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Die Entwicklungsgeschichte des Lebens in all ihrer Lückenhaftigkeit läßt doch schon ersehen, wie sich der Intellekt kraft ununterbrochenen Fortschritts in aufsteigender Linie, über die Reihe der Wirbeltiere hin bis zum Menschen, herausgebildet hat. Sie zeigt uns in der Fähigkeit des Verstehens einen Ausläufer der Fähigkeit des Handelns, eine immer schärfere, immer mehrgliedrigere, immer geschmeidigere Anpassung des Lebewesens an die gegebenen Existenzbedingungen. Woraus zu folgern wäre, daß unser Intellekt im engeren Sinn des Worts dazu bestimmt sei, die vollkommene Verwebung unseres Körpers in seine Umgebung zu sichern, die Beziehungen der äußeren Dinge aufeinander vorzustellen, kurz: dazu, die Materie zu denken. Und tatsächlich wird dies einer der Schlüsse unserer Arbeit sein.
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I. DIE ENTWICKLUNG DES LEBENS / MECHANISMUS UND FINALITÄT
DAUER
DAS Dasein, dessen wir am gewissesten sind und das wir am besten kennen, ist unleugbar das unsere. Denn von allen übrigen Gegenständen haben wir Eindrücke, die sich als äußerliche und oberflächliche bezeichnen lassen, während wir uns selbst von innen her, in der Tiefe, wahrnehmen. Was also konstatieren wir hier? Was ist, in diesem bevorzugten Fall, der genaue Sinn des Wortes: Dasein?— Mit wenigen Worten sei hier an die Ergebnisse einer früheren Arbeit erinnert.
Ich konstatiere zunächst, daß ich von Zustand zu Zustand übergehe. Mir ist kalt oder warm, ich bin froh oder traurig, arbeite oder tue nichts, beschaue meine Umgebung oder denke an andere Dinge. Empfindungen, Gefühle, Wollungen, Vorstellungen, das sind die Bestimmungen, zwischen die mein Dasein sich aufteilt und die es wechselnd färben. Ich verändere mich also unablässig. Und noch das sagt zu wenig. Die Veränderung ist sehr viel radikaler, als man zunächst glauben möchte.
Von jedem meiner Zustände nämlich rede ich, als wäre er aus einem Stück. Wohl sage ich, daß ich mich verändere; zu haften aber scheint mir diese Veränderung am Übergang eines Zustandes in den andern: von jedem für sich genommen nehme ich ohne weiteres an, er bleibe sich während der ganzen Zeit seines Bestehens gleich. Dennoch würde schon eine leise Anspannung der Aufmerksamkeit mir sichtbar machen, daß keine Empfindung, keine Vorstellung, keine Wollung existiert, die sich nicht in jeder Sekunde wandelt; hörte ein seelischer Zustand auf sich zu verändern, seine Dauer würde aufhören zu fließen. Nehmen wir den beharrendsten aller inneren Zustände, die Gesichtswahrnehmung eines äußeren unbeweglichen Gegenstandes. Dann mag der Gegenstand noch so sehr derselbe bleiben, noch so sehr mag ich ihn von derselben Seite, unter demselben Winkel, bei derselben Beleuchtung betrachten: deshalb unter[9]scheidet sich das Bild, das ich jetzt von ihm habe, nicht weniger von jenem, das ich eben noch hatte — und wäre es nur dadurch, daß es um eine Sekunde gealtert ist. Mein Gedächtnis ist da, das etwas von dieser Vergangenheit in diese Gegenwart hineinschiebt. Unablässig, während seines Vorrückens in der Zeit, schwillt mein Seelenzustand um die Dauer an, die er aufrafft; aus sich selbst sozusagen, rollt er einen Schneeball. Zwingender noch gilt dies von den tiefer inneren Zuständen, Gefühlen, Neigungen, Wünschen usw., die nicht wie die einfache Gesichtswahrnehmung einem unveränderlichen äußeren Gegenstand entsprechen. Indessen es ist bequem, diese ununterbrochene Veränderung nur dann zu beachten, wenn sie groß genug wird, um dem Körper eine neue Stellung, der Aufmerksamkeit eine neue Richtung zu geben. Genau in diesem Moment finden wir, daß unser Zustand gewechselt hat. In Wahrheit aber verändern wir uns ohne Unterlaß, und schon der Zustand selbst ist Veränderung.
Damit ist gesagt, daß zwischen Übergehen aus einem Zustand in den anderen und Verharren im selben Zustand kein Wesensunterschied besteht. Gleichwie der Zustand welcher »derselbe bleibt«, weit mehr Veränderung birgt als man meint, so ähnelt umgekehrt der Übergang von einem Zustand in den anderen mehr als man glaubt einem selben Zustand, der sich hindehnt. Der Übergang ist kontinuierlich. Eben aber weil wir die Augen vor der unablässigen Wandlung jedes psychologischen Zustands verschließen, müssen wir, wenn die Veränderung beträchtlich genug wird, um sich der Aufmerksamkeit einzudrücken, so reden, als ob ein neuer Zustand neben den früheren getreten wäre. Von diesem seinerseits setzen wir voraus, er sei in sich unwandelbar, und so ins Unendliche fort. Einzig daher also rührt die offensichtliche Diskontinuität unseres psychologischen Lebens, daß unsere Aufmerksamkeit sich ihm in einer Reihe diskontinuierlicher Akte zuwendet: wo nur sanfter Abhang ist, glauben wir, der gebrochenen Linie unserer aufmerkenden Akte folgend, Stufen einer Treppe zu gewahren. Gewiß ist unser psychologisches Leben voll von Unvorhergesehenem. Tausend Zwischenfälle brechen herein, die, was [10] ihnen vorangeht, abzuschneiden scheinen, und sich dem nicht verknüpfen, was ihnen folgt. Aber diese Diskontinuität ihres Auftauchens hebt sich von der Kontinuität eines Grundes ab, dem sie eingezeichnet sind, und dem sie die Intervalle selbst, die sie trennen, verdanken: sie sind die Paukenschläge, die je und je in der Symphonie aufdröhnen. An sie, als den stärksten Eindruck, heftet sich unsere Aufmerksamkeit; getragen aber wird jeder von ihnen durch die flüssige Masse unseres gesamten psychologischen Daseins. Jeder von ihnen ist nur der bestbeleuchtete Punkt einer wogenden Zone, die alles umfaßt, was wir fühlen, denken, wollen, kurz alles was wir in einem gegebenen Augenblick sind. Und diese Gesamtzone ist es, die in Wirklichkeit unseren Zustand ausmacht. Von so definierten Zuständen also darf gesagt werden, daß sie keine gesonderten Elemente sind. Sie setzen einander fort in einem Fließen ohne Ende.
Da aber unsere Aufmerksamkeit sie künstlich unterschieden und getrennt hat, ist sie nun auch gezwungen, sie durch ein künstliches Band neu zu verknüpfen. So ersinnt sie ein gestaltloses, gleichgültiges, unbewegliches Ich, von dem sich die zu Einheiten erhobenen psychologischen Zustände abfädeln oder auch zu dem sie sich auffädeln. Wo ein Fließen flüchtiger Nuancen ist, die ineinander spielen, sieht sie schreiende, gleichsam starre Farben, nebeneinander gereiht wie verschiedene Perlen eines Halsbands: was die Annahme eines nicht weniger starren Fadens unvermeidlich macht, der die Perlen zusammenhält. Wenn indes dieses farblose Substrat unablässig von dem gefärbt wird, was darüber liegt, — so ist es für uns, in seiner Unbestimmtheit, so gut als wäre es nicht. Und nur Farbiges ja, das heißt, nur psychologische Zustände nehmen wir wahr. In Wahrheit, dies »Substrat« ist keine Realität. Ein bloßes Zeichen ist es, um unser Bewußtsein ohne Unterlaß an den künstlichen Charakter jenes Verfahrens zu gemahnen, kraft dessen die Aufmerksamkeit dort Zustand neben Zustand reiht, wo eine Kontinuität ist, die abrollt. Setzte unser Dasein sich aus getrennten Zuständen zusammen, deren Synthese ein unwandelbares »Ich« zu stiften hätte, es gäbe für uns [11] keine Dauer. Denn ein Ich, das sich nicht wandelt, dauert nicht, und ebensowenig dauert ein psychologischer Zustand, der sich, solange kein nächster Zustand ihn ablöst, gleichbleibt. Mag man deshalb diese Zustände noch so gut auf ihrem Träger, dem »Ich«, nebeneinander reihen, niemals werden diese festen, auf Festes gefädelten Körper eine Dauer ergeben, die fließt. Tatsächlich gewinnt man so nur ein künstliches Abbild des inneren Lebens, einen starren Ersatz, der sich den Forderungen von Logik und Sprache eben darum williger leiht, weil man aus ihm die reale Zeit getilgt hat. Für das psychologische Leben dagegen, wie es unterhalb dieser überdeckenden Symbole abrollt, leuchtet unmittelbar ein, daß die Zeit sein Stoff selber ist.
Überdies gibt es keinen zäheren, keinen substantielleren Stoff. Denn nicht Ablösung von Moment durch Moment ist unsere Dauer: wäre es so, es gäbe niemals mehr als Gegenwart; kein Hineindehnen des Vergangenen ins Jetzige, keine Entwicklung, keine konkrete Dauer. Denn Dauer ist ununterbrochenes Fortschreiten der Vergangenheit, die an der Zukunft nagt und im Vorrücken anschwillt. Wächst aber die Vergangenheit unablässig, dann ist auch ihr Leben unbegrenzt. Gedächtnis, wie wir zu erweisen suchten2, ist nicht ein Vermögen zur Klassifizierung von Erinnerungen in Fächern oder Eintragung in Listen. Es gibt keine Listen, und es gibt keine Fächer, ja es gibt hier gar kein Vermögen im eigentlichen Sinne; denn jedes Vermögen arbeitet mit Unterbrechungen, je wie es kann oder mag, während die Türmung von Vergangenheit auf Vergangenheit ohne Stillstand erfolgt. In Wirklichkeit bleibt die Vergangenheit ganz von selbst, gleichsam automatisch erhalten. In ihrer Ganzheit sicherlich folgt sie uns jeden Augenblick nach: was wir von frühester Kindheit an gefühlt, gedacht, gewollt haben, ist da; hingesenkt zur Gegenwart, die ihm zuwächst, angestemmt gegen das Tor des Bewußtseins, das es aussperren möchte. Denn eben darauf ist der Mechanismus des Gehirns eingerichtet, beinah all dieses ins Unbewußte zurückzustauen; nur das ins Bewußtsein hebend, was angetan [12] ist, unsere augenblickliche Lage zu klaren, unsere werdende Tal zu fördern, kurz dazu nützliche Arbeit zu leisten. Ein paar überschüssigen Erinnerungen höchstens gelingt es, als Konterbande durch die angelehnte Türe zu schlüpfen. Sie, die Boten des Unbewußten, machen uns kund, was wir unwissentlich hinter uns her schleifen. Selbst aber, wenn wir keine deutliche Vorstellung davon besäßen, dumpf fühlen würden wir immer, daß unsere Vergangenheit uns gegenwärtig bleibt. Denn was in der Tat sind wir, und was ist unser Charakter, wenn nicht die Verdichtung jener Geschichte, die wir seit unserer Geburt, ja — da wir angeborene Anlagen mitbringen — vor unserer Geburt gelebt haben? Gewiß zwar, wir denken nur mit einem kleinen Teil unserer Vergangenheit; mit ihrer Totalität aber — die Eigenart unserer seelischen Kurve mit inbegriffen — wünschen, wollen, handeln wir. Restlos also tut sich unsere Vergangenheit in ihrem Vorstoß und in Form der Strebung kund, obgleich nur ihr geringster Teil Vorstellung wird.
Dies Fortleben der Vergangenheit ergibt für das Bewußtsein die Unmöglichkeit, denselben Zustand zweimal durchzumachen. Mögen sich die Umstände noch so sehr gleichen, die Person, auf die sie wirken, ist nicht mehr dieselbe, da sie in einem neuen Moment ihrer Geschichte ergriffen wird. Unsere Persönlichkeit, die sich in jedem Augenblick aus gemehrter Erfahrung aufbaut, wandelt sich ohne Unterlaß. Und als gewandelte wehrt sie dem Zustand, sich jemals — und mag er sich auf der Oberfläche noch so völlig gleichsehen — in der Tiefe zu wiederholen. Dies der Grund, weshalb unsere Dauer unumkehrbar ist. Nicht ein Teilchen von ihr können wir wiederleben; denn dazu müßte erst die Erinnerung alles dessen ausgelöscht werden, was nach ihm kam. Und diese Erinnerung läßt sich zur Not wohl aus unserem Verstande streichen; nicht aber aus unserem Willen.
So also wächst unsere Persönlichkeit, weitet sich und reift unablässig. Jeder ihrer Momente ist ein Neues, das sich allem früher Gewesenen zugesellt. Und mehr als dies: nicht ein Neues nur, sondern ein Unvorhersehbares. Gewiß erklärt [13] sich mein jeweiliger Zustand aus dem, was im Augenblick vorher in mir war oder auf mich wirkte. Analysiere ich ihn, so entdecke ich in ihm schlechthin kein anderes Element. Dennoch würde selbst eine übermenschliche Intelligenz nicht imstande sein, die einfache und unteilbare Form vorherzusehen, von welcher diesen durchaus abstrakten Elementen ihre konkrete Gestalt kommt. Denn Vorhersehen besteht entweder im Projizieren vergangener Wahrnehmungen in die Zukunft, oder im Vorstellen bereits wahrgenommener Elemente in einer künftigen, neuen, andersgeordneten Zusammenstellung. Was aber nie wahrgenommen worden und was zugleich einfach ist, das muß mit Notwendigkeit unvorhersehbar sein. Und eben dies ist der Fall eines jeden unserer Zustände, der als Moment einer Geschichte geschaut wird, die sich entfaltet; er ist einfach und kann unmöglich schon wahrgenommen sein, weil er in seiner Unteilbarkeit alles je Wahrgenommene zusammenfaßt, mitsamt alledem obendrein, was die Gegenwart hinzubringt. Er ist der einzigartige Moment einer nicht weniger einzigartigen Geschichte.
Das fertige Bildnis erklärt sich aus der Gesichtsbildung des Modells, dem Wesen des Künstlers und den auf die Palette gesetzten Farben; niemand aber, selbst der Künstler nicht, hatte mit aller Kenntnis dessen, woraus es sich erklärt, vorhersagen können, wie das Bild aussehen werde; denn es vorhersagen, hieße es schaffen, bevor es geschaffen worden; eine sinnlose Hypothese, die sich selbst zerstört. Nicht anders bei den Momenten unseres Lebens, deren Urheber wir sind. Jeder von ihnen ist eine Art Schöpfung. Und wie das Talent des Malers sich unter dem Einfluß der Werke selbst, die er schafft, bildet oder verbildet, jedenfalls aber wandelt, so verwandelt auch jeder unserer Zustände, als die neue Form, die wir uns geben, im Moment seines Hervorgehns aus uns, unsere Persönlichkeit. Mit Recht also sagt man, unser Tun hänge von dem ab, was wir sind; nur daß noch hinzugefügt werden müßte, daß wir in gewissem Grad auch sind, was wir tun, und daß wir uns selbst unaufhörlich erschaffen. Diese Schöpfung des Selbst durch sich selbst [14] ist übrigens um so vollkommener, je besser man das durchdenkt, was man tut. Denn hier verfährt das Denken nicht wie in der Geometrie, wo die Prämissen ein für alle Mal unpersönlich gegeben sind, und ein unpersönlicher Schluß sich aufdrängt. Hier im Gegenteil können dieselben Gründe verschiedenen Personen, oder denselben Personen zu verschiedenen Zeiten, tiefst verschiedene — obwohl gleichermaßen vernünftige Handlungen eingeben. Genau genommen freilich sind es nicht ganz dieselben Gründe, weil es nicht solche derselben Personen, noch desselben Zeitpunktes sind. Dies der Grund, weshalb man mit ihnen weder in abstracto von außen her operieren kann wie in der Geometrie, dies, weswegen niemand für andere die Probleme zu lösen vermag, die das Leben stellt. Jeder muß sie von innen her auf eigene Rechnung lösen. Doch nicht dieser Punkt ist hier zu behandeln. Wir suchen nur die genaue Bedeutung, die unser Bewußtsein dem Wort »Dasein« gibt, und da finden wir, daß Dasein für ein bewußtes Wesen darin besteht, sich zu wandeln; sich zu wandeln, um zu reifen; zu reifen, um sich selbst unendlich zu erschallen. Sollte sich nun nicht ein Gleiches vom ganzen Dasein schlechthin behaupten lassen?
DIE ANORGANISCHEN KÖRPER
Jeder zufällig herausgegriffene stoffliche Gegenstand zeigt gerade die Umkehrung aller bisher aufgezählten Züge. Entweder er bleibt was er ist; oder aber, wir stellen uns, wenn er sich durch Einfluß äußerer Kräfte verändert, diese Veränderung als Umlagerung von Teilen vor, die selbst unverändert bleiben. Verfielen auch diese Teile darauf, sich zu ändern, so würden wir sie ihrerseits noch weiter zerstücken. Wir würden hinuntersteigen bis zu den Molekülen, aus denen die Bruchstücke bestehen, zu den Atomen, die die Moleküle ausmachen, zu den Korpuskeln, die die Atome aufbauen bis zu dem Imponderabeln endlich, in dessen Schoß das Korpuskel sich durch bloßen Wirbel bilden soll, würden mit einem Wort Zerlegung und Analyse so weit treiben als nottäte. Haltmachen aber würden wir nur beim Unveränderlichen.
Unser Schluß also ist, daß der zusammengesetzte Gegenstand sich durch Umlagerung seiner Teile verändere. Dann aber [15] ist ein Teil, der seine Lage aufgegeben hat, durch nichts gehindert, sie wiederum einzunehmen. Immer wieder kann die durch einen Zustand gegangene Elementengruppe in ihn zurückkehren, wenn nicht aus sich selbst, so zum mindesten doch durch Wirkung einer äußeren Ursache, die alles an Ort und Stelle rückt; was darauf hinauskommt, daß jeder Zustand sich, so oft man will, wiederholen kann und daß folglich die Gruppe nicht altert. Sie hat keine Geschichte.
Nichts also erschafft sich hier, weder Form noch Materie. Was die Gruppe sein wird, ist schon gegenwärtig in dem, was sie ist. Vorausgesetzt nur, daß dies, was sie ist, all jene Punkte mit einbegreife, zu denen sie in Beziehung gebracht wird. Eine übermenschliche Intelligenz wäre imstande, die räumliche Lage, gleichviel welchen Systempunktes für gleichviel welchen Zeitmoment zu berechnen. Und da die Form des Ganzen nichts anderes birgt, als Anordnung der Teile, so sind prinzipiell alle künftigen Formen des Systems in seiner augenblicklichen Gestalt erkennbar.
All unser Glaube an die Objekte, all unser Einwirken auf die, durch die Wissenschaft isolierten Systeme, ruht in der Tat auf der Vorstellung, daß die Zeit an ihnen nicht nagt. Wir haben diese Frage schon in einer früheren Arbeit berührt, und werden im Laufe dieser Untersuchung auf sie zurückkommen müssen. Im Augenblick genügt der Hinweis, daß die abstrakte, von der Wissenschaft einem stofflichen Gegenstand oder isolierten System zugeschriebene Zeit »t« nur in einer gewissen Anzahl von Gleichzeitigkeiten, allgemeiner gesprochen, von Korrelationen besteht, und daß diese Anzahl dieselbe bleibt, unbekümmert um das Wesen der Intervalle, die die Korrelationen trennen. Von diesen Intervallen ist, wenn von der toten Materie gesprochen wird, niemals die Rede. Berücksichtigt man sie aber einmal, so nur, um innerhalb ihrer neue Korrelationen zu zählen, zwischen denen sich dann wiederabspielen mag, was will. Der gesunde Menschenverstand, der sich — nicht anders übrigens als die, einzig mit isolierten Systemen befaßte Wissenschaft — ausschließlich mit herausgelösten Gegenständen abgibt, versetzt sich an die Endpunkte der Intervalle, nicht hinein in [16] ihre Erstreckung selber. Dies der Grund, weswegen man voraussetzen könnte, es nähme der Fluß der Zeit unendliche Geschwindigkeit an, und die gesamte Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der stofflichen Dinge hätte sich mit einem Schlage im Raum auseinandergelegt: in welchem Falle weder an den Formeln der Gelehrten, noch sogar an der Sprache des gesunden Menschenverstandes irgendetwas zu ändern wäre. Die Zahl t würde immer dasselbe bedeuten. Immer stände sie für dieselbe Anzahl von Korrelationen zwischen den Gegenstands- oder Systemzuständen und den Punkten jener durchaus festgelegten Linie, zu der nun »der Verlauf der Zeit« würde.
Dennoch ist das Nacheinander eine selbst in der stofflichen Welt unleugbare Tatsache. Und ob unsere Überlegungen über die isolierten Systeme noch so zwingend ergeben, all ihre vergangene, gegenwärtige und künftige Geschichte sei mit einem Mal fächergleich zu entfalten — darum entwickelt sich diese Geschichte nicht weniger nur je und je und nach und nach, als ob sie eine der unseren analogen Dauer besäße. Will ich mir ein Glas Zuckerwasser bereiten, so muß ich, was auch ich anstelle, das Schmelzen des Zuckers abwarten. Diese geringfügige Tatsache ist voll von Aufschlüssen. Denn die Zeit, die ich warten muß, ist nicht mehr jene mathematische, die sich mit der Geschichte des Universums auch dann noch decken würde, wenn dieses auf einen Schlag im Raum hingebreitet worden wäre. Sie fällt zusammen mit meiner Ungeduld, d. h. mit einem Teil meiner eignen Dauer, der weder willkürlich ausdehnbar noch abkürzbar ist. Nicht mehr Gedachtes ist hier, sondern Gelebtes, nicht Relatives mehr, sondern Absolutes. Was anderes aber besagt dies, als daß Zucker, Glas Wasser und Schmelzprozeß ohne allen Zweifel Abstraktionen sind, und daß das Ganze, daraus meine Sinne und mein Verstand sie herausgeschnitten haben, vielleicht nach Art eines Bewußtseins im Fortschreiten begriffen ist?
Sicher zwar ist das Verfahren, durch welches die Wissenschaft Systeme isoliert und in sich abschließt, kein durchaus künstliches. Besäße es keine sachliche Grundlage, so bliebe unbegreiflich, warum es in gewissen Füllen völlig [17] angezeigt, in anderen unmöglich ist. So werden wir sehen, daß die Materie eine Tendenz dazu hat, isolierbare, mathematisch behandelbare Systeme zu bilden; ja diese Tendenz ist es, durch die wir sie definieren werden. Indessen, es bleibt bei der Tendenz. Die Materie geht nicht bis ans Ende; die Isolierung wird nie vollständig. Und wenn die Wissenschaft bis ans Ende geht und vollständig isoliert, so nur der Bequemlichkeit der Untersuchung zuliebe. Stillschweigend setzt sie voraus, daß die sogenannt isolierten Systeme gewissen äußereren Einflüssen unterworfen bleiben und läßt diese nur deshalb beiseite, weil sie ihr entweder schwach genug scheinen, um vernachlässigt werden zu können, oder weil sie sich ihre spätere Berücksichtigung vorbehält. Deshalb aber bleibt es nicht weniger wahr, daß diese Einflüsse eben soviele Fäden sind, die das System einem anderen größeren verknüpfen, dieses einem dritten, dem beide sich einverleiben, und so fort bis zu dem im objektivsten Sinne isolierten und unabhängigen System, bis zum Sonnensystem in seiner Gesamtheit. Und selbst da gilt die Isoliertheit nicht absolut. Unsere Sonne strahlt Wärme bis jenseits des fernsten Planeten. Und andrerseits, sie selbst bewegt sich und reißt Planeten und Satelliten in bestimmter Richtung mit sich fort. Gewiß, der Faden, der sie dem übrigen Universum verhaftet, ist unendlich fein. Dennoch ist er es, woran sich die dem Ganzen des Universums immanente Dauer fortpflanzt bis zum winzigsten Teilchen der Welt, darin wir leben.
Das Universum dauert. Je tiefer ins Wesen der Zeit wir eindringen, desto tiefer begreifen wir, daß Dauer Erfindung, Schöpfung von Formen bedeutet, ununterbrochenes Hervortreiben von absolut Neuem. Und nur dadurch dauern die abgegrenzten Systeme der Wissenschaft, daß sie dem übrigen Universum unauflöslich verknüpft sind. Allerdings müssen im Universum selbst, wie später dargetan werden soll, zwei entgegengesetzte Bewegungen unterschieden werden; jene des »Abstiegs« und die des »Aufstiegs«. Jene haspelt nur ein durchaus fertiges Knäul ab; prinzipiell könnte sie sich fast momenthaft vollziehen, ähnlich einer gespannten Feder, die abschnappt. Ihrem Wesen nach dagegen dauert die zweite, [18] die einer Arbeit des Reifens oder Schaffens entspricht und zwingt jener ersten, von ihr unabtrennbaren, ihren Rhythmus auf.
Nichts also hindert daran, den von der Wissenschaft isolierten Systemen eine Dauer und d. h. eine der unseren analoge Existenzform zuzusprechen, wenn anders man sie nur rückeinstellt ins Ganze. Und darein eingestellt werden müssen sie. Dann aber wird auch von den Gegenständen, die unsere Wahrnehmung abgrenzt, a fortiori ein gleiches gelten dürfen. Denn die bestimmten Konturen, die wir einem Gegenstand zuschreiben und die ihm seine Individualität verleihen, sind nichts als der Umriß einer gewissen Art Einfluß, den wir an einer gewissen Stelle im Raum ausüben könnten: nur der Plan unserer möglichen Handlungen ist es, der unserem Auge wie durch Spiegel zurückgeworfen wird, wenn wir die Flächen und Kauten der Dinge wahrnehmen. Schalte diese Handlung, und damit die großen Straßen, aus, die sie sich kraft der Wahrnehmung im voraus durch die Wirrnis des Wirklichen bahnt, und die Individualität des Körpers löst sich auf in die universelle Wechselwirkung, die ohne Zweifel die Realität selber ist.
DIE ORGANISCHEN KÖRPER
Bis jetzt nun haben wir rein zufällig herausgegriffene materielle Gegenstände betrachtet. Gibt es denn aber keine bevorrechteten Gegenstände? Die anorganischen Körper, so sagten wir, werden dem Stoff der Natur kraft einer Wahrnehmung entschnitten, deren Schere irgendwie den punktierten Linien nachgeht, die die Handlung durchmessen wird. Der Körper jedoch, der diese Handlung ausführt, der Körper, der noch vor der Vollbringung wirklicher Handlungen das Bild seiner möglichen Handlung über die Materie wirft, der Körper, der seine Sinnesorgane nur dem Fluß des Wirklichen entgegenzurecken braucht, um ihn zu festen Formen kristallisieren zu lassen und so alle anderen Körper zu erschaffen, — der lebende Körper, ist er nur ein Körper wie alle die anderen?
Zweifellos, auch er besteht aus einem Stück Ausdehnung, das aller übrigen Ausdehnung verknüpft, das eins mit dem [19] Ganzen, das denselben physikalisch-chemischen Gesetzen unterworfen ist, die schlechthin jedes Stück Materie beherrschen. Aber während die Zerlegung der Materie in isolierte Körper von unserer Wahrnehmung, während der Bau der geschlossenen Systeme materieller Punkte von unserer Wissenschaft abhängt, ist es die Natur selber, die den lebenden Körper isoliert und in sich geschlossen hat. Er setzt sich aus heterogenen Teilen zusammen, die sich gegenseitig ergänzen. Er führt verschieden geartete Funktionen aus, die sich gegenseitig voraussetzen. Er ist ein Individuum und von keinem andern Ding, selbst vom Kristall nicht, läßt sich ein gleiches behaupten, da der Kristall weder Heterogenität der Teile, noch Verschiedenartigkeit der Funktionen besitzt. Gewiß, es hat selbst in der organischen Welt etwas Mißliches, zu entscheiden, was eigentlich Individuum ist und was nicht. Groß ist die Schwierigkeit schon im Tierreich; sie wird fast unüberwindlich, wo es sich um die Pflanze handelt. Und zwar entstammt diese Schwierigkeit tiefen Ursachen, die später zu behandeln sein werden. Dort werden wir sehen, daß die Individualität eine Unendlichkeit von Graden zuläßt, und daß sie nirgends, auch beim Menschen nicht, vollkommen realisiert ist. Das aber ist kein Grund, sie als charakteristischen Zug des Lebens abzulehnen. Allzurasch triumphiert der mathematisch verfahrende Biologe ob unserer Unfähigkeit zu einer scharfen und allgemeingültigen Definition der Individualität. Abschließende Definitionen decken sich nur mit fertigen Wirklichkeiten: die Wesenszüge des Lebens aber sind niemals völlig verwirklicht, sie sind immer nur auf dem Weg der Verwirklichung: sie sind nicht sowohl Zustände als Tendenzen. Tendenzen aber erreichen alles, worauf sie zielen, nur unter der Bedingung, daß keine andere Tendenz sie durchkreuze: und wie sollte dieser Fall im Bereich des Lebens eintreten, wo, wie wir zeigen werden, stets wechselseitige Bedingtheit gegenstrebiger Tendenzen herrscht? Zuhöchst im Fall der Individualität läßt sich sagen, daß, wenn die Tendenz zur Individuation überall in der organischen Welt gegenwärtig ist, sie ebenso überall von der Tendenz zur Fortpflanzung bekämpft wird. [20] Wäre die Individualität vollkommen, kein vom Organismus abgetrennter Teil dürfte gesondert zu leben vermögen. Doch würde damit die Fortpflanzung unmöglich. Denn was in der Tat ist diese, wenn nicht Aufbau eines neuen Organismus aus einem abgetrennten Bruchstücke des früheren? Im eigenen Hause also herbergt die Individualität ihren Feind. Eben das empfundene Bedürfnis nach Fortpflanzung in der Zeit verurteilt sie dazu, im Raume niemals vollständig zu sein. Aufgabe des Biologen ist es, in jedem gegebenen Fall beiden Tendenzen genug zu tun. Von ihm eine, ein für allemal formulierbare und automatisch anwendbare Definition verlangen, ist vergebens.
Nur zu oft aber behandelt man die Dinge des Lebens ganz wie Gestaltungen der toten Materie. Und nirgends ist die Verwirrung sichtbarer als in den Diskussionen über die Individualität. Man weist uns Abschnitte eines Lumbrikulus, deren jeder sich einen eignen Kopf zeugt, um als selbständiges Individuum weiter zu leben; eine Hydra, deren Stücke zu ebenso vielen neuen Hydren werden, ein See-Igel-Ei, dessen Fragmente vollständige Embryonen hervorbringen: wo also, so fragt man uns, war hier die Individualität des Eies, der Hydra und des Wurmes? — Daraus jedoch, daß jetzt mehrere Individuen da sind, folgt keineswegs, daß nicht kurz vorher ein einziges da gewesen sei. Daß ich zu der Behauptung, ein Möbel bestehe aus einem Stück, kein Recht mehr besitze, nachdem ich ihm mehrere Schübe entfallen sah, erkenne ich an. Nur aber darum nicht, weil die Gegenwart dieses Möbels nicht mehr enthalten kann als seine Vergangenheit, und weil, wenn es heute aus mehreren Stücken besteht, es seit seiner Herstellung aus ihnen bestanden haben muß. Oder allgemeiner gesagt, die anorganischen Körper, jene nämlich heißt das, deren wir zum Handeln bedürfen und nach denen wir unsere Denkweise gemodelt haben, sind durch folgendes einfache Gesetz bestimmt: »ihre Gegenwart enthält nicht mehr als ihre Vergangenheit, und was in der Wirkung sich vorfindet, war schon in der Ursache vorhanden.« Gesetzt hingegen, der organische Körper besitze — wovon übrigens schon die oberflächlichste Beobachtung [21] zeugt — Wachstum und rastlosen Wandel als unterscheidendes Merkmal, dann läge gar nichts Erstaunliches darin, daß er zuerst Eines und dann Mehreres ist. Eben hierin ja besteht die Fortpflanzung der einzelligen Organismen; das Lebewesen teilt sich in zwei Hälften, deren jede ein vollständiges Individuum ist. Bei den zusammengesetzteren Tieren lokalisiert die Natur zwar die Kraft zur Neuzeugung des Ganzen in beinah selbständigen sogenannten Sexualzellen. Etwas von dieser Kraft aber kann, wie die Fälle von Regeneration beweisen, durch den übrigen Organismus verteilt bleiben, und man nimmt an, daß sie in gewissen bevorzugten Fällen in latentem Zustand ungebrochen weiter besteht, um sich bei erster Gelegenheit zu offenbaren. In Wahrheit, damit ich ein Recht habe, von Individualität zu sprechen, ist Unvermögen des Organismus zur Spaltung in lebensfähige Teile gar nicht vonnöten. Es reicht aus, daß er vor seiner Zerstückung eine bestimmte Systematisierung der Teile gezeigt habe, und daß dieses selbe System auf Wiederherstellung in den einmal abgegliederten Stücken dränge — und eben dies ist es, was wir in der organischen Welt beobachten. Somit dürfen wir schließen, daß die Individualität zwar niemals vollkommen ist, daß es oft schwierig, ja manchmal unmöglich wird zu entscheiden, was Individuum ist und was nicht, daß aber das Leben nichtsdestoweniger ein natürliches Suchen nach Individualität bekundet und zur Bildung isolierter, natürlich geschlossener Systeme drängt.
Hiermit scheidet sich das Lebewesen von allem, was unsere Wahrnehmung oder unsere Wissenschaft künstlich isoliert oder schließt. Zu Unrecht vergleicht man es einem Gegenstand. Wollte man aber durchaus dem lebendigen Organismus einen Vergleichspunkt im Anorganischen suchen, so wäre es nicht der einzelne stoffliche Gegenstand, sondern das Ganze des Universums, dem man ihn gleichsetzen müßte. Freilich wäre mit dem Vergleich nicht viel gewonnen. Denn das Lebewesen ist etwas Wahrnehmbares, während das Ganze des Universums gedankliche Konstruktion oder Rekonstruktion ist. Immerhin wäre die Aufmerksamkeit hiermit auf den Wesenszug des Organischen gelenkt. Wie das Univer[22]sum in seiner Gesamtheit, wie jedes einzeln angesehen bewußte Wesen ist der Organismus, der lebt, ein Ding, das dauert. Lückenlos dehnt sich seine Vergangenheit hinein in sein Jetzt und bleibt in ihm gegenwärtig und wirkend. Wie wäre es sonst verständlich, daß er wohlgeordnete Phasen durchlauft, daß sein Alter sich wandelt, kurz daß er eine Geschichte hat?
ALTERN UND INDIVIDUALITÄT
Betrachte ich meinen Körper für sich, so finde ich, daß er, ähnlich meinem Bewußtsein, allgemach reift, von der Kindheit an bis zum Alter. Wie ich, altert er. Ja, im Grunde sind Reife und Alter nur Merkmale meines Körpers, und bloß bildliche Bedeutung hat es, wenn ich den entsprechenden Wandlungen meiner bewußten Persönlichkeit denselben Namen beilege. Durchmesse ich nun die Stufenleiter der Lebewesen von oben nach unten, gehe ich vom differenzierteren zum undifferenzierteren, vom vielzelligen Organismus des Menschen zum einzelligen der Infusorie, so finde ich in dieser einfachen Zelle den gleichen Prozeß des Alterns. Die Infusorie erschöpft sich nach einer gewissen Anzahl von Teilungen; und ob auch der Augenblick, wo eine Verjüngung durch Konjugation notwendig wird, durch Modifikation des Mediums3 hinausrückbar ist, ins Grenzenlose läßt er sich nicht verschieben. Zwar finden sich zwischen diesen beiden extremen Fällen völliger Individualisiertheit eine Fülle von anderen, deren Individualität weniger ausgeprägt ist, und bei denen man — obwohl ein Prozeß des Alterns zweifellos irgendwo vorliegt — nicht recht zu sagen wüßte, was eigentlich altere. Um es nochmals zu sagen, es existiert kein universelles biologisches Gesetz, das, einmal gegeben, automatisch auf jedes beliebige Lebendige paßte. Es gibt nur Richtungen, in die das Leben die Arten hineinschnellt. Durch den Akt selbst, kraft dessen sie sich setzt, bewährt jede besondere Art ihre Unabhängigkeit, folgt sie ihrer Laune, weicht sie mehr oder weniger von der Linie ab, ja rückerklimmt sie sogar mitunter die Bahn und scheint ihrer ursprünglichen Richtung den Rücken zu kehren. Mit geringer [23] Mühe ließe sich dartun, ein Baum altere nicht, da seine gipfelständigen Zweige immer gleich jung seien, immer gleich fähig als Stecklinge neue Bäume zu zeugen. Dennoch aber, irgend etwas altert in solchem Organismus — der übrigens eher eine Gesellschaft als ein Individuum ist — und wäre es nur das Blattwerk oder das Mark des Stammes. Und jede Zelle für sich betrachtet hat endliche Entwicklung. Wo immer Leben ist, liegt auch ein Buch aus, dem die Zeit sich einschreibt.
Das aber, so wird man sagen, ist nur eine Metapher. Und in der Tat gehört es zum Wesen des Mechanismus, jeden Ausdruck für metaphorisch zu halten, der der Zeit wirkende Kraft und eigene Realität zuschreibt. Mag uns die unmittelbare Beobachtung noch so klar zeigen, die Grundlage unserer bewußten Existenz sei Gedächtnis, Hineindehnen des Vergangenen ins Gegenwärtige, wirkende, unumkehrbare Dauer. Mag die Reflexion noch so klar beweisen, daß wir mit jedem Abrücken von den, durch Wissenschaft und gesunden Menschenverstand isolierten Systemen und herausgeschnittenen Gegenständen um so entschiedener zu einer Wirklichkeit kommen, deren innere Beschaffenheiten sich nur als Ganzes wandeln, gerade so, als ob ein das Vergangene aufschichtendes Gedächtnis ihr die Umkehr nach rückwärts unmöglich machte — der mechanistische Instinkt des Geistes ist stärker als die Reflexion, stärker als die unmittelbare Beobachtung. Der Metaphysiker, den wir unbewußt in uns tragen und dessen Gegenwart sich — wie wir später sehen werden — aus der Stellung des Menschen unter den Lebewesen selbst erklärt, hat seine gesetzten Forderungen, seine fertigen Erklärungen, seine unverrückbaren Thesen: alle gehen sie auf in Negierung der konkreten Dauer. Die Veränderung muß auf Lagerung und Umlagerung von Teilen zurückführbar, die Zeit muß ein an unserer Unwissenheit hängender Schein, die Unmöglichkeit der Umkehr muß die bloße Unfähigkeit des Menschen sein, die Dinge wieder an Ort und Stelle zu rücken. Nur progressiven Erwerb oder gradweisen Verlust oder beides zugleich kann das Altem bedeuten. Keine andere Wirklichkeit hat die Zeit für das Lebe[24]wesen als für die Sanduhr, deren oberer Trichter sich leert, wenn der untere sich füllt, und bei der durch Umdrehn des Apparats alles an Ort und Stelle gerückt werden kann.
Darüber allerdings, was zwischen dem Tag von Geburt und Tod erworben und was verloren wird, ist man sich nicht einig. Man hat sich an die ununterbrochene Massenzunahme des Protoplasma von der Geburt bis zum Tod der Zelle geklammert4. Wahrscheinlicher und tiefer ist jene Theorie, welche die Abnahme an das Quantum der Nährsubstanz irgendwo im Innern, wo sich der Organismus verjüngt, geknüpft sein läßt, die Zunahme hingegen an das Quantum nicht ausgeschiedener substanzieller Reste, deren Aufhäufung im Körper ihn schließlich »verkrustet«5. Oder muß man dessenungeachtet mit einem hervorragenden Mikribiologen jede Erklärung des Alterns für unzureichend erklären, die der Phagozytose keine Rechnung trägt?6 Nicht unseres Amtes ist es, die Frage zu entscheiden. Wohl aber beweist die Tatsache, daß beide Theorien in der Behauptung konstanter Zunahme und konstanten Verlustes gewisser Stoffe übereinstimmen, während sie in der Festsetzung dessen, was eigentlich erworben und was verloren wird, wenig Gemeinsames mehr zeigen, zur Genüge, daß der Rahmen der Erklärung a priori bereit lag. Mehr und mehr, je weiter unsere Untersuchung vorrückt, werden wir dies erkennen: es ist nicht leicht, dem Bilde der Sanduhr zu entgehen, wenn man an die Zeit denkt.
Die Ursache des Alterns muß tiefer liegen. Ununterbrochne Kontinuität herrscht unserer Überzeugung nach zwischen der Entwicklung des Embryo und des ausgewachsenen Organismus. Die Triebkraft, dank deren das Lebewesen wächst, sich entwickelt und altert, ist dieselbe, die es Phase um Phase des embryonalen Lebens durchmachen ließ. Entwicklung des Embryo aber ist unablässige Formveränderung. [25] Wer das Nacheinander all seiner Erscheinungen aufzeichnen wollte, würde sich im Unendlichen verlieren; wie es eben geht, wenn man einer Kontinuität gegenübersteht. Fortsetzung dieser vorgeburtlichen Entwicklung ist das Leben; Beweis dafür die häufige Unmöglichkeit der Feststellung, ob man es mit einem alternden Organismus oder mit einem Embryo zu tun hat, der fortfährt, sich zu entwickeln: so bei den Larven von Insekten und Crustaceen. Andrerseits sind in einem Organismus, wie dem unseren, Krisen von Art der Pubertät oder Menopause, mit ihrer vollständigen Umgestaltung des Individuums durchaus jenen Wandlungen vergleichbar, die sich in den Lebensläufen von Larven und Embryonen vollziehen; dennoch sind eben sie integrierende Elemente unseres Alterns. Und ob sie auch in bestimmtem Alter und in manchmal sehr kurzer Zeit entstehen, niemand wird behaupten wollen, daß sie dann von außen und ex abrupto einfach nur darum hereinbrächen, weil ein gewisses Alter erreicht ist; so etwa wie der Ruf zu den Fahnen an jemanden ergeht, der sein zwanzigstes Jahr vollendet hat. Sondern ganz offenbar bereiten sich Umwandlungen wie die Pubertät in jedem Augenblick seit, ja jenseits der Geburt vor, und besteht das Altern der Lebewesen bis zu dieser Krise mindestens zum Teil in jener gradweisen Vorbereitung. Mit einem Wort, was von wirklichem Leben im Prozeß des Alterns steckt, ist die unwahrnehmbare, unendlich zerteilte Kontinuität der Formveränderung. Zweifellos zwar wird sie von Phänomenen organischer Zerstörung begleitet, und an diese heftet sich die mechanistische Erklärung des Alterns, die die Tatsachen der Sklerose, der gradweisen Aufhäufung von Resten, der wachsenden Hypertrophie des Zellprotoplasmas feststellt. Unter diesen sichtbaren Wirkungen aber verbirgt sich eine innere Ursache. Die Entwicklung des Lebewesens wie des Embryo schließt in sich die kontinuierliche Einzeichnung der Dauer, in sich ein Beharren der Vergangenheit in der Gegenwart, in sich also einen Anschein wenigstens von organischem Gedächtnis.
Der gegenwärtige Zustand eines anorganischen Körpers hängt ausschließlich davon ab, was im letztvergangenen Mo[26]ment vor sich gegangen ist. Die Lage der materiellen Punkte eines von der Wissenschaft isolierten Systems wird durch die Lage dieser selben Punkte im unmittelbar früheren Moment bestimmt. Mit anderen Worten, es lassen sich die Gesetze, von denen die anorganische Materie beherrscht wird, prinzipiell durch Differenzialgleichungen ausdrücken, in welchen die Zeit — dies Wort im Sinn des Mathematikers genommen — die Rolle der unabhängigen Variabeln spielen würde. Gilt nun ein gleiches von den Gesetzen des Lebens, erklärt sich der Zustand eines lebendigen Körpers restlos aus seinem letztvergangenen Zustand? Gewiß, wenn anders man a priori dahin übereinkommt, ihn, den Lebenden, allen übrigen Körpern der Natur anzuähneln und ihn, dem Standpunkt zuliebe, mit jenen künstlichen Systemen zu identifizieren, mit denen der Physiker, der Chemiker, der Astronom operieren. Für Astronomie und Physik und Chemie aber hat jene Voraussetzung einen ganz bestimmten Sinn: sie bedeutet, daß gewisse, für die Wissenschaft wesentliche Aspekte der Gegenwart als Funktion der unmittelbaren Vergangenheit berechenbar seien. Nichts dem Ähnliches indes im Bereich des Lebens! Zugang hat hier die Berechnung höchstens zu gewissen Phänomenen organischer Zerstörung. Vom organischen Schaffen dagegen, von den Entwicklungsphänomenen, die das Leben eigentlich ausmachen, ahnen wir nicht einmal, wie sie einer mathematischen Behandlung überhaupt unterworfen werden könnten. Wohl wird man sagen, diese Unfähigkeit entspringe nur aus unserer Unkenntnis. Genau ebensogut aber könnte sie bedeuten, daß der jeweilige Moment des lebenden Körpers seinen Seinsgrund durchaus nicht im unmittelbar früheren Moment findet, sondern daß noch die gesamte Vergangenheit des Organismus, all sein Ererbtes, mit einem Wort der Zusammenhang einer sehr langen Geschichte zu diesem hinzutreten müsse. Und diese zweite Hypothese ist es, die sich mit dem augenblicklichen Standpunkt der biologischen Wissenschaften, ja mit ihrer Richtung überhaupt deckt. Wogegen sich der Gedanke, daß der lebende Körper durch irgendeinen überirdischen Rechenmeister derselben mathematischen Behandlung [27] unterworfen werden könnte, wie unser Sonnensystem, nach und nach aus einer gewissen Metaphysik herausgeschält hat, die zwar erst seit Galileis physikalischen Entdeckungen präzisere Form angenommen hat, die aber — wie wir zeigen werden — von jeher die natürliche Metaphysik des menschlichen Geistes gewesen ist. Seine augenscheinliche Klarheit, unsere ungeduldige Begier, ihn als wahr zu erfinden, die Bereitwilligkeit vieler ausgezeichneter Geister, ihn ungeprüft hinzunehmen, kurz alle die Verführungen, die er für unser Denken besitzt, sollten uns ihm gegenüber auf der Hut sein lassen. Nur zu sehr beweist sein Reiz, daß er einer angeborenen Neigung Genüge tut. Diese jetzt angeborenen intellektuellen Tendenzen aber, die sich das Leben im Gang seiner Entwicklung hat schaden müssen, sind — wie sich später zeigen wird — zu ganz etwas anderem gemacht als dazu, uns eine Erklärung des Lebens zu geben.
Eben der Widerstand jener Tendenz ist es, wogegen man prallt, sobald man zwischen natürlichem und künstlichem System, zwischen Totem und Lebendigem scheiden will; er eben bewirkt, daß es uns ebenso große Schwierigkeit macht, die Dauer des Organischen wie die Nichtdauer des Anorganischen zu denken. Denn wie, so wird man uns fragen, heißt es denn nicht die Zeit zu Hilfe rufen, nicht das künstliche System in die Dauer einstellen, wenn Ihr behauptet, sein Zustand hänge ausschließlich vom Zustand des letztvorhergehenden Moments ab? Und wird nicht andererseits diese Vergangenheit, die nach Euch mit dem jeweiligen Moment des Lebewesens in eins verwächst, kraft des organischen Gedächtnisses so völlig im unmittelbar vorangehenden Zustand zusammengeballt, daß nun dieser zur alleinigen Ursache des gegenwärtigen Zustands wird? — So sprechen heißt, den Wesensunterschied verkennen, der die konkrete Zeit, in der ein reales System sich entwickelt, von der abstrakten Zeit scheidet, die in unseren Spekulationen über die künstlichen Systeme ihre Rolle spielt. Was denn meinen wir eigentlich, wenn wir sagen, der Zustand eines künstlichen Systems hänge davon ab, was dieses System im unmittelbar vorangehenden Momente war? Es gibt keinen [28] und kann keinen unmittelbar vorangehenden Augenblick geben, so wenig wie es einen mathematischen Punkt gibt, der an einen anderen mathematischen Punkt stößt. In Wirklichkeit ist der »unmittelbar vorangehende« Moment jener, der mit dem gegenwärtigen durch das Intervall dt verbunden ist. Alles, was wir mit ihm sagen wollen, ist also nur, daß der gegenwärtige Moment des Systems durch Gleichungen, in die Differential-Koeffizienten wie
eingesetzt werden, bestimmt wird; d. h. im Grunde durch gegenwärtige Geschwindigkeiten und gegenwärtige Beschleunigungen. Von nichts anderem also als von Gegenwart ist hier die Rede, einer Gegenwart allerdings, in die ihre Tendenz mit einbegriffen ist. Tatsächlich, die Systeme, mit denen die Wissenschaft operiert, stehen in einer momentanen, einer immerfort neu einsetzenden Gegenwart, niemals in der realen, konkreten Dauer, wo Vergangenheit und Gegenwart nur Eines bilden. Wenn der Mathematiker den künftigen Zustand eines Gegenstands nach Ablauf der Zeit t berechnet, so hindert ihn nichts an der Annahme, daß bis dahin das stoffliche All entschwände, um plötzlich wieder emporzutauchen. Einzig der tte Augenblick zählt für ihn — etwas also, das ein rein Momentanes ist. Was dagegen während des Intervalls abläuft, die reale Zeit heißt das, zählt nicht für ihn und kann in die Rechnung nicht eingehen. Denn ob auch der Mathematiker behaupte, sich in das Intervall selbst hineinzustellen, es ist immer nur ein bestimmter Punkt, ein bestimmter Augenblick, immer nur das Ende einer Zeit t’, meine ich, worein er sich versetzt; und von dem Intervall, das bis zu T’’ reicht, ist nicht mehr die Rede. Und ob er dies Intervall unter Berücksichtigung des Differentials dt in unendlich kleine Teile zerlege, was er damit ausdrückt ist nur, daß er Beschleunigungen und Geschwindigkeiten berücksichtigt; Zahlen heißt das, die Tendenzen bezeichnen, und die ihm gestatten, den Zustand des Systems für einen gegebenen Moment zu berechnen. Ein gegebener oder richtiger starrer Moment aber bleibt es immer, der in Frage steht, niemals die Zeit, die fließt. Kurz also, die Welt, mit welcher der Mathema[29]tiker operiert, ist eine Welt, die in jedem Augenblick stirbt und wiederaufersteht, jene selbe, an die Descartes dachte, wenn er von »création continuée« sprach. Wie aber in einer so verstandenen Zeit eine Entwicklung, d. h. die entscheidende Eigenschaft des Lebens vorstellen? Denn sie, die Entwicklung, ist identisch mit realer Weiterführung der Vergangenheit durch die Gegenwart, identisch mit einer Dauer, die eine Bindekraft (»trait d’union«) ist. Mit anderen Worten, die Erkenntnis eines Lebewesens oder natürlichen Systems ist eine solche, die das Intervall selber, die eines mathematischen oder künstlichen Systems eine solche, die nur die Endpunkte des Intervalls betrifft.
Kontinuität der Veränderung, Fortbestehen der Vergangenheit in der Gegenwart, wahre Dauer — das Lebewesen scheint also diese Attribute durchaus mit dem Bewußtsein zu teilen. Darf da noch weiter gegangen, darf behauptet werden, das Leben sei Erfindung, wie die bewußte Tätigkeit, sei unablässige Schöpfung wie sie?
DIE ENTWICKLUNGSLEHRE
Nicht unsere Absicht ist es, hier alle Beweise der Entwicklungslehre aufzuzählen. Mit wenigen Worten nur soll erklärt werden, warum wir sie, für die vorliegende Arbeit, als eine genügend exakte und zutreffende Deutung der bekannten Tatsachen annehmen. Im Keimzustand ist die Idee der Entwicklungslehre schon in der natürlichen Klassifikation der Lebewesen enthalten. Der Naturforscher nämlich rückt die ähnlichen Organismen zusammen, teilt dann die Gruppen in Untergruppen, bei denen die Ähnlichkeit noch stärker ist, und so immer fort: während des ganzen Verfahrens erscheinen die Gruppencharaktere als gemeinsame Themata, die jede Untergruppe auf ihre besondere Art variiert. Eben dasselbe Verhältnis aber ist es, das wir in der Tierwelt wie in der Pflanzenwelt zwischen Zeugendem und Erzeugtem finden: in den Kanevas, den der Vorfahre seinen Nachkommen hinterläßt und den sie gemeinsam besitzen, zieht jeder von ihnen seine eigene Stickerei ein. Zwar sind die Verschiedenheiten zwischen Vorfahren und Nachkom[30]men gering, so daß man sich fragen könnte, ob wirklich ein und dieselbe lebende Materie Plastizität genug aufweist, um nacheinander so verschiedene Formen wie die von Fisch und Reptil und Vogel anzunehmen. Auf diese Frage jedoch gibt die Forschung eine bündige Antwort. Sie zeigt, daß der Embryo des Vogels sich bis zu einer gewissen Entwicklungsperiode kaum von jenem des Reptils unterscheidet, zeigt, daß überhaupt das Individuum während des embryonalen Lebens eine Reihe von Umbildungen entwickelt, denen vergleichbar, die dem Evolutionismus nach, von einer Art zur andern durchmessen werden müßten. Eine einzige, durch Vereinigung einer weiblichen und männlichen zustande gekommene Zelle vollbringt, indem sie sich teilt, dieses Werk. Täglich und vor unseren Augen gehen die höchsten Lebensformen aus einer elementarsten hervor. Daß also kraft der Entwicklung Kompliziertestes aus Einfachstem entspringen könne, stellt das Experiment fest. Ist es aber auch tatsächlich daraus entsprungen? Dies zu glauben, lädt uns, aller Unzulänglichkeit ihrer Dokumente ungeachtet, die Paläontologie ein; denn wo immer sie die Ordnung der Artenfolge mit einiger Genauigkeit auffindet, da ist diese Ordnung gerade diejenige, die sich auf Grund von Erwägungen aus der vergleichenden Embryologie und Anatomie erwarten ließ, und jede neue paläontologische Entdeckung bringt eine neue Bekräftigung der Entwicklungslehre. Dauernd also verstärken sich die der reinen und einfachen Beobachtung entnommenen Beweise, während zugleich das Experiment Einwand um Einwand aus dem Wege räumt. So beseitigen z. B. H. de Vries’ jüngste Experimente, die die Möglichkeit plötzlichen Entstehens und sicherer Vererbung bedeutender Variationen erweisen, einige der größten Schwierigkeiten, die der Lehre erstanden waren. Sie gestatten eine erhebliche Abkürzung des Zeitraums, den die Biologie scheinbar erforderte; sie machen uns auch weniger anspruchsvoll der Paläontologie gegenüber. So daß also, um alles zusammenzufassen, die evolutionistische Hypothese mehr und mehr als ein, mindestens annähernder Ausdruck der Wahrheit erscheint. Beweisbar freilich im strengen Sinne ist sie nicht. Unterhalb [31] der Gewißheit aber, wie sie die theoretischen oder experimentellen Beweise gewähren, existiert jene ins Grenzenlose erhöhbare Wahrscheinlichkeit, die die Evidenz ergänzt und auf sie als ihre Grenze hinzielt: dieser Art ist die Wahrscheinlichkeit, die die Entwicklungstheorie bietet.
Angenommen aber, die Entwicklungstheorie wäre des Irrtums überführt. Gesetzt, es gelänge durch Induktion oder Experiment festzustellen, daß die Arten kraft eines diskontinuierlichen Prozesses entstehen, von dem wir uns heut noch keinerlei Vorstellung machen. Würde dadurch die Lehre in dem Punkte getroffen, der ihr Interessantestes und für uns Wichtigstes ist? In Kraft bliebe unzweifelhaft die Klassifizierung in ihren Hauptlinien. In Kraft die wirklichen Gegebenheiten der Embryologie. In Kraft endlich die Korrelation zwischen vergleichender Embryologie und vergleichender Anatomie. Es könnte und müßte die Biologie also fortfahren, dieselben Beziehungen, dieselbe Verwandtschaft zwischen den Lebensformen zu setzen, wie sie heut die Entwicklungslehre annimmt. Freilich würde es sich nur mehr um ideelle Verwandtschaft handeln, nicht um materielle Abstammung. Da aber die wirklichen Gegebenheiten der Paläontologie ebenfalls in Kraft blieben, so müßte notwendigerweise auch zugegeben werden, daß die Formen, die eine ideelle Verwandtschaft bekunden, nacheinander und nicht gleichzeitig aufgetreten seien. Nichts weiter aber verlangt die Entwicklungstheorie, soweit sie von Bedeutung für den Philosophen ist. Ihm besteht sie vorzüglich in der Konstatierung ideeller Verwandtschaftsbeziehungen und in der Betonung davon, daß überall dort, wo ein solches gewissermaßen logisches Abstammungsverhältnis der Formen existiert, auch ein chronologisches Folgeverhältnis der Arten herrscht, in denen die Formen sich verkörpern. Und diese doppelte These würde bei jeder Lage der Sache in Kraft bleiben. Irgendwo also müßte immer noch eine Entwicklung vorausgesetzt werden — sei es in einem schöpferischen Denken, darin die Ideen der verschiedenen Arten einander genau so erzeugt hätten, wie sich die Arten selbst, der Entwicklungstheorie nach, auf der Erde erzeugt haben; sei es [32] in einem der Natur immanenten, sich allmählich verdeutlichenden Formungsplan des Lebens, darin die chronologischen und logischen Abstammungsverhältnisse der reinen Formen eben diejenigen wären, die uns die Entwicklungstheorie als Abstammungsverhältnisse lebender Individuen darbietet; sei es endlich in irgendeiner unbekannten Ursache des Lebens, die ihre Wirkungen so entwickelte, als ob eine die andere erzeugte. Nur also transponiert wäre hier die Entwicklung, übergeführt nur aus der Sichtbarkeit ins Unsichtbare. Fast alles bliebe erhalten, was die Entwicklungstheorie heut lehrt; nur daß es auf andere Art interpretiert wäre. Ist es da nicht besser, man hält sich einfach an den Buchstaben der Lehre, wie sie heut die Naturforscher beinahe einstimmig bekennen? Wenn aber die Frage dahingestellt bleibt, wie weit dieser Evolutionismus die Tatsachen beschreibt, wie weit nur symbolisiert, dann hat er auch nichts Unversöhnliches mit den Lehren, die er zu ersetzen behauptet, nicht einmal mit jener der getrennten Schöpfungsakte, der man ihn gewöhnlich gegenüberstellt. Dies der Grund, weshalb sich unserer Überzeugung nach die Sprache der Entwicklungslehre heut jeder Philosophie ebenso sehr aufzwingt, wie der Naturwissenschaft ihre dogmatische Bejahung.
BIOLOGIE, PHYSIK UND CHEMIE
Dann aber darf man nicht länger vom Leben im allgemeinen sprechen wie von einer Abstraktion oder einer bloßen Rubrik zur Eintragung sämtlicher Lebewesen. In einem bestimmten Moment, an bestimmten Punkten des Raumes hat ein höchst sichtbarer Strom seinen Ursprung genommen; im Durchfluten der Körper, die er nach und nach organisierte, im Überwandern von Generation auf Generation hat dieser Strom von Leben sich verteilt an die Arten, sich versprüht an die Individuen, ohne jemals von seiner Kraft einzubüßen, intensiver nur werdend je weiter er vordrang. Es ist bekannt, wie nach der von Weissmann vertretenen Lehre über die »Kontinuität des Keimplasma« die Geschlechtszellen ihre Eigenschaften unmittelbar auf die Keimzellen des erzeugten Körpers übertragen. In dieser extremen Form erschien die Lehre zwar als anfechtbar, denn nur in Ausnahmefällen deuten sich die Geschlechtsdrüsen sofort nach [33] der Furchung des befruchteten Eis an. Wenn aber auch die Zellen, die die Keimdrüsen hervorbringen, im allgemeinen nicht gleich zu Beginn des embryonalen Lebens deutlich sind, so bleibt es darum doch wahr, daß sie sich immer aus Geweben des Embryo bilden, die noch keinerlei Differenzierung nach der Funktion erfahren haben und deren Zellen aus undifferenziertem Protoplasma bestehen7. Mit anderen Worten, das Fortpflanzungsvermögen des befruchteten Eies mindert sich im selben Maße, in dem es sich auf die wachsende Masse der Gewebe des Embryo verteilt, konzentriert aber, während es sich so verdünnt, irgend etwas von sich aufs neue an ganz bestimmter Stelle; in jenen Zellen nämlich, aus denen die Eier oder die Spermatozoën entstehen sollen. Es läßt sich also behaupten, daß, wenn auch das Keimplasma nicht kontinuierlich ist, zum mindesten doch eine Kontinuität der Fortpflanzungsenergie existiert, welche Energie sich nur während weniger Augenblicke, nur gerade lange genug ausgibt, um das embryonale Leben zu entfachen, sich aber dann wieder schnellstmöglich in neuen Geschlechtszellen zusammenrafft, wo sie zum anderen Mal ihrer Stunde harrt. Von hieraus gesehen erscheint das Leben als ein Strom, der durch Mittlerschaft eines entwickelten Organismus von Keim auf Keim überfließt. Alles geht vor sich, als ob der Organismus selbst nur ein Auswuchs oder Schößling wäre, den der alte Keim, im Ringen nach Fortsetzung durch neue Keime hervortreibt. Das Entscheidende ist die Kontinuität des ins Unendliche gehenden Fortschritts, eines unsichtbaren Fortschritts, darin jeder sichtbare Organismus die kurze Zeitspanne lang, die ihm zu leben gegönnt ist, mitwandert.
Je mehr sich also die Aufmerksamkeit dieser Kontinuität des Lebens zuwendet, desto mehr sieht man, wie die organische Entwicklung sich der eines Bewußtseins nähert, wo die Vergangenheit gegen die Gegenwart drängt und aus ihr eine neue, eine all ihren Vorläufern inkommensurable Form hervorbrechen läßt. Daß jedes Auftreten einer neuen pflanzlichen oder tierischen Art auf exakten Ursachen beruhe, wird niemand leug[34]nen. Nur muß darunter verstanden werden, daß mau bei Einzelkenntnis dieser Ursachen wohl nachträglich dazu kommen kann, die entstandene Form aus ihnen zu erklären: keine Rede aber darf davon sein, sie vorherzusehen8. Wollte man aber dennoch behaupten, sie könne vorhergesehen werden, wenn nur ihre Entstehungsbedingungen in allen Einzelheiten bekannt wären, so ist zu antworten, daß diese Bedingungen ein Ganzes mit ihr bilden, ja mit ihr Eines sind, da sie nur ausdrücken, in welchem Moment seiner Geschichte das Leben sich jeweils befindet. Wie aber eine Lage als bekannt annehmen, die einzig in ihrer Art ist, die nie noch hervorgebracht worden ist und nie mehr hervorgebracht werden wird? Vorhersehbar an der Zukunft ist nur, was der Vergangenheit gleicht, oder was aus Elementen, die denen der Vergangenheit gleichsehen, wieder zusammengesetzt werden kann. Dies ist der Fall der astronomischen, physikalischen und chemischen Vorgänge, aller derer überhaupt, die Teil eines Systems, oder ein einfaches Nebeneinander sogenannt unbeweglicher Elemente sind, aller derer also, bei denen nur Lageveränderungen vor sich gehen, bei denen der Gedanke, die Dinge könnten an Ort und Stelle zurückgebracht werden, keine theoretische Absurdität ist, und bei denen sich infolge dessen die gleichen Gesamt- oder doch Elementarphänomene wiederholen können. Wie aber eine einzigartige Situation, die auch ihren Elementen, d. h. den von ihr aufgenommenen Teilansichten, irgend etwas von ihrer Einzigkeit mitteilt, als gegeben denken, ehe sie sich erzeugt hätte?9 Zu behaupten ist nur, daß sie sich, einmal entstanden, aus den Elementen erklärt, die durch Analyse in ihr aufgefunden werden. Und was so von der Entstehung einer neuen Art gilt, gilt auch von der eines neuen Individuums, ja ganz allgemein von der eines jeden Moments und jeder lebenden Form schlechthin. Denn ob auch die Variation eine gewisse Bedeutsamkeit und Allgemeinheit erreicht haben muß, um eine neue Art entstehen zu lassen, so erzeugt sie sich doch in jedem Augen[35]blick unwahrnehmbar und kontinuierlich in jeglichem Lebewesen. Und gerade jene plötzlichen Mutationen, von denen uns heute gesprochen wird, sind offensichtlich nur dadurch möglich, daß Generationen hindurch, die sich nicht zu verändern schienen, eine Arbeit des Brütens oder besser des Reifens geleistet worden ist. In diesem Sinn kann, wie vom Bewußtsein auch vom Leben gesagt werden, es erschaffe etwas in jeglichem Augenblick10.
Gegen diese Idee der absoluten Einzigartigkeit und Unvorhersehbarkeit der Formen aber empört sich unser gesamter Intellekt. Gemodelt wie er durch die Entwicklung des Lebens ist, liegt seine wesentliche Funktion darin, unser Verhalten zu beleuchten, unser Wirken auf die Dinge vorzubereiten und die, aus einer gegebenen Lage möglicherweise entspringenden günstigen oder ungünstigen Ereignisse vorauszusehen. Instinktiv also löst er aus einer Situation das heraus, was schon Bekanntem ähnelt; er sucht das Gleiche, um seinen Grundsatz »Gleiches erzeugt Gleiches« anwenden zu können. Dies die Voraussicht der Zukunft durch den gesunden Menschenverstand. Sein Verfahren nun steigert die Wissenschaft bis zu höchster Exaktheit und Präzision, ohne aber an seinem Wesenscharakter zu rütteln. Wie dem gewöhnlichen Denken bleibt auch ihr von den Dingen bloß der Aspekt: Wiederholung. Ist aber das Ganze einmalig, so hilft sie sich damit, es in Elemente oder Ansichten zu zerlegen, die [36] beinahe eine Reproduktion des Vergangenen sind. Sie kann nur dem operieren, was wiederholbar erscheint, mit dem heißt das, was der Voraussetzung nach, den Wirkungen der Dauer entzogen ist. Ihr entgeht, was von Unreduzierbarem und Unumkehrbarem in der Momentenfolge einer Geschichte lebt. Denn um diese Unreduzierbarkeit und Unumkehrbarkeit vorzustellen, muß mit wissenschaftlichen Gewohnheiten, die den elementaren Forderungen des Denkens entsprechen, gebrochen, muß dem Geiste Gewalt angetan, muß die natürliche Bahn des Intellektes rückerklommen werden. Eben da aber liegt die Rolle der Philosophie.
Mag sich das Leben daher vor unseren Augen noch so deutlich als kontinuierliche Schöpfung unvorhersehbarer Form entwickeln: der Gedanke beharrt, daß Form, Unvorhersehbarkeit und Kontinuität bloße Scheinbarkeiten sind, Spiegelungen ebensovieler Unwissenheiten. Was sich — so sagt man uns — Euren Sinnen als kontinuierliche Geschichte darstellt, zerlegt sich in ein Nacheinander von Zuständen. Was Euch den Eindruck eines einzigartigen Zustands erregt, zerfällt vor der Analyse in elementare Vorgänge, deren jeder nur Wiederholung eines schon bekannten Vorgangs ist. Was Ihr unvorhersehbare Form nennt, ist nur Neuanordnung alter Elemente. Selbst auch die elementaren Ursachen, deren Zusammenhang diese Anordnung bestimmt hat, sind alle Ursachen, die sich wiederholen, wenn sie eine neue Ordnung annehmen. Und die Kenntnis der Elemente und elementaren Ursachen würde gestatten, die lebende Form, die ihre Summe und ihr Resultat ist, im voraus zu umschreiben. Wir werden also, nach Auflösung des biologischen Aspektes der Phänomene in physikalisch-chemische Faktoren, nach Bedürfen auch noch Physik und Chemie überspringen, werden von den Körpern zu den Molekülen, von den Molekülen zu den Atomen, von den Atomen zu den Korpuskeln weitergehen, um schließlich mit Notwendigkeit auf etwas zu stoßen, was sich wie eine Art Sonnensystem astronomisch behandeln läßt. Leugnet Ihr dies, so greift ihr das Prinzip des wissenschaftlichen Mechanismus selber an und erklärt freiwillig, daß die lebende Materie nicht aus denselben Elementen wie [37] die übrige Materie bestehe. — Worauf wir antworten, daß wir die fundamentale Gleichheit der toten und organischen Materie nicht anfechten. Die einzige Frage ist nur, ob die natürlichen Systeme, die wir Lebewesen nennen, dem künstlichen, von der Wissenschaft aus der toten Materie herausgeschnittnen System angeglichen, oder ob sie nicht vielmehr jenem natürlichen System verglichen werden sollen, das sich im Ganzen des Universums darstellt. Daß das Leben eine Art Mechanismus ist, leugnen wir nicht. Aber ist es der Mechanismus jener im Ganzen des Universums künstlich abschnürbaren Teile, oder der Mechanismus dieses realen Ganzen selbst? Das reale Ganze, so sagten wir, kann sehr wohl eine unteilbare Kontinuität sein: die aus ihm herausgeschnittenen Systeme wären dann keineswegs Teile im eigentlichen Sinne, sondern bloße vom Ganzen genommene Teilansichten. Und mit all diesen, Stück für Stück aneinandergelegten Teilansichten würde noch nicht einmal ein erster Ansatz zum Wiederaufbau des Ganzen gemacht sein; so wenig als durch vertausendfacht photographische Aufnahme eines Gegenstandes seine Stofflichkeit wiedergegeben werden könnte. Nicht anders in Hinsicht des Lebens und der physikalisch-chemischen Phänomene, in die man es aufzulösen behauptet. Immer wachsende Mengen solcher Phänomene zwar wird die Analyse in den Prozessen organischer Schöpfung auffinden, und Physiker und Chemiker werden es dabei bewenden lassen. Aber daraus folgt nicht, daß Physik und Chemie uns den Schlüssel des Lebens reichen werden.
Ein sehr kleiner Teil einer Kurve ist beinahe eine gerade Linie, und ist einer Geraden umso ähnlicher, je kleiner er angenommen wird. Im Grenzfall kann man ihn nach Belieben Teil einer Kurve oder einer Geraden nennen. In jedem ihrer Punkte verschmilzt die Kurve tatsächlich mit ihrer Tangente. So auch ist das »Leben« an jedem nur denkbaren Punkte Tangente der physikalisch-chemischen Kräfte; nur daß im Grund diese Punkte bloße Ansichten eines Geistes sind, der sich vorstellt, die Entstehungsursache der Kurve halte in gewissen Momenten inne. In Wirklichkeit aber be[38]steht das Leben ebenso wenig aus physikalisch-chemischen Elementen, als eine Kurve aus geraden Linien zusammengesetzt ist.
Ganz allgemein besteht der radikalste, einer Wissenschaft erreichbare Fortschritt in Einstellung der bereits gewonnenen Resultate in einen neuen Zusammenhang, von dem aus gesehen sie zu unbeweglichen, von der Kontinuität einer Bewegung Punkt für Punkt aufgenommenen Augenblicksbildern werden. Dieser Art ist z. B. das Verhältnis unserer modernen Geometrie zu jener der Alten. Jene, die schlechthin statische, operierte mit ein für alle Mal beschriebenen Figuren; diese erforscht die Variation einer Funktion, d. h. die Kontinuität der Bewegung, durch welche die Figur erzeugt wird. Gewiß läßt sich, größerer Schärfe zuliebe, jede Berücksichtigung der Bewegung aus unseren mathematischen Operationen ausschalten; doch bleibt es darum nicht weniger wahr, daß die moderne Mathematik mit Einführung der Bewegung in die Genese der Figuren beginnt. Könnte die Biologie ihren Gegenstand jemals so nahe berühren, wie die Mathematik den ihren, sie würde unserer Überzeugung nach für die Physik und Chemie der organischen Körper ganz dasselbe werden, was die Mathematik der Modernen für die antike Geometrie geworden ist. Die rein äußerlichen Umlagerungen von Massen und Molekülen, wie sie Chemie und Physik untersuchen, würden dieser Lebensbewegung gegenüber, die sich in der Tiefe erzeugt und die Umbildung ist, nicht Umlagerung, dasselbe bedeuten, was die Ruhelage eines beweglichen Körpers seiner Bewegung im Raume gegenüber bedeutet. Und soweit man es vorher ahnen kann, würde das Verfahren, kraft dessen man von der Bestimmung eines gewissen Lebensvorganges zum System der physikalisch-chemischen Tatsachen übergehen würde, nicht ohne Analogie mit der Operation sein, durch welche man von der Funktion zu ihrer Ableitung, von der Gleichung der Kurve (d. h. vom Gesetz der kontinuierlichen, die Kurve erzeugenden Bewegung) zur Gleichung der Tangente, die ihre augenblickliche Richtung angibt, übergeht. Eine solche Wissenschaft wäre eine Mechanik der Umbildung, von der un[39]sere Mechanik der Umlagerung nur ein Spezialfall, nur eine Vereinfachung, nur eine Projektion auf die Ebene der reinen Quantität wäre. Und ebenso wie es unendlich viele Funktionen gibt, die das gleiche Differential haben, Funktionen, die sich voneinander durch eine Konstante unterscheiden, so würde vielleicht die Integration der physikalisch-chemischen Elemente eines eigentümlichen Lebensvorgangs diesen Vorgang nur zum Teil bestimmen: ein Teil bliebe der Nichtbestimmtheit überlassen. Eine solche Integration aber läßt sich höchstens träumen; wir behaupten nicht, daß der Traum jemals Wirklichkeit werden könnte. Was wir wollten war nur, durch weitmöglichste Entwicklung eines bestimmten Gleichnisses zu zeigen, worin unsere These sich dem reinen Mechanismus nähert, und worin sie sich von ihm entfernt.
Übrigens läßt sich die Nachahmung des Lebendigen durch Anorganisches ziemlich weit treiben. Nicht nur vollzieht die Chemie organische Synthesen, es gelingt auch, gewisse Vorgänge des organischen Geschehens, wie die indirekte Zellteilung und die Protoplasma-Strömung ihrem äußeren Umriß nach künstlich wiederzugeben. Wie bekannt, führt das Zellprotoplasma im Innern seiner Membran verschiedenartige Bewegungen aus; und andererseits vollzieht sich die sogenannte indirekte Zellteilung mittelst außerordentlich komplizierter, teils den Kern, teils das Cytoplasma angehender Operationen. Letztere beginnen mit der Zweiteilung des Centrosoms, eines kleinen runden, neben dem Kern liegenden Körpers. Die dadurch gewonnenen zwei Centrosome entfernen sich voneinander, ziehen die gespaltenen und so gleichfalls verzwiefachten Stücke des Fadens an, aus welchem der ruhende Kern im wesentlichen bestand, und formen schließlich zwei neue Kerne, um die herum zwei neue Zellen, die jene erste ablösen, sich bilden. Es ist nun gelungen, wenigstens einige dieser Vorgänge in ihren Hauptlinien und ihrer äußeren Erscheinung nachzuahmen. Pulverisiert man Zucker und etwas Kochsalz, fügt sehr altes Öl hinzu und beobachtet ein Tröpfchen der Mischung durch das Mikroskop, so erblickt man einen Schaum von zellähnlicher Struktur, dessen Konfiguration, einigen Forschern zufolg, der des Proto[40]plasma gleicht; jedenfalls gehen in ihm Bewegungen vor sich, die stark an die Protoplasma-Strömung gemahnen11. Wird ferner der Zelle eines derartigen Schaumes die Luft entzogen, so zeichnet sich ein Anziehungskegel ab, denen analog, die sich rings um die Centrosome bilden und zur Teilung des Kernes führen12. Ja selbst die äußeren Bewegungen der einzelligen Organismen oder wenigstens doch der Amöbe, glaubt man der mechanischen Erklärung nicht entzogen. Danach wären die Lageveränderungen der Amöbe in einem Wassertropfen dem Hin- und Herwirbeln eines Staubkorns in einem Zimmer vergleichbar, wo geöffnete Türen und Fenster Luftströme kreisen lassen. Unablässig nämlich absorbiert die Masse der Amöbe gewisse im umgebenden Wasser enthaltene Stoffe und gibt dafür andere ab: und dieser dauernde Austausch, dem ähnlich, der zwischen zwei von porösen Wänden geschiedenen Behältern stattfindet, soll rings um den kleinen Organismus einen unaufhörlich drehenden Wirbel erzeugen. Die zeitweiligen Fortsätze oder Pseudopodien aber, die sich die Amöbe zu schaffen scheint, sollen nicht sowohl von ihr entsendet als von außen her durch eine Art Atmung oder Saugung des umgebenden Mediums hervorgezogen werden13. Und diese Erklärungsweise wird man allmählich auch auf die viel komplexeren Bewegungen ausdehnen, wie sie die Infusorie mit ihren schwingenden Wimpern ausführt, die übrigens wahrscheinlich nur festgewordene Pseudopodien sind.