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Dem Alltag wohnt der Wahnwitz inne. David Sedaris weiß das nur zu gut. Das Beste an seinem Leben ist, dass er darüber Buch führt. Er erläutert, wie man sich mit Schallplattenhüllen vor psychopathischen Singvögeln schützt, was modische Herrenaccessoirs über Erektionsstörungen verraten und warum man in Tokio weder Japanisch lernen noch mit dem Rauchen aufhören sollte.
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Seitenzahl: 455
David Sedaris witzig zu nennen hieße, das Weltall als geräumig zu bezeichnen. Das Beste an seinem Leben ist, dass er darüber Buch führt. Ob er seine Kindheit aufarbeitet – die Hölle eines amerikanischen Vorortes, begleitet von einer trinkenden Mutter, schizophrenen Schwestern und schwulen Ambitionen -, seiner Jugend nachspürt – der Versuch, der Hölle durch haarsträubende Jobs und persönlichkeitsverändernde Drogen zu entkommen – oder den erwachsenen Wahlfranzosen darstellt: Sedaris’ Beobachtungen und Erinnerungen sind immer präzise, überraschend und wahrhaftig. Schöner wird’s nicht liefert die sehnlich erwarteten neuen Episoden aus dem Paralleluniversum des Kultautors. Er erläutert, wie man sich mit Schallplattenhüllen vor psychopathischen Singvögeln schützt, was modische Herrenaccessoires über Erektionsschwierigkeiten verraten und warum man in Tokio weder Japanisch lernen noch mit dem Rauchen aufhören sollte. Und er stellt unter Beweis, dass Kreuzworträtsel viel mit Lebensbewältigung gemein haben. Du kannst immer die passende Lösung aufschreiben. Du musst einfach nur die Vorgaben ignorieren.
»Nicht nur brüllend komisch, sondern auf sonderbare Weise rührend, aufgeladen mit zarter Tragik.« Der Spiegel
David Sedaris, geboren am 26.12.1956 in Johnson City, New York, aufgewachsen in Raleigh, North Carolina, lebt abwechselnd in Paris und in New York. Er schreibt u. a. für The New York Times, The New Yorker und Esquire. Mit seinen Büchern Naked, Fuselfieber oder Ich ein Tag sprechen hübsch wurde er zum Bestsellerautor.
Meine Freundin Patsy erzählte mir eine Geschichte. »Ich bin also im Kino«, sagte sie, »und ich habe meinen Mantel über meinen Sitz ausgebreitet, und dann kommt da so ein Typ …« An dieser Stelle unterbrach ich sie, weil ich den Tick mit dem Mantel noch nie verstanden habe. Wenn ich ins Kino gehe, habe ich meinen entweder gefaltet auf dem Schoß oder ich lege ihn über die Armlehne, aber Patsy breitet ihren jedes Mal über den Sitz, als ob ihm kalt wäre und sie sich unmöglich im Kino amüsieren kann, während der Sitz friert.
»Warum machst du das?«, fragte ich. Sie sah mich verwundert an und sagte: »Bazillen, Dummkopf. Alle möglichen Leute haben ihre Köpfe an das Polster gelehnt. Kriegst du da keine Gänsehaut?« Ich musste zugeben, dass ich noch nie darüber nachgedacht hatte.
»Du legst dich im Hotel ja auch nicht einfach auf die Tagesdecke auf dem Bett, oder?«, fragte sie. Und wieder dachte ich: Warum nicht? Ich stecke sie mir vielleicht nicht in den Mund, aber sich darauf ausstrecken und ein paar Anrufe erledigen – das mache ich ständig.
»Aber du wischst doch vorher den Hörer ab.«
»Äh, nein.«
»Also, das ist ja … gefährlich«, sagte sie.
Eine ähnliche Situation hatte ich mit meiner Schwester Lisa in einem Supermarkt erlebt, als mir auffiel, dass sie den Einkaufswagen mit den Ellbogen vor sich her schob.
»Hast du was?«, fragte ich.
»Ach so«, sagte sie. »Fass nie den Griff des Wagens mit bloßen Händen an. Darauf wimmelt es von Bazillen.«
Ist das typisch amerikanisch oder denken die Leute überall so? In Paris sah ich einmal im Supermarkt um die Ecke einen Mann, der seinen Papagei zum Einkaufen mitgenommen hatte. Der Vogel war so groß wie ein halbwüchsiger Adler und hockte auf der Stange des Einkaufswagens.
»Siehst du«, sagte Lisa. »Wer weiß, was für eine Krallenkrankheit das Tier vielleicht hat.«
Das stimmte zwar, aber nicht jeder schleppt einen Papagei mit in den Supermarkt. In meinem ganzen Einkaufsleben war dies der erste exotische Vogel, der mir an der Fleischtheke begegnete.
Meine einzige Vorsichtsmaßnahme besteht darin, alle Klamotten aus dem Secondhandladen zu waschen, seit ich mir einmal durch eine gebrauchte Jeans Filzläuse geholt habe. Ich war damals Mitte zwanzig und hätte mich bis auf die Knochen wund gekratzt, wenn mich nicht ein Freund in die Apotheke geschleppt hätte, wo man mir ein Mittel namens Quell in die Hand drückte. Nachdem ich mich damit eingerieben hatte, kämmte ich mir mit einem speziellen Nissenkamm durchs Schamhaar und staunte nicht schlecht: das also waren die Biester, die sich seit Wochen von meinem Fleisch ernährten. Ich glaube, Patsy hat genau das Bild vor Augen, wenn sie den Sitz im Kino sieht, oder Lisa, wenn sie einen Einkaufswagen schiebt.
Doch ist das alles nichts gegen das, was Hugh erlebt hat. Als er acht Jahre alt war und im Kongo lebte, entdeckte er eines Tages einen roten Fleck auf seinem Bein; nichts Dramatisches, nur ein kleiner Pips, den er für einen Mückenstich hielt. Am nächsten Tag juckte der Fleck noch mehr, und wieder einen Tag später sah er plötzlich, wie ein Wurm aus seinem Bein kroch.
Einige Wochen danach passierte Ma Hamrick, so nenne ich Hughs Mutter Joan, das Gleiche, und obwohl der Wurm etwas kürzer war, dürfte das Erlebnis ungleich traumatischer gewesen sein. Wenn ich ein Kind wäre und etwas aus dem Bein meiner Mutter kriechen sähe, würde ich zum nächsten Waisenhaus gehen und mich auf die Adoptionsliste setzen. Ich würde alle Fotos von ihr verbrennen, alles vernichten, was von ihr stammt, und ganz von vorn anfangen, so sehr ekelte mich. Ein Dad kann meinetwegen Parasiten am ganzen Körper haben, was soll’s, aber bei der eigenen Mutter oder sonst irgendeiner Frau ist es unverzeihlich.
»Also, das ist ganz schön chauvinistisch, findest du nicht?«, sagte Ma Hamrick. Sie war über die Weihnachtstage zu Besuch in Paris, ebenso Lisa und ihr Mann Bob. Alle hatten ihre Geschenke ausgepackt, und Ma sammelte das Geschenkpapier vom Boden ein und strich es mit den Händen glatt.
»Es war bloß ein Guineawurm, das kam ständig vor.« Sie sah zur Küche rüber, wo Hugh irgendetwas mit einer Gans anstellte. »Liebling, wo soll ich das Papier hin tun?«
»Verbrenn es«, sagte Hugh.
»Oh, aber es ist tadellos. Meinst du nicht, dass ihr es noch mal gebrauchen könnt?«
»Verbrenn es«, wiederholte Hugh.
»Wie war das mit dem Wurm?«, fragte Lisa. Sie lag unter einer Decke auf der Couch, noch leicht benommen von ihrem Mittagsschlaf.
»Joan hatte einen Wurm, der bei ihr im Bein lebte«, sagte ich. Ma Hamrick warf einen Bogen Geschenkpapier ins Feuer und sagte: »Also, leben würde ich das nicht nennen.«
»Aber er war in Ihrem Bein?«, fragte Lisa, und ich sah, wie die Rädchen in ihrem Kopf arbeiteten: War ich schon mal unmittelbar nach dieser Frau auf der Toilette? Habe ich eine Kaffeetasse von ihr in der Hand gehabt oder von ihrem Teller gegessen? Wann kann ich einen Test machen lassen? Sind die Krankenhäuser an Weihnachten geöffnet oder muss ich bis morgen warten?
»Es ist schon viele Jahre er«, sagte Joan.
»Wie viele genau?«, fragte Lisa.
»Ich weiß gar nicht mehr – 1968 vielleicht.«
Meine Schwester nickte wie jemand, der gerade Zahlen im Kopf addiert. »Okay«, sagte sie, und ich bereute es, überhaupt damit angefangen zu haben. Sie sah Ma Hamrick nicht an, sondern durch sie hindurch, als könnte sie mit einem Röntgenblick das blanke Knochengerüst sehen und dazwischen das Gewimmel der tausend Würmer, die ihren Wirt 1968 nicht verlassen hatten. Mir war es anfangs genauso gegangen, aber nach etwa fünfzehn Jahren hatte ich mich daran gewöhnt und jetzt sehe ich einfach nur Ma Hamrick. Ma Hamrick beim Bügeln, Ma Hamrick beim Spülen, Ma Hamrick beim Entsorgen des Mülls. Sie will ein angenehmer Gast sein und sucht ständig nach irgendeiner Aufgabe.
»Kann ich vielleicht …?«, fragt sie, und noch bevor sie zu Ende geredet hat, platze ich heraus, aber sicher, kein Problem.
»Hast du meiner Mutter aufgetragen, auf Händen und Knien durchs Wohnzimmer zu kriechen?«, fragt Hugh, und ich antworte: »Aber nein, jedenfalls nicht direkt. Ich habe nur gesagt, wenn sie die Fußleisten wischen möchte, geht es so am besten.«
Wenn Ma Hamrick zu Besuch ist, rühre ich keinen Finger. Meine sämtlichen Haushaltspflichten gehen automatisch auf sie über, und ich sitze bloß im Schaukelstuhl und hebe ab und zu einen Fuß, damit sie mit dem Staubsauger durch kann. Das ist unglaublich entspannend, sieht aber unschön aus, besonders wenn sie anstrengende Dinge erledigt, zum Beispiel irgendwelche Möbelstücke in den Keller schafft, wobei das allein ihre Idee war. Ich hatte bloß angedeutet, dass wir die Frisierkommode kaum nutzen und sie irgendwer einmal nach unten schaffen könnte. Dabei meinte ich nicht ausdrücklich sie, obwohl sie mit ihren dreiundsiebzig Jahren noch viel rüstiger ist, als Hugh ihr zutraut. Harte Arbeit ist sie aus Kentucky gewohnt. Ich glaube sogar, sie liegt ihr in den Genen.
Problematisch wird es nur dann, wenn andere Leute im Haus sind und sehen, wie dieser zierlichen, weißhaarigen Person der Schweiß über die Stirn rinnt. Lisa und Bob zum Beispiel, die in Patsys freiem Apartment übernachteten. Jeden Abend kamen sie zu uns zum Essen herüber, und Ma Hamrick nahm ihnen die Mäntel ab, um anschließend die Servietten zu bügeln und den Tisch zu decken. Danach reichte sie den Aperitif und eilte zu Hugh in die Küche.
»Mein Gott, habt ihr einen Massel«, sagte Lisa und seufzte, als Joan hereinflitzte und meinen Aschenbecher leerte. Ihre Schwiegermutter war erst kurz zuvor in ein Heim für betreutes Wohnen gezogen, jene Sorte Häuser, die das Wort »Senioren« vermeiden und stattdessen lieber von »grauen Tigern« sprechen. »Ich liebe Bobs Mom von Herzen, aber Hughs Mom, mein Gott! Und sich dann noch vorzustellen, dass sie von Würmern zerfressen wurde.«
»Also, zerfressen haben die Würmer sie nicht«, sagte ich.
»Aber von irgendwas müssen sie sich ernährt haben. Oder willst du behaupten, sie hätten ihr eigenes Futter mitgebracht?«
Vermutlich hatte sie Recht, aber wovon leben Guineawürmer? Bestimmt nicht von Fett, sonst hätten sie sich garantiert nicht bei Joan einquartiert, die höchstens neunzig Pfund wiegt und immer noch spielend in ihr Kleid vom Abschlussball passt. Auch nicht von Muskeln, sonst könnte sie mir niemals die ganze Hausarbeit abnehmen. Trinken sie Blut? Oder bohren sie Löcher in die Knochen und saugen das Mark aus? Ich wollte schon fragen, aber als Ma Hamrick ins Wohnzimmer zurückkam, fiel das Gespräch umgehend auf Cholesterin, und Lisa fragte: »Ich will ja nicht neugierig sein, Joan, aber wie hoch sind Ihre Werte?«
Es war eins dieser Themen, zu denen ich wenig beisteuern konnte. Nicht nur, weil ich noch nie einen Test gemacht habe. Ich weiß nicht einmal so genau, was Cholesterin überhaupt ist. Wenn ich das Wort höre, stelle ich mir eine von Hand gerührte, weißliche Soße vor, in der dicke Klumpen schwimmen.
»Haben Sie schon mal Fischtran probiert?«, fragte Lisa. »Bob hat damit seinen Wert von dreiundachtzig auf zweiundzwanzig gesenkt. Vorher hat er Lipitor genommen.« Meine Schwester kennt die genaue Bezeichnung für jede bekannte Krankheit sowie das entsprechende Medikament, eine beachtliche Leistung, besonders wenn man bedenkt, dass sie sich alles selbst beigebracht hat. Angeborene Ichthyose, Myositis ossificans und Spondylolisthesis werden mit Celebrex, Flexeril und Oxyconhydrochlorid behandelt. Ich sagte im Scherz, sie habe in ihrem Leben noch keine Zeitschrift gekauft, sondern lese nur die im Wartezimmer von Arztpraxen, woraufhin sie mich sogleich nach meinem Cholesterinspiegel fragte. »Du solltest lieber mal zum Arzt gehen, mein Freund, du bist auch nicht mehr so jung, wie du glaubst. Und wenn du schon mal da bist, solltest du auch gleich diese Muttermale untersuchen lassen.«
Die Sache war nichts, worüber ich länger nachdenken wollte, schon gar nicht an Weihnachten, während ein Feuer im Kamin brannte und Bratenduft durch die Wohnung zog. »Reden wir lieber über Unfälle«, schlug ich vor. »Hat jemand eine gute Geschichte auf Lager?«
»Also, eigentlich ist es kein Unfall«, sagte Lisa, »aber wusstet ihr, dass sich jährlich fünftausend Kinder zu Tode erschrecken?« Zum besseren Verständnis warf sie die Decke zurück und spielte eine Szene nach. »Stellt euch vor, ein kleines Mädchen spielt mit ihren Eltern im Haus Verstecken. Sie rennt den Flur entlang, und plötzlich springt ihr Vater hinter einer Ecke hervor und ruft: ›Uah!‹ oder ›Hab dich!‹ oder irgendwas in der Art. Tatsächlich kann das Kind sich dabei so erschrecken, dass es einen Herzschlag erleidet und stirbt.«
»Die Geschichte gefällt mir nicht«, sagte Ma Hamrick.
»Mir auch nicht«, sagte Lisa. »Ich sage nur, dass es mindestens fünftausend Kinder im Jahr trifft.«
»In Amerika oder weltweit?«, fragte Joan. Meine Schwester rief ihren Mann nebenan: »Bob, sind es fünftausend Kinder in den USA oder weltweit, die jährlich zu Tode erschreckt werden?« Weil keine Antwort kam, entschied Lisa, dass die Zahl sich allein auf die USA bezog. »Und das sind nur die Fälle, wo es bekannt wird«, sagte sie. »Viele Eltern wollen es vermutlich nicht öffentlich machen und schieben eine andere Todesursache vor.«
»Die armen Kinder«, sagte Ma Hamrick.
»Und die Eltern!«, fügte Lisa hinzu. »Stellen Sie sich nur vor.«
Tragisch war es für beide Seiten, nur musste ich an die Kinder denken, die überlebt hatten, oder, schlimmer noch, an die nachrückenden Stellvertreter, die in einer Atmosphäre spaßfreier Vorsorge groß wurden.
»Also, hör zu, Caitlin 2, wenn wir gleich nach Hause kommen, springen überall Leute hinter den Möbeln hervor und rufen ›Happy birthday!‹. Ich verrat’s dir jetzt, damit du nachher keinen Schrecken bekommst.«
Keine Überraschungen, keine Streiche, nichts Unerwartetes, allerdings können Eltern unmöglich alles kontrollieren, und außerdem ist da auch noch die Welt jenseits der Haustür, eine Welt der Autofehlzündungen und deren menschlicher Entsprechungen.
Eines Tages blickt man zufällig an sich herab und sieht das blinde, runzlige Haupt eines Wurms, der aus einer Luke im Bein hervorschaut. Wenn einem dabei nicht das Herz stehen bleibt, weiß ich es auch nicht, aber Hugh und seine Mutter scheinen es überlebt zu haben. Mehr noch, sie sind dadurch erst richtig aufgeblüht. Die Hamricks sind aus einem anderen Holz geschnitzt als ich. Darum lasse ich auch lieber sie die Gans braten, die Möbel durchs Haus tragen und heimtückisches Viehzeug aus meinen Secondhand-Klamotten waschen. Wenn sie etwas zu Tode erschrecken könnte, dann mein Vorschlag, mich behilflich zu machen. Also mache ich es mir neben meiner Schwester auf dem Sofa bequem und schwenke meine Kaffeetasse durch die Luft, damit sie sehen, dass sie nachschenken können.
Meine Straße in Paris ist nach dem Arzt benannt, der an der nahe gelegenen medizinischen Hochschule lehrte und eine ungewöhnliche Krankheit entdeckte, ein Zusammenziehen der Haut, durch das sich die Finger nach innen krümmen und die Hand schließlich zu einer Faust wird. Obwohl die Straße kurz und nicht aufregender als der Rest des Viertels ist, verirren sich immer wieder amerikanische Touristen hierher und beschließen, sich ausgerechnet unter dem Fenster meines Arbeitszimmers anzuschreien.
Manche streiten über die Sprache. Vielleicht hatte sich eine Frau gewisse Vorkenntnisse zugetraut und gesagt: »Ich habe mir Kassetten angehört.« Oder auch »Die romanischen Sprachen sind sich alle sehr ähnlich, und mit meinem Spanisch schlagen wir uns schon durch.« Doch dann reden die Leute Umgangssprache oder stellen unerwartete Fragen, und alles geht den Bach runter. »Du hast doch behauptet, Französisch zu sprechen.« Diesen Satz höre ich ständig, und wenn ich ans Fenster gehe, sehe ich ein Paar Fußspitze an Fußspitze auf dem Bürgersteig stehen.
»Ja doch«, sagt die Frau. »Ich versuche es wenigstens.«
»Na, dann gib dir gefälligst mehr Mühe, verdammt noch mal. Kein Mensch versteht dich.«
Orientierungsstreitigkeiten sind am häufigsten. Die Leute stellen fest, dass sie schon einmal in meiner Straße waren, vielleicht vor einer halben Stunde, als sie lediglich glaubten, müde und hungrig zu sein und eine Toilette finden zu müssen.
»Herrgott, Philip, ist es so schwer, jemanden zu fragen?«
Ich liege auf meinem Sofa und denke: Warum fragst du nicht? Warum muss Philip das tun? Allerdings sind diese Dinge oft komplizierter, als sie auf den ersten Blick scheinen. Vielleicht war Philip schon einmal vor zwanzig Jahren hier und hat behauptet, sich auszukennen. Vielleicht ist er einer von denen, die den Stadtplan nicht aus der Hand geben oder ihn gar nicht erst aus der Tasche holen, damit sie nicht als Tourist erkannt werden.
Der Wunsch, für einen Einheimischen gehalten zu werden, ist vermintes Gelände und kann zu den hässlichsten Szenen führen. »Du willst als Französin durchgehen, Mary Francis, das ist dein Problem, aber du bist einfach nur eine ganz gewöhnliche Amerikanerin.« Der Satz lockte mich ans Fenster, von wo aus ich das Ende einer Ehe beobachtete. Die arme Mary Francis mit ihrer beigefarbenen Baskenmütze. Im Hotel hatte sie vermutlich ganz passabel ausgesehen, aber jetzt klebte sie ihr wie ein alberner Filzpfannkuchen am Hinterkopf. Sogar ein Halstuch hatte sie um, und das mitten im Sommer. Es hätte noch schlimmer kommen können, dachte ich, sie hätte auch ein gestreiftes Seemannshemd anziehen können, aber auch so war ihr Aufzug schlimm genug, eher ein billiges Kostüm.
Manche Touristen schreien die halbe Straße zusammen und scheren sich nicht im Geringsten darum, aber Mary Francis flüsterte nur. Auf ihren Mann wirkte auch das wie bloßes Gehabe und machte ihn nur noch wütender. »Amerikaner«, wiederholte er. »Wir leben nicht in Frankreich, wir leben in Virginia. Vienna, Virginia, kapiert?«
Ich sah den Mann an und wusste sofort, dass wenn wir uns auf einer Party begegneten, er sagen würde, er käme aus Washington, D.C. Und wenn man ihn nach der Adresse fragte, würde er sich zur Seite drehen und irgendwas von »Na ja, draußen am Stadtrand« brummeln.
Wenn man sich in den eigenen vier Wänden streitet, kann die beleidigte Person sich immer noch in einen anderen Teil des Hauses zurückziehen oder im Garten auf Blechbüchsen schießen, aber unter meinem Fenster gibt es nur die Möglichkeit zu weinen, zu schmollen oder ins Hotel zurückzustürmen. »Herrgott noch mal«, höre ich. »Können wir uns nicht einfach einen schönen Tag machen?« Das ist so, als würde man aufgefordert, sein Gegenüber attraktiv zu finden, und es funktioniert nie. Ich hab’s versucht.
Auf Reisen geraten Hugh und ich uns meistens wegen des Schritttempos in die Haare. Ich gehe durchaus zügig, aber er hat längere Beine und hält meistens sieben Meter Vorsprung. Ein zufälliger Beobachter könnte glauben, Hugh laufe vor mir davon und flitze um die Ecken, um mich abzuschütteln. Fragt mich jemand, wie der letzte Urlaub war, gebe ich immer die gleiche Antwort. Ob in Bangkok, Ljubljana, Budapest oder Bonn: Was habe ich gesehen? Hughs Rücken, wie er im nächsten Moment in der Menschenmenge verschwindet. Ich bin sicher, bevor wir irgendwo hinfahren, ruft er im Fremdenverkehrsbüro an und fragt, welche Art Jacken in welcher Farbe die Einheimischen zurzeit tragen. Ist es beispielsweise eine blaue Windjacke, packt er die ein. Es ist geradezu unheimlich, wie er sich der Umgebung anpasst. Sind wir in einem asiatischen Land, könnte ich schwören, dass er sich kleiner macht. Ich weiß auch nicht, wie er das hinbekommt, aber es ist so. In London gibt es einen Laden, der neben Reiseführern auch Romane verkauft, die in dem jeweiligen Land spielen. Die Idee ist, dass man die Reiseführer der Information wegen und die Romane der Atmosphäre wegen liest – kein schlechter Gedanke, nur käme für mich einzig das Buch Wo steckt die kleine Maus? infrage. Meine ganze Energie ist darauf gerichtet, Hugh nicht aus den Augen zu verlieren, und deswegen verpasse ich alles andere.
Das letzte Mal ist es mir so in Australien ergangen, wo ich an einer Konferenz teilnahm. Hugh hatte alle Zeit der Welt, während mir gerade einmal vier freie Stunden am Samstagvormittag blieben. Sydney bietet jede Menge, aber ganz oben auf meiner Liste stand ein Besuch im Taronga Zoo, wo ich einen Dingo zu sehen hoffte. Ich hatte den Film mit Meryl Streep nie gesehen, und das Tier war mir ein einziges Rätsel. Hätte jemand gesagt: »Ich habe das Fenster aufgelassen, und ein Dingo flog ins Haus«, hätte ich das genauso geglaubt, wie wenn jemand gesagt hätte: »Dingos? Unser Teich ist voll davon.« Zwei Beine, vier Beine, Flossen oder Flügel: Ich hatte keinerlei Vorstellung, was tatsächlich sehr aufregend war – eine echte Seltenheit im Zeitalter von Fernsehkanälen, die rund um die Uhr Naturfilme zeigen. Hugh bot an, eine Zeichnung zu machen, aber nachdem ich schon so nahe dran war, wollte ich bis zuletzt ahnungslos bleiben und dann vor dem Käfig oder Becken stehen und das Ding mit eigenen Augen sehen. Es wäre ein erhebender Moment, den ich mir nicht noch in letzter Minute verderben wollte. Allerdings wollte ich auch nicht alleine gehen, und genau da fing unser Problem an.
Hugh war fast die ganze Woche über schwimmen gewesen und hatte von seiner Schwimmbrille dunkle Ringe unter den Augen. Sobald er irgendwo am Meer ist, verbringt er Stunden im Wasser und schwimmt an den Bojen der Strandwacht vorbei bis hinaus in internationale Gewässer. Es sieht so aus, als wolle er nach Hause schwimmen, was sehr peinlich für den ist, der am Strand mit den Gastgebern zurückbleibt. »Ihm gefällt es hier sehr«, sage ich. »Ganz bestimmt.«
Bei Regen wäre er vielleicht mitgekommen, aber so hatte Hugh kein Interesse an Dingos. Ich musste eine Stunde lang jammern, bis ich ihn herumgekriegt hatte, und selbst dann tat er es nur widerwillig. Das war offensichtlich. Wir fuhren mit der Fähre zum Zoo. Während der gesamten Überfahrt starrte er sehnsüchtig aufs Wasser und machte kleine Kraulbewegungen mit den Händen. Mit jeder Sekunde wurde er angespannter, und kaum waren wir da, musste ich buchstäblich hinter ihm her rennen, um ihn nicht zu verlieren. Die Koalabären nahm ich nur als Schemen wahr, genau wie die Besucher, die vor dem Gehege standen und sich fotografieren ließen. »Können wir nicht …«, keuchte ich, doch Hugh zog schon am Emu-Gehege vorbei und hörte mich nicht.
Er verfügt über den besten Orientierungssinn, den ich je bei einem Säugetier gesehen habe. Selbst in Venedig, wo die Straßen offenbar von Ameisen geplant wurden, trat er aus dem Bahnhof, sah kurz auf einen Stadtplan und führte uns schnurstracks zu unserem Hotel. Eine Stunde nachdem wir eingecheckt hatten, erklärte er Fremden den Weg, und als wir abfuhren, schlug er den Gondolieri Abkürzungen vor. Vielleicht roch er die Dingos. Vielleicht hatte er ihr Gehege vom Flugzeug aus gesehen, jedenfalls marschierte er geradewegs darauf los. Ich traf eine Minute nach ihm ein und musste mich erst einmal vorbeugen, um wieder zu Atem zu kommen. Danach hielt ich mir die Hände vors Gesicht, richtete mich auf und schob langsam die Finger auseinander. Zuerst sah ich einen Zaun, und dann, dahinter, einen flachen Wassergraben. Ich sah ein paar Bäume, einen Schwanz, und dann konnte ich es nicht länger aushalten und ließ die Hände fallen.
»Aber die sehen ja aus wie Hunde«, sagte ich. »Bist du sicher, dass wir hier richtig sind?«
Niemand antwortete, und als ich mich umdrehte, stand neben mir eine leicht verschüchterte Japanerin. »Entschuldigung«, sagte ich. »Ich dachte, Sie wären die Person, die ich um den halben Erdball mit hierhergenommen habe. Erster Klasse.«
Ein Zoo ist ein guter Ort, um aus der Rolle zu fallen, da die Leute um einen herum noch viel unheimlichere und fotogenere Dinge bestaunen können. Ein Gorilla, der genüsslich einen Kopf Eisbergsalat verspeist und sich dabei einen runterholt, ist um einiges unterhaltsamer als ein Mann in den mittleren Jahren, der wild hin und her rennt und mit sich selber redet. Das Selbstgespräch dreht sich immer um die gleiche Sache: die Probe für meine Abschiedsrede. »… denn diesmal, mein Freund, ist es vorbei. Und das meine ich ernst.« Ich stelle mir vor, wie ich meinen Koffer packe und alles achtlos hineinwerfe. »Solltest du mich vermissen, schaff dir einen Hund an, ein feistes, altes Tier, das dir nachrennen muss, dann hörst du auch weiterhin dieses Hecheln hinter dir, das dir so vertraut ist. Ich jedenfalls bin damit durch.«
Ich werde durch die Tür gehen, ohne mich noch einmal umzudrehen, werde seine Anrufe ignorieren und keinen seiner Briefe öffnen. Die Töpfe und Pfannen, das ganze Zeug, das wir zusammen angeschafft haben, soll er alles behalten, es bedeutet mir nichts. Meine Devise lautet: »Ein sauberer Neuanfang.« Was soll ich da mit einem Schuhkarton voller Fotos oder mit dem braunen Gürtel, den er mir zum dreiunddreißigsten Geburtstag geschenkt hat, als wir uns gerade kannten und er noch nicht wusste, dass man einen Gürtel von seiner Tante, aber nicht von seinem Lover bekommt, auch wenn er ihn selbst gemacht hat? Seitdem allerdings hatte er ein gutes Händchen für Geschenke: ein täuschend echt wirkender Aufziehhund mit einem Fell aus Schweinsleder, ein professionelles Mikroskop, das ich während meiner Spinnen-Phase bekam, und als Krönung von allem ein Gemälde aus dem siebzehnten Jahrhundert, das eine holländische Bäuerin beim Windelnwechseln zeigt. Diese Dinge würde ich behalten – warum auch nicht? Genau wie den Tisch, den er mir geschenkt hat, und die Kaminverkleidung und, allein aus Prinzip, den Zeichentisch, den er eindeutig für sich gekauft hatte und mir als Weihnachtsgeschenk andrehen wollte.
Inzwischen sah es so aus, als würde ich eher mit einem Lastwagen als zu Fuß meinen Abschied nehmen, aber egal, ich würde es tun. Ich sah mich mit dem Wagen davonfahren, bis mir einfiel, dass ich gar keinen Führerschein habe. Hugh müsste das übernehmen, aber er hatte es auch nicht besser verdient, nach allem, was er mir angetan hatte. Ein anderes Problem war die Frage, wohin der Lastwagen fahren sollte. Selbstverständlich zu einer Wohnung, nur wie sollte ich die besorgen? Ich kriege mit Mühe meinen Mund im Postamt auf, aber wie sollte ich mit einem Immobilienmakler reden? Dabei liegt es nicht einmal an der Sprache, da ich in New York genauso wenig an eine Wohnung kommen könnte wie in Paris. Wenn es um Summen über sechzig Dollar geht, bricht mir der Schweiß aus. Nicht nur auf der Stirn, sondern überall. Fünf Minuten in der Bank, und mein Hemd ist durchsichtig. Zehn Minuten, und ich klebe auf meinem Stuhl fest. Bei unserer letzten Wohnung verlor ich zwölf Pfund, obwohl ich nichts weiter tun musste als einmal zu unterschreiben. Alles andere erledigte Hugh.
Das Erfreuliche ist, dass ich Geld habe, auch wenn ich nicht so genau weiß, wie ich drankommen kann. Zwar treffen regelmäßig die Kontoauszüge ein, aber ich öffne keinen Brief, der nicht persönlich an mich adressiert ist oder nach einer Gratisprobe aussieht. Hugh schlägt sich damit herum. Er öffnet die unangenehme Post und liest sie auch noch. Er weiß, wann unsere Versicherungsbeiträge fällig sind, wann unsere Visa verlängert werden müssen und wann die Garantie für die Waschmaschine abläuft. »Ich denke, wir sollten die Garantie verlängern lassen«, schlägt er vor, obwohl er genau weiß, dass, sollte die Maschine den Geist aufgeben, er selbst die Reparatur übernehmen würde, so wie bei allen anderen Dingen auch. Ich würde es ganz bestimmt nicht. Wenn ich allein lebte und etwas ginge kaputt, würde ich mir anderweitig helfen: statt der Toilette einen Farbeimer benutzen oder mir eine Kühlbox zulegen und den defekten Kühlschrank zum Kleiderschrank umfunktionieren. Einen Handwerker anrufen? Niemals. Es selber reparieren? Den Tag möchte ich erleben.
Ich bin fast ein halbes Jahrhundert alt und fürchte mich immer noch vor allem und jedem. Im Flugzeug sitzt ein Kind neben mir und unterhält sich mit mir, und ich mache mir Sorgen, wie bescheuert ich klinge. Die Nachbarn von unten laden mich zu einer Party ein, doch ich gebe vor, eine andere Verabredung zu haben. Anschließend verbringe ich den ganzen Abend im Bett, aus Angst, sie könnten meine Schritte hören. Ich weiß nicht, wie man die Heizung anmacht, eine E-Mail schreibt, telefonisch den Anrufbeantworter abfragt oder auch nur etwas halbwegs Kreatives mit einem Hühnchen anstellt. Hugh kümmert sich um alle diese Dinge, und wenn er mal nicht da ist, ernähre ich mich wie ein wildes Tier von halb rohem Fleisch, an dem hier und da noch Fellreste oder Federn hängen. Ist es da ein Wunder, dass er vor mir davonläuft? Wie wütend ich auch immer bin, es läuft stets auf das Gleiche hinaus: Ich werde ihn verlassen, und was dann? Bei meinem Dad einziehen? Dreißig Minuten tobe ich vor Wut, und wenn ich ihn dann endlich entdecke, spüre ich, noch nie über den bloßen Anblick eines Menschen so glücklich gewesen zu sein.
»Da bist du ja«, sage ich. Und wenn er fragt, wo ich gewesen bin, antworte ich aufrichtig und sage, ich bin verlorengegangen.
Im Frühjahr 1967 verreisten mein Vater und meine Mutter für ein Wochenende und ließen meine Schwestern und mich in der Obhut einer Frau namens Mrs. Byrd, die alt und schwarz war und bei einem unserer Nachbarn im Haushalt arbeitete. Sie traf am Freitagnachmittag bei uns ein, und nachdem ich ihren Koffer ins Schlafzimmer meiner Eltern gebracht hatte, gab ich ihr eine kleine Führung durchs Haus, wie ich es mir in Hotels vorstellte. »Das ist unser Fernseher, das ist Ihre private Sonnenterrasse, und hier drüben ist Ihr Badezimmer, nur für Sie.«
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
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