Falschmalerei - Dietrich Weichold - E-Book

Falschmalerei E-Book

Dietrich Weichold

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Beschreibung

Kommissar Kupfer wird ins Schönaicher Gewerbegebiet gerufen. Ein Möbel- und Antiquitätenhändler ist in seinem Büro niedergeschlagen worden. Am Tatort ein verdächtiges Pärchen: der Mann, ein Maler namens Fritz "Diego" Tauscher, verwickelt sich schnell in Widersprüche. Aber vieles ist nicht so, wie es auf den ersten Blick scheint, klar ist nur, dass es bei diesem Mordfall - das Opfer stirbt kurze Zeit später - um richtig viel Geld geht. Seine Ermittlungen führen Kommissar Kupfer in Fälscherwerkstätten und Künstlerateliers, er taucht ein in eine eng vernetzte Kunstfälscher-Szene, die mit billigen Kopien horrende Profite erzielen. Dabei fällt Licht in die Dunkelkammern eines spekulativen Kunstbetriebs mit windigen Akteuren und geltungssüchtigen Möchtegern-Mäzenen, die sich zwischen Fälschung und Wahrheit allzu häufig für den schönen Schein entscheiden - mit tödlichen Folgen!

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Dietrich Weichold

Falschmalerei

Dietrich Weichold

Falschmalerei

Ein Baden-Württemberg-Krimi

Dietrich Weichold, geboren 1944, studierte in Tübingen Germanistik und Anglistik. Bis zu seiner Pensionierung 2008 unterrichtete er Deutsch, Englisch und Spanisch an verschiedenen Gymnasien in Tübingen, Madrid und Rottenburg. Neben kleineren Veröffentlichungen für den Schulgebrauch sind bisher auch einige Kriminalromane von ihm erschienen. Er lebt mit seiner Frau in Ammerbuch-Entringen.

© 2012 by Silberburg-Verlag GmbH,Schönbuchstraße 48, D-72074 Tübingen.Alle Rechte vorbehalten.Lektorat: Gertrud Menczel, Böblingen.Umschlaggestaltung: Christoph Wöhler, Tübingen.Coverfoto: © Mikhail Olykaynen – iStockphoto.

E-Book im EPUB-Format: ISBN 978-3-8425-1536-9E-Book im PDF-Format: ISBN 978-3-8425-1537-6Gedrucktes Buch: ISBN 978-3-8425-1218-4

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Prolog

Altbau der Staatsgalerie Stuttgart – Juli 2010.

Zunächst war dies ein Sonntagnachmittag wie viele andere. Im Raum 9 des alten Gebäudes der Staatsgalerie Stuttgart ging eine Führung ihrem Ende entgegen. Eine Gruppe von rund fünfzig Damen und Herren vorgerückten Alters, leicht zu erkennen an ihren grauen Köpfen und den gedämpften Farben ihrer Kleidung, hing an den Lippen einer jungen Dame in schwarzem Hosenanzug und hohen Schuhen. Die Kunsthistorikerin hatte ihnen in eineinhalb Stunden die Ausstellung der Graphischen Sammlung der Staatsgalerie kommentiert, die zum zweihundertjährigen Jubiläum ihrer Gründung veranstaltet wurde. »Nur Papier, und doch die ganze Welt« lautete ihr stolzer Titel.

Nachdem die älteren Herrschaften in ihrer Bewunderung der Werke sich bisher in harmonischem Einklang mit ihrer Führerin befunden hatten, veränderte sich die Stimmung nun doch etwas. Denn die junge Dame begann von der Überwindung des traditionellen Kunstbegriffs im 20. Jahrhundert zu sprechen, dem Aufbrechen der Gattungsgrenzen und ungewöhnlichen, bisher kunstfernen Materialien wie Marmelade, Schokolade und Fett. Man hörte Räuspern, Hüsteln, sah verächtliche Blicke, es wurde auch spöttisch gelacht – alles zunächst hinter vorgehaltener Hand. Erst als man beim im doppelten Sinne letzten Artefakt der Ausstellung angekommen war, reagierte die Gruppe weniger gehemmt. Kopfschütteln war vielerseits nicht mehr zu übersehen. Das Objekt, das allgemeinen Anstoß erregte, Work No. 88 von einem gewissen Martin Creed, war ein zusammengeknüllter unbeschriebener Papierbogen, weiß, DIN A4, »der im Alltag häufig Ausdruck von Ärger oder Frustration sein kann«, wie es in dem kleinen Begleitheft zur Ausstellung hieß. Den gewissen Humor, den das Begleitheft dieser Geste des Minimalismus zuschrieb, konnten die meisten Zuhörer nicht erkennen, am allerwenigsten der korpulente große Mann, welcher der Gruppe in der letzten halben Stunde gefolgt war, sich aber immer am Rande gehalten hatte. Immer wieder hatte er auf die Uhr gesehen, hatte nervös seine Eintrittskarte um seinen Zeigefinger gewickelt, hatte den einen und anderen unkonzentrierten Blick auf die Exponate geworfen, wodurch er mehrmals etwas zurückgeblieben war, um sich dann aber wieder der Gruppe anzuschließen. Am Applaus für die Führung beteiligte er sich nicht, sondern lauerte auf den ersten Moment, in dem er die junge Dame ansprechen konnte.

»Entschuldigung, darf ich Sie etwas fragen?«

»Aber gerne.«

»Ich hätte da eine Frage zu dieser Tiepolo-Zeichnung in dem Raum dort vorne, dieser Mann von hinten, Sie wissen schon.«

»Sie meinen den Rückenakt mit Schilfkranz?«

»Genau, ja, den.«

»Und? Was interessiert Sie daran?«

»Kann es sein, dass Tiepolo ihn zweimal gezeichnet hat?«

»Wie meinen Sie das? Auf andere Weise oder gleich?«

»Genauso wie hier.«

»Das halte ich für ausgeschlossen«, sagte die Kunsthistorikerin, ohne auch nur einen Moment nachzudenken. »Wissen Sie, diese Zeichnung wurde nicht bewusst als ein Kunstwerk gestaltet. Für den Künstler hatte sie nur als Skizze Bedeutung. Solche Zeichnungen sind nur Nebenprodukte, so schön und wertvoll sie auch für uns heute sind. Sie waren ursprünglich nichts als Arbeitsmaterial. Deswegen sind sie auch nie signiert. Sie haben in demselben Raum sicher auch die andere Zeichnung aus dieser Werkstatt gesehen, die der Sohn des Künstlers, Domenico Tiepolo, ausgearbeitet hat. Auch die hat keine Signatur. Man weiß aber, wozu sie gemacht wurde. Sie war als Erinnerungszeichnung gedacht. Heute hält man seine Arbeiten fotografisch fest, damals hat man sie abzeichnen müssen. Und was den Rückenakt anbelangt, kann ich Ihnen mit Sicherheit sagen, dass Tiepolo den garantiert nur als Skizze für eine Figur auf einem größeren Bild angefertigt hat.«

»Ich meine aber«, wandte der Mann nachdenklich ein, »dass das Blatt, das ich anderswo gesehen habe, mit ›GBT‹ signiert ist und sogar eine Jahreszahl trägt. Daher müsste es doch echt sein.«

»Eben gerade nicht«, lächelte die junge Dame. »Da haben Sie eine billige Kopie gesehen. Der Kopist hat zeigen wollen, was er da kopiert hat. Es ist ja ganz nett, wenn man so eine dekorative Kopie an der Wand hängen hat und der Betrachter gleich sehen kann, aus welchem Jahr das Original stammt. Es handelt sich mit Sicherheit um eine Kopie. Wir kennen uns da aus. Schließlich haben wir hier in der Staatsgalerie eine der größten Sammlungen von Tiepolo-Zeichnungen, und die sind alle nicht signiert.«

»Vielen Dank«, sagte der Mann, »ich glaube, Sie haben mir weitergeholfen.«

Aber danach sah es eher nicht aus. Vielmehr stand er einen Moment hilflos da und starrte Löcher in die Luft.

»Bitte, immer gerne«, sagte die junge Dame, ohne dass er es noch hörte.

Mit wehender Anzugjacke strebte er geradewegs dem Ausgang zu, trat hinaus in die Julisonne und eilte zur nächsten Tiefgarage, wo er seinen S 600 abgestellt hatte. Hemdsärmelig setzte er sich ans Steuer, lockerte seine bordeauxfarbene Krawatte und öffnete den Kragenknopf. Eine Weile schnaubte er vor sich hin und sah stumpf geradeaus, ohne etwas zu fixieren. Dann schlug er mit der Faust auf das Armaturenbrett.

»Dreißigtausend«, stieß er zwischen den Zähnen hervor. »Dreißigtausend. Dem drehe ich den Kragen um.« Schließlich fuhr er los.

Erster Teil

1

Kriminalhauptkommissar Siegfried Kupfer zog verbissen am Korkenzieher und bekam seine Rotweinflasche nicht auf. Er stellte sie auf den Tisch, schüttelte seine Hand locker und stöhnte: »Das darf nicht wahr sein.«

Dann versuchte er es ein zweites Mal. Er hielt den Atem an, blies die Backen auf und wurde rot im Gesicht. Der Korken kam. Sein Seufzer der Erleichterung wurde vom Telefon übertönt. Er nahm ab. Seine Miene verfinsterte sich.

»Ich bin gleich da«, sagte er und legte auf. »Verdammt, warum müssen sich die Leute ausgerechnet am Freitagabend den Schädel einschlagen!«

»Was ist denn schon wieder?« Marie Kupfer sah ihren Mann mitleidig an.

»Irgendjemand hat draußen im Schönaicher Gewerbegebiet einem Möbelhändler eins über den Schädel gezogen. Ein Pärchen hat ihn gefunden, in seinem Büro.« Er zog den Korken vollends aus der Flasche.

»Du trinkst jetzt aber nichts?«, fragte Marie erstaunt.

»Natürlich nicht, aber ein bisschen Luft tut dem gut, bis ich wieder da bin. Stell ihn bitte in den Keller. Sonst wird er zu warm.«

Es war den ganzen Tag drückend schwül gewesen, eine bedrohlich dunkle Wolkenwand war von Südwesten her übers Gäu herangezogen und entlud sich seit zehn Minuten in einem großartigen Gewitter über Böblingen. Ein Blitz folgte dem andern, der Donner rollte fast ununterbrochen über den Himmel, und der Starkregen prasselte gegen Fenster und Hauswand. Als Kupfer in der Diele seine Regenjacke anziehen wollte, stand er plötzlich im Dunkeln. »Auch das noch!«

Marie kam mit einer Taschenlampe aus der Küche. »Nimm auch einen Schirm.«

»Den dreht’s mir bloß um.«

»Iss doch noch etwas, wenigstens einen Bissen. Du weißt ja gar nicht, wann du wiederkommst.«

Sie hielt ihrem Mann ein Stück Brot mit Käse hin, das er in der Dunkelheit nicht richtig sehen konnte. Aber er biss ab, murmelte so etwas wie »danke« und verließ kauend sein Haus in der Böblinger Jägerstraße.

Ringsum war es zappenduster. Er zog sich die Kapuze über, hielt den Kragen zu und rannte leicht gebückt zu seinem Auto. Es schüttete wie aus Eimern, der Scheibenwischer konnte keine klare Sicht schaffen, auch nicht im schnellsten Gang.

Bevor er in die Stuttgarter Straße einbog, zögerte er einen Moment. Über die Panzerstraße durch den Wald nach Schönaich zu fahren, wäre der schnellste Weg gewesen, den er aber nicht riskieren wollte. Ein umgestürzter Baum würde genügen, dachte er, und aus wäre es mit dem Zeitgewinn. Also bog er nach rechts ab und fuhr langsam durch das dunkle Stadtzentrum. Glücklicherweise waren die Straßen fast leer, aber überall schoss das Wasser die Fahrbahn hinunter und staute sich da und dort zu tiefen Lachen. Jedes Mal, wenn ein entgegenkommendes Fahrzeug vorüberfuhr, trommelte das Wasser gegen die Karosserie. Als er die Hochhäuser rechts der Schönaicher Straße passierte, gingen die Lichter wieder an, was ihm aber wenig nützte. Die schlechte Sicht und das Wasser auf der Straße zwangen ihn, langsam zu fahren. Überall lagen Blätter und kleinere Zweige auf der Fahrbahn, und er musste damit rechnen, dass plötzlich ein ganzer Ast auf der Straße lag. Aber er hatte Glück. Er atmete erleichtert auf, als er die Allee schließlich hinter sich hatte und ein paar hundert Meter hinter dem Rauhen Kapf nach links von der Hauptstraße abbiegen konnte. Langsam fuhr er die Wohnstraße zum Gewerbegebiet hinüber. Das Unwetter schien die Straßen leergefegt zu haben. Ohne noch jemandem zu begegnen, gelangte er an sein Ziel.

Der Parkplatz von »Möbel-und-Antiquitäten-Wels« wurde von den Scheinwerfern eines Sankas erhellt, der zwischen einem Streifenwagen und einem alten Opel Astra stand. Kupfer stieg aus und rannte gebückt auf den Eingang zu. Unter der Tür wischte er sich das Wasser aus dem Gesicht und sah sich einem Paar gegenüber, das, von einer jungen Polizistin bewacht, zusammengesunken dasaß. Er, ein brünetter Mittvierziger mit schulterlangen Haaren und tiefen Geheimratsecken, sah bedrückt vor sich hin und beachtete ihn nicht. Mit ausgebeulten Jeans und einem verwaschenen T-Shirt wirkte er fast ärmlich im Gegensatz zu seiner Begleiterin. Die blasse Schönheit mit dem kastanienbraunen gewellten Haar war geschmackvoll gekleidet. Sie zitterte am ganzen Leib und schaute tränenüberströmt zu Kupfer auf. Obwohl er in vielen Dienstjahren gelernt hatte, an einem Tatort keine Gefühle aufkommen zu lassen, tat sie ihm schon auf den ersten Blick leid. »Die Zeugen?«

Die Polizistin nickte.

»Ich komme gleich zu Ihnen«, sagte er freundlich zu den beiden und ging durch die offene Tür ins Büro.

Der Tatort bot ein seltsames Bild. Das Opfer der Gewalttat lag hinter seinem Schreibtisch wie leblos auf dem Rücken. Der Mann blutete aus einer Verletzung über seinem rechten Ohr. In seinem Schnauzer hing ein rotes Papierfetzchen, und weitere Schnitzel in Rot-, Gelb- und Brauntönen waren über ihn zerstreut. Der Täter hatte allem Anschein nach ein Bild zerrissen. Den Verletzten schätzte Kupfer auf Mitte vierzig, deutlich über eins achtzig groß und stabil bis korpulent. Er war recht froh, dass er nicht zu den Rettungsassistenten gehörte, die ihn später wegtragen mussten.

Auf dem Teppich um ihn herum glitzerten Glassplitter, die offensichtlich von dem zerbrochenen Bilderrahmen stammten, dessen dunkelgebeizte Profilleisten unter den Beinen des Verletzten hervorschauten. Zwischen seinen Knien lehnte eine bronzene Plastik: ein langer, spindeldürrer menschlicher Körper, der mit an den Rumpf angelegten Armen weit ausschritt. Die Plastik war etwas verbogen. Kupfer sah auf den ersten Blick, dass der Winkel zwischen dem Sockel und der Mittelachse der Figur erheblich von neunzig Grad abwich.

Der Notarzt kniete am Kopfende des Verletzten und betastete die Halsschlagader. Er sah auf und sagte mit bedenklicher Miene: »Noch lebt er.«

»Wäre es trotzdem möglich, diese Papierschnitzel zu sichern?«

Der Notarzt zog genervt die Brauen hoch, nickte aber: »Das wird schon gehen.« Dann wies er seine Helfer an: »Notverband, Infusion, Sauerstoffmaske, das volle Programm!«

Kupfer trat zurück, um den Rettungsassistenten nicht im Weg zu stehen, und wandte sich dem Streifenpolizisten zu, den er flüchtig kannte. »Böckle, was weiß man schon?«

»Net viel. Der Verletzte hoißt Holger Wels. Dem g’hert dia Firma. Dia zwoi, wo do draußa hocket, hen en so g’fonda, saget se. Aber do isch äbbes faul, dät i saga.«

Von den beiden sei der Anruf gekommen, fuhr er fort. Als er angekommen sei, habe er vom Parkplatz aus schon gesehen, dass »der Kerle do draußa« sich an den Ordnern im Regal zu schaffen machte, und als er zur Türe hereinkam, stand er mit einem Ordner in jeder Hand da.

»Ond wie i den frog, was er do duot, guggt der ganz verdattert ond secht: ›Ich räum auf und stell den Ordner hier ins Regal.‹ I han dia zwoi draußa onder Aufsicht g’schdellt.«

»Schon seltsam. Wir werden ja sehen, wie er das erklären will.«

»Ond no ebbes. I han dia Personalie scho uffg’nomma. Der Ma hoißt Fritz Tauscher. Ond jetz kommt’s. Der do«, er deutet auf den Verletzten, »hot nommal d’Auga uffg’macht ond oi Wort g’sait: Tauscher.«

»Das kann viel bedeuten oder aber nichts«, antwortete Kupfer skeptisch. »Ich schau mich mal um.«

Trotz seiner großzügigen Geräumigkeit hatte das Büro etwas vom Wohnzimmer seiner Eltern in den Fünfzigerjahren. Vor einer Schrankwand in Eiche hell stand ein schwerer Eichenschreibtisch mit zugehörigem Stuhl, offensichtlich der Platz des Chefs. Zwei hellgrau melierte Clubsesselchen hatten seinen Gesprächspartnern als Sitzplatz gedient, direkt neben einem schwarzglänzenden Nierentisch mit Messingkante. Die Stirnwand links vom Schreibtisch war mit einem Regal zugestellt, in dem die Ablage der Firma untergebracht war. Zwei Ordner lagen noch auf dem Boden. Das Fischgrätparkett war größtenteils von einem Teppich bedeckt, dessen dunkelgraue Fläche mit grellbunten abstrakten Formen aufgelockert war. Ohne den Bildschirm auf dem Schreibtisch und den modern eingerichteten Arbeitsplatz für eine Schreibkraft hätte man sich in die hoffnungsfrohe Zeit des deutschen Wirtschaftswunders versetzt fühlen können.

»Und das ist ein Möbelhändler?«, fragte Kupfer. »Wohl eher Gebrauchtmöbel.«

»Ja klar, des isch dr Retro-Wels«, erklärte Böckle. »Nie äbbes von dem g’hert?«

Kupfer zuckte mit den Achseln. »Nein. Wir sind schon lange eingerichtet, und ich bin froh, wenn wir nichts Neues brauchen.«

»I han scho älles fodografiert«, sagte Böckle.

Kupfer trat vorsichtig über die Scherben und Papierschnitzel weg und inspizierte den Schreibtisch. Neben dem Bildschirm lag ein unordentlicher Haufen von Schnellheftern, Briefen und handschriftlichen Zetteln, die offensichtlich jemand durchwühlt hatte. Daneben stand eine kleine Bronzeplastik, die Kupfer irgendwie bekannt vorkam. Ein auf der Seite liegender Frauenkörper mit einem kleinen gesichtslosen Kopf, das Ganze etwa fünfundzwanzig Zentimeter lang und gute fünfzehn Zentimeter hoch.

»Ein Kunstgegenstand als Briefbeschwerer. Schick«, sagte Kupfer vor sich hin. Als er sich umdrehte, sah er das Bild neben der Tür: die Reproduktion eines Warhol-Siebdrucks, Elvis Presley als Revolverheld, in Schwarz auf blauem Grund.

Kupfer rief seinen Kollegen von der Spurensicherung an und bat ihn, Sorge zu tragen, dass bei der Sicherung der Papierschnitzel besondere Sorgfalt aufgewendet würde. Was da zerrissen worden war, müsse unbedingt möglichst bald zusammengesetzt werden, am besten von denen im LKA. Da die Spurensicherung binnen Minuten mit ihrer Arbeit beginnen würde und die Rechtsmedizin schon verständigt war, überflog er die Personalien der Zeugen, die Böckle ihm reichte, und wandte sich dem ungleichen Paar zu.

»Frau Liska, Herr Tauscher, mein Name ist Kupfer. Es tut mir furchtbar leid, dass ich Sie jetzt nicht nach Hause entlassen kann. Ich muss Sie leider auf die Polizeidirektion mitnehmen und bitte Sie um Verständnis. Aus dieser Situation hier ergeben sich doch ein paar Fragen, die man sofort klären sollte, wie ich meine. Wir sollten auch ein kleines Protokoll aufsetzen.«

Als die junge Frau »Polizeidirektion« hörte, zuckte sie zusammen. Der Mann legte ihr beruhigend seine Hand auf den Arm und schaute zu Kupfer auf.

»Schon recht. Tun Sie, was Sie tun müssen«, sagte er heiser, während er sich sonst gelassen gab.

»Sie haben ja den Notarzt weggehen sehen. Wels ist in einem sehr kritischen Zustand«, sagte Kupfer. Tauscher zeigte keine Reaktion, aber seine Begleiterin schluchzte laut auf. »Ist er noch bei Bewusstsein gewesen, als Sie ihn gefunden haben?«

»Ich glaubte zunächst, er sei tot. Aber als ich an seine Halsschlagader fasste, kam er wieder zu sich. Ich glaube, er hat mich noch erkannt. Aber dann hat er seinen Kopf auf die Seite sinken lassen und war weg.«

»Hmm«, machte Kupfer nachdenklich. »Wissen Sie, der Kollege drinnen sagt, dass er noch einmal zu sich gekommen ist und ein Wort gesagt hat.«

Tauscher schaute ihn fragend an.

»Ihren Namen, Tauscher, sonst nichts. Und dann hat er wieder das Bewusstsein verloren.«

»Dann hat er mich doch noch erkannt.«

»Zweifellos. Aber warum er Ihren Namen genannt hat, ist mir trotzdem nicht klar.«

»Aber Sie meinen doch nicht etwa, dass ich …« Tauschers Stimme überschlug sich.

»Ich meine gar nichts. Das war nur eine Feststellung. Aber Sie verstehen sicher, dass wir heute Abend noch in meinem Büro ein offizielles Protokoll aufnehmen müssen. Ihr Auto lassen Sie bitte so lange stehen«, forderte er die beiden höflich auf, als ginge es darum, einen nassen Regenschirm vor der Tür abzustellen. »Ich denke, ein Kollege bringt Sie später wieder hierher.«

Draußen rauschte immer noch der Regen.

»Haben Sie keinen Schirm dabei?« fragte Kupfer, indem er die beiden musterte.

»Nein. Wir kamen gerade an, als die ersten Tropfen fielen. Wir kamen noch trocken ins Haus.«

»Ich kann Ihnen leider keinen Schirm anbieten. Da werden wir wohl alle ein bisschen nass. Laufen wir halt möglichst schnell.«

Kupfer rannte zu seinem Auto, hielt die Beifahrertür auf und sagte mit einem Anflug seltsamen Humors: »Frau Liska, Sie bekommen den Ehrenplatz an meiner Seite.«

Für Tauscher öffnete er wortlos die hintere Türe und lud ihn wie der Türsteher eines Hotels zum Einsteigen ein. Dann setzte er sich ans Steuer und schlug einen jovialen Ton an, als spräche er mit zwei Anhaltern, die er eben gütigerweise aufgelesen hatte.

»So«, begann er, »bei diesem Platzregen ist man doch froh, wenn man nicht zu Fuß gehen muss.«

Die beiden antworteten nichts.

»Das tut mir jetzt leid«, sagte er dann, als er im Rückspiegel sah, wie Tauscher sich das Wasser aus dem Gesicht wischte, »aber für das Wetter können wir alle nichts«, wobei er »Wetter« eigenartig betonte. »Ein furchtbares Wetter«, plauderte er weiter, »und heute früh war es noch so schön. Ich lasse Sie dann wieder zurückbringen, aber das habe ich ja bereits gesagt. Sind Sie mit einem oder zwei Autos unterwegs?«

»Mit einem«, sagte Tauscher.

»Sie gehören zusammen?«

»Wie meinen Sie das?«

»Dass Sie beieinander wohnen.«

»Nein. Wir sind nur gute Bekannte. Wir sind beide verheiratet, aber nicht miteinander.«

»So. Woher kennen Sie sich?«

»Wir treffen uns manchmal im Zeicheninstitut der Tübinger Uni.«

»Beim Zeichnen?«

»Ja.«

»Sie sind Künstler?«

»Maler, Zeichner.«

»Wollten Sie geschäftlich zu Herrn Wels oder handelte es sich um einen privaten Besuch?«

»Eher geschäftlich. Wels hat uns manchmal etwas abgekauft.«

»Aha.« Dann sagte Kupfer nichts mehr und summte vor sich hin. Immer wieder warf er einen Blick in den Rückspiegel und konnte für einen kurzen Moment im Licht der Straßenbeleuchtung sehen, wie Tauscher nervös auf seinen Lippen herumkaute. Die junge Frau neben ihm schaute stumm geradeaus.

»Kennen Sie Wels schon lange?«

»Ja«, kam es knapp von ihm, während sie verneinte. Dann schwiegen sie.

Als Kupfer am See in die Herrenberger Straße einbog, fing es wieder an zu regnen. »Das ist mir ja schon arg, dass die Kollegen von der Spurensicherung bei dem Wetter raus müssen, und das an einem Freitagabend. Aber es muss halt sein. Sie glauben ja nicht, wie schnell Spuren verwischt sind, wenn man nicht gleich hinterher ist. Und deswegen muss ich diesen lieben Kollegen den Feierabend versauen. Ja, ja, unsere Spezialisten von der Kriminaltechnik, die sind unverzichtbar. Gut sind sie, und sie werden immer besser. Sie finden heutzutage aber auch alles. Ich mach den Job jetzt seit über dreißig Jahren, und Sie glauben nicht, um wievielmal sich die Genauigkeit unserer Ermittlungsmethoden in dieser Zeit verbessert hat. Auch die Kriminaltechnik leistet heute ganz Erstaunliches. Was schon der DNA-Abgleich bringt! Der allein klärt schon viel Fragen.«

Tauscher ließ einen Stoßseufzer hören, als wollte er etwas sagen. Kupfer sah im Rückspiegel, wie er sich auf die Lippen biss.

»Was ist, Herr Tauscher?«

»Nichts.«

Der Regen ließ nach, aber auf der Calwer Straße stand noch das Wasser, so dass das Auto ganze Brandungswellen auf den Bürgersteig warf.

Olina Liska zitterte am ganzen Leib, als sie im Hof der Polizeidirektion ausstiegen. Kupfer nahm sie am Arm. »Kommen Sie, Frau Liska, beruhigen Sie sich. Das ist alles nicht so wild. Wir müssen nur schnell ein Protokoll aufnehmen, und dann können Sie heimgehen.«

Sie nickte heftig, als wollte sie sich die letzten Tropfen aus dem Haar schütteln. Kupfer führte sie ins Gebäude. Tauscher folgte ihnen.

»Frau Liska, Sie warten bitte hier beim Pförtner, und Sie, Herr Tauscher, kommen gleich mit hinauf in mein Büro.«

Während die Spurensicherung am Tatort selbst nach Hinweisen suchte, versuchte Polizeimeister Böckle sich einen Überblick über das Anwesen zu verschaffen. Er warf einen Blick in das Magazin, das an den Ausstellungsraum angrenzte, fand aber an den Möbeln und Antiquitäten nichts, was er mit der Gewalttat hätte in Verbindung bringen können. Dann trat er mit einer Taschenlampe bewaffnet hinaus in den Regen und machte sich daran, den Gebäudekomplex zu umrunden. An der Hinterseite des Magazins befand sich eine Laderampe, unter der eine breite Betontreppe ins Untergeschoss hinunterführte. Er stieg zu der großen Holztüre hinab, lauschte einen Moment und drückte, als er nichts hörte, auf die Türklinke. Zu seiner Überraschung war der Eingang nicht verschlossen. Mit einem leisen Quietschen öffnete sich die Tür nach innen. Er trat einen Schritt zur Seite, so dass er Deckung hatte, und zögerte einen Moment. Sollte er einen Kollegen holen? Das fand er dann doch unnötig. So zog er seine Dienstwaffe und entsicherte sie. »Polizei«, rief er, »kommen Sie heraus.«

Nichts rührte sich. Er rief noch einmal. Der Hall seiner Stimme ließ einen weiten, kahlen Raum erahnen. Ohne seine Deckung ganz aufzugeben, leuchtete er hinein. Der Strahl seiner Taschenlampe fiel auf kahle Betonwände und erfasste dann in der rechten hinteren Ecke einen großen Tisch, eine Art Werkbank, auf der viele verschmierte Flaschen standen und noch einiges herumlag, was er von der Tür aus nicht genau erkennen konnte. Linkerhand entdeckte er etwas wie einen tiefen Schrank aus rotem Blech. Der Raum schien verlassen zu sein.

Nun trat er unter die Tür und knipste das Licht an. Die Neonröhren erhellten einen weiten, fast leeren Raum, in dem man die Werkstatt eines Handwerkers hätte unterbringen können. An der Stirnwand rechts, unmittelbar neben dem Tisch, stand eine Staffelei, ihr gegenüber drei Scheinwerfer auf Stativen. Der rote Blechschrank erinnerte Böckle an einen elektrischen Backofen, wobei er sich nicht erklären konnte, warum direkt daneben bespannte Keilrahmen an der Wand lehnten.

Er fand diesen Raum nicht weiter interessant, knipste das Licht aus, schloss die Tür und setzte seinen Rundgang fort. Was er im Untergeschoss gesehen hatte, meldete er später dem Leiter der Spurensicherung mit den Worten: »Ond do onda em Keller hot oiner Bilder g’molt.«

Viel interessanter erschien ihm, dass auf der straßenzugewandten Seite des Anwesens das große Garagentor weit offen stand. Das war ihm bei der Ankunft ganz entgangen, da ja Tauscher schon vom Parkplatz her zu sehen gewesen war und seine ganze Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte. Jetzt erst nahm er wahr, dass diese Garage eigentlich eine kleine Halle war.

Zuvorderst stand eine Harley-Davidson, auf die er sich am liebsten sofort gesetzt hätte. Oder wäre er doch lieber mit dem dunkelgrünen Jaguar losgefahren? Schließlich regnete es ja gerade. Diesen Jaguar betrachtete er genauer. Mit seinen luxuriösen Ledersitzen und dem Armaturenbrett aus Teakholz fand er ihn wesentlich interessanter als die beiden Mercedessportwagen, obwohl auch sie Oldtimer waren: ein 280 SL mit Pagodendach und ein weißes 190 SL Cabrio. Natürlich beneidete er ihren Besitzer auch um sie, hatte aber solche Wagen schon oft bewundern können.

Das Wohnhaus über der Garage lag im Dunkeln und war abgeschlossen. Böckle ging zu den Leuten von der Spurensicherung zurück und sagte: »Leit, mir hen älle da falscha Beruf. Ihr miast mal gugga, was där fir Audo en seiner Garaasch schdanda hot. Des haut oin omm.«

2

»Wenn ich abends arbeiten muss, gönne ich mir einen Kaffee. Darf ich Ihnen auch einen bringen?«

Tauscher nahm dankend an. Kupfer verschwand in einem Nebenraum und summte bei offener Tür vor sich hin, als würde er in bester Laune eine gemütliche Kaffeerunde vorbereiten. Mit einem einladenden »So, greifen Sie zu!« stellte er den Kaffee und einen kleinen Teller Gebäck auf den Schreibtisch.

»Danke«, sagte Tauscher und griff nach der Tasse.

»Sie sind Linkshänder?«

Tauscher sah Kupfer verdutzt an und nickte zögernd. Kupfer las ihm in rasantem Tempo seine Personalien vor und endete mit einem »Stimmt das alles? Ich will Sie nicht unnötig lange aufhalten. Schildern Sie doch bitte, wie Sie Herrn Wels vorgefunden haben.«

»Auf dem Privatparkplatz stand nur Wels’ Alfa, und ich stellte mein Auto daneben. Es fing gerade an zu regnen, aber wir kamen noch trocken ins Haus, weil die Tür zum Ausstellungsraum offen war. Es sah aus, als sei gar niemand da. Wir haben ein paar Mal gerufen, und schließlich hat Olina, also Frau Liska, einfach die Tür zum Büro aufgemacht, und da lag er. Wir sind zuerst einfach dagestanden, ich weiß nicht mehr wie lange, Olina hat geschrieen, ich hab sie in den Arm nehmen müssen. Und dann hab ich mich zu Wels hinuntergebeugt. Er war noch bei sich, er hat mich erkannt, das wissen Sie ja. Er wollte den Kopf heben, ist aber dann zusammengesackt und hat das Bewusstsein verloren.«

»Ist Ihnen irgendetwas aufgefallen?«

»Halt diese Papierfetzchen, die überall zerstreut lagen, der zerbrochene Bilderrahmen und dann dieser Giacometti zwischen seinen Beinen.«

»Giacometti?«, fragte Kupfer nach.

»Natürlich kein echter. Wels hatte immer diese Kopie einer Giacomettiplastik auf seinem Schreibtisch stehen, als Prestigeobjekt wahrscheinlich, so wie übrigens auch diesen kleinen Bronzeguss von der ›Liegenden‹ von Moore, den er als Briefbeschwerer benutzte. Die kennen Sie vielleicht. Das Original liegt vor der Staatsgalerie in Stuttgart. Das sind seine beiden Prunkstücke, mit denen er sich zum Kunsthändler stilisieren möchte.«

»Sie halten wohl nicht sehr viel von ihm, als Kunsthändler, meine ich.«

»Das ist er auch nicht. Sie haben ja gesehen, wie sein Büro aussieht. Ich weiß übrigens nicht, wo er unsere Arbeiten immer hingeschafft hat. Wenn ich ihm einmal etwas übergeben hatte, habe ich es nie wiedergesehen.«

»Hmm«, machte Kupfer nachdenklich und rührte in seiner Tasse. »Vielleicht sind wir hier ganz schnell fertig, wenn wir offen zueinander sind. Zunächst bin ich offen zu Ihnen, Herr Tauscher.« Er stellte das Rühren ein und schaute seinem Gegenüber ernst ins Gesicht.

»Was ich an dieser Situation extrem außergewöhnlich finde, ist Ihr Verhalten. Sie kommen in ein Büro, finden den Eigentümer niedergeschlagen und blutend auf dem Boden vor, steigen seelenruhig über ihn weg und blättern in seiner Ablage herum. Und wenn Sie, wie Sie gesagt haben, noch trocken in Wels’ Büro gekommen sind, dann waren Sie ungefähr zehn Minuten dort, ehe ich gerufen wurde. Wenn ich meinen Kollegen zwei Minuten zugestehe als die Zeit, bis sie mich angerufen haben – und das ist relativ viel –, dann bleiben immer noch acht Minuten, die Sie beide in Wels’ Büro waren, ehe Sie uns alarmiert haben. Das müssen Sie mir erklären.« Er schaltete einen Recorder ein.

»Ich habe einen Kaufvertrag gesucht.«

»Aber nicht über Möbel oder Antiquitäten?«

»Nein, über Bilder natürlich. Frau Liska und ich haben herausgefunden, dass Wels Kopien von Gemälden und Zeichnungen, die wir ihm als Kopien verkauft hatten, als Originale weiterverkauft hat.«

»Hmm«, machte Kupfer und zog die Augenbrauen hoch. »Können Sie das beweisen?«

»Natürlich. Es würde mich sogar wundern, wenn bei Ihnen noch keine Anzeigen gegen Wels eingegangen wären. Er ist ein Betrüger in großem Stil.«

»Das ist keine ausreichende Erklärung für Ihr Verhalten.«

»Gut, ich habe herumgestöbert. Das ist in dieser Situation vielleicht nicht normal. Aber ich habe ihn nicht niedergeschlagen.« Er schaute Kupfer fast aggressiv an und gestikulierte mit erhobenem Zeigefinger. »Ich bin kein Schläger. Wels lag schon blutend am Boden, als wir in sein Büro kamen.«

»Das sage ich ja auch, dass er blutend am Boden lag. Mehr habe ich nicht behauptet. Beruhigen Sie sich. Ist Ihnen vielleicht ein Auto aufgefallen?«

»Nein, mir ist nichts aufgefallen. Dort draußen ist freitagabends viel Verkehr, wenigstens vor dem Gewitter war es so, und ich musste auch aufpassen, dass mir nichts ins Auto rollte. Die Gewitterböen haben ja alles Mögliche über die Straße getrieben.«

»Also nicht. Noch einmal: Was wollten Sie bei Wels?«

»Wie ich schon sagte: Frau Liska und ich sind Künstler, Maler und Zeichner, und haben herausgefunden, was für einen schwunghaften Handel Wels mit unseren Arbeiten betrieben hat. Wels betrügt seine Käufer laufend und uns ebenso.«

»Und was wollten Sie nun erreichen?«

»Verhandeln. Oder, sagen wir mal, wir wollten protestieren.«

»Hätten Sie Wels nicht anzeigen können? Sie haben doch selbst eben gesagt, dass er hätte angezeigt werden sollen. Warum haben Sie das nicht getan?«

»Warum ich ihn nicht angezeigt habe, fragen Sie? Nun, ich kenne Wels seit unserer Jugend, wir sind Schulkameraden, und ich weiß erst seit kurzem, was für einen Handel er mit unseren Arbeiten treibt. Da redet man doch erst einmal miteinander. Außerdem braucht Frau Liska das Geld, das er ihr für ihre Kopien noch schuldet.«

»Kopien oder Fälschungen?«

»Kopien, einfach gute Kopien von Bildern, ohne jede Signatur.«

»Und wer kauft so etwas?«

Kupfer zuckte mit den Achseln.

»Und Ihnen schuldet er auch Geld?«

Kupfer nickte.

»Seit wann? Wie viel?«

»Ich habe von Wels’ Sekretärin erfahren, dass er in den letzten Wochen zwei große Bilder verkauft hat, die ich ihm vor mehr als einem Jahr geliefert habe. Und ich habe noch keinen Cent von ihm bekommen.«

»Sie kennen seine Sekretärin? Wie heißt sie?«

»Erna Reichert. Sie wohnt in einem von diesen Mietshäusern links von der Herrenberger Straße, wenn man stadtauswärts fährt, irgendwo dort hinter dem Penny-Markt. Sie finden sie bestimmt im Telefonbuch.«

»Kennen Sie auch die anderen Angestellten?«

»Soweit ich weiß, hatte er sonst keine.«

»In diesem großen Laden?«

»Ja, ich habe hier sonst nie jemanden getroffen.«

»Aber zurück zum Geld. Wie viel schuldet er Ihnen?«

»Ich weiß es nicht. Es ist kein fester Betrag vereinbart. Deswegen habe ich ja nach dem Kaufvertrag gesucht. Ich brauche mein Geld, und deshalb muss ich wissen, was der Abnehmer bezahlt hat.«

»Suchten Sie jetzt den Vertrag zwischen Ihnen und Wels oder den zwischen Wels und seinem Käufer?«

»Beide.«

»Sie sind prozentual beteiligt?«

»Diesmal ja, aber sonst nie.«

»Und warum wollten Sie für Frau Liska verhandeln?«

»Ich habe zwischen Olina und Wels vermittelt, als sie ein paar Zeichnungen verkaufen wollte, und fühle mich in gewisser Weise dafür verantwortlich, dass sie gut bezahlt wird.«

»Sie sind aber nicht zur normalen Geschäftszeit gekommen. Hatten Sie einen Termin?«

»Nein, aber Wels sitzt um diese Zeit immer über seinen Abrechnungen. Das weiß ich halt.«

»Er hatte also keine Ahnung, dass Sie kommen würden. Wollten Sie ihn überraschen?«

»Nicht direkt. Wir wollten aber auch nicht, dass er sich auf unser Gespräch vorbereiten kann.«

»Taktisch klug, ich verstehe. Und dann haben Sie den Vertrag gesucht, damit wir ihn nicht finden.« Er schaute Tauscher prüfend an.

»Hören Sie, Frau Liska und ich haben Wels mit Kopien von Zeichnungen und Gemälden beliefert, was in den Kaufverträgen dokumentiert ist. Wir haben erfahren, dass er zusammen mit irgendwelchen Handlangern aus unseren Arbeiten Fälschungen macht und sie für vierzig- bis fünfzigmal so viel, wie er uns bezahlt hat, an Sammler und Galerien weiterverkauft, womit er sich strafbar macht. Wir hatten mit seinen Betrügereien nichts zu tun. Und ich will jetzt nicht belangt werden wegen einem einzigen Vertrag, der mir ausnahmsweise einmal einen festen Anteil zuspricht. Ist das denn so schwer zu verstehen?« Tauscher hatte immer schneller geredet, wobei seine Stimme immer höher geworden war.

»Wie viel Profit hatten Sie denn diesmal erwartet?«

»Keine Ahnung. Ich wollte nur sichergehen, dass ich nicht wieder mit ein- bis zweitausend Euro abgespeist werde, während Wels das große Geld macht.«

»Und mit wie viel Prozent sind Sie dabei?«

Tauscher antwortete nicht. Kupfer ließ seinen Sie-sindmir-vielleicht-einer-Blick einen Moment auf Tauscher ruhen, dann schüttelte er zweifelnd den Kopf.

»Hat es Sie denn nie interessiert, wem er Ihre Arbeiten verkauft hat?«

»Nein, wieso?«, antwortete Tauscher trotzig. »Wenn Sie zum Beispiel Ihr altes Auto einem Händler verkaufen, fragen Sie doch auch nicht, was er damit macht, und sind froh, dass Sie noch etwas dafür bekommen.«

»Aber Sie wussten jetzt, dass Wels sich strafbar macht, und Sie wollten mehr Geld von ihm«, sagte Kupfer mit gespielter Nachdenklichkeit. »Das sieht fast aus, als wollten Sie ihn erpressen.«

Tauschers Augen weiteten sich für einen winzigen Moment. »Nein, nein, so war das nicht. Er war der Erpresser. Wir wollten nur versuchen, ihn dazu zu bringen, uns nicht mehr in sittenwidriger Weise auszunutzen. Er hat gedroht, Olina wegen Fälschung anzuzeigen, wenn sie ihn nicht weiterhin beliefert. Das war Erpressung seinerseits. Dabei hat sie keine ihrer Arbeiten jemals signiert oder es sonst darauf angelegt, dass sie bei wirklichen Kennern als Originale durchgegangen wären.«

»Diesen kriminellen Handel hätten Sie unbedingt anzeigen müssen.«

»Das hätten wir sicher auch getan, wenn …«

»Wenn was?«

»Nun, wenn, wenn wir es eher gewusst hätten.«

Kupfer runzelte die Stirn und musterte Tauscher eine Weile, ohne etwas zu sagen. »Diese Frage werden wir wohl in den nächsten Tagen klären müssen«, schloss er dann das Gespräch. »Im Moment habe ich keine weiteren Fragen an Sie, muss Sie aber bitten, sich in den nächsten Tagen für uns zur Verfügung zu halten. Adresse und Telefonnummer haben wir ja.«

Olina Liskas Anblick war zum Steinerweichen. Zusammengesunken saß sie an einem kleinen Tischchen im Raum des Pförtners, mit roten Augenrändern, verschmierter Wimperntusche, ein zerknülltes Taschentuch in der Hand.

»Haben Sie der Dame nichts angeboten?«, fragte Kupfer den Pförtner.

»Sie wollte nur ein Glas Wasser.«

»Frau Liska, wie fühlen Sie sich?«

Sie machte nur eine resignierte Geste und ließ einen Seufzer hören.

»Es tut mir leid, dass ich Sie jetzt noch mit Fragen belästigen muss. Nur das Wichtigste. Ich versuche, es so kurz wie möglich zu machen. Geht das?«

»Fragen Sie, es geht schon«, sagte sie leise.

»Würden Sie mir bitte genau die Situation beschreiben, in der Sie Herrn Wels vorgefunden haben?«

Ohne dass Kupfer nachfragen musste, bestätigte Olina Liska in knappen Worten alles, was Tauscher dazu ausgesagt hatte.

»Und was haben Sie getan, während Ihr Begleiter sich an der Ablage zu schaffen machte?«

»Ich weiß es nicht mehr. Ich stand da und konnte nichts tun. Ich habe geweint. Ich sagte zu ihm, er solle es lassen. Und ich hatte Angst, es könnte noch jemand im Haus sein. Ich war froh, als der Notarzt und die Polizisten kamen.«

»Können Sie ungefähr abschätzen, wie lange Sie allein in dem Büro waren?«

»Nicht lange. Höchstens zehn Minuten. Vielleicht täusche ich mich aber auch.«

»Waren Sie vorher schon oft bei Wels gewesen?«

»Nein. Nur drei Mal.«

»Fiel Ihnen trotzdem irgendetwas Besonderes auf?«

»Nur die bunten Papierschnitzel und die verbogene Bronzeplastik auf dem Boden.«

Kupfer nickte zufrieden. Frau Liska schien ihm eine glaubhafte Zeugin zu sein. Er sah ihr an, dass sie ihren Schock noch nicht ganz überwunden hatte, und sagte: »Ich lasse Sie jetzt nach Hause bringen. Was Sie mir noch zu sagen haben, hat auch bis morgen Zeit. Ich möchte Sie nur bitten, dass Sie sich zur Verfügung halten.«

»Ja, kommen Sie nur, ich bin zu Hause.«

Als Tauscher wieder zu seinem Auto gebracht wurde, standen auf Wels’ Parkplatz drei Polizeifahrzeuge. Er konnte durch die Fenster sehen, wie Personen in weißen Anzügen sich durch das Büro und den Ausstellungsraum bewegten. Er schaute ihnen eine Weile zu. Dann fuhr er nach Hause.

Als Helene sein Auto kommen hörte, ging sie ihm bis an die Haustür entgegen. »Du kommst spät. Ist was schiefgegangen?«

»Kann man wohl sagen. Ich brauche jetzt etwas zu trinken.«

»Komm, setz dich. Ich habe eine Flasche aufgemacht – wenn ich schon so lange auf dich warten muss.«

Mit jeder Einzelheit, die Tauscher erzählte, wurde Helene ernster und sah zunehmend ärgerlich aus. »Siehst du«, kommentierte sie seine Darstellung, »hättest du nicht so lange gewartet und wärst Olina eher zur Seite gesprungen, dann hättest du bei Wels noch etwas ausrichten können.«

»Wenn ich hätte, wenn ich hätte … Das kann jetzt jeder sagen. Ob das dann geklappt hätte, weißt du auch nicht.«

»Ich weiß aber, dass du dann nicht so dämlich mit einem Ordner in der Hand vor der Polizei gestanden wärest und dich jetzt nicht fragen lassen müsstest, was für ein abgebrühter Typ du eigentlich bist.« Sie redete immer lauter. »Was glaubst du denn, was dieser Kupfer jetzt von dir denkt?«

»Wird schon nicht so schlimm sein«, versuchte er die Sache herunterzuspielen. »Die Spurensicherung wird sicher bestätigen können, dass ich Wels keine auf den Kopf gegeben habe.«

»Aber auf jeden Fall hättest du diese blöde Sucherei lassen müssen und lieber sofort eine Selbstanzeige wegen Beihilfe zum Betrug machen sollen, völlig egal, ob du Wels damit weichklopfen konntest oder nicht.«

»Wie stellst du dir das vor? Hier wird ein Schwerverletzter abtransportiert und ich komme dem Kommissar, der das Verbrechen untersucht, mit einer Selbstanzeige wegen Betrugs. Der Zug war nun mal raus, Helene. Das ging einfach nicht mehr!«

»Und was machst du, wenn sie heute oder morgen deinen idiotischen Kaufvertrag finden?«

Tauscher zuckte mit den Achseln und nahm einen großen Schluck. »Weiß nicht. Vielleicht ruf ich gleich morgen früh diesen Kupfer an und hol das nach.«

»Ja natürlich, du Schlaumeier, etwas anderes bleibt dir auch gar nicht übrig«, schimpfte sie. »Ich versteh überhaupt nicht, wie du so ruhig hier sitzen kannst. Merkst du denn nicht, dass du schon mit einem Fuß im Gefängnis bist?«

»Ach was! Die Spurensicherung wird schon herausfinden, dass ich das nicht gewesen sein kann. Seh ich denn aus wie ein Gewalttäter?«

»Ich weiß nicht, wie die Polizei meint, dass du aussiehst. Nach dem Aussehen geht es aber auch gar nicht, sondern nach dem Verhalten. Und du hättest dich nicht dümmer verhalten können. Wie konntest du bloß glauben, dass du in ein paar Minuten den dämlichen Kaufvertrag findest. Du hast doch nicht etwa gemeint, dass Wels nicht clever genug ist, um seine heißen Geschäftsunterlagen gut zu verstecken. Ich halt das im Kopf nicht aus. Trink deinen Wein allein. Mir ist die Lust vergangen.«

Mit diesen Worten stand sie auf, verließ das Zimmer, wobei sie die Tür lautstark ins Schloss warf, und polterte die Treppe hinauf.

Tauscher blieb eine Weile wie betäubt sitzen. Er starrte auf sein Weinglas. Dann griff er in die Hosentasche, zog einen Zettel heraus, den er auf Wels’ Schreibtisch gefunden hatte, und strich ihn glatt. »Mein Gott, hat der Wels eine Sauklaue!«, schimpfte er vor sich hin.

Statt »Schätzg.« hätte man auch »Schützg.« lesen können, aber das hätte bei Wels’ Geschäften keinen Sinn ergeben. Das letzte Wort war vom Anfangsbuchstaben abgesehen unleserlich. Nach dem »B« kam ein leicht gewellter Strich. Der Buchstabe in der Mitte hätte ein »1«, aber auch ein »t« oder »f« sein können, und dann folgte noch ein schwungvoll auslaufender zweiter Strich. Etwas weiter unten meinte Tauscher »Ekap. 166« entziffern zu können.

Da er davon ausging, dass Wels, als der Täter kam, eben mit seinen Finanzen herumjongliert hatte, nahm er an, dass »Ekap.« für Eigenkapital stehen musste und an die »166« noch drei Nullen anzuhängen waren.

Dem Anschein nach hatte Wels eben damit begonnen, eine zweite Zahlenkolumne danebenzusetzen, als er unterbrochen wurde. Wahrscheinlich wollte er seinem Besucher etwas vorrechnen. Tauscher sinnierte lange, ohne zu einem Ergebnis zu kommen, faltete den Zettel wieder zusammen und steckte ihn in seinem Arbeitszimmer in die Schreibtischschublade.

Es war schon gegen elf, als Kupfer wieder heimkam. Er zog leise die Haustüre hinter sich zu, wie er es immer tat, wenn er spät vom Dienst kam, obwohl er hörte, dass Marie noch fernsah. Aber das übliche fragende »Siggi?« blieb aus. Sie war eingenickt und pustete im Fernsehsessel vor sich hin. Er weckte sie, indem er den Fernseher ausschaltete. Sie fuhr hoch, als hätte er sie erschreckt.

»Oh, ich war eingeschlafen.«

»War’s denn so langweilig?«

»Das übliche Freitagabendzickzackgebabbel beim Backes«, sagte sie verschlafen. »Halt irgendwas über komplizierte Beziehungen mit schrägen Typen, die bis zu sechsmal verheiratet waren.«

»Du musst das ja nicht angucken.«

»Alles andere war noch blöder, und zum Lesen war ich zu müde. Ich war ja heute Vormittag lang im Garten. Und wie war es bei dir?« Sie gähnte.

»Gleich, ich brauch jetzt erst einen Absacker.« Er holte die offene Rotweinflasche von der Kellertreppe und hielt sie gegen seine Wange, um die Temperatur zu prüfen. »Achtzehn Grad«, sagte er zufrieden vor sich hin. Auf die Kellertreppe konnte er sich verlassen, wenn es um das Temperieren seiner trockenen Württemberger ging.

Marie sah ihm mit hellwacher Neugier entgegen wie immer, wenn er »einen neuen Fall heimbrachte«, wie sie es nannte. »Und? Alles klar?«

»Nichts ist klar. Überhaupt nichts.« Er goss sich ein Viertel ein. »Du auch?«

»Ja, aber bloß ein Achtele. Und was war los? Erzähl mal.«

»Na ja, da lag ein Möbelhändler mit eingeschlagenem Schädel in seinem Büro.«

»Tot?«

»Nein, er konnte aber nichts mehr sagen außer dem Namen desjenigen, der ihn angeblich gefunden hat, ein Herr Tauscher. Der Böckle von der Streife meinte gleich, dann sei dieser Tauscher auch der Täter. Ich glaube eher, dass er der Letzte war, den Wels noch klar erkannte. Als der Notarzt da war, war er schon halb hinüber.«

»Kommt er durch?«

»Keine Ahnung. Tauscher sagt, Wels habe ihm noch etwas sagen wollen, aber nicht mehr die Kraft gehabt.«

»Und du glaubst ihm?«

»Eigentlich schon. Sie waren zu zweit dort, ein völlig ungleiches Paar. Wenn er allein gewesen wäre, hätte ich mir unter Umständen vorstellen können, dass er es war. Aber nicht in Begleitung dieser Frau. Die Frau war so fertig, die kann mit einer Gewalttat nichts zu tun haben. Das kann kein Theater gewesen sein. Aber aus ihm werde ich einfach noch nicht ganz schlau.«

»Gehören die beiden zusammen?«

»Nein, und das sieht man gleich. Sie seien Künstler, die diesem Wels Bilder geliefert hätten, sagen sie.«

»Hast du nicht gesagt, er ist ein Möbelhändler?«

»›Möbel-und-Antiquitäten-Wels‹ heißt die Firma. Hat wohl auch Bilder verkauft. Schon mal was von der gehört?«

»Nein. Draußen in Schönaich, sagst du? Vielleicht ist das eine neue Firma.«

»Danach sieht es nicht aus. Tauscher sagt, dass er diesen Wels schon jahrelang beliefert hat, und zwar mit Kopien von echten Zeichnungen und Gemälden, so wie die Frau übrigens auch. Und jetzt kommt das, was mir überhaupt nicht in den Kopf will: Als er sieht, dass der Mann verletzt auf dem Teppich liegt, fängt er an, in der Ablage herumzustöbern. Und als Kollege Böckle von der Streife in das Büro kommt, steht er mit zwei Ordnern in der Hand da und behauptet, er würde aufräumen. Und mir erklärt er dann, er habe nach Kaufverträgen gesucht.«

»Der hat ja Nerven! Was ist das für ein Typ?«

»Für so abgebrüht halte ich den nicht einmal. Dazu war er viel zu nervös. Dem ging die Sache wirklich an die Nieren. Mitte vierzig, nachlässig gekleidet, Jeans, Turnschuhe, lange Haare, Dreitagebart. Ich könnte mir den als Verkäufer auf dem Biomarkt vorstellen oder als Aktivisten bei den Stuttgarter Parkschützern. Dieser Typ demoliert vielleicht im Extremfall einen Bauzaun, haut aber keinem eine über den Schädel. Trotzdem ist hier etwas faul. Die Frau ist fünfzehn Jahre jünger, sehr hübsch, schlicht gekleidet, aber doch irgendwie elegant …«

»Geschmackvoll? Attraktiv?«

»Ja, unbedingt. Die tut mir eigentlich leid. Ich würde wetten, dass die für die ganze Geschichte überhaupt nichts kann.«

»Und warum war sie dann mit dem anderen dort?«

»Er sagt, sie wollten mit ihm um mehr Geld verhandeln. Er war wohl ihnen gegenüber knickerig. Passt zum Gesamteindruck von dem Laden. Er ist ziemlich groß, und dabei hatte er nur eine Angestellte. Schon seltsam.« Kupfer nahm einen Schluck und betrachtete nachdenklich sein Glas.

»Was denkst du?« wollte Marie wissen.

»Ich frage mich, was Tauscher wirklich suchte. Es muss ein Beweisstück sein für irgendeine faule Sache. Vielleicht hätte er Wels mit irgendetwas erpressen können und wollte den Hinweis darauf verschwinden lassen. Außerdem finde ich das Verhältnis von der Größe des Anwesens zur Belegschaft wirklich merkwürdig.«

»Hui, das klingt aber abstrakt.«

»Ist es aber nicht. Wenn ich mir vorstelle, dass in diesem Riesenladen nur zwei Leute arbeiten, dann möchte ich wissen, wie der notwendige Umsatz gemacht wird.«

»Aber das lässt sich ja überprüfen.«

»Andersherum: Erfahrungsgemäß ist es in so einem Fall leichter festzustellen, womit der Umsatz nicht gemacht wurde. Man sieht zuerst die Maske, nicht das Gesicht.«

»Vielleicht ist aber gar nichts dahinter. Es soll ja gerissene Geschäftsleute geben, die mit Sachen handeln, die sie nie anfassen und nicht mal sehen.«

»Aber ob dieser Wels so einer ist? Aber wie dem auch sei, ich hab jetzt Bettschwere.«

»Es ist auch höchste Zeit.«

Kupfer trank sein Glas aus und ging mit seiner Frau zu Bett.

Als Erwin Holzherr, der Geschäftsführer des Optikerladens in der Böblinger Bahnhofstraße, am Samstagmorgen seinen Laden aufmachte, wunderte er sich über das rote Motorrad, das unmittelbar vor seiner Tür abgestellt war. Er verstand nichts von Motorrädern und sah in ihnen nur das gefährliche Spielzeug für Tempojunkies mit Todessehnsucht, die ihn immer wieder erschreckten, wenn er an schönen Wochenenden mit seiner Frau in ihrem uralten Passat eine gemütliche Kaffeefahrt in den Schwarzwald oder auf die Alb machte. Er hasste Motorradfahrer und griff sich immer wieder an den Kopf, wenn er plötzlich riskant überholt wurde.