School of Myth & Magic, Band 2: Der Fluch der Meere - Jennifer Alice Jager - E-Book

School of Myth & Magic, Band 2: Der Fluch der Meere E-Book

Jennifer Alice Jager

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Beschreibung

Nichts ist so unwiderstehlich wie der Kuss einer Nixe. Seit Devin die School of Myth & Magic besucht, sind ihre Probleme nicht kleiner geworden: Sie beherrscht ihre Nixen-Kräfte immer noch nicht ganz. Sie hat erfahren, dass ihre Vorfahren gefährliche Monster waren. Und sie hat Caleb mit einem einzigen Kuss in Lebensgefahr gebracht. Viel bedrohlicher als ihre eigenen, unkontrollierbaren Kräfte ist jedoch Kassian, der skrupellose Incubus, der nichts unversucht lässt, Devin zu manipulieren. Was verbirgt sich wirklich hinter seinem zerstörerischen Plan? Gefährlich. Knisternd. Magisch. Band 2 der neuen Romantasy-Reihe von Jennifer Alice Jager

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Als Ravensburger E-Book erschienen 2024 Die Print-Ausgabe erscheint im Ravensburger Verlag

Originalausgabe Copyright © 2024 by Jennifer Alice Jager © 2024 Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München. Lektorat: Franziska Jaekel Umschlaggestaltung und -illustration: © Isabelle Hirtz, Hamburg Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.

ISBN 978-3-473-51235-5

ravensburger.com

Einleitung

Jede einzelne Sekunde.

Drei unscheinbare Wörter, die vor dem Niederschreiben dieser Geschichte nur Tinte auf Papier für mich waren. Lese ich sie heute, entfesseln sie Welten für mich. Sie tun mir weh, sie lassen mich hoffen. Ich will lachen und weinen zur selben Zeit und sehe alles, was war und ist und sein könnte an einem Ort, der für mich zu einem Zuhause wurde.

Wenn du beim Eintauchen in dieses Buch ebenfalls ein Zuhause findest, entfesseln die drei Wörter dort oben das nächste Mal, wenn du sie liest, vielleicht auch Welten für dich.

1

Ein Deal mit dem Dämon

Mein Kuss hatte Caleb das Leben gekostet – er war tot gewesen, hatte keinen Puls mehr gehabt, nicht mehr geatmet. Kaum eine halbe Stunde später saß er, als wäre nichts gewesen, auf einem der BetteninderKrankenstationundwurdevonMrLongountersucht.

Wie das möglich war, wusste ich nicht. Nur in einem war ich mir sicher: Kassian steckte in seinem Körper und hatte mir unmissverständlichklargemacht, dass ich den Mund halten sollte. Was mit Caleb passieren würde, wenn ich das nicht tat, wollte ich lieber nicht herausfinden. Also schwieg ich – ich schwieg, weil sich alles in mir zusammenzog, wenn ich auch nur daran dachte, wie er leblos vor mir gelegen hatte und ich in meiner Panik völlig allein gewesen war. Kein zweites Mal konnte ich das ertragen.

»Es sieht alles normal aus«, meinte Mr Longo.

Dass ganz und gar nichts normal war, bemerkte niemand. Weder Mr Seymour noch Lilou hatten die Veränderungen wahrgenommen oder spürten, dass mit Caleb etwas nicht stimmte.

Ich stand Abseits von ihnen, hatte die Arme um mich geschlungen und kämpfte gegen das Gefühl an auseinanderzufallen. Wie in Stücke zerschlagen kam ich mir vor. Als wäre der feste Griff um meinen Körper alles, was mich noch zusammenhielt. Ich war am Ende, verzweifelt und so vollgestopft mit Fragen, dass kaum Platz für einen klaren Gedanken blieb.

»Alles gut bei dir?«, fragte Lilou.

»Ähm, ja, alles gut«, sagte ich mit ungewohnt rauer Stimme. Ich zwang mich zu einem Lächeln, das hoffentlich darüber hinwegtäuschte, wie machtlos und ausgeliefert ich mich fühlte.

»Wenn es sich um falschen Alarm gehandelt hat, werde ich wohl nicht mehr gebraucht«, meinte Mr Seymour. »Dabei hatte ich mich schon auf einen guten, alten Wiederbelebungszauber gefreut.« Er zwinkerte mir zu, nickte zum Abschied und wollte die Krankenstation verlassen.

»Warten Sie!«, hielt ich ihn mit erhobener Hand auf, ohne einen Plan zu haben. Ich konnte ihm nicht sagen, dass der Dämon wieder zurück war – zumindest nicht in dessen Gegenwart –, aber wenn ich nichts sagte, ging mit dem Nekromanten der einzige Mensch, von dem ich wusste, dass er es mit einem Incubus wie Kassian aufnehmen konnte.

»Ist noch etwas?«, fragte er.

Ich öffnete den Mund, bekam aber keinen Ton heraus. Sofort schaute ich zu Kassian. Er hatte die Augen zu schmalen Schlitzen verengt und durchbohrte mich mit einem Blick, der sich tief in mein Inneres fraß und mich erstarren ließ. Eine unsichtbare Hand legte sich um meine Kehle. Er hatte mir die Stimme genommen.

Ich erwiderte seinen Blick auf dieselbe durchdringende Weise. Dass ich niemandem verraten durfte, wer er war, hatte ich kapiert. Wenn er sich mit seiner Magie in Gegenwart anderer nicht zurückhalten konnte, musste er sich aber nicht wundern, wenn er aufflog.

Offenbar sah er das ein und ließ von mir ab.

Ich senkte den Arm wieder. »Nein, nichts.«

»WasgenauhabtihreigentlichindieserGrotteveranstaltet?«Mr Seymour deutete abwechselnd auf Caleb und mich. Sein Misstrauen war geweckt.

»Nichts weiter.« Ich fühlte mich nicht in der Lage, ihn direkt anzuschauen.

»InsokaltemWasserzuschwimmen,machteinerNixenichtsaus. Faune hingegen sind nicht gerade für ihre Schwimmkünste bekannt. Gottheiten hin oder her. Das hätte übel enden können.«

»Es war eine dumme Idee«, wiegelte ich ab.

»Aber hat es funktioniert?«, fragte Lilou.

»Hatwasfunktioniert?«, wollte Mr Seymour wissen.

»Ähm …« Ich wusste nicht, wie ich Lilous Frage beantworten konnte, ohne dafür zu sorgen, dass weitere aufkamen. Wenn ich ehrlich war, kannte ich die Antwort nicht einmal selbst. Wirklich andersfühlteichmichnicht.SolltendurchdenKussmeinewahren Kräfteerwecktwordensein,hattensiesichnichtbemerkbargemacht. Kein Feuerwerk, kein Konfetti und kein Spruchbanner, das von der Decke gebaumelt hatte. Nichts.

Kassian schaute zu Mr Longo. »Sind wir hier fertig?«

»Ihnen fehlt nichts«, bestätigte er.

»Gut.« Er sprang vom Bett, packte mich am Arm und zog mich an Mr Seymour vorbei zum Ausgang. »Wir gehen.«

»Gehen? Aber wohin?«, rief uns Lilou nach.

»Stell keine dummen Fragen«, fuhr Kassian sie an.

»Gehtesnochauffälliger?«,zischteichmitgesenkterStimme.Mal davon abgesehen, dass sich seine Finger um meinen Arm wie ein Schraubstock anfühlten, ging es gar nicht, Lilou so anzublaffen. Ich versuchte, mich loszureißen, was er erst zuließ, als er einsah, dass er durchseinVerhaltenalleBlickeaufunszog.Fastschonentschuldigend löste er seine Hand von meinem Arm und trat einen Schritt zurück. Die Betonung lag dabei ganz klar auffast, denn wirklich nichts an diesem Kerl ließ auch nur vermuten, dass er wusste, was es bedeutete, Reue zu empfinden.

IchwandtemichLilouzu,währendichKassianausderTürschob. »Ich weiß, es geht gar nicht, wie er sich aufführt«, erklärte ich. »Er ist müde. Das sind wir beide. Wir reden morgen, okay?«

»O-okay«, stammelte sie verunsichert.

Ich schlug die Tür zu, stützte mich mit gespreizten Händen daran ab und schnaubte wie ein Stier durch die Nase. Es machte mich unheimlich wütend, gezwungen zu sein, Kassians Rückkehr für mich zu behalten. Ihm zusätzlich auch noch helfen zu müssen, sich nicht selbstzuverraten,gingeindeutigzuweit.EswareineSache,dass er mich zu seiner Komplizin gemacht hatte, aber eine ganz andere, Caleb wie ein Arschloch dastehen zu lassen. So einen Spruch wie eben hätte er niemals gebracht – besonders nicht Lilou gegenüber, von der er wusste, wie unsicher sie sich in seiner Gegenwart fühlte.

Angetrieben von meiner Wut wirbelte ich zu Kassian herum. »Wenn du es noch einmal wagst, Lilou so anzufahren!«, drohte ich mit erhobenem Zeigefinger.

Nochbevorichbegriff,wiemirgeschah,wurdeichamUnterkiefer gepackt und gegen die Tür gedrängt.

»Du hast nicht das Recht, mir etwas vorzuschreiben«, sagte Kassian mit bedrohlich gesenkter Stimme. Seine Hand umfasste fest meinen Kiefer und seine Magie legte sich wie ein Schleier über mich.

Wenn Mr Seymour in dem Moment nach draußen getreten wäre, hätte die ganze Geheimnistuerei ein Ende gehabt. Aber das tat er nicht. Auch mein dumpfer Aufprall gegen die Tür hatte niemanden alarmiert.

Ich atmete schwer, packte Kassians Arme und zerrte daran. »Lass mich los!«, verlangte ich krächzend. »Oder ich stoße diese verdammte Tür auf und verrate allen, wer du bist.«

»Daswirstdunichttun.«SeineWorteklangenwenigernacheiner Drohung als nach einer schlichten Feststellung. In ihnen schwang eine Ruhe mit, die kaum beängstigender hätte sein können. »Nicht, wenn dir das Leben deines Freundes etwas wert ist.«

»Er lebt?« Mein Herz machte einen Satz. Die ganze Zeit über hatte ich es nicht gewagt, den Gedanken zuzulassen, dass Caleb tot sein könnte. Er stand vor mir, atmete. Aber war er noch dort drin? War er irgendwo hinter diesen kalten, berechnenden Augen?

Kassian ging nicht auf meine Frage ein. »Du hast zwei Optionen«, sagte er. »Du hilfst mir oder du stirbst. Wofür entscheidest du dich?«

»Lass mich los«, verlangte ich erneut mit fester Stimme.

Ich musste mit den Füßen nach dem Boden tasten, weil er begonnen hatte, mich hochzustemmen. Er tat das völlig mühelos, schaute mich unbeirrt an und sein stechender Blick zeigte keine Gnade. Wenn er glaubte, mir Angst einjagen zu können, sich vielleicht sogar von dieser Angst zu nähren, irrte er sich. Ich schenkte ihm nicht die Genugtuung, auch nur einen Anflug von Furcht in mir zu lesen.

Es fühlte sich wie eine Ewigkeit an, in der wir dicht beieinanderstanden und er darauf wartete, dass ich eine Entscheidung traf.

Ich hielt seinem Blick stand und schwieg.

»Also gut«, sagte er.

Es klang beinahe, als täte ihm leid, was als Nächstes geschehen würde. Das hielt ihn aber nicht davon ab, seine Kräfte fließen zu lassen.

»Du brauchst mich«, japste ich.

Kassian ließ mich so plötzlich los, dass ich vor ihm auf die Knie sackte. Ich versuchte, mich zu sammeln.

Wäre es mir doch nur gelungen, meine Magie zu fassen zu bekommen. Ich hätte ihm zu gern eine eiskalte Dusche verpasst, aber gleichzeitig Magie wirken und nach Luft ringen, gehörte nicht zu meinen Stärken. Insbesondere dann, wenn weit und breit kein Wasser in Sicht war.

»Darin irrst du dich«, behauptete er und wandte sich zum Gehen. Er brauchte mich also nicht mehr? Er war nicht länger an mich gebunden und nur dadurch in der Lage, sich innerhalb des Schutzwalls der Schule zu bewegen?

Ich sah verschwommen, wie er sich von mir entfernte. Nach wenigen Schritten blieb er stehen. »Wenn du mich verrätst, weiß ich es«, hörte ich seine Stimme in meinem Kopf. »Ein falsches Wort und du wirst deinen Freund nie wiedersehen. Haben wir uns verstanden?«

Ich war also nicht die Einzige, die Telepathie beherrschte. Nur war ich nicht fähig, sie in meiner Menschengestalt anzuwenden. Er hingegen brauchte seine Dämonenfratze nicht zu enthüllen, um in meinem Kopf herumzuspuken.

Am liebsten hätte ich ihm gesagt, dass ich mich nicht erpressen ließ, dass er mich unterschätzte und besser beenden sollte, was er angefangen hatte, solange er noch konnte. Aber ich hing an meinem Leben. Widerwillig nickte ich und es fühlte sich an wie ein Verrat an mir selbst.

»Braves Kind«, sagte er und ging.

»Monster«, knurrte ich.

Wie hatte ich bloß auf den Gedanken kommen können, dass er mehr war als nur ein gnadenloser, gefühlskalter Dämon? Ich zog die Hand, mit der ich mich am Boden abstützte, zu einer Faust zusammen und schloss sie so fest, dass meine Knöchel weiß hervortraten. Erst hatte er Caleb angegriffen, ihn fast getötet, jetzt hatte er Besitz von seinem Körper ergriffen. Er lenkte ihn wie eine Marionette, genau wie er mich lenkte und zwang, nach seinen Regeln zu tanzen.

IchwarfeinenflüchtigenBlickzurTür,spieltemitdemGedanken aufzuspringen, sie aufzustoßen und Kassian zu verraten, aber das Risiko, dass er die Wahrheit sagte, war zu groß. Nicht grundlos hatte er mir seine telepathischen Fähigkeiten unter die Nase gerieben. Er konnte in meinen Kopf eindringen und musste nicht immer neben mir stehen, um mitzubekommen, wenn ich über ihn sprach. Auf diese Weise war er auch fähig gewesen, mich zu hören, als ich nach ihm gerufen hatte. Ich konnte nie wissen, wann er mich belauschte.

Wackelig richtete ich mich auf. Dabei fiel mir ein, dass sich die Wunden, die ich Bradfords Krallen verdankte, schonseiteinerWeilenichtmehrunangenehmgemeldethatten.Eilig tastete ich danach. Auch das löste keine Schmerzen aus. Ich hob meinen Pullover und stellte fest, dass aus den parallel laufenden Schlitzen,diesichvonmeinenRippenbiszumBauchnabelgezogen hatten, Narben geworden waren. Der Vorfall lag keine vierundzwanzig Stunden zurück und trotzdem waren die Wunden verheilt. Das konnte ich unmöglich der Wundsalbe zu verdanken haben. Aber was steckte dann dahinter?

Ich schaute Kassian nach. Ob er wusste, was es mit der plötzlichen Heilung auf sich hatte? Mit Sicherheit wusste er viel. Viel mehr als ich. Nur bezweifelte ich, dass er sein Wissen freiwillig mit mir teilen würde, solange es ihm keine Vorteile brachte.

Die Türklinke der Krankenstation wurde nach unten gedrückt und ich suchte schnell das Weite, bevor ich jemandem erklären musste, was ich allein auf dem Flur machte, wo Caleb geblieben war und wieso er sich so seltsam benommen hatte.

Wenige Minuten nach der Auseinandersetzung mit Kassian kam ich in meiner Grotte an. Ich hatte völlig vergessen, dass sie mittlerweile leer geräumt war. Wobei ich mitleer geräumtmaßlos übertrieb. Sie standimmernochvollmitKleinkram,Schatullen,Muscheln,Korallen, getrockneten Seesternen und anderen Fundstücken aus dem Meer. Bestimmt erzählte jedes einzelne Teil eine Geschichte und mir kam es fast so vor, als könnte ich diese Geschichten erahnen, wenn ich meine Finger über die vielen Schätze wandern ließ. Obwohl das alles nicht mir gehörte, sondern von den Nixen stammte, die diese Grotte vor mir bewohnt hatten, gaben mir die Gegenstände ein vertrautes Gefühl von Zuhause. Nur änderte das nichts daran, dass sich mein persönlicher Kram, inklusive meinem Handy, in Calebs Zimmer befand. Ich hatte weder ein Nachthemd noch eine Zahnbürste, nur die Klamotten, die ich am Leib trug.

Ich lehnte mich an eine Wand, rutschte daran zu Boden und stützte meinen Kopf mit den Händen ab.

Vertrau mir, hatte Caleb gesagt. Das hörte ich andauernd. Von Caleb, Seth, Bradford. Und dann endete es doch immer im Chaos. Wem ich jetzt noch vertrauen konnte, wusste ich nicht. Ich vertraute nicht einmal mir selbst, meinen eigenen Instinkten. Schließlich hatten die mir einreden wollen, dass Kassian kein Monster war. Wie sehr ich mich doch geirrt hatte.

Eine ganze Weile saß ich allein in meiner Grotte am Boden, während im Speisesaal der große Sieg über den Incubus gefeiert wurde. Ichwusstenicht,wasichtunsollte.ZuBradfordgehenundihmsagen, dass Kassian nicht verbannt worden war, konnte ich nicht. Nicht, solange Calebs Leben von meinem Schweigen abhing. Aber warten, bis der Dämon sein nächstes Opfer gefunden hatte? Das konnte ich ebenso wenig.

Ich stand auf, schleppte mich zu meinem Bett und verkroch mich unter der Decke. An Schlaf war aber nicht zu denken. Wie auch mit einem Karussell aus unbeantworteten Fragen im Kopf. Ich hörte, wie die Nixen zurückkehrten, lachten, scherzten, ihre Grotten aufsuchten, bis es allmählich wieder still wurde. Währenddessen wälzte ich mich hin und her, drückte mir ein Kissen aufs Gesicht und warf es schließlich in einem stummen Schrei von mir.

Esgingnicht.IchbekamkeinAugezu.Dabeihätteichnachallem, was geschehen war, zu Tode erschöpft sein müssen. Das Gegenteil war der Fall. Ich fühlte mich wie nach dem Konsum von fünf Litern Kaffee.

Irgendwannbeschlossich,mirdieBeinezuvertreten,inderHoffnung, dass mich die Müdigkeit doch noch einholen würde.

Wie ein Geist wanderte ich durch die Korridore der Schule, begegnete nur hin und wieder anderen Leuten, ging ihnen aber so gut wie möglich aus dem Weg.

Einige riefen mir etwas nach, gratulierten mir zu meinem Sieg überdenDämon,betiteltenmichalsHeldinoderalsNixederStunde. Ich hatte für die Sprüche und Lobeshymnen nur ein flüchtiges Lächeln oder einen halbherzigen Dank übrig. Schließlich war das Ritual schiefgelaufen, der Dämon war nicht verbannt, auch wenn das niemand ahnte.

Irgendwann fand ich mich vor Calebs Zimmer wieder. Es war nicht meine Absicht gewesen, dorthin zu gehen. Meine Füße hatten den Weg von ganz allein gefunden. Sie hatten mich an den Ort gebracht, an dem sich Antworten befanden. Antworten, die ich dringend brauchte, von denen ich aber bezweifelte, dass Kassian sie mir geben würde – falls er überhaupt hier war. Ich hatte keine Ahnung, ob er auf Calebs Erinnerungen zugreifen konnte und wusste, wo sich dessen Zimmer befand. Und selbst wenn, würde er seine erste Nacht in einem fremden Körper schlafend in einem Bett verbringen? Brauchten Incubi überhaupt Schlaf? Darüber nachzudenken, bereitete mir Kopfschmerzen.

Ich spielte mit dem Gedanken zu klopfen und hob die Hand. Im Inneren war es still, es fiel auch kein Licht durch den Türschlitz. Also war er vielleicht wirklich nicht da. Oder er schlief.

Noch einmal um mein Leben bangen wollte ich ganz bestimmt nicht.Daswaresabernicht,wasmichdavonabhieltzuklopfen. Er konnte mich kein weiteres Mal so überrumpeln. Der Grund für mein Zögern war, dass ich ihn nicht gewinnen lassen wollte. Ich wollte nicht angekrochen kommen, nachdem er mich bewusst mit einem Haufen Fragen zurückgelassen hatte.

Statt zu klopfen,legte ich meine Hand an die Tür und schloss die Augen.Wasichmirdavonerhoffte,wussteichnicht.Jedenfallsnicht, dass jemand die Tür aufreißen würde. Doch genau das geschah.

Vom Mondlicht umrahmt zeichnete sich Calebs Silhouette vor mirab.Dassnichtereswar,dervormirstand,bewiesKassianskalte, abweisendeAura.SelbstimDunkeln,ohnedassichseinGesicht erkennen konnte, nahm ich sie wahr. Ich spürte ihn, spürte seinen stechenden Blick und schrumpfte innerlich zusammen. Allein seine Nähe reichte aus, um alles in mir wachzurufen, was mich quälte.

Wortlos trat er beiseite und deutete ins Innere.

Ich dachte nicht daran, seiner Aufforderung nachzukommen und diesen stockfinsteren Raum zu betreten, wo ich mit ihm allein wäre. Zumindest fast allein, denn auf dem ansonsten unberührten Bett lag Lancie und schlief. Wie es aussah, störte sich der Kater nicht an dem Fremden, der in Calebs Körper steckte.

»Er lebt?«, wiederholte ich die Frage, die mir Kassian beim ersten Mal nicht beantwortet hatte. Mit festem Blick schaute ich ihn an.

KassianbautesichimTürrahmenaufundkammirdadurch so nah, dass ich aufschauen musste, um sein Gesicht zu sehen. Offenbar gefiel es ihm, so hochgewachsen zu sein. Caleb war gut eine Handbreit größer als Kassians bisherige Gestalt. Er musterte mich von oben herab und nickte schließlich. »Wenn das alles ist …«

»Ich will Beweise«, verlangte ich.

Kassian verengte den Blick. Er hob das Kinn, sah mich durch schmale Augen an und schmunzelte dabei auf diese diabolische Weise. Dass es Calebs Lippen waren, die sich in den Mundwinkeln kräuselten, machte es nur noch erschreckender.

»Beweisewillstdualso«,höhnteer.»Glaubstdu,ichlügedichan?«

»Du hast bisher nichts getan, was dich als vertrauenswürdig ausweist«, erinnerte ich ihn.

SeinSchmunzelnwurdebreiter.»Daskönnteichauchvondirbehaupten. Schließlich warst du diejenige, die mich in eine Falle gelockt hat. Aber bitte, ich bin neugierig. Was habe ich getan, das dich glauben lässt, meinem Wort nicht vertrauen zu können?«

»Abgesehen davon, dass du auf mich losgegangen bist und gedroht hast, mich zu töten, wenn ich nicht nach deiner Pfeife tanze?«, warf ich ihm abschätzig entgegen.

Anerkennung mischte sich in seinen Blick. »Abgesehen davon.«

»Du hast mehrere Schüler attackiert«, erinnerte ich ihn.

»Um meinen Hunger zu stillen, ja«, bestätigte er. »Aber das kam wohl kaum überraschend. Ich bin, was ich bin, daraus habe ich nie einen Hehl gemacht.«

Ich trat einen Schritt auf ihn zu, ohne den Blick von ihm zu nehmen. »Du hast Caleb angegriffen und das hatte nichts mit deinem Hunger zu tun. Du wolltest ihn töten, weil er dir ein Dorn im Auge war.«

»Caleb?«, fragte er, als hätte er den Namen noch nie gehört. Dann lehnte er sich etwas zurück, breitete die Arme aus und schaute an sich herunter. »Dieser stramme Bursche hier?«

»Tu nicht so«, warnte ich ihn.

Er beugte sich zu mir und sprach im Flüsterton weiter. »Ich habe ihn nie angerührt.«

»Und weil ich weiß, dass das eine Lüge ist, kann ich dir nicht vertrauen«, schloss ich meine Argumentation. Wenn es ernsthaft sein Plan gewesen wäre, mein Vertrauen zu gewinnen, hätte er zumindest versuchen können, sich etwas Besseres einfallen zu lassen.

»Damit kommen wir wieder an den Punkt, dass du diejenige warst, die mich in eine Falle gelockt hat. Nicht umgekehrt.«

»HättedichdeineTelepathienichtdavorwarnenmüssen?«,fragte ich.

»So funktioniert das nicht«, behauptete er.

»Ach ja? Vielleicht hast du es nur nicht wissen wollen, weil dir unbewusst klar war, dass es das einzig Richtige gewesen wäre, von uns fortgeschickt zu werden. Hättest du dich nicht dagegen gewehrt, wärst du jetzt in deiner eigenen Sphäre, statt im Körper eines anderen festzusitzen.«

Kassian hob eine Braue. »Und das glaubst du wirklich?«

Ich musterte ihn einen Moment lang, gab dann aber auf. »Ich hätte nicht herkommen sollen.« Mit dieser Einsicht wandte ich mich zum Gehen.

ErpacktemichamArmundzogmichmiteinemRucksonah an sich heran, dass ich mich Auge in Auge mit ihm wiederfand – so nah, dass sein Atem warm über meine Haut streifte.

»Ein falsches Wort«, warnte er mich mit einem dunklen Raunen. Sein Blick durchforstete mich, als könnte er keinem Versprechen aus meinem Mund Glauben schenken, ohne es auch in meinen Augen zu lesen.

»Wenn du glaubst, dass …«, begann ich in einem Tonfall, der nicht weniger bedrohlich klang als seiner, brach aber ab, weil sich etwas in seinem Blick veränderte. Er wirkte mit einem Mal verloren, fand keinen festen Halt und auch sein Griff um meinen Arm lockerte sich.

Es war fast, als wäre …

»Caleb!« Ich begriff gerade noch rechtzeitig, was hier passierte, um ihn zu stützen, bevor ihm die Knie wegbrachen und er zu Boden sackte.

»Devin, was …«, brachte er kraftlos hervor, schaute sich um und wirkte dabei wie aus einem tiefen Schlaf gerissen. »Wie sind wir hierhergekommen?«

»Wir … wir sind …« Ich wusste nicht, wie ich ihm das erklären sollte. »Es ist alles gut«, versprach ich schließlich. Ich berührte seine Wange, spürte die Hitze seiner Haut, seine Nähe, all seine Wärme. Es schnürte mir die Kehle zu. Ich hätte weinen können. Schreien.

Caleb legte seine Hand auf meine, umschloss sie mit den Fingern. »Du siehst nicht aus, als wäre alles gut. Was ist passiert?«

»Es ist …« Ich suchte nach Worten.

Ein dämonisches Glimmen flackerte in seiner linken Pupille auf, Calebs Wärme verschwand hinter dunklen Schatten und ich entriss ihm augenblicklich meine Hand. Sofort war ich auf den Beinen und brachte Abstand zwischen uns.

»Kein falsches Wort, habe ich gesagt«, zischte Kassian wie eine Schlange kurz vor dem Angriff.

»Ich hatte nicht vor, etwas zu verraten«, warf ich zurück.

»Ach ja?« Er hievte Calebs Körper umständlich auf die Füße. Ein Anblick, der mir erschreckend bekannt vorkam. Auch damals in der Bibliothek, als ich ihn über den Vampir gebeugt vorgefunden hatte, war er auf eine Weise aufgestanden, die an das Aufrichten einer Marionette erinnerte, die an unsichtbaren Fäden hing.

Konnte das bedeuten, dass auch sein vorheriger Körper nicht sein eigener gewesen war? Aber wie hatte er ihn dann in Rauch auflösen undwiederzueinerfestenFormzusammenfügenkönnen?Verloren sich die Körper, von denen er Besitz ergriff, nach und nach und lösten sich irgendwann ganz auf? Wenn dem so war, würde das auch mit Caleb passieren? War Kassians vorheriger Körper auch nur ein unschuldiges Opfer gewesen? Oder war ich auf der falschen Fährte? Ich wusste es nicht. Ich wusste nur, dass Kassian mir ganz bestimmt nicht die ersehnten Antworten liefern würde. Ganz im Gegenteil.

»Du wirst ihm kein Haar krümmen«, verlangte ich mit fester Stimme und schob mich an ihm vorbei in den Raum.

»So lautet der Deal«, bestätigte er.

Überrascht schaute ich ihn an. Das hatte ich nicht erwartet. Weitere Drohungen, sein hämisches Lachen vielleicht. Aber dass er von einem Deal sprach, als hätten wir eine feste Abmachung, an die er sich halten wollte, kam mir befremdlich vor. Es verwirrte mich so sehr, dass ich bloß mit einem zittrigen »Gut« reagierte.

Ichwandtemichum,holtemeinenKoffer,rollteihnzumSchreibtisch und zog dort das Handy vom Ladekabel. Ich hatte ein paar Nachrichten bekommen, mit denen ich mich im Moment jedoch nicht beschäftigen konnte.

»Du wirstniemandemSchaden zufügen«, fuhr ich fort. »Du bringst zu Ende, was auch immer dich an diese Schule geführt hat, und dann verschwindest du.«

Ichversuchte,michzusammeln,undschauteihnauffordernd an. Lange hielt ich das aber nicht durch. Es war unerträglich, ihn in dieser Gestalt vor mir zu sehen. Der Gedanke, dass Caleb irgendwo tief in ihm schlummerte, in seinem eigenen Körper eingesperrt war, tat zu sehr weh.

Damit Kassian nichts davon mitbekam, ließ ich meinen Blick auf der Suche nach meinen Habseligkeiten durch das Zimmer schweifen. Im Dunkeln war das gar nicht so leicht. Ich fand den blutverschmierten Hoodie und meine Leggins. Beides klaubte ich vom Boden auf und stopfte es in meinen Koffer.

»Hast du noch mehr Forderungen oder war es das vorerst, Butterblümchen?« Kassian schlenderte durch den Raum und schaute sich dabei ebenfalls um.

Ich schob mein Handy in die Gesäßtasche, wandte mich dem Bett zu und nahm den Kater auf den Arm. »Für dich finden wir eine bessere Unterkunft«, versprach ich ihm.

Ich klappte meinen Koffer zu und machte mich auf den Weg zur Tür, hielt neben Kassian aber noch einmal inne. »Nur eines noch: Hör auf, mich so zu nennen.«

Damit entlockte ich ihm ein schiefes Grinsen, und wenn mir nicht schon vorher klar gewesen wäre, dass er mich nicht wirklich ernst nahm, hätte ich es spätestens jetzt gewusst.

LanciewandsichausmeinemArmundrannteaufdenFlurhinaus.

»Verdammt«, knurrte ich, stürzte ihm nach, konnte ihn aber nirgends entdecken.

»Hast du nicht etwas vergessen?«, fragte Kassian in unschuldigem Tonfall.

Ich wandtemich zu ihm um. Er stand im dunklen Zimmer undhielt etwas hoch. Erst auf den zweiten Blick erkannte ich,worum es sich handelte. Mir schoss die Hitze ins Gesicht.Ich hatte mir den Hoodie und die Leggings gegriffen, ausdenen ich nach dem Verbannungsritual geschlüpft war, um mir frischeKlamotten anzuziehen, das Höschen aber übersehen. Und eben das baumeltejetzt an Kassians Finger.

Dieser skrupellose Mistkerl wusste genau, wie peinlich mir das sein musste. Ihm das zu zeigen, verkniff ich mir aber. Ich stapfte direkt auf ihn zu und entriss ihm meine Unterwäsche.

»Das verspricht eine unterhaltsame Zeit zu werden«, meinte er.

»Ganz bestimmt nicht«, schwor ich, wirbelte herum und verließ das Zimmer.

»Wie du meinst,Butterblümchen«, rief er mir nach.

Ich schnaubte verächtlich und knallte die Tür mit einer solchen Wucht zu, dass es durch den gesamten Flur hallte. Wütend schraubte ich meine Hand fester um den Griff des Koffers und zerrte ihn so lieblos hinter mir her, als wäre er schuld an allem.

Ich musste einen Weg finden, Kassian dorthin zu schicken, wo er hingehörte.

2

Sirenen kann man nicht belügen

DassichamnächstenTagwiederTodselbstaussah,warkeineÜberraschung. Genauso wenig hätte es mich überrascht, wenn Mr Seymour bei meinem Anblick seine Chance auf ein Wiederbelebungsritual gewittert hätte, weil ich wie ein Zombie durch die Korridore schlich.

Wenigstens hatte ich mich umziehen und mir die Zähne putzen können, bevor ich zum Speisesaal aufgebrochen war. Was mich dort erwartenwürde,konnteichnurerahnen,befürchteteaber,dass sich dieser Morgen nahtlos an den katastrophalen Abend anschließen würde. Es war unwahrscheinlich, dass Kassian über Nacht zu einem netten Kerl mutiert war, freundlich lächelnd mit den anderen am Tisch saß, Höflichkeiten austauschte oder ein paar Witze riss. Ich machte mir auch keine großen Hoffnungen, dass seine Suche über Nacht erfolgreich gewesen war und erlängst das Weite gesucht hatte.

Kaum war ich durch die Tür getreten, hing mir auch schon Lilou am Arm. »Mach dich darauf gefasst, dass ich dich mit Fragen durchlöchern werde. Ich will alles über deinen ersten Kuss wissen. Lass kein Detail aus!«

AnmeinVersprechen,ihrvomgestrigenAbendzuerzählen,hatte ich nicht mehr gedacht. Es nicht einzuhalten, hätte ich aber kaum übers Herz bringen können, so wie mich Lilou mit ihren großen Augen neugierig anschaute.

»Es war …«, begann ich und überlegte noch, wie ich den Satz fortsetzen sollte, ohne zu viel zu verraten, als sie mich auch schon zu einem der Tische zog.

DasieeineSirenewar,konnteichsieschlechtbelügen,alsomusste jedes Wort wohlüberlegt sein.

»Jetzt behaupte bloß nicht, es war nichts Besonderes!« Sie setzte sich mir gegenüber und schaute mich erwartungsvoll an.

»Das hatte ich nicht vor.« Bei dem Gedanken an den Abend mit Caleb schlich sich unwillkürlich ein Lächeln auf meine Lippen. Bevor in der Grotte der Kelpies alles schiefgelaufen war, hatte ich Unglaublichesgefühlt.Ichwarglücklichgewesenwienochniezuvor in meinem Leben, war eins geworden mit Caleb, mit allem, was ihn ausmachte. Ich hatte Dinge gefühlt, die nicht nur an Magie gegrenzt hatten, sondern pure, unverfälschte Magie gewesen waren.

Genauso kurz wie dieser unbeschreibliche Moment zwischen mir undihmangehaltenhatte,hieltnunauchmeinLächeln.Einbitterer Beigeschmack mischte sich in meine Erinnerung. Für mich war der Kuss wie ein wahr gewordener Traum gewesen. Aber hatte das Gefühl, mit ihm zu verschmelzen, nicht daher gerührt, dass seine Lebenskraft auf mich übergegangen war? Wie konnte es sein, dass etwas so Wunderbares, was sich so richtig angefühlt hatte, in Wahrheit etwas so Grausames war?

Na ja, wenn ich darüber nachdachte, hatte die Katze auch ihre Freudedaran,mitderMauszuspielen,währendsichdasarmeMäuschen bestimmt Besseres vorstellen konnte, als bei lebendigem Leib aufgefressen zu werden.

Mir schnürte sich alles zusammen. Hatte sich Caleb so gefühlt? Wehrlos und mir ausgeliefert? Zumindest hatteer sich in den wenigen Sekunden, die uns Kassian gegönnt hatte, nichts anmerken lassen. Vielleicht konnte er sich auch nicht mehr daran erinnern.

»Jetzt wirkst du wieder so betrübt«, meinte Lilou. »Genau wie gestern. Es hat nicht funktioniert, oder?«

Sie meinte damit unseren Versuch, mit dem Kuss meine Kräfte zu wecken. Ich war definitiv nicht zu Wonder Women geworden. So viel stand fest.

»Ich fühle mich nicht anders. Aber ich vermute, dass müsste ich, wenn meine wahren Kräfte freigesetzt worden wären, oder?«

»Ichdenke,einenVersuchwareswert«,versuchteLiloudasGanze in ein positives Licht zu rücken. »Bei so einem alten Buch weiß man nie, wie zuverlässig es ist. Aber jetzt erzähl mir von dem Kuss!«

Ich kam nicht dazu, mir etwas einfallen zu lassen, weil sich in dem Moment nicht nur Alvar zu uns gesellte, sondern auch ein paar weitere Schüler die freien Plätze an unserem Tisch besetzten.

DerSpeisesaalwarmittlerweilegutgefülltunddieGeräuschkulisse gestiegen. Ich war nicht die Einzige, die übernächtigt aussah. Die Feier vom Vorabend hatte bei vielen Spuren hinterlassen. Blasse Gesichter, dunkle Augenringe und ständiges Gähnen waren allgegenwärtig.

Alvar gehörte nicht zu den Übermüdeten. Schwungvoll platzierte er seinen Hintern auf dem Tisch, machte sich lang und stützte seinen Kopf mit der Hand ab.

»Guten Morgen, meine Damen«, begrüßte er uns überschwänglich. »Wo ist denn der holde Herr, mit dem unsere Nixenprinzessin gestern Abend klammheimlich verschwunden ist?« Er wackelte vielsagend mit den Augenbrauen.

»Andere Leute wollen von dem Tisch essen«, beschwerte sich jemand.

»Keine Sorge, ich bin frisch gemäht, gedüngt und garantiert frei von Ungeziefer«, beschwichtigte er. »Nur Biodünger, versteht sich.« Er fuhr sich mit gespreizten Fingern durch sein Grashaar und zwinkerte Lilou dabei zu, was ihr ein Lächeln entlockte.

»Du hast Caleb also noch nicht gesehen?«, fragte ich.

Mein Tonfall klang wohl beunruhigter, als ich es vorgehabt hatte, denn Alvar setzte sich sofort auf.

»Nein, wieso? Gibt es etwas, das ich wissen sollte?« Er verengte nachdenklich den Blick. »War er zu aufdringlich und du hast ihm ein blaues Auge verpasst?«

»Nein,ich …ichdenke,erschläftvielleichtnoch«,wiegelteichab. Ich wollte nicht, dass sich jemand Sorgen machte, bevor ich einen Plan hatte, wie ich von Kassian erzählen könnte, ohne Calebs Leben zu gefährden.

Ein neckendes Schmunzeln schlich sich auf Alvars Lippen. »Ihr habt also etwas getrieben, das ihn so ausgelaugt hat, dass Mr Oberpünktlich verpennt?«

»Okay, das war jetzt ein Spruch zu viel«, entschied ich, stand auf und machte mich auf den Weg zur Essenausgabe.

»Ach komm schon!«, rief mir Alvar nach. »Das war doch nur ein Witz.«

»Der aber nicht witzig war«, gab ihm Lilou zu verstehen. Dann schloss sie zu mir auf. »Du weißt doch, wie er ist. Er hat es bestimmt nicht böse gemeint.«

»Das ist mir auch klar«, sagte ich. Ich hielt es nur nicht aus, mir solche Sprüche anzuhören, während Caleb als Geisel gehalten wurde und ich Kassian völlig machtlos und auf mich allein gestellt gegenüberstand.

»Warum bist du ihm dann so über den Mund gefahren?«, fragte Lilou und schaute zu Alvar zurück.

»Bin ich das?« Zugegeben, ich war etwas schroff gewesen, aber mehr auch nicht. Zumindest war es mir nicht so vorgekommen. Aber wahrscheinlich war ich zu müde, um das richtig einschätzen zu können.

»Sonst bist du nicht so grob«, meinte sie.

»Ich …« Erschöpft rieb ich mir den Nasenrücken.

»Genau wie Caleb gestern auf der Krankenstation«, fuhr Lilou fort.

Bei dem Gedanken, dass sie mich unwissentlich mit einem Dämon verglich, stieß ich ein hohles Lachen aus. »Glaub mir, ich bin ganz bestimmt nicht so wie er.«

»Ihr habt euch gestritten, oder?«, mutmaßte sie.

»Lilou«, begann ich. Ich hätte nichts andeuten dürfen, was ich nicht erklären konnte. Doch die Einsicht kam zu spät. »Ich kann wirklich nicht darüber reden.«

»O-okay.« Es war nur ein zittrig ausgesprochenes Wort, aber es lag so viel mehr darin. Ich hatte sie verletzt. Unbeabsichtigt, aber ich hatte es getan und das tat mir wahrscheinlich genauso weh wie ihr.

»Es tut mir wirklich leid«, schwor ich.

»Nein, schon gut.« Sie gab sich tapfer. »Du hast deine Geheimnisse und ich habe meine. Wir müssen uns nicht alles erzählen. Ein Geheimnis vor einer Sirene zu haben, ist echt nicht leicht. Das weiß ich. Deswegen gehen mir ja auch alle aus dem Weg und …«

»Ich wollte nie eine von denen sein«, unterbrach ich sie. »Und ich will dir auch nicht aus dem Weg gehen. Nur über diese eine Sache kann ich wirklich nicht reden.«

»Das müssen wir auch nicht.« Sie zwang sich ein verwaschenes Halblächeln auf.

Ich lächelte ebenfalls und nickte, auch wenn es mir schwerfiel, so zu tun, als wäre alles in Ordnung. Es war vielleicht naiv gewesen, aber ich hatte geglaubt, dass ich nie zu den Leuten gehören würde, die in Lilous Gegenwart einen Eierschalentanz aufführten. Ich wollte mir nicht jeden einzelnen Satz, den ich zu ihr sagte, genau überlegen müssen, um kein Geheimnis auszuplaudern. Dass ich überhaupt ein Geheimnis vor ihr haben musste, verdankte ich allein Kassian.

Unwillkürlich schaute ich zur Tür. Auf der einen Seite wäre es mir lieber gewesen, er würde gar nicht erst zum Frühstück auftauchen, auf der anderen Seite fragte ich mich, was er gerade trieb. Als Bedingung für mein Schweigen hatte ich zwar verlangt, dass er niemandem ein Haar krümmte, aber sein Versprechen hatte er mir nicht gegeben. Dass ich nicht als Butterblümchen bezeichnet werden wollte, war ihm auch egal gewesen.

Ich schaute mich im Speisesaal um. Die anderen lachten und scherzten miteinander, schwärmten vom gestrigen Abend und schmiedetenPlänefürdenkommendenSchulball.VonderAnspannung, die in den letzten Wochen vorgeherrscht hatte, war nichts mehrzuspüren.Sieahntennicht,dasssichimGrundenichtsgeändert hatte, dass Kassian noch unter uns weilte und jederzeit zur Gefahr werden konnte.

Mir wurde beinahe übel bei dem Gedanken, dass ich nicht nur Lilou die Wahrheit verschwieg. Ich verschwieg sie der ganzen Schule.

Mein Blick glitt hinauf zur Galerie, wo die Tische des Kollegiums standen. »Ich kann Seth und Mr Seymour gar nicht sehen«, stellte ich fest.

»Die sind bestimmt schon abgereist«, meinte Lilou. »Kaffee?«

»Ähm, ja, danke.«

Lilou hatte uns ein Tablett geholt und stellte neben ihren Algensalat eine Tasse für mich bereit.

Auch im Laufe des Morgens ließ sich Kassian nicht blicken. Wir besuchten unterschiedliche Kurse, sodass ich nicht wusste, ob er zum Unterricht erschienen war. Ich bezweifelte es aber. Ein Dämon, der ohne Skrupel Unschuldige angriff, scherte sich bestimmt nicht um den Ärger, den sein Wirt fürs Schulschwänzen bekäme. Und großes Interesse an Magiekunde, Alternativgeschichte oder Pflanzenheilkunde hatte er sicher erst recht nicht.

Die Schule hätte ich mir an diesem Tag ebenfalls schenken können. Ich war kaum fähig, mich auf den Unterricht zu konzentrieren, denn ich rechnete jederzeit damit, dass jemand ins Klassenzimmer stürmen und die Rückkehr des Dämons verkünden würde. Es war fast nicht auszuhalten, dabei zuzusehen, wie die anderen völlig gelassen durch die Flure schlenderten – teils allein oder durch dunkle Korridore, in die sich während der Bedrohung durch den Incubus niemand getraut hätte.

Auch ihre vielen Fragen machten mir zu schaffen. Sie wollten alles über Kassians Verbannung wissen und brachten immer wieder zum Ausdruck, wie erleichtert sie darüber waren, dass endlich alles vorbei war und sie keine Angst mehr haben mussten. Meine Warnungen, dass jederzeit ein anderer Incubus in die Schule eindringen könnte, änderten nichts daran.

Egal wie, ich musste einen Weg finden, Kassian zu bekämpfen. Nur dass ich diesmal niemanden einweihen durfte, um Caleb nicht in Gefahr zu bringen. Zu sagen, dass meine Lage zum Verzweifeln war, wäre maßlos untertrieben gewesen.

Fünf Stunden später, nach einem überdimensional großen Kaffee und einem Müsli zur Mittagszeit, stand ein Kurs auf meinem Stundenplan, der mir eine Freistunde einbrachte: Gesang. Ich konnte nicht singen, also war ich vom Unterricht freigestellt und hatte vor, die Stunde fernab vom Trubel in meiner Grotte zu verbringen, eingekuschelt in meine Kissen.

AufdemWegdurchdieTunneldesKellergewölbes,vorbeianden Schwimmwegen, die sich wie Adern durch die Höhlenwände zogen, wurde ich von Mahina abgefangen. Sie hatte die Mittagspause mit zweiNixenfreundinneninihrerGrotteverbrachtundkamauf mich zu.

»Devin!«, rief sie mir freudig entgegen und bedeutete ihren Freundinnen, ihr zu folgen.

Ich kannte die beiden Mädchen schon von früheren Zusammenstößen. Ihnen verdankte ich meinen Tauchgang im Devils Hole, den ich nur dank Kassians Eingreifen überlebt hatte. Die eine Nixe war klein, mit sanften Kurven, roten Haaren und Sommersprossen auf der blassweißen Haut, die andere blond, schlank und so groß, dass sie Caleb Konkurrenz machen konnte.

Die Tatsache, dass die beiden auf Dalias Anweisung hin nicht gerade freundlich mit mir umgegangen waren, schien ihnen noch gut im Gedächtnis zu sein, denn sie schlossen sich Mahina nur zögerlich an und mieden es, mich anzuschauen.

»Mahina«, begrüßte ich sie mit einem Nicken. »Evie und Galina, oder?« Fragend sah ich zuerst zu der Rothaarigen, dann zu der blonden Hünin. Ihre Bemühungen, wahlweise unsichtbar zu werden oder im Boden zu versinken, ignorierte ich.

»Hi«, gab Evie mit einem verlegenen Lächeln zurück. Sie zog an Mahinas Arm. »Wir müssen echt zum Unterricht.«

Mahina befreite sich von ihr. »Ich weiß! Was denkt ihr, warum ich Devin abgefangen habe?«

»Um ihr eine schöne Freistunde zu wünschen?«, mutmaßte Galina. »Du hast doch jetzt frei, oder? Du warst noch nie mit uns im Gesangsunterricht.« Es war kaum zu überhören, welche Antwort sie sich von mir erhoffte.

»Aus gutem Grund, ich kann nicht singen«, bestätigte ich zu ihrer Erleichterung.

»Duwarstdochnurfreigestellt,weildudicherstmitdeinerNixengestalt anfreunden musstest«, erinnerte mich Mahina. »Nachdem du nun in die Geschichte eingehen wirst, als die Nixe, die die sieben Weltmeere vereint hat, wird der Gesangsunterricht doch eine Kleinigkeit für dich sein.«

Ich lachte. »Das hört sich heroischer an, als es tatsächlich war.«

»Ich finde es genau passend«, widersprach sie.

»Dalia würde das wahrscheinlich anders sehen«, murmelte Galina.

»Dalia war es, die es genau so formuliert hat«, hielt Mahina dagegen und wandte sich wieder mir zu. »Also? Gehen wir?«

»Ich kann wirklich nicht –«, setzte ich an.

»Singen?«, fiel sie mir ins Wort, hakte sich bei mir ein und zog mich mit sich. »Dafür ist der Unterricht doch da. Wäre ja seltsam, wenn man uns nur Dinge beibringen würde, die wir schon draufhaben.«

Ich schaute sehnsüchtig zurück zu meiner Grotte, wo ein ganzes Arsenal an kuscheligen Kissen und Decken auf mich wartete. Fast schon konnte ich sie nach mir rufen hören.

Aber wahrscheinlich war ich zu müde, um mich gegen Mahina zurWehrzusetzen.Wiederstandlosließichmichvonihrmitziehen.

DerGesangsunterrichtfandentgegenmeinerErwartungnichtineinem der Klassenräume in den oberen Stockwerken statt. Ich hatte einen typischen Musiksaal mit klapprigem Klavier und anderen, abgenutzten Instrumenten im Kopf gehabt, landete aber in der zentralen Höhle des Kellergewölbes.

Es war ein mulmiges Gefühl, sie wieder zu betreten, nachdem ich zwischen den acht Steintoren, die von meinen Vorfahren errichtet worden waren, gegen Kassian gekämpft hatte.

Mal abgesehen davon, dass es an diesem Ort weder Tische noch Stühle, geschweige denn ein Klavier gab, hatte die Höhle zumindest einen entscheidenden Vorteil: ihren Klang. Als Rundgewölbe mit imposanter Größe sorgte sie für eine perfekte Geräuschkulisse.

Zumindest stellte ich mir vor, wie beeindruckend es sein musste, jemanden mittig zwischen den Toren eine Arie singen zu hören. Wenn niemand einen Hörsturz riskieren wollte, sollte ich allerdings nicht diejenige sein.

Ich schaute mich nach dem Professor um, konnte ihn zwischen den Anwesenden aber nicht finden. Sobald er auftauchte, würde ich ihm erklären, warum dieser Kurs nichts für mich war, und mich wieder freistellen lassen.

Neben den Nixen, zu denen sich meine drei Kidnapperinnen gesellten, nahmen auch ein paar andere Magiebegabte am Unterricht teil.KeineHexenwieinTierkommunikation,dafüreineGruppeaus fünf Schülerinnen und Schülern, die nicht so aufgetakelt und bunt geschminkt waren wie die Nixen, und trotzdem nicht weniger Blicke auf sich zogen. Sie strahlten eine ganz andere Art von Stolz aus, eine faszinierende Eleganz und Schönheit, die wenig mit äußeren Merkmalen zu tun hatte. Aus unerklärlichen Gründen fiel es mir schwer, sie nicht anzustarren. Es gelang mir nur, weil mir jemand die Sicht versperrte.

»Lilou?«, stellte ich überrascht fest.

»Wie sie leibt und lebt!«, sagte sie breit grinsend. »Wenn du schon früher an diesem Kurs teilgenommen hättest, wüsstest du, dass wir ihn zusammen haben.«

Ich lächelte. »Wenn ich gewusst hätte, dass wir ihn zusammen haben, hätte ich ihn auch schon früher besucht.« Mein Blick glitt ganz unwillkürlich an ihr vorbei zu der kleinen Gruppe. »Sind das …?«

»DieanderenSirenen?Ja,dassindsie.Duhastsiebestimmtschon mal auf den Fluren gesehen.«

»Nichtbewusst.«MeinBlicklagimmernochaufihnen.Ichkonnte nichts dagegen tun.

Lilou wedelte mit der Hand vor meinem Gesicht herum. »Guck nicht zu lange hin, sonst kannst du nicht mehr wegschauen. Ihre Kräfte sind viel stärker als meine. Besonders, wenn sie alle zusammenstehen und so nah sind.«

Ich wusste, was sie meinte. Es war mir kaum möglich, mich auf das zu konzentrieren, was um uns herum geschah. Zu sehr faszinierten mich diese fünf Sirenen. Ich blinzelte und schüttelte den Kopf,umdieGedankenansieloszuwerden.»Mankannsiealsogenauso wenig belügen wie dich«, sprach ich aus, was mir durch den Kopf ging. Das konnte unmöglich gut gehen: Ich zusammen mit sechs Sirenen und dem größten Geheimnis, das ich je hüten musste.

Lilou nickte. »So ist es.«

»Ich sollte gehen.« Das war die einzig richtige Entscheidung. Für einen Kurs, der mir nichts brachte, riskierte ich nicht Calebs Leben.

»Aber wieso?«, wollte Lilou wissen.

»Ich kann nicht singen. Und nur, weil ich jetzt in der Lage bin, meine Wassergestalt anzunehmen, heißt das nicht, dass dieser Kurs etwas für mich ist«, erklärte ich. »Am besten, ich lasse mich von Bradford komplett freistellen.«

»Versuch es doch wenigstens!«, forderte sie mich auf.

»Nein, ich …« Unwillkürlich suchte mein Blick wieder nach den Sirenen. Es fiel mir schwer, dagegen anzukommen. Wie schwer wäre es erst, wenn sie mir gegenüberstehen oder in meine Richtung schauen würden, statt sich miteinander zu unterhalten?

»Ich kann wirklich nicht«, beendete ich den Satz.

»Was ist bloß los, Devin?«, fragte sie besorgt. »Was verheimlichst du?«

»Ich kann nicht!«, beharrte ich und hob abwehrend die Hände. LilouschautemichvollerMitgefühlan.NichtmitWutoderUnglauben, sondern mit tief empfundener Anteilnahme. Es kostete mich große Überwindung, sie einfach stehen zu lassen.

Weit kam ich allerdings nicht, weil ich beinahe mit jemandem zusammengeprallt wäre. Es war ein Mann mittleren Alters, mit Stoppeln im Gesicht und gelocktem, dunkelblondem Haar, das er im Nacken zu einem kurzen Zopf zusammengebunden trug.

Wie viele andere Professoren der School of Myth and Magic hatte ich ihn schon im Speisesaal auf der Galerie gesehen, ohne zu wissen, was er unterrichtete. Dabei hätte seine Kleidung der beste Hinweis sein müssen: Mit der weißen Strumpfhose, dem schicken Gehrock und dem Jabot aus reichlich Rüschen, das ihm um den Hals und vor der Brust hing, wäre er als Schausteller auf einem Beethoven-Festival genau richtig gewesen. Es fehlte nur noch eine Violine in seiner Hand, um das Outfit zu komplettieren. Er war mit seinem kantigen Gesicht und der etwas krummen Nase keine klassische Schönheit, hatte aber wegen seiner strahlend blauen Augen etwas Anziehendes an sich.

»Miss …?«, fragte er und legte dabei die Stirn in Falten.

»Blackwood«, sagte ich. »Aber –«

»Nichtsaber«,unterbrachermich.SeinTonfallwarleichtnäselnd und klang ein wenig arrogant, ohne ihn unsympathisch wirken zu lassen. »Professor Marquart, sehr erfreut. Ich habe mich schon gefragt, wann Sie sich dazu herablassen werden, an meinem bescheidenen Unterricht teilzunehmen.«

»HerablassenistdasfalscheWort«,versuchteichzubeschwichtigen. »Das Problem ist, dass ich überhaupt nicht singen kann und dass niemand erfahren darf –«

»Dann verraten Sie es nicht«, fiel er mir ins Wort, gerade noch rechtzeitig, bevor ich Kassians Rückkehr unverblümt hinausposaunt hätte. Erschrocken riss ich die Augen auf. Im selben Moment wurde mir klar, wie mir das passieren konnte. »Sie sind ein …«

»Siren.« Er lächelte schief und ansatzweise überheblich. Dabei hob er das Kinn in die Höhe und straffte die Schultern, als wollte er mir die Zeit gönnen, ihn in Ruhe zu bewundern.

Ich musste meine Befürchtung von vorhin korrigieren. Es waren nicht sechs Sirenen, mit denen ich in einem Raum festsaß, es waren sieben.

3

Manchmal ist es das Beste, die Klappe zu halten

Da mich Professor Marquart nicht gehen lassen wollte, konnte ich nur eines tun, um den Gesangsunterricht zu überstehen: Die Klappe halten. Keinen Ton von mir zu geben, war nur leider alles andere als leicht. Und das lag nicht daran, dass ich schon immer dazu geneigt hatte, ungefiltert von mir zu geben, was mir gerade durch den Kopf ging – zumindest nicht nur. Es reichte ein kurzer Blick von einer der Sirenen oder schlichtweg ihre Nähe und mich überkam der Drang, alles auszuplaudern, was mir auf der Seele lag. Wer eine Sirene zur Hand hatte, brauchte definitiv keinen Lügendetektor.

Um sicherzugehen, dass mir nicht doch etwas herausrutschte, blieb ich auf Abstand. Ich schlenderte an den Toren vorbei, während die anderen gebannt an den Lippen des Professors hingen, und bewunderte die Unterwasserwelten: Schwärme kleiner Fische, mehr oder weniger farbenfrohe Korallenriffe und Devils Hole, eine tiefe, schwarze Schlucht, die wie die Eintrittspforte in die Hölle aussah. Ich schaute mir auch die fremdartigen Schriftzeichen auf den Toren an. Eine tote Sprache war das. Die Sprache meiner Vorfahren. Was dort geschrieben stand, konnte ich nicht einmal erahnen. Vielleicht waren es Warnungen:Lass dich nicht ins Devils Hole schubsenoderÖffne nicht das Tor in eine Dämonensphäre.

Zwar fühlte ich mich in Gegenwart der Tore nicht anders als zuvor,wasaber,wenndurchdenKussmeinewahrenKräftefreigesetzt worden waren? Was, wenn ich Einfluss auf die Tore nehmen konnte? Das Buch aus der Bibliothek hatte genau das versprochen.

Tatsächlich übten die Tore eine starke Anziehungskraft auf mich aus – stärker als bisher. Vielleicht bildete ich mir das aber auch nur ein. Zögerlich hob ich die Hand, berührte die Zeichen, die zu leuchten begannen, und ließ meine Finger darüber wandern. Wie schon zuvor spürte ich ihre Magie, nahm aber keine greifbare Veränderung wahr. Weder an mir noch an den Toren.

Ich schaute flüchtig zur Klasse. Bis auf Lilou fiel niemandem auf, dass ich im Hintergrund blieb. Während alle anderen fasziniert den Worten des Professors lauschten, schaute sie besorgt in meine Richtung und schürte damit mein schlechtes Gewissen. Ich fühlte mich wieeineBetrügerinundimGrundewarichdasauch.Ichbetrog alle um die Wahrheit und mir fiel nichts ein, was ich dagegen tun konnte.

Professor Marquart lief mit auf dem Rücken gefalteten Händen auf und ab und wiederholte die Lektionen der vorausgegangenen Stunde. Es ging um die Wirkung verschiedener Tonlagen auf Magie und dass die Stimme auch ohne Gesang beim Aussprechen eines Zaubers Einfluss auf die Stärke der Magie hatte. Ich erinnerte mich an Mr Seymour, der beim Ausüben seines Rituals erst in dunklem Tonfall gemurmelt und dann das letzte Wort geradezu hinausgeschmetterthatte.IndemMomentwaresmirwieübertriebeneTheatralik vorgekommen, doch offenbar steckte mehr dahinter. Mit dem Anheben seiner Stimme hatte er seine Magie verstärkt.

IchwandtemichdemProfessorzu.Wasererzählte,warzuinteressant, um es auszublenden. Da er und die Klasse am anderen Ende des Torkreises standen, schätzte ich den Abstand als groß genug ein, um dem Sireneneinfluss zu entgehen.

»Kann mir jemand sagen, welche Rückschlüsse sich daraus auf Magie ziehen lassen, die unter Wasser gewirkt wird?«, fragte er in die Runde.

»Wasser überträgt Schwingungen auf eine ganz andere Weise als Luft«, erklärte Dalia. »Unter Wasser wird Magie verstärkt.«

»Korrekt«, bestätigte er.

Dalia hob die Mundwinkel zu einem selbstzufriedenen Lächeln.

»Wenn wir also«, fuhr er fort und deutete dabei auf die Tore, stockte aber, als er in meine Richtung schaute.

Alle drehten sich um und Unruhe brach aus. Es wurde getuschelt und geflüstert.

IchlegtedieStirninFalten.HattensichmeineKräftegezeigt? In dem Glauben, dass ich mal wieder leuchtete wie ein Weihnachtsbaum, hob ich meine Hände, die jedoch völlig normal aussahen. Die Zeichnungen auf meiner Nixenhaut waren nicht zu sehen.

Lilou kam zu mir gelaufen.

»Stimmt etwas nicht?«, fragte ich.

Sie zog mich von dem Tor weg. »Schau!«

IchrissdieAugenweitauf,alsichsah,wasdieanderenzum Staunen gebracht hatte: Haie. Hunderte von ihnen. Als wären sie in einem Strudel gefangen, umkreisten sie das Tor in sich immer enger ziehenden Bahnen.

Die Klasse kam näher, versammelte sich um das Tor und damit auch um mich. Mein Plan, den Sirenen nicht zu nahe zu kommen, war damit zunichtegemacht.

»Was glaubt ihr, ist los mit denen?«, fragte jemand.

Mahina streckte die Hand nach der Wasserwand aus, aber Dalia schlug sie ihr weg.

»Geht’s noch? Die reißen dir den ganzen Arm ab, wenn du die Finger da reinsteckst!«

Aggressiv wirkten die Haie nicht auf mich, aber irgendetwas hatte sie in Aufruhr versetzt.

Professor Marquart schlängelte sich durch den Schülerandrang, umsichselbsteinBildvondemskurrilenVerhaltenderHaiezumachen. Doch die seltsame Formation löste sich bereits auf und die Tiere schwammen nach und nach ihrer Wege.

Der Professor wandte sich der Klasse zu. »Wir können natürlich nur spekulieren, aber möchte mir jemand sagen, was so ein ungewöhnliches Verhalten bei Tieren auslösen kann?«

Mahina meldete sich. »Störgeräusche?«

»Korrekt«, bestätigte er. »In den Tiefen des Meeres, in die kaum bis gar kein Tageslicht vordringt, verlassen sich viele Tiere nicht auf ihre Augen, sondern auf andere Sinne. Sie nutzen zum Beispiel den Schall zur Ortung, zum Jagen und auch zur Kommunikation. Es ist gut möglich, dass diese Haie durch ein Störgeräusch die Orientierung verloren haben. Auslöser solcher Geräusche sind zumeist menschengemacht. Schiffe, Unterwasserarbeiten, Bohrinseln.«

»Klar, Bohrinseln«, höhnte Dalia.

»MöchtenSieetwaszumThemabeitragen?«,fragtederProfessor.

»Als hätten wir nicht alle gesehen, dass sich die Haie um ihren Kopf versammelt haben.« Dalia deutete mit ausgestrecktem Arm auf mich.

»Das ist nicht dein Ernst, oder?« Ich hatte geglaubt, wir wären mittlerweile über die Phase der sinnlosen Anfeindungen hinaus gewesen. Nachdem sie sich sogar dazu überwunden hatte, mir ein Lob auszusprechen, war sie mir richtiggehend versöhnlich vorgekommen.

»Devin stand doch nur zufällig genau vor dem Tor«, sagte Lilou.

»Achja?«DaliahobeineBraue,schautemichherausfordernd an und kam auf mich zu. »Und kaum stehst du nicht mehr dort, schwimmen die Haie wieder davon, als wäre nichts gewesen? Wir wissen doch, dass etwas mit dir nicht stimmt. Wir könnten so tun, als wären diese Tiefenschrecken, von denen du abstammst, nur irgendeine x-beliebige Nixenart, aber das allein ist es nicht. Schon dieser Name:Tiefenschrecken.Sie sind nicht wie wir,dubist nicht wie wir. Und jetzt wollen alle, dass du unsere neue Royal wirst. Das ist lächerlich!« Dalia blieb unmittelbar vor mir stehen.

»Bist du fertig?«, fragte ich.

SieöffnetedenMund,sagteabernichtsweiter,weilihrschlagartig bewusst wurde, was sie getan hatte und vor allem, wieso. Die Gegenwart der Sirenen hatte sie dazu gebracht auszusprechen, was sie wirklich von mir hielt. Sie hatte nur versucht, sich mit mir gut zu stellen, um ihren Platz im Schwarm nicht zu verlieren, aber jetzt war die Wahrheit raus.

»Das denkst du doch nicht wirklich, oder?«, fragte Evie.

»Du musst dir keine Sorgen machen«, versicherte ich ihr. »Ich will gar keine Royal werden.«

»Aber wieso denn nicht?« Mahina wirkte bestürzt.

Mein Blick ruhte weiterhin auf Dalia. »Weil sie vielleicht recht hat.«

»Dasgenügt«,beendeteProfessorMarquartdasThema.»Dass es sichbeiMsBlackwoodumeineNixehandelt,stehtaußerFrage. Alles Weitere hat nichts in meinem Unterricht zu suchen. Und genau dem widmen wir uns jetzt. Sie hatten die Aufgabe, ein Lied einzustudieren. Heute geht es an die Praxis. Ms Blackwood, da Sie meinemUnterrichtzumerstenMalbeiwohnen,dürfenSiezuhörenund beobachten.«

Ichnickte,weilichmichwiederanmeinVorhabenerinnerte,kein Wort von mir zu geben. Lange durchgehalten hatte ich das nicht gerade.

Der Professor wandte sich einem der Tore zu. Zu meiner Erleichterung nicht genau dem, in dem es noch vor Haien wimmelte. Lilou hatte mir zwar erzählt, dass sie schon mit Haien geschwommen war, ich war aber nicht unbedingt heiß darauf.

»Folgt mir«, forderte er uns auf und sprangmit den Armen voran durch das Tor. Seine Kleidung löste sich im Strudel der wirbelnden Luftblasen auf und gab seine Sirenengestalt frei: grünbraune Schuppenhaut, algenähnliche Haare, Schwimmhäute zwischen Fingern und Zehen, Kiemen am Hals, spitzeOhren und eine flache Nase.

Nacheinander folgten ihm die anderen. Sie sprangen mit Anlauf hinterher, traten durch die Wasserwand oder ließen sich hineinfallen. Alle verwandelten sich auf Anhieb, nur ich brauchte einen Moment, um mich zu sammeln. Ich wollte gerade durch das Tor treten, da schoss mir die Frage durch den Kopf, ob das Meer hinter dem Tor außerhalb von Kassians Einflussbereich lag. Vielleicht war das die Gelegenheit, jemanden einzuweihen. Dann aber fiel mir ein, dass er meine Rufe gehört hatte, nachdem ich von Dalia durch das Tor gestoßen worden war. Die Verbindung, die er mit mir eingegangen war, um in die Schule zu gelangen, schien offenbar stark genug zu sein, um auch große Distanzen zu überwinden. Lilou die Wahrheit zu sagen, sobald ich auf der anderen Seite war, kam also nicht infrage.

Enttäuschung machte sich in mir breit, aber ich wollte mich nicht entmutigen lassen. Es musste einen Weg geben, ich hatte ihn nur noch nicht gefunden.

Ich tat es den anderen gleich und glitt ins Wasser. Kaum hatte ich es auch nur berührt, spürte ich bereits, wie meine Kleidung von mir gewaschen wurde, wie mich das kalte Nass umfing und eins wurde mit der Magie, die mein wahres Ich entfesselte.

Mit wenigen Flossenschlägen schoss ich über die Köpfe der anderen hinweg, vollzog einen Bogen im offenen Meer und genoss das Gefühl grenzenloser Freiheit.

Nur der Ort, zu dem uns das Tor geführt hatte, zählte nicht gerade zu den Highlights meiner bisherigen Meeresausflüge. Trostlos erstreckte sich ein kahles Riff vor mir. Der Fjord rund um die Schule warweitausbunterundlebendiger.HiersahichnurwenigeMeeresbewohner, kleinere Fischschwärme und ab und an einen Krebs, der zwischen Gesteinsbrocken am Boden herumhuschte.

»Nun, SiekennenIhreAufgabe«,sagteProfessorMarquart.UnterWasser klang seine Stimme leicht verzerrt. »Widmen Sie sich den Pflanzen, bedenken Sie aber, dass ein Korallenriff ein ausgefeiltes Ökosystem darstellt. Achten Sie also auf die Ausgeglichenheit, versorgen Sie nicht nur die hübschesten Blumen, sondern auch die Moose und Gräser. Nichts davon darf vernachlässigt werden.«

Die Klasse schwärmte umgehend aus.

»Komm mit«, forderte mich Lilou auf. Wir suchten uns eine abgelegenere Stelle, von wo aus wir das Korallenriff gut überblicken konnten.

»Was ist hier passiert?«, fragte ich.

»Ein Leck in einer Unterwasserpipeline«, erklärte sie. »Erdöl ist ausgetreten und wurde von der Strömung verteilt. Wir konnten das Tor im letzten Schuljahr nicht nutzen, weil die Verschmutzung zu stark war. Jetzt kehrt hier langsam wieder Leben ein. Schau.«

Sie legte ihre Hände wie eine umgestülpte Schüsselüber einen scheinbarleblosenPflanzenklumpen,schlossdieAugenundstimmteeinen leisen Singsang an. Auch von den anderen hörte ichdiese Melodie. Ruhig und melodisch, fast wie ein Schlaflied, daseinen sonnigen Morgen versprach. Obwohl jeder das Lied für sichsang, klang es wie ein perfekt abgestimmter Chor, bei dem niemand seinen Einsatz verpasste.

Unter Lilous Händen regte sich etwas, ein Leuchten war zu sehen, das tief im Wurzelballen der Pflanze erwachte und sich bis in ihre Blätter fortsetzte. Von sattem Grün erfüllt wanden sie sich schließlich durch Lilous Finger. Als sie ihre Hände von der Pflanze löste, hatte sie sich zu kräftigem Seegras gemausert, das sich sanft im Rhythmus der Strömung wiegte.

Auch bei den anderen hatte der Zauber seine Wirkung nicht verfehlt. Überall um uns herum erwachte das Korallenriff zu neuem Leben und erstrahlte in kraftvollen Farben. Es war unglaublich, mit anzusehen, was die Magie der Nixen und Sirenen zustande brachte – und es war erschreckend, dass sie von vielen anderen Magiebegabten belächelt wurde. Mit einem einfachen Zauber belebten sie ein ganzes Riff. Das sollte ihnen erst mal jemand nachmachen.

Leben zu schenken, war oberflächlich betrachtet den Nekromanten vorbehalten. Dafür wurden sie bewundert und verehrt. Hexen, Magier und Drachen beherrschten keine Zauber wie diese. Zugegeben erschufen die Nixen kein Leben – die Pflanzen, die sie mit ihrer Magie versorgten, waren nicht tot. Ihnen neue Kraft zu schenken, war trotzdem beeindruckend.

»Vielleicht versuchst du es einfach mal«, schlug Lilou vor.

»Was versuchen?«, fragte ich.

»Zu singen.« Sie deutete auf ihre Kehle. »Vielleicht hast du nur etwas Zeit gebraucht, um dich an deine Wassergestalt zu gewöhnen. Es kann doch sein, dass du mittlerweile sprechen kannst. Du bist eine Nixe, also …«

Ich lächelte bitter.»Dalia sieht das anders.«

»Dalia hat keine Ahnung.«

»Also gut«,stimmte ich zu, auch wenn ich mir keine Hoffnung machte. Ich vergewisserte mich, dass mir niemand bei meinen kläglichen Gesangsversuchen zuschauen würde, und öffnete den Mund. Ich versuchte, einen Ton von mir zu geben, aber wie ich es mir gedacht hatte, kam kein Mucks über meine Lippen. Als wäre ich wieder Kassians Kräften ausgesetzt, der sich gut darin verstand, seinen Opfern die Stimme zu nehmen.

»Nichts?«, fragte Lilou.

»Rein gar nichts«, bestätigte ich.

»Dann musst du die Pflanzen eben mit Telepathie erwecken«, sagte sie.

»Oder wir überlassen das den anderen und sehen uns hier ein wenig um.« Ein verstohlenes Lächeln huschte mir über die Lippen. Etwas Abstand von allem war genau das, was ich brauchte.

Lilou schaute unsicher zu Professor Marquart. Als sie sah, dass er mit anderen Dingen beschäftigt war, nickte sie zustimmend. »Also gut.«

4

»Verzieh dich, Nixe!«

Im Meer zu schwimmen, einfach nur ich zu sein und alles hinter mir zu lassen, was mich am Boden hielt, hatte dafür gesorgt, dass sich mein Herz nicht mehr ganz so schwer und meine Lage nur noch halb so ausweglos anfühlte.

Lilou und ich vergaßen für eine Weile sogar das Geheimnis, das zwischen uns stand. Wir ließen uns zu ein paar Albereien hinreißen und lachten auch noch zusammen, als wir gegen achtzehn Uhr den Speisesaal betraten. Mein Magen knurrte bereits, so hungrig hatte mich unser Meeresausflug gemacht.

»Wir müssen dir schnell was zu essen besorgen, bevor du noch versuchst, mich aufzufressen«, scherzte Lilou.

»Devin will Hirn«, brummte ich mit Zombiestimme und streckte die Hände nach ihr aus, bis ich sie an den Schultern zu fassen bekam. Ich zog mich an sie heran und tat so, als würde ich ihr in den Nacken beißen wollen.

»O nein! Ein hungriger Nixen-Ghul!« Sie schrie vor Lachen.

Jemand rempelte uns an, wir stolperten zur Seite und ich hätte Lilou beinahe umgestoßen.

»Pass doch auf!«, beschwerte ich mich und wandte mich dem Rempler zu. Es war einer der Vampire, dieser kräftige Typ mit geschorenem Kopf und kantigem Gesicht, dem ich schon ein paarmal gegenübergestanden hatte. Ein Football- oder Rugbytrainer hätte sich wahrscheinlich darum gerissen, ihn für sein Team zu gewinnen. Er hatte uns auch nicht versehentlich geschubst, sondern zur Seite gedrängt, um für Jae Platz zu machen. Von seinen Beschützern umringt und wie sie in Schwarz gekleidet, betrat er den Speisesaal. Wie immersaherauswiegemalt:perfekteGesichtszüge,lupenreineMarmorhaut und eine distanzierte Ausstrahlung, die gut zu einem Popstar oder noch besser zu einem Prinzen gepasst hätte. Was in seinem Fall – wenn ich darüber nachdachte – wahrscheinlich sogar zutraf. Schließlich war er nach vielen Jahrhunderten der erste neugeborene Drache.