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Nach vielen Jahren verzweifelter Suche gelingt es der jungen Erin O’Shea endlich, ihren verschollenen Bruder Ken aufzuspüren. Doch statt ein freudiges Wiedersehen feiern zu dürfen, wird sie mit einem intriganten, jähzornigen Fremden konfrontiert, den zu lieben ihr schwer fällt. Noch ahnt sie nichts von der dunklen Vergangenheit ihres Bruders – und dem wohlgehüteten Familiengeheimnis. Erst als der attraktive FBI-Agent Lance Barrett eingreift und ihr die Augen öffnet, erkennt sie die Gefahr, in der Ken und sie selbst schweben. Immer tiefer gerät sie in die Abgründe von Kens Machenschaften und riskiert dabei ihr Leben. Aber die wachsende Zuneigung zwischen ihr und Lance scheint stärker als der Tod...
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Seitenzahl: 309
Veröffentlichungsjahr: 2012
Nach vielen Jahren verzweifelter Suche gelingt es der jungen Erin O’Shea endlich, ihren verschollenen Bruder Ken aufzuspüren. Doch statt ein freudiges Wiedersehen feiern zu dürfen, wird sie mit einem intriganten, jähzorningen Fremden konfrontiert, den zu lieben ihr schwer fällt. Noch ahnt sie nichts von der dunklen Vergangenheit ihres Bruders – und dem wohl gehüteten Familiengeheimnis. Erst als der attraktive FBI-Agent Lance Barret eingreift und ihr die Augen öffnet, erkennt sie die Gefahr, in der Ken und sie selbst schweben. Immer tiefer gerät sie in die Abgründe von Kens Machenschaften und riskiert dabei ihr Leben. Aber die wachsende Zuneigung zwischen ihr und Lance scheint stärker als der Tod ...
Sandra Brown gehört zu den internationalen Spitzenautorinnen. Alle ihre Romane erreichten ausnahmslos die ersten Plätze der Bestsellerlistne. Sandra Brown wurde mehrfach mit dem New York Times Award ausgezeichnet. Die Gesamtauflage ihrer Bücher beträgt über 40 Millionen Exemplare! Sie lebt mit ihrer Familie in Arlington, Texas.
Weitere Informationen finden Sie unter: www.sandra-brown.de
Trotz der Gelassenheit, die sie nach außen hin ausstrahlte, zitterte Erin O’Shea vor Nervosität, als sie den Finger auf den Klingelknopf legte. Sie hörte das melodische Läuten im Inneren des Hauses, das wunderhübsch in einer der mittelständischen Wohngegenden von San Francisco lag.
Über die Schulter hinweg warf Erin einen Blick auf die Nachbarhäuser, die alle einen sehr gepflegten Eindruck machten mit ordentlichen Vorgärten, die zwar nicht protzig, doch makellos und sehr geschmackvoll aussahen. Das Haus, vor dem sie stand, war taubengrau gestrichen und mit Weiß abgesetzt, typisch für die Architektur von San Francisco, wie auch die anderen Häuser in dieser Straße; in die Garage konnte man direkt hineinfahren, der Wohnteil lag ein wenig höher. Steile Betonstufen führten zur Eingangstür, die mit einem altmodischen geätzten Glasfenster versehen war.
Erin versuchte, durch das undurchsichtige Glas etwas zu erkennen oder eine Bewegung im Inneren des Hauses zu sehen, während sie auf Schritte lauschte, die sich vielleicht näherten, doch es rührte sich nichts, und auch Geräusche drangen nicht heraus.
Wenn nun niemand zu Hause war? An diese Möglichkeit hatte Erin überhaupt nicht gedacht. Eigentlich hatte sie an gar nichts mehr gedacht, seit sie das Flugzeug aus Houston verlassen hatte, nur noch daran, dieses Haus zu finden. Ihre Gedanken, während sie die malerischen Straßen San Franciscos entlanggefahren war, hatten sich zielbewußt nur um eines gedreht: Der heutige Tag war das Ende einer drei Jahre andauernden Suche. Sie hatte über staubigen Archiven gebrütet, endlose Ferngespräche geführt, hatte erlebt, daß man ihr die Tür vor der Nase zuschlug, war enttäuscht gewesen über falsche Hinweise, bis sie jetzt endlich angekommen war.
Heute würde sie zum ersten Mal in ihrem Leben ihren Bruder sehen. Heute würde sie ihrem einzigen Blutsverwandten von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen.
Ihr Herz machte einen Hüpfer, als sie im Haus Schritte hörte, die sich der Tür näherten. Seine Frau? Eine Hausangestellte? Ihr Bruder? Sie schluckte.
Die Tür wurde sehr langsam geöffnet. Er stand vor ihr. »Mr. Kenneth Lyman?« fragte sie.
Er antwortete nicht. Statt dessen betrachtete er sie von Kopf bis Fuß. Seine schnelle Musterung konnte nicht mehr als nur den Bruchteil einer Sekunde gedauert haben, doch hatte Erin das Gefühl, als wäre ihm kein Deut entgangen.
»Mr. Kenneth Lyman?« wiederholte sie.
Er nickte kurz.
All ihre Aufregung war plötzlich verschwunden und wurde ersetzt durch ein heißes Glücksgefühl, als dieser Mann bestätigte, ihr Bruder zu sein. Er sah umwerfend gut aus! Sie war überrascht, in seinen Gesichtszügen nichts zu finden, das den ihren ähnelte. Vom Typ her war er hell, sie dagegen dunkel. Vor ihrem inneren Auge hatte sie immer ein Gesicht gesehen, das die männliche Ausgabe ihres eigenen Gesichtes darstellte, aber dieser Mann war so ganz anders, als sie ihn sich vorgestellt hatte.
Sein Haar wies ein sandiges Braun auf, aber als ein schwacher Schein des matten Februarlichtes darauf fiel, leuchtete es golden. Seine Brille in der schmalen Hornfassung hatte er nach oben auf den Kopf geschoben. Die Brauen auf der breiten Stirn waren dicht und genauso golden wie sein Haar. Blaue Augen, von dichten kurzen Wimpern beschattet, die am Ansatz dunkel, an den Enden jedoch hell waren, musterten sie eindringlich.
Seine Nase war gerade und schmal, der Mund darunter fest und breit, und sehr ernst. In dem kräftigen Kinn entdeckte sie ein bezauberndes Grübchen, das von einem eigensinnigen Willen zeugte.
»Entschuldigen Sie, daß ich Sie so anstarre«, begann Erin, doch selbst dann noch studierte sie ihn regelrecht. Würde sie je müde werden, dieses Gesicht zu betrachten, nach dem sie so lange gesucht hatte?
Noch immer war kein Wort gefallen. Seine Augen gingen zu einem Punkt hinter ihr, als erwarte er, dort noch jemanden zu entdecken. Er warf einen Blick auf den weißen Mercedes, den sie am Flughafen gemietet hatte, auf das Haus auf der anderen Straßenseite, die ganze Gegend, ehe er wieder bei ihr anlangte. Es war beunruhigend, daß er noch nichts gesagt hatte, aber er wußte ja auch gar nicht, wer sie überhaupt war.
»Ich habe einen weiten Weg zurückgelegt, um Sie zu sehen«, begann sie. »Darf ich reinkommen und einen Augenblick mit Ihnen reden?«
»Worüber sollten wir beide reden?«
Ein süßer, ziehender Schmerz in ihrem Herzen machte sich beim Klang seiner tiefen, melodischen Stimme bemerkbar. Aber die Freude verwandelte sich recht schnell in Befangenheit bei dem etwas groben Ton. Wahrscheinlich glaubte er, sie wolle ihm etwas verkaufen. »Ich … nun ja, die Angelegenheit ist ziemlich persönlich.« Sie wollte sich ihm nicht vorstellen, solange sie noch vor der Tür stand.
»Okay, es ist wohl besser, wenn Sie reinkommen.« Er tat einen Schritt zur Seite, und sie ging zögernd durch die Tür. Noch einmal warf er einen Blick nach draußen, ehe er die Tür schloß und sich dann ihr zuwandte.
Erst jetzt, als sie so nahe vor ihm stand, wurde ihr bewußt, wie groß er war. Für eine Frau war Erin ziemlich aufgeschossen, doch er überragte sie bei weitem. Oder vielleicht trug auch seine anmaßende Haltung zu diesem Eindruck bei. Eine Aura von Macht und Überlegenheit umgab ihren Bruder. Er war kein muskelbepackter Mann, doch strahlte er eine Kraft aus, die sie einschüchterte.
Erin betrachtete seinen kräftigen Hals hinter der gelockerten Krawatte. Die Ärmel seines Hemdes waren bis zu den Ellbogen aufgerollt und zeigten gebräunte, muskulöse Unterarme. Der weiße Stoff des Hemdes spannte sich über einem breiten Oberkörper und einem flachen Bauch, und seine langen Beine zeichneten sich durchtrainiert unter der grauen Flanellhose ab. Vielleicht spielte er ja Basketball. Oder Tennis? Sicher trieb er Sport, da er einen so athletischen Körper besaß. Sie wußte, daß er dreiunddreißig Jahre alt war.
Wieder hatte er das entnervende Schweigen aufgenommen und starrte sie mit der gleichen Unverfrorenheit an, mit der sie ihn betrachtete. Als sie ihre Handtasche von der Schulter nahm und sie unter ihren Arm klemmte, spannte sich jeder einzelne Muskel seines Körpers an, obwohl er sich nicht bewegt hatte. Er sah aus wie eine Katze kurz vor dem Sprung. Leicht macht er es mir nicht gerade, dachte Erin. Vielleicht wollte er gar nicht wissen, was aus seiner jüngeren Schwester geworden war, von der er vor dreißig Jahren getrennt worden war. Vielleicht wußte er ja nicht einmal, daß es eine Schwester gab.
»Meine Name ist Erin O’Shea«, stellte sie sich vor.
»Miss O’Shea.« Der Klang ihres Namens aus seinem Mund mit dieser tiefen Stimme rührte sie an. Seine blauen Augen ruhten noch immer auf ihrem Gesicht. Erins Zungenspitze fuhr über ihre trockenen Lippen.
»Dürfte ich mich setzen?« fragte sie.
Mit der ausgestreckten Hand deutete er auf ein Zimmer zu ihrer Linken, und sie steuerte darauf zu. Ihr entging nicht die Einrichtung des Hauses, es war gemütlich, wenn auch nicht besonders kostspielig eingerichtet. Irgendwie paßte diese Einrichtung gar nicht zu dem ersten Eindruck, den sie von ihrem Bruder hatte. Sie hätte geglaubt, daß er eine nüchterne Ausstattung bevorzugte, die besser zu seiner wortkargen Persönlichkeit paßte.
Was tue ich überhaupt? fragte sie sich. Ich bin erst einige Minuten mit ihm zusammen, und schon beginne ich seine Psyche zu analysieren! Dennoch, das Haus, dieses Zimmer, in dem sie mittlerweile auf einem bunt gemusterten Sofa saß, schienen nicht zu diesem Mann zu passen. Wahrscheinlich hatte seine Frau das Haus eingerichtet.
»Ist Melanie zu Hause?« fragte sie höflich.
Er antwortete ein wenig zögernd, mit einem vorsichtigen Blick. »Nein. Sie hat etwas zu erledigen.«
Erin lächelte und entspannte sich ein wenig. Sie war froh, daß sie einige Zeit mit ihm allein sein konnte. Wenn sie sich ihm zu erkennen gab, war es vielleicht ein wenig unangenehm, dabei einen Zuschauer zu haben. »Wenn ich recht überlege, ist es ein wenig überraschend, daß ich Sie an einem Tag mitten in der Woche zu Hause antreffe. Ich hätte geglaubt, daß Sie in der Bank sind.« Sie wußte, daß ihr Bruder in einer Bank arbeitete.
Die Augen, die sie noch immer eingehend betrachteten, wanderten jetzt zu ihrer braunen Wildledertasche, die sie neben sich auf das Sofa gestellt hatte. Er hatte so eine Art, sie zu durchleuchten, daß man glaubte, ihm würde nichts entgehen. »Ich bin heute früher nach Hause gekommen«, erklärte er.
»Kenneth – ich darf Sie doch Kenneth nennen?« Als er nickte, sprach sie weiter. Jetzt war es so weit. »Kenneth, was ich Ihnen zu sagen habe, wird Sie vielleicht überraschen«, ihr Lachen klang nervös, »oder sogar schockieren.« Sie blickte auf ihre Hände, die fest zusammengepreßt in ihrem Schoß lagen, dann hob sie den Kopf und sah ihm direkt in die Augen.
»Wußten Sie, daß Sie adoptiert wurden?«
Die blauen Augen zogen sich ein wenig zusammen, noch immer betrachtete er sie. Nur an einem beinahe unmerklichen Senken des Kinns mit dem Grübchen merkte Erin, daß er genickt hatte.
Sie holte tief Luft. »Ich suche schon seit Jahren nach Ihnen, Kenneth. Ich bin Ihre Schwester.«
Sein Gesicht zeigte keinerlei Regung. Sie rührte sich nicht und wartete auf eine Reaktion. Erin hatte sich vorgestellt, daß er aufspringen, auf sie zulaufen und sie in seine Arme nehmen würde, oder daß er lachen würde, weinen, fluchen, Bestürzung zeigen, doch niemals, daß er einfach sitzen bleiben und sie anstarren würde, als trüge er eine Maske.
Schließlich griff er nach der Brille auf seinem Kopf und nahm sie ab. Er drehte das Gestell in der Hand. »Meine Schwester?« fragte er.
»Ja!« Sie nickte begeistert, und ihre kurzen dunklen Locken hüpften dabei auf und ab. »Ich weiß, es ist unglaublich, aber es stimmt! Darf ich Ihnen erzählen, was ich herausgefunden habe?«
»Bitte.« Er zeigte noch immer keine Gemütsbewegung über ihre Enthüllungen, doch wenigstens reagierte er jetzt. Mehr als alles andere wünschte sie sich, ihn dazu zu bringen, daß er seine Reserviertheit ihr gegenüber aufgab.
»Wir wurden adoptiert, aus einem kleinen katholischen Waisenhaus in Los Angeles. Wußten Sie das?«
»Ungefähr«, antwortete er zurückhaltend.
»Sie sind drei Jahre älter als ich. Unsere Mutter gab uns zur Adoption frei, als ich erst wenige Monate alt war. Ich wurde von einem Ehepaar mit dem Namen O’Shea adoptiert. Kurz darauf zogen sie nach Houston in Texas, wo ich aufwuchs. Erst als ich in die High School kam, begann ich mir Gedanken darüber zu machen, wer ich war und woher ich stammte. Ich denke, das geht allen Heranwachsenden so, aber da ich adoptiert wurde, war es für mich umso wichtiger, meine Wurzeln zu finden, wenn man es so nennen will. Ich bin sicher, Sie verstehen dieses Gefühl.«
»Ja«, sagte er. Er saß lässig auf dem weich gepolsterten Sessel, die Arme hatte er vor der Brust verschränkt. Es war eine entspannte Haltung, doch Erin fühlte, daß er diese Sorglosigkeit vortäuschte. Ihr Bruder konnte sich vielleicht überhaupt nicht entspannen.
»Erst Jahre später war ich endlich in der Lage, finanziell und auch sonst, eine wirkliche Suche nach meiner wahren Identität zu beginnen. Es gibt Organisationen, die adoptierten Kindern helfen, ihre natürlichen Eltern oder verlorene Geschwister zu finden. Glauben Sie mir, inzwischen kenne ich diese Organisationen alle. Ich habe nichts unversucht gelassen. Vor beinah vier Jahren …«
Sie hielt inne, als das rote Telefon auf dem Schreibtisch läutete. Mit der Geschmeidigkeit einer angreifenden Schlange erhob er sich aus dem Sessel und war mit wenigen großen Schritten beim Telefon. Er riß den Hörer hoch und meldete sich mit einem knappen »Ja«. Einen Augenblick lauschte er, dabei ließ er den Blick nicht von Erins erstauntem Gesicht. »Ja. Nein, alles in Ordnung. Wir bleiben in Verbindung.« Er legte den Hörer auf, ging zu seinem Sessel zurück und gab ihr ein Zeichen weiterzusprechen.
Erin war verwirrt durch seine abrupten, zackigen Bewegungen. Sagte man nicht üblicherweise »Entschuldigung«, wenn man einen Anruf beantwortete, während man sich mit jemandem unterhielt? Und warum hatte er sich förmlich auf das Telefon gestürzt, anstatt ein normales Gespräch zu führen? Ein merkwürdiges Verhalten …
»Nun ja, ich …«, stotterte sie. Wo war sie gerade stehen geblieben? Er schien mißtrauisch zu werden, weil sie den Faden verloren hatte.
»Sie sagten gerade: ›Vor beinah vier Jahren …‹«
»Ach ja.« Sie war verunsichert. »Vor beinah vier Jahren begann ich eine ausgedehnte Suche nach unseren leiblichen Eltern. Meine Adoptivmutter verstand meinen Wunsch, daß ich sie finden wollte, und sie hat mir den Namen des Waisenhauses in Los Angeles genannt, wo man mich betreut hatte. Ich war schrecklich enttäuscht über die Entdeckung, daß es einige Zeit nach unserer Adoption durch ein Feuer zerstört und alle Unterlagen vernichtet worden waren. Das hat mich um Monate zurückgeworfen. Schließlich ist es mir aber gelungen, eine Nonne zu finden, die diesem Waisenhaus angehörte, als wir uns dort aufhielten. Von ihr habe ich zum ersten Mal erfahren, daß ich einen Bruder habe.« Zu ihrem Entsetzen begann ihre Stimme zu zittern, und sie fühlte, wie Tränen in ihre dunklen Augen traten.
»Können Sie verstehen, wie glücklich ich an diesem Tag war? Ich hatte einen Bruder! Es gab einen Menschen, mit dem ich meine Herkunft teilte. Ich begann, Gesichter in der Menge zu studieren. Jeden Mann Ihres Alters habe ich angestarrt und mich gefragt, ob Sie es vielleicht sein könnten. Ich will Sie nicht mit all den ermüdenden Einzelheiten aufhalten, aber zuletzt habe ich Ihre Adoptiveltern ermitteln können. Das war relativ einfach, da sie in Los Angeles geblieben sind. Es tut mir leid, daß sie verstorben sind. Sie kamen vor einigen Jahren um, nicht wahr?«
»Ja.«
»Ich habe auch meinen Vater verloren, Mr. O’Shea, als ich im College war. Ich hoffe, Sie hatten genauso viel Glück wie ich mit der Familie, die Sie adoptiert hat. Die O’Sheas haben mich geliebt, als wäre ich ihr eigen Fleisch und Blut. Und ich liebe sie auch.«
»Ja, meine Eltern, oder richtiger, die Lymans, waren großartig.«
»Oh, das freut mich so.« Erin war begeistert. »Eine der Agenturen, von denen ich Ihnen erzählt habe, hat mir geholfen, Sie hier zu finden. Ich habe einiges über Sie gehört, aber bei weitem nicht all das, was ich wissen möchte. Ich würde gern mehr über Sie erfahren, über Ihr Leben.«
Die Brille klebte jetzt gefährlich am Rande seiner Nasenspitze, und er starrte sie über das Brillengestell hinweg an. Dann nahm er sie ab und legte sie auf den Tisch neben sich. »Das ist eine ziemlich lange Geschichte«, meinte er. »Wir sehen einander nicht unbedingt ähnlich. Würden Sie glauben, daß wir Bruder und Schwester sind?«
Sie lachte, erfreut, daß er endlich auf sie einging. Die Linien um seinen Mund hatten sich etwas geglättet. Sie mußte geduldig sein mit ihm. Immerhin hatte sie ihm einiges zugemutet. »Das gleiche habe ich auch gedacht, als Sie an die Tür kamen. Wir sehen einander überhaupt nicht ähnlich.«
Seine Augen betrachteten jede Einzelheit ihres Gesichts, und sie blieb ganz still sitzen bei dieser Musterung, ließ ihm das gleiche Recht wie er ihr zuvor.
Er sah auf die wilden schwarzen Locken, die sie aus dem Gesicht gekämmt hatte. Dunkle Brauen wölbten sich wie Schwingen über ihre Augen – Natalie-Wood-Augen, hatte einer ihrer Freunde in der High School sie genannt. Sie waren rund, groß und so dunkel wie Ebenholz. In ihrer New Yorker Zeit hatte sie ein Kosmetikstudio konsultiert, das ihr beigebracht hatte, sie richtig zu betonen, mit einem Hauch Lidschatten und Lidstrich. Das Resultat war atemberaubend für jemanden, der sie zum ersten Mal sah. Ihre Augen drückten viel von dem aus, was Erin fühlte und dachte, mehr, als es mit Worten möglich war.
Doch daß ihr Bruder sie so eingehend betrachtete, mit solch aufrichtigem Interesse, machte sie verlegen. Seine Augen ruhten außergewöhnlich lange auf ihren Lippen, die sanft und feucht waren und gern lächelten.
Und als sein Blick dann von ihrem Kinn über ihren Hals schweifte, schien er auch ihre sanfte Haut zu begutachten, die in hellem Kontrast stand zu dem dunklen Haar und den dunklen Augen, und es sah aus, als überlege er, ob sie wohl über ihren Hals hinaus noch sanft war.
Erin strich sich umständlich einige unsichtbare Falten aus ihrem Wollrock, als seine Blicke weitergingen. Die smaragdgrüne Bluse, die sie unter der Jacke des Kostüms trug, schien ihr plötzlich viel zu eng, ganz besonders, als seine Augen auf der Korallenkette ruhten, die auf ihrer Brust lag. Sie stellte ihre übergeschlagenen Beine nebeneinander, als seine Prüfung ihre Knie bis hin zu den braunen Wildlederpumps einschloß.
Dann schaute er ihr wieder ins Gesicht, stand auf und kam herüber. »Nicht jeder Mann hat das Glück, mit einer Schwester gesegnet zu sein«, stellte er fest, »aber erst in der Mitte des Lebens von der Existenz einer solchen zu erfahren, grenzt an ein Wunder. Und wenn sie dann noch so hübsch ist wie Sie, ist das sogar ein Vergnügen.«
Sie errötete über und über. »Danke, Kenneth«, flüsterte sie glücklich: Er war stolz auf sie! Vielleicht würde dieser Fremde sie mit der Zeit besser kennenlernen und sie sogar mögen – vielleicht könnten sie einander ja sogar lieben lernen.
»Möchten Sie etwas trinken?« Er streckte ihr die Hand entgegen, und sie nahm sie, ohne zu zögern und ließ sich von ihm von der Couch ziehen. Seine Hand, die sich um ihre Finger schloß, war warm.
»Ja, danke. Das Flugzeug war voll besetzt, und ich war viel zu aufgeregt und zu sehr in Eile, um noch irgendwo anzuhalten unterwegs. Ich hoffe, Sie finden nicht, daß es unhöflich von mir war, einfach hereinzuschneien. Ich dachte, es wäre das beste, wenn ich Sie gleich persönlich kennenlerne und mich nicht lange telefonisch anmelde.«
»Sie hatten recht. Ich bin froh, daß Sie gekommen sind.«
Er führte sie durchs Haus – über den Flur, durch ein Eßzimmer – in eine sonnige Küche. Sie sah aus dem Fenster. Kenneths Haus lag auf einem Hügel, doch leider hatte man von hier aus keine Aussicht auf die Bucht oder die Golden Gate Bridge oder sonst ein Wahrzeichen dieser herrlichen Stadt. Statt dessen sah man nur die Dächer der Häuser, die etwas tiefer lagen.
Kenneth bot ihr einen Stuhl an dem kleinen runden Tisch an, der mitten in der Küche stand. »Was möchten Sie? Coke? Bier? Wein?«
»Coke, bitte«, sagte sie. »Ich kann es kaum erwarten, Ihre Frau kennenzulernen. Weiß sie, daß Sie adoptiert wurden?«
Er ignorierte ihre Frage und öffnete eine Büchse Coke, dann holte er zwei Gläser aus dem Schrank über der Anrichte. Während er Eiswürfel in die Gläser zählte, meinte er: »Melanie müßte eigentlich bald wieder hier sein. Sie hatte nur einige Dinge zu erledigen.«
»Wie lange sind Sie denn schon verheiratet?«
Er hielt inne, dann reichte er ihr das Glas. »Ein paar Jahre«, antwortete er ausweichend. Er lächelte charmant, und zum ersten Mal sah Erin zwei Reihen perfekter, strahlendweißer Zähne. Er sah wirklich außerordentlich gut aus, wenn er nicht gerade diese mißtrauische Miene aufsetzte. »Sie sind auch verheiratet, wie ich sehe«, meinte er lässig und setzte sich ihr gegenüber an den Tisch.
Sie folgte der Richtung seines Blickes zu dem großen Diamantring an ihrem Finger. »Nein«, murmelte sie. »Ich bin verlobt.« Aus irgendeinem Grund wollte sie jetzt nicht über Bart sprechen. Bart hatte ein besonderes Talent, eine Unterhaltung zu beherrschen, und sie wollte ihn nicht einmal erwähnen, um nicht diese ganz besondere, seltene Intimität ihres ersten Treffens mit ihrem Bruder zu zerstören. »Erzählen Sie mir von Ihrer Arbeit«, wechselte sie daher rasch das Thema.
»Was möchten Sie denn davon hören?« fragte er nüchtern. Erin stellte zu ihrem Erschrecken fest, daß er sie wieder mit diesen zusammengekniffenen Augen ansah, mit diesem Blick, der ihr das Gefühl gab, als sei sie ein Versuchskaninchen in einem Labor.
»Was genau arbeiten Sie? Ich weiß nur, daß Sie bei einer Bank angestellt sind.«
»Ja.« Er zuckte mit den Schultern. »Ich denke, ich mache ein wenig von allem.«
»Verstehe«, meinte sie, doch in Wirklichkeit verstand sie gar nichts.
»Und Sie?« fragte er. »Was arbeiten Sie?«
»Ich besitze eine Firma in Houston.«
Die goldenen Brauen zogen sich fragend in die Höhe. »Was für eine Firma?« wollte er wissen. Er stützte die Ellbogen auf die Tischplatte und legte das Kinn auf die Fäuste. Seine Handrücken und die Finger waren mit krausen blonden Härchen bedeckt. Er hatte lange schlanke Finger, nicht dicke kurze wie Bart. Seine gepflegten Nägel fielen ihr auf.
Erin hob den Blick und sah ihn an. Sie konnte kaum die blauen Augen sehen unter den dichten Wimpern. Sein frappantes Äußere lähmte sie. Beinahe war sein Aussehen eine Barriere, die sie daran hinderte, ihn besser kennenzulernen. Aus einem unerfindlichen Grund erschien ihr eine Intimität zwischen ihnen gefährlich.
»Ich … äh … meine Firma organisiert Modenschauen und führt sie auch durch«, gab sie Auskunft.
»Von so einer Firma habe ich noch nie gehört«, zögerte er.
Sie lachte. »Das ist es ja gerade, was uns so einzigartig macht!« rief sie und legte unwillkürlich ihre Hand auf seine.
Genauso schnell, wie er sich zuvor bewegt hatte, legte er jetzt seine Hand auf ihre und hielt sie fest. Endlose Augenblicke lang starrten sie einander nur an. Als er dann sprach, vibrierte seine Stimme.
»Vor ein paar Minuten hast du gesagt, du wolltest mich besser kennenlernen. Ich möchte dich auch kennenlernen. Wir sollten gleich damit beginnen, findest du nicht?«
Sie schluckte verlegen und wünschte, er würde ihre Hand loslassen. Es wäre vergebens, sie ihm entziehen zu wollen. Seine Finger hielten ihre stählern fest. Sie sah ihr Spiegelbild in den Pupillen seiner Augen, und dieser Anblick machte ihr angst. »Womit sollten wir beginnen?« brachte sie stoßweise heraus.
»Damit, einander besser kennenzulernen.«
Ehe sie noch etwas sagen konnte, war er schon hochgeschnellt und um den Tisch gehechtet. Im nächsten Augenblick hatte er sie gepackt und seine Arme um sie geschlungen. Mit einer Hand griff er in ihre Locken, zog ihren Kopf zurück und sah ihr ins Gesicht.
»Wie könnten wir einander besser kennenlernen als mit einem Kuß geschwisterlicher Zuneigung?«
Das Gesicht, das ihrem immer näher kam, zeigte keine Anzeichen brüderlicher Freundlichkeit. Das war Erins letzter bewußter Gedanke, ehe sie fühlte, wie seine Lippen sich auf ihre legten. Seine Finger hatten sich so in ihrem Haar verkrallt, daß ihr Tränen des Schmerzes in die Augen traten und sich dort unter die Tränen der Demütigung mischten. Mit dem anderen Arm drückte er sie energisch an seinen kräftigen Körper.
Sie wand sich, doch ihre Bewegungen bewirkten nur, daß er sie noch fester hielt. Tief in ihrem Hals löste sich ein Schrei, ein Schrei, der von seinem Mund erstickt wurde. Ihre Lippen prickelten unter seinem Ansturm, und sie war machtlos gegen seine Zunge, die sich tief in ihren Mund schob.
Nie zuvor in ihrem Leben war Erin so geküßt worden. Es war abscheulich. Es war eine schreckliche Sünde. Da er um ihre Beziehung zueinander wußte, war die Art, wie er sie küßte, dekadent und abstoßend.
Doch es erregte sie auch.
Sie bemühte sich, die Kontrolle über ihre Sinne nicht zu verlieren – nicht etwa die körperliche Kontrolle. Ihre Arme konnte sie sowieso nicht bewegen, und zu allem mußte sie sich auch noch gegen ihn lehnen, damit sie nicht umfiel. Sie kämpfte einen verlorenen Kampf gegen ihren eigenen Willen und wehrte sich gegen das eigenartige Gefühl, das ihr über den Rücken lief. Es war schuld an der zitternden, hingebungsvollen Wärme in ihrem Bauch, die sie so gern ignoriert hätte. Ihre Augen, die sich vor Überraschung und Entsetzen geweitet hatten, schlossen sich jetzt ganz von selbst, sie gehorchten nicht länger dem Kommando ihres Gehirns, offen zu bleiben und diesen verabscheuungswürdigen Mann mit zornigen Blicken zu bestrafen.
Das Klirren eines Schlüssels in der Hintertür rettete Erin vor der Erniedrigung, sich ihm völlig zu unterwerfen. Sie versuchte noch einmal loszukommen, und diesmal gelang es ihr auch, ihn von sich zu stoßen, als er den Kopf hob und seine Arme etwas lockerte. Er blickte zur Tür, doch mit einer Hand hielt er immer noch Erins Arm fest.
Die Frau, die hereintrat,war zierlich, jung und blond. Sie lächelte kindlich, trotz der Traurigkeit in ihren braunen Augen.
Die beiden Menschen, die mitten in dem Zimmer standen, waren erstarrt in ihrer Haltung. Der Ausdruck der hübschen Fremden verriet Unbehagen, ihr Gesicht war verzerrt und blaß.
Der Mann hielt das Kinn vorgereckt. An ihn wandte sich die junge Frau mit fragendem Blick.
»Hallo, Mrs. Lyman.«
»Mr. Barrett«, antwortete sie ein wenig schüchtern. »Was …?«
»Mrs. Lyman, kennen Sie diese Frau?« unterbrach er sie. »Haben Sie sie schon einmal gesehen?«
Die junge Frau, die von dem Mann, der eigentlich ihr Ehemann sein sollte, mit Mrs. Lyman angesprochen wurde, schüttelte den Kopf. »Nein, Mr. Barrett, ich habe sie noch niemals gesehen.«
Barrett! Barrett!
Erin hob den Kopf und sah den Mann, der noch immer ihren Arm umklammert hielt, ungläubig an. Die blauen Augen über ihr blickten kalt und unerbittlich.
»Wer sind Sie?« fragte sie.
»Das wollte ich gerade Sie fragen, Lady«, fuhr er sie an, als er sie durch die Küche schubste. Er rief der verdutzten Melanie Lyman über die Schulter hinweg zu: »Mrs. Lyman, rufen Sie doch bitte auf der anderen Straßenseite an und bitten Sie Mike rüberzukommen und sich um das Telefon zu kümmern. Sagen Sie ihm, er soll den Wagen vor dem Haus überprüfen lassen. Ich bin im Arbeitszimmer, aber ich möchte nicht gestört werden, es sei denn, es ist etwas Wichtiges. Und bitte, gehen Sie nicht nach draußen, ohne einen der Jungen mitzunehmen.«
»Ist in Ordnung«, hörte Erin sie leise sagen. Offensichtlich war sie daran gewöhnt, von diesem Rohling Befehle entgegenzunehmen, doch Erin O’Shea war das nicht. Sobald wie möglich würde sie ihre Wut an ihm auslassen, und er würde nicht wissen, wie ihm geschähe.
Er stieß sie in ein kleines Zimmer und schlug die Tür hinter ihnen zu, dann drehte er den Schlüssel im Schloß. Sie wirbelte herum, bereit zum Kampf. Zu ihrem Entsetzen riß er ihr grob die Jacke von den Schultern und hob sie über ihre Arme hinunter. Er warf sie quer durch den Raum auf das Ledersofa. Erin war viel zu überrascht, um zu protestieren, als er ihr dann die Bluse aus dem Rock zog. Er schob sie zur nächsten Wand, drehte sie mit dem Gesicht dorthin und hob ihre Arme hoch über den Kopf.
Erin keuchte auf vor Erniedrigung und Entsetzen, als er seine Hände in ihre Achselhöhlen legte und dann über ihre Seiten hinunterstrich. Unerbittlich tastete er sie ab, über ihre Rippen, ihre Brüste, zwischen ihren Brüsten hindurch glitten seine Hände bis hinunter zur Taille. Er schob die Hände unter ihren Rockbund, über ihren Bauch und abwärts. Als seine Hände dann an der Außenseite ihrer Schenkel angekommen waren, drehte er sie zu sich herum.
Erin konnte sich nicht daran erinnern, ein einziges Mal in ihrem Leben so zornig gewesen zu sein. Das Blut kochte in ihren Adern, ihr Herz raste, und der Kopf dröhnte. Sie blinzelte, um wieder klar sehen zu können, weil die Empörung ihren Blick getrübt hatte.
»Wollen Sie mir nicht die Kleider vom Leib reißen, um mich zu durchsuchen?« fauchte sie.
»Nur, wenn ich glaube, daß das absolut nötig ist. Im Augenblick glaube ich das noch nicht. Aber Sie sollten sich nicht zu früh freuen.«
Seine selbstgefällige Antwort machte sie nur noch böser, sie schob ihn von sich, um Abstand zu schaffen. Überraschenderweise trat er einen Schritt zurück.
»Wer, zum Kuckuck, sind Sie eigentlich, daß Sie es wagen, mich so zu behandeln? Ich verlange eine Erklärung von Ihnen, augenblicklich!« Sie wußte, daß ihre Worte auf diesen groben Kerl keine große Wirkung haben würden. Selbst in ihren eigenen Ohren klangen sie abgedroschen, melodramatisch und kindisch, doch in ihrem Kopf herrschte Panik, und gegenwärtig konnte sie sich nicht klarer ausdrücken.
»Ganz ruhig, Lady. Ich werde mich Ihnen zu erkennen geben, dann sparen wir uns weitere Temperamentsausbrüche und finden heraus, wer Sie wirklich sind – das ist nämlich das Gebot der Stunde.«
Er nahm eine Brieftasche aus seiner Jacke und hielt sie vor ihre Nase, Erin las: Lawrence James Barrett, Finanzministerium der Vereinigten Staaten.
Gütiger Himmel! Wo war sie da hineingeraten?
»Erfreut, Sie kennenzulernen, Miss O’Shea«, meinte er voller Sarkasmus. Wieder griff er nach ihrem Arm und hielt ihn nicht weniger fest als zuvor, dann schob er sie zur Couch. »Setzen Sie sich, und rühren Sie sich nicht«, befahl er.
Erin war viel zu benommen und verwirrt, um zu widersprechen; instinktiv gehorchte sie und sank auf das Sofa. Mr. Barrett nahm ihre Jacke und durchsuchte die Taschen. Als er nichts fand, warf er ihr die Jacke wieder zu. Erin faltete sie abwesend und legte sie neben sich. Sie dachte gar nicht daran, sie wieder anzuziehen oder die Bluse in ihren Rock zu stecken. Eine Art Fieber schien sie ergriffen zu haben, ihre Haut prickelte und war ungewohnt heiß.
Er streckte den Kopf durch die Tür. »Mike?«
»Ja, Lance?«
»Bring mir bitte die Tasche, die auf dem Sofa im Wohnzimmer liegt.«
»Sofort«, antwortete eine anonyme Stimme aus dem Hintergrund.
»Und sieh mal nach, ob du meine Brille findest.«
»Die liegt auf dem Tisch neben dem Sessel, in dem Sie gesessen haben«, antwortete Erin automatisch. Überrascht wandte er sich zu ihr um. Am liebsten hätte sie sich die Zunge abgebissen. Jetzt wußte er, daß sie ihn beobachtet hatte.
»Sieh mal auf dem Tisch neben dem Sessel nach«, rief er durch die Tür.
Während er darauf wartete, daß sein Untergebener seine Befehle befolgte, beobachtete Lance Barrett Erin. Unter seinen Blicken rutschte sie unbehaglich auf dem Sofa hin und her, und fühlte sich wieder wie ein Objekt, das geröntgt wurde. Sie versuchte, seinen Blicken standzuhalten, doch wußte sie, daß sie dabei kläglich versagte. In ihrem ganzen Leben hatte sie sich noch nie so nervös und verwirrt gefühlt wie durch die Wendung, die die Dinge jetzt genommen hatten. Um es mit einer Redensart ihrer Mutter zu sagen, sie war platt.
Mike war jünger als sein Vorgesetzter, kleiner und hatte schwarzes Haar. Sein Gesicht sagte nichts aus, für diese Art Arbeit der richtige Mann, dachte Erin. Niemand würde sich an ihn erinnern, in einer Menge würde er leicht untertauchen können.
Mr. Barrett nahm seine Brille und auch Erins Tasche von dem jüngeren Mann entgegen. »Der Wagen?« fragte er.
Mike warf Erin einen Blick zu, doch sein Gesicht zeigte keine Regung. Noch ein charakteristischer Zug für seinen Beruf, dachte Erin. »Sauber, Lance. Er wurde heute kurz nach Mittag im Internationalen Flughafen von San Francisco gemietet.«
»Okay, danke.« Mike wandte sich zum Gehen, doch Mr. Barrett hielt ihn zurück. »Bring mir alles, was du im Wagen findest – Taschen, Gepäck, alles, was dir wichtig erscheint. Ist er noch offen?«
Mike nickte, dann ging er und schloß die Tür hinter sich.
Mr. Barrett trat Erin gegenüber und bedachte sie noch einmal mit einem seiner langen, kompromißlosen Blicke. Dann setzte er seine Brille auf. »Also gut, Miss O’Shea«, erteilte er ihr das Wort. »Reden Sie.« Er ging zum Tisch hinüber und schüttete den Inhalt ihrer Handtasche darauf.
»Ich werde gar nichts sagen, ehe Sie mir nicht erklären, worum es hier überhaupt geht. Mit welchem Recht beleidigen Sie mich und fragen mich aus? Was ist geschehen? Und, Mr. Barrett, ich beabsichtige, mich bei Ihren Vorgesetzten über Ihr unhöfliches und unnötig grobes Benehmen zu beschweren.«
Er zog eine seiner goldenen Augenbrauen hoch und schien durch ihren Anflug von Mut belustigt. »Nur zu, beschweren Sie sich! Wir sind daran gewöhnt, uns werden jeden Tag noch viel schlimmere Dinge vorgeworfen. Und hier steht mein Wort gegen das Ihre. Außerdem, Lady, befinden Sie sich nicht gerade in einer Lage, wo Sie ein Ultimatum stellen können. Schon im nächsten Augenblick könnte ich furchtbar wütend auf Sie werden. Glauben Sie mir, wenn Sie schlau sind, vermeiden Sie das lieber.« Seine Augen glitten unverfroren über ihren Körper, und Erin errötete, als sie daran dachte, wie er sie geküßt hatte. Warum hatte er das nur getan? »Also, fangen Sie an«, mahnte er sie mit einem drohenden Unterton.
Also gut, Mr. Regierungsbeamter, ich werde Ihr kleines Spielchen eine Weile mitspielen, dachte Erin. Aber später werden Sie es noch bereuen, daß Sie mich so behandelt haben. »Was wollen Sie wissen?« fragte sie bissig.
»Ihren Namen.«
»Den habe ich Ihnen schon genannt.«
»Dann nennen Sie ihn noch einmal.«
Dieser Roman wurde erstveröffentlicht unter dem Autorenpseudonym Rachel Ryan. Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »A Treasure Worth Seeking« erstmals 1982 bei Dell Publishing Group, Inc. , New York. Die Neuauflage wurde 1992 bei Warner Books, Inc. , New York veröffentlicht.
3 . Auflage Taschenbuchausgabe September 2001 bei Blanvalet, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH,München.
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eISBN 978-3-641-10337-8
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