auf zu unken.«

Er machte sich ein Vesperbrot, kaufte auf dem Weg durch die Stadt zwei Dosen Bier und fuhr die Hildrizhauser Straße hinaus. Er saß aufrechter, als er gedacht hatte, und fand den Sattel sehr bequem. Auf den ersten fünfzig Metern der Steige, ungefähr bis zum Ortsschild, testete er den kleinsten Gang, dachte dann aber doch an die trockenen Fasern, die er bis Tübingen am Leib haben wollte, und stieg ab. Lieber zwei Kilometer schieben als nassgeschwitzt sein.

Nach einer halben Stunde war er oben am Herrenberger Waldfriedhof, und nun begann der genussvolle Teil der Tour. Auf etwas mehr als fünf Kilometern ging es hundert Höhenmeter ins Goldersbachtal hinab. Rechts und links goldener Buchenwald. Es war eine Freude. Es störte ihn nur etwas, dass er auf dem Schottersträßchen immer wieder einhändig fahren musste, weil ihm die rechte Hand einschlief. Trotzdem pfiff und sang er vor sich hin, machte seinen Anorak auf, ließ ihn im Fahrtwind flattern und fühlte sich mindestens fünfzehn Jahre jünger als während der halbe Stunde, die er das Rad bergauf geschoben hatte. Als der Schotterweg kurz vor der Neuen Brücke ebener wurde und er etwas mehr in die Pedale treten musste, wenn er nicht langsamer werden wollte, spürte er, dass es jetzt doch bald Zeit wäre, einen Schluck zu trinken. Das wollte er am nächsten Grillplatz tun. Und keine fünf Minuten später sah er zwischen den Bäumen die Grillstelle mit dem überdachten Sitzplatz. Die kam gerade recht.

Auf seiner Abfahrt war er keiner Menschenseele begegnet, und so stutzte er, als er auf einer der überdachten Bänke einen Mann sitzen sah – an einem Novemberspätvormittag mitten in der Woche. Er selbst testete ja ein Fahrrad. Aber was wollte der da? Und wie war er jetzt schon hierhergekommen? Ein Fahrrad war nirgends zu sehen.

OW stieg ab, nahm seine Vespertüte und eine Bierdose aus dem Einkaufskorb und ging auf die Schutzhütte zu. Die schrägen Sonnenstrahlen, in denen die Mücken tanzten, tauchten die Bänke in ein warmes Licht. Man hätte meinen können, es wäre noch Oktober. Hier in aller Gemütsruhe sein Vesperbrot mit einem Bier hinunterzuspülen, war ein verlockender Gedanke.

Als OW sein Fahrrad hinter sich ließ und auf den Sitzplatz zuging, konnte er den Mann zunächst nur von den Schultern aufwärts sehen. Er hatte den Kopf zur Seite geneigt und schien zu schlafen. OW blieb stehen. Vielleicht sollte er ihn schlafen lassen, war sein erster Gedanke. Aber wenn er gar nicht schlief? Er trat zögernd näher. Eine dicke Fliege krabbelte dem Mann über die Lippen, ohne dass er auch nur zuckte. Er schlief nicht. Er war tot.

Der Appetit war OW schlagartig vergangen. Er stand mit der Vespertüte und der Bierdose in der Hand unbeholfen mitten unter diesem Dach und konnte die Augen nicht von dem Toten abwenden. Es war ein junger Mann zwischen dreißig und vierzig. Er trug leichte Wanderstiefel und Jeans, dazu einen teuren Markenanorak in grün. Er hatte braunes, leicht gewelltes Haar, das von seinem Mittelscheitel fast bis auf die Schultern herunterfiel. Sein schmales Gesicht war glatt rasiert. Er hatte die Augen geschlossen und den Kopf zur Seite geneigt. Seine Hände ruhten leicht nach oben geöffnet auf der Bank.

Eigentlich saß er ganz friedlich da, aber er war tot. OW wurde es unheimlich. Er sah sich um. Weit und breit war niemand zu sehen. Er trat an den jungen Mann heran und befühlte seinen Hals. Er war starr und kalt.

»So eine Scheiße«, entfuhr es OW. Dann zog er sein Handy aus der Tasche und wählte Siggi Kupfers Nummer. Aber er war im Funkloch und bekam kein Netz.

Was sollte er tun? Sollte er jetzt weglaufen und den Toten allein lassen? Oder lieber warten, bis vielleicht ein Waldarbeiter oder ein Förster vorbeikommen würde? Das könnte lange dauern und wäre sehr ungemütlich. Die paar Meter zu seinem Fahrrad zurück rannte er. Er warf seine Bierdose und das Vesperbrot in den Einkaufskorb, stieg auf, trat wie wild in die Pedale und fuhr ein kleines Stück talabwärts bis dahin, wo sich das Gelände etwas weiter öffnete. Dort stieg er keuchend ab und drückte auf Wahlwiederholung. Aber auch hier bekam er keine Verbindung.

Immer noch keuchend, stieg OW auf und fuhr zurück zu dem Toten. Er stieg vom Rad und blieb unentschlossen stehen. Die Situation war ihm zu kompliziert. Einfach warten kam nicht in Frage, das hätte er nicht ausgehalten. Aber wenn er jetzt weiter wegginge, um eine Stelle zu suchen, von wo aus er telefonieren konnte, dann müsste ja ein anderer, der gerade dann zufällig vorbeikäme, auch wieder losziehen, um einen Netzanschluss zu suchen. Die Polizei würde dann vielleicht sogar zweimal kommen, ehe er selbst zurück wäre. Eine umständliche Fragerei ergäbe das, die ihm unangenehm wäre. Er stand da und überlegte, und kühl wurde ihm auch noch. Sapperlot! Er ärgerte sich über seine Unentschlossenheit. Aber dann hatte er die Lösung. Ein Zettel! Ein Zettel würde die Lage klären. Er hatte ja immer etwas zum Schreiben dabei.

»12:55 Uhr. Habe den Toten bereits so gefunden, wie er dasitzt. Wir sind hier im Funkloch. Habe mich entfernt, um Netzanschluss zu bekommen. Die Polizei wird also bereits benachrichtigt.

Otto Wolf (aus Herrenberg)«

Er legte den Zettel neben den Toten, beschwerte ihn mit einem Stein und wollte sich auf den Weg machen.

Aber seine Hin- und Herfahrerei hatte ihm den Elan genommen. Die Strecke nach Bebenhausen erschien ihm auf einmal viel zu lang. Der kürzeste Weg aus dem Wald war der nach Breitenholz, das war ihm klar, nur war das auch mit Abstand der steilste. Aber an dieser Steigung führte kein Weg vorbei. OW fasste sich ein Herz und ging die siebzig Höhenmeter an. Auf dem ersten halben Kilometer, solange die Straße fast parallel zum Bach verlief, nahm OW den leichten Anstieg mit viel Schwung. Aber dann führte eine lange Rechtskurve in den Wald hinein, und das Sträßchen wurde immer steiler. Er stieg ab und schob, bis er eine etwas flachere Gerade vor sich sah. Dann trat er wieder in die Pedale und versuchte, Schwung zu holen, als er den nächsten steilen Buckel vor sich sah. Aber es nützte nichts. Nach fünfzig Metern hing ihm fast die Zunge heraus und er verlegte sich aufs Schieben. Bis er auf die Uhr sah. Erschrocken stellte er fest, dass er schon zwölf Minuten unterwegs war. Dafür war er noch nicht weit genug gekommen. Also strampelte er sich auf dem kurvenreichen steilen Schottersträßchen, das er in früheren Zeiten locker hochgefahren war, bis zur Erschöpfung ab. Noch einmal im Leben wollte er es sich zeigen. Der Schweiß lief ihm über die Stirn und biss in den Augen, sein Atem fauchte und pfiff, und die Muskeln seiner Oberschenkel wurden mit jeder Kurve noch etwas härter. Völlig nassgeschwitzt erreichte er am Ende der Steige das Gatter und fuhr noch zweihundert Meter weiter, bis er den höchsten Punkt erreicht hatte. Von dort aus ging es nur noch bergab nach Breitenholz hinunter. Er war so fertig, dass er das Rad einfach umfallen ließ. Noch völlig außer Atem griff er nach seinem Handy. Wahlwiederholung. Es funktionierte.

»Hallo Siggi. Hier ist OW. Ich rufe … von … ich rufe … aus dem Goldersbachtal an.«

»Hallo! Wo bist du? Im Schönbuch? Da wäre ich jetzt auch recht gern.«

»Du musst auch kommen, sofort. Hier sitzt ein Toter an der Grillstelle.«

»Ich dachte schon, mein Fahrrad sei kaputtgegangen.«

»Nein. Siggi, keine Witze, jetzt glaub mir doch, auch wenn es unglaublich klingt: Ich habe eben zum zweiten Mal einen Toten entdeckt, ehrlich.«

An so viel Zufall wollte Kupfer nicht glauben. Er war seit Jahrzehnten Kriminalbeamter und war immer zu den Toten gerufen worden, selbst gefunden hatte er noch nie einen. Anders sein Freund OW, der pensionierte Gymnasiallehrer. Er hatte vor ein paar Jahren frühmorgens nach dem Schwimmen die Leiche eines ermordeten Bankers und Finanzmaklers in einer Umkleidekabine des Herrenberger Hallenbads entdeckt. Und nun sollte OW zum zweiten Mal zufällig eine Leiche gefunden haben? Und wieder bei einer sportlichen Betätigung? Das war doch ein Witz! Erst vor ein paar Tagen, als OW das Fahrrad bei ihm abholte, hatte er noch darauf angespielt, indem er zu ihm gesagt hatte, er solle aber vorsichtig damit umgehen und nicht über irgendwelche von Wilderern hingemeuchelten Förster wegfahren. Sonst bekäme er, trotz aller Stabilität des Citybikes, einen Achter ins Vorderrad.

»Das gibt’s doch nicht. Keine Zeit für Scherze«, sagte er deswegen etwas unfreundlich. »Ich muss gleich zu einer Besprechung.«

»Es ist ernst, Siggi, todernst. Hier sitzt wirklich ein Toter an einem dieser überdachten Sitzplätze, Alter zwischen dreißig und vierzig, würde ich sagen. Kein Blut, keine Kampfspuren. Ich dachte erst, er schläft, so friedlich sieht er aus; aber er ist mausetot.«

»Wo genau bist du?« Kupfer klang nun ganz professionell.

»Ganz oben an der Breitenholzer Steige.«

»Wieso? Du hast doch eben gesagt, du wärst im Goldersbachtal.«

»Ja, klar, dort ist der Tote.«

»Wie jetzt? Wo bist du?«

»Ich habe dort unten keinen Netzanschluss bekommen und musste erst den Berg hochfahren. Aber ich habe einen Zettel dort gelassen.«

»Was denn für einen Zettel?«

»Dass ich ihn gefunden habe und es der Polizei melde. Damit ihr nicht doppelt kommt. Und dann bin ich hier hochgefahren. Ich bin völlig fertig.«

»Man merkt’s.«

»Und, kommst du jetzt?«

»Kommt auf den Ort an.« Kupfers Stimme klang abweisend. »Wo genau ist der Tote?«

»Am Grillplatz an der Neuen Brücke.«

»Das ist Staatsforst, nicht unser Gebiet«, sagte Kupfer trocken. »Ich leite das nach Stuttgart weiter und gebe dabei deine Handynummer an. Lass das Ding eingeschaltet und bleib dort. Die Staatsanwaltschaft …«

»Ich bin nicht mehr dort!«

»Ach so, klar. Die Staatsanwaltschaft oder die Stuttgarter Kollegen werden sich gleich bei dir melden. Ich muss jetzt Schluss machen. Ruf mich bitte heute Abend an. Es interessiert mich natürlich, wie der Fall weitergeht.«

Kupfer hängte auf.

Es war klar, dass OW zunächst auf den Anruf warten musste. Aber sollte er dann wirklich wieder ins Tal hinunterfahren, um dann auf dem Heimweg noch einmal eine lange Steigung überwinden zu müssen? Seine Knie waren jetzt schon weich geworden. Dazu hatte er absolut keine Lust mehr. Er würde zum Entringer Bahnhof hinunterfahren und von dort aus die Ammertalbahn nehmen.

Aber zuerst setzte er sich an den Wegrand, öffnete endlich eine Bierdose und tat einen langen Zug. Er biss in sein Vesperbrot, und gerade als er den Mund richtig voll hatte, kam der Anruf. Seinen Namen brachte er heraus, und dann brauchte er glücklicherweise nicht mehr viel zu sagen. Die Tübinger Polizei war alarmiert worden und nahm sich der Sache an. Er solle ruhig nach Hause fahren. Morgen würde ihn ein Polizeibeamter aufsuchen und seine Aussagen zu Protokoll nehmen.

OW fühlte sich erleichtert, als er den Wald hinter sich lassen konnte und die Steige hinunterfuhr. Es war gut so. Die Strecke über Bebenhausen nach Tübingen wäre doch zu lang gewesen. Aber die Tatsache, dass er zum zweiten Mal einen Toten entdeckt hatte, einfach so aus purem Zufall, brachte ihn ins Grübeln. Den meisten Menschen passiert das nie, warum mir dann gleich zweimal, fragte er sich und fand keine Antwort.

2

Als die Tübinger Kriminalpolizei das Tal heraufgefahren kam, stand die Sonne schon ziemlich schräg. Über die Wiesen an der Neuen Brücke, die Grillstelle und den überdachten Sitzplatz breiteten sich zusehends lange Schatten aus. Die Luft war kühl und klar. Schon von weitem sah Hauptkommissar Schnaidt den Suzuki-Jeep des Revierförsters etwas abseits von dem Grillplatz stehen.

»Gut, dass von der Forstverwaltung auch schon einer da ist«, sagte er zu seinem Kollegen Merz.

»Hoffen wir bloß, dass die Spusi auch bald kommt. Wann wird es heute dunkel?«

»So gegen fünf, würde ich sagen.«