Schott - Axel Brandt - E-Book

Schott E-Book

Axel Brandt

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Beschreibung

Das Schlossgymnasium zu Oldenburg in einigen Jahren. Wer sich in die Nähe einer Metapher wagt, lebt gefährlich. Er riskiert, dass ihm etwas in die Augen sticht. Durch den Kopf schießt. Oder das Blut gefrieren lässt. Buchstäblich. Denn die Sprache ist verseucht. Verseucht von einem heimtückischen Erreger, der hinter den Schlossmauern lauert. Doch noch weiß niemand etwas von dem drohenden Unheil. Niemand außer einem schattenhaften Bösewicht, dem es gelingt, den Erreger seinen düsteren Zwecken dienstbar zu machen.

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Seitenzahl: 533

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Table of Contents

About

Titel

Impressum

Widmung

Dramatis Personae

1 Vorspiel

2 Die Aufführung

3 Unterwelten

4 Vera

5 Schwarze Pädagogik

6 Der Besuch

7 Die Macht der Liebe

8 Näher, mein Gott, zu dir!

9  Partir c’est mourir un peu

10 Hölle

11 Nachspiel

Glossarium

Danksagungen

DER AUTOR

Axel Brandt, Dr. phil., geboren 1960 in Zeven (Niedersachsen), ist Lehrer für Latein, Griechisch und Philosophie in Oldenburg. Er lebt mit seiner Frau und drei pubertierenden Söhnen in einem kleinen Dorf im Ammerland. Der „Schott“, an dem der Autor nach Experimenten mit lyrischen und dramatischen Formen mehr als 15 Jahre lang gefeilt hat, ist sein erstes belletristisches Prosawerk.

In diesem Roman, der den Leser mit Sprachkunst und Wortwitz bis in die tiefsten Niederungen der neudeutschen Schulhölle führt, verbinden sich humanistische Hochkultur und Horrorschwank, der Ideenhimmel der Philosophen und die Sinnlichkeit des Menschentiers zu einer phantastischen Melange, die in der neueren deutschen Literatur ihresgleichen sucht.

Axel Brandt

Schott

oder

Die Macht der Worte

OriginalausgabeCopyright © 2014A. FRITZ VERLAG ANDREAS SCHNELLAutor: Axel BrandtTitelbild: Rashida IsogaUmschlaggestaltung: A. Fritz VerlagLektorat: Ulrich Schüppler

a-fritz-verlag.de

ISBN 978-3-944771-09-0

In nova fert animus mutatas dicere formas corpora(„Von Gestalten zu künden, die in neue Körper verwandelt wurden, drängt mich mein Sinn“; Ovid, Metamorphosen I 1)

Lector intende, laetaberis!(„Leser, gib Acht, du wirst deine Freude haben!“; Apuleius, Metamorphosen I 1,6)

Procul hinc, procul este, severi!(„Ihr Spießer, haltet euch fern, fern von hier!“ Ovid, Amores II 1,3)

Dramatis personae:

Johan Schott („Schott“): Lehrer

Christina Schwarz („Tina“): Schülerin; Schotts Freundin

Gerd Gerken: Schulsturmführer

Theresa de Vries: Philipp Schotts geschiedene Ehefrau

Philipp Schott: Lehrer; Johan Schotts Zwillingsbruder

Frau Gerken: Oberbürgermeisterin Oldenburgs

Dr. Wolff („Goethe“): Lehrer und Freizeitdichter

Barbara („Die“) Schwarz: Leiterin des Schlossgymnasiums

Ilse („Die“) Koch: Hausmeisterin des Schlossgymnasiums

Herr Looschen: früherer Bürgermeister Oldenburgs

Vera: Mysterium

Otto Bossmann: Schüler; Lieblingsgehilfe des Schulsturmführers

Michel-Herrmann Boock: Halbseidener Reporter

Fabian Friedrich („Federico“): Starreferendar

Maya: Homunkula

1 Vorspiel

 

 

„Deine Hörner machen dich zum Tier!“

Christinas glockenhelle Stimme riss Schott aus seiner Selbstvergessenheit.

„Dann siehst du sie jetzt also auch?“ Er glitt von den breiten Hüften seiner Schülerin und blickte in ihre dunkelbraunen Augen. Die Strahlen der tief stehenden Februarsonne ließen die Schweißperlen auf ihrer Stirn wie Tautropfen schimmern.

„Deine Geisterhörner? Sehen?“ Christina lachte ihr kristallklares Lachen. Schott mochte ihr Lachen. Es klang nach Reinheit und Harmonie. Das Gehör war ein trügerischer Sinn.

„Auf welchem Trip bist du, Schott?“ Christina tastete nach ihrem zerfetzten Seiden-BH und hielt ihn vor seine Nase. „Da! Dafür habe ich drei Abende in der Furchtbar gekellnert!“ Sie ließ das weinrote Wäschestück auf sein nacktes Gesäß klatschen.

Schott zog die Bettdecke von ihren bloßen Schenkeln und betrachtete die junge Frau. Das sinnliche, von langem, schwarzem Haar umrahmte Gesicht, ihre ausladenden Formen, die mit einer Rose tätowierte Scham, ihre langen, wohlgeformten Beine … Christinas Liebreiz hätte den bärtigsten Islamisten in Sekundenschnelle verwestlicht.

„Siehst du, was ich meine?“ Sie flocht das Wrack ihres BHs um seinen neuerlich anschwellenden Phallus. „Du bist seit einigen Tagen so, so …“ Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn.

„Animalisch, meinst du?“ Er rieb sein drapiertes Gemächt. „Vielleicht hätte ich weniger Tierethik unterrichten sollen. Du hast dich ohnehin mehr für die Lippenstifte interessiert als für die Affen, an denen sie getestet werden.“

„Ha!“ Christina verschränkte die Arme unter dem Kopf. „Wenn zu viel Schularbeit rollig macht, müsste meine Mum ständig ein feuchtes Höschen haben. Seit sie in der Bewegung ist, schleppt sie immerzu Akten nach Hause.“

„Deine Mutter?“ Die Schwellung in Schotts Unterleib wich jäh.

„Seit du sie verlassen hast, ist sie total uncool geworden.“

„Seit du dich bei mir einquartiert hast, schikaniert sie mich immerzu.“

„Was erwartest du, wenn du ihr unmündiges Töchterlein pfählst? Eine Beförderung vielleicht?“

„Unmündig, wie?“ Schott nahm Christinas Kajalstift vom Nachttisch und umrahmte den stählernen Schmuckring, der durch ihre linke Brustwarze gestochen war, mit einem melancholisch grinsenden Totenkopf. „Was ich nicht verstehe“, murmelte er, „wieso hat sie mir noch nicht die Schläger vom Schulsturm auf den Hals gehetzt? Sie lässt sie doch sonst bei jedem Verstoß gegen die Schulordnung von der Kette.“

„Den Schulsturm?“ Ein Schatten fiel auf Christinas Gesicht. Ihre kräftigen Arme überzogen sich mit Gänsehaut. „Du bereust doch nicht, dass ich bei dir eingezogen bin, oder?“ Sie hob das Kinn und schürzte verlangend die Lippen.

Der Wind strich heulend um die Dachtraufen des alten Bürgerhauses. Ein Zweig schlug gegen das Fenster. Schott blickte auf. Die Wintersonne sandte ihre letzten Strahlen durch das spärliche Geäst der verkrüppelten Kiefer, die sich gegen das Fensterglas bog. Verwaschene Sturmwolken trieben über den Horizont.

Er wandte blinzelnd den Kopf ab und starrte auf den niedrigen Schatten, der an der Zimmerwand erschien. Die Auswüchse auf seinem Kopf waren deutlich zu erkennen. „Siehst du sie, Tina?“, rief er triumphierend. „Wenn sie einen Schatten werfen, dann sind sie auch da.“

„Und warum kann ich sie dann nicht fühlen?“ Sie fuhr ihm durch die dicken Locken. „Dort oben wächst bloß dein blondes Engelshaar.“

„Ach ja?“ Er richtete sich auf, ohne den Blick von seiner gehörnten Silhouette zu lassen. „Du siehst nur auf die Oberfläche, Tina. Mein wahres Sein entzieht sich dir.“

„Und du? Poppst du mich etwa wegen meiner inneren Werte?“

„Deine inneren Werte?“ Schotts Hand glitt auf die dunkelrote Rose, die in ihren Schamhügel tätowiert war. „Langsam fürchte ich, dass du nur aus Form bestehst.“

Sie legte kichernd den Kopf in seinen Schoß und ließ den Atem über seinen flachen Bauch streichen. „Weißt du eigentlich, dass du aussiehst wie der große Bruder von Federico?“

„Federico?“

„Der Star aus Die Zeiten ändern sich. Du weißt doch, diese Daily Soap.“

„Ein Zwillingsbruder genügt mir.“

„Er ist schon seit drei Monaten bei uns am Schloss!Eigentlich heißt er Herr Friedrich.“

Richtig. Herr Friedrich. Der schwarzhaarige Gigolo mit der Kinnfurche und dem feingeschnittenen Gesicht, dessen Konterfei Christinas Zimmerwand zierte. Der Schauspieler mimte jetzt einen Studienreferendar. Wie es hieß, hatte er seine Filmkarriere in der Hauptstadt der Bewegung einer verlorenen Wette wegen unterbrochen. Schott argwöhnte allerdings, dass er sich am Schlossgymnasium eingeschlichen hatte, um insgeheim eine neue Rolle zu erarbeiten. Wer Federico als Künstlernamen wählte, wollte nicht in einer Seifenoper enden.

„Er ist so süß, findest du nicht?“ Christina löste eine Haarsträhne aus dem roten Seidenfutteral, das sie um sein Gemächt gewunden hatte. „Ihr seht euch total ähnlich! Er hat sogar Philosophie studiert!“

„Herr Friedrich gleicht mir? Welch ein Glück für ihn.“

„Er ist nur nicht so eingebildet.“ Sie zwickte Schott in die Seite. „Stell dir vor, er spielt heute Abend den Parmenides! Dr. Wolff hat bei unserer letzten Probe noch die Besetzungsliste geändert. Jan ist jetzt raus.“

„So kurzfristig?“ Schott gähnte. Er konnte die Uraufführung von Goethes neuestem Stück kaum erwarten.

„Damit die Aula auch voll wird, sagt er. Seine Stücke will doch sonst keiner mehr sehen.“

„Ein wahrer Pädagoge!“

„Und ich darf die Hauptrolle spielen! Neben einem Fernsehstar!“

„Pfeift es bei mir auch, wenn ich den Mund zu weit aufsperre?“

Sie blickte ihn verständnislos an.

„Wenn die Luft in das Vakuum in meinem Schädel fährt.“

Christinas helles Lachen erfüllte das Schlafzimmer. „Bist du etwa eifersüchtig, Schott?“ Sie hauchte einen Kuss auf seinen Bauchnabel. „Keine Angst, ich mag die blauäugigen Blonden lieber. Selbst wenn sie glauben, dass sie Hufe tragen.“

Hufe? dachte Schott. Wieso Hufe? Er spreizte die Zehen. Sie staken wie gewohnt in ihren Gelenken. Bis auf den kleinen, der in einem Einmachglas im Schreibtisch seiner Schulleiterin schwamm. Aber das war eine andere Geschichte.

Er räusperte sich. „Du hältst mich für gaga, nicht?“

„Stell dir vor, du wärst heute früh mit Hörnern auf dem Kopf in den Unterricht gegangen. Was hätte deine 8f wohl mit dir gemacht?“

„Diese Investmentbanker-Brut?“ Vor Schotts innerem Auge formte sich das Bild einer Horde halbwüchsiger Hyänen beiderlei Geschlechts, die mit frisch gespitzten Klauen und Reißzähnen sein Eintreten beobachtete. Was folgte, verlieh dem Wort Martyrium eine neue Bedeutung.

„Seltsam, wie der Glaube einen Mann verändern kann!“ Sie schnupperte an seiner Achselhöhle. „Du stinkst sogar anders.“

„Jetzt weißt du, wie ein Minotaurus riecht“, brummte er. „Welche Frau kann das schon von sich sagen?“

„Dieses Flügelpferd? Ich dachte, du hältst dich für ein Rind.“

Schott seufzte. „Komm ins Bad, Christina. Dann kannst du meine Tierart selbst bestimmen.“ Er schlüpfte aus dem Bett und zog die widerstrebende Schülerin hinter sich her.

Das fensterlose Badezimmer roch muffig. Aus den Gittern des Lüftungsschachtes wuchs Schimmel. Düstere Flechten krochen die Verschalung empor.

„Gib zu, dass du sie siehst!“ Schott tastete nach den mächtigen, einwärts gekrümmten Stierhörnern, die aus der Stirn seines Spiegelbildes ragten. Seine Finger glitten durch die elfenbeinfarbene Substanz ohne einen Widerstand zu spüren. „Oder willst du behaupten, dass auch der Spiegel eine Sinnestäuschung hat?“

„Vielleicht träumt ihr beide denselben Traum.“

Er schüttelte den Kopf. Das Spiegelbild folgte seiner Bewegung. Er massierte sich die schmerzenden Schläfen. Sein Abbild tat es ihm gleich.

„Denk einfach an etwas anderes.“ Christina schob ihren nackten Körper zwischen Schott und das gehörnte Spiegelbild. „An etwas ganz anderes!“ Sie nahm einen flammenzungenartigen Zerstäuber aus dem Toilettenschrank und hüllte ihre wogenden Brüste in eine Wolke aus Parfüm. Morgenröte Nr. 9! Schott rümpfte die Nase. Aufreizender Moschusduft mischte sich in den Verwesungsgeruch des Bades. Seine animalischen Instinkte erwachten erneut.

„Schon wieder?“ Christinas dunklen Augen blitzten. „Du solltest dir deine Geisterhörner patentieren lassen!“ Sie drückte seinen Phallus in die Waagerechte und ließ los. Es klatschte heftig, als das zurückschnappende Zeugungsorgan katapultartig gegen Schotts Bauchdecke schlug. „So frech war er nicht einmal bei unserem ersten Mal. Weißt du noch? Auf der 350-Jahr-Feier? Als du mich im Büro meiner Mum vergewaltigt hast?“ Ein strahlendes Lächeln begleitete ihre Worte.

„Vergewaltigt?“, knurrte Schott. „Ich war so zugedröhnt, dass ich dir nicht einmal mehr den Unterschied zwischen Aktiv und Passiv hätte erklären können.“

„Ob der Richter dir das glaubt?“

„Ein Richter?“ Schotts Zeigefinger stach in ihre blanke Brust. „Was er wohl sagen würde, wenn ich ihm von den Hanfkeksen berichte, die du uns damals auf den Lehrertisch geschmuggelt hattest?“

„Ich?“ Die Schülerin errötete. „Ich bin viel zu unmündig, um so etwas Verbotenes zu tun.“

„Und sobald deine Mutter selig lächelnd mit der Wandvertäfelung zu flirten begann, hast du die Schulschlüssel aus ihrer Handtasche genommen und mich in ihr Büro verschleppt.“

„Ich konnte sie ja schlecht nach dem Schlüsselbund fragen.“

„Am nächsten Morgen warst du weniger diskret“, entgegnete Schott düster. „Sie ließ mich nicht einmal mehr meine Sachen packen.“

„Ich habe dir eine trostlose Ehe erspart.“

„Ich hatte dich nicht darum gebeten.“

Christina zuckte mit den Achseln. „Mein Therapeut nennt es Vater-Komplex. Er meint, seit Papa sich aufgehängt hat …“ Sie musterte ihn nachdenklich. „Wie bist du überhaupt auf die Kekse gekommen? Es ist doch schon mehr als ein Jahr her.“

„Vor zwei Tagen hast du es wieder getan!“

„Dich verführt?“ Sie biss ihn in die Unterlippe. „War das so schlimm?“

„Solltet ihr nicht vorgestern eure Facharbeiten abgeben?“

Sie kicherte. „Leider wurde Dr. Wolff plötzlich komisch.“

In der Tat. Statt Christinas Deutschkurs mit barocker Lyrik zu beglücken, hatte Kollege Wolff es an jenem Tage vorgezogen sich an einen Heizkörper des Foyers zu ketten und lauthals Völker, hört die Signale zu singen. Bis die Hausmeisterin ihn losschweißte und ins Krankenhaus fuhr.

„Das war krass, oder? Wir haben alle haben total abgelacht.“

„Stimmt.“ Schott konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken. Der hochkorrekte Dr. Wolff hatte in Schlips, Anzug und Schmerbauch die Kampflieder aus einer anderen Zeit angestimmt, während Dutzende von Schülern ihn umringten und unablässig Zugaben verlangten. „Und weißt du, was wir in seinem Fach gefunden haben, Christina?“

Sie errötete erneut. „Eine Voodoo-Puppe?“

„Cannabisplätzchen.“ Schott packte die Handgelenke seiner Schülerin und blickte sie prüfend an. „Ist deine Facharbeit fertig, Christina?“

„Der Deutschkurs hat 17 Teilnehmer. Woher willst du wissen, dass ich die Kekse gebacken habe?“

„Ich habe die Krümel vom Backblech probiert. Für den Rest des Nachmittags fühlte ich mich wie ein euphorisiertes Meerschweinchen!“

„Dann hattest du wenigstens eine lustige Zeit.“

Schott fuhr mit der Fingerspitze in den stählernen Ring, der durch ihre Brustwarze gestoßen war, und zog ihn in die Höhe. „Du wirst es in deinem Leben weit bringen, junge Frau!“

Sie erschauerte. „Jedenfalls werde ich nicht wie du in diesem öden Kaff verrotten, wenn ich 35 bin!“

Ein Windstoß pfiff durch den Entlüftungsschacht des fensterlosen Badezimmers. Staub rieselte aus den verrosteten Lüftungsschlitzen. Etwas knackte heftig. Im Schlafzimmer klirrte Glas.

„Scheiße!“ Schott ließ die Schülerin stehen und lief hinüber. Ein Ast hatte sich durch die Fensterscheibe gebohrt. Die Bruchstücke des Glases schimmerten im trüben Licht der Abenddämmerung wie zersplittertes Eis. Er murmelte eine Verwünschung. Hatte er seinen Blockwart nicht bei der letzten Hausversammlung beinahe höflich darum gebeten, die verwachsene Kiefer zu kappen? Aber statt zur Säge zu greifen, warf der Sopor-Jünger lieber die nächste Kapsel ein und füllte sein Hirn mit Kunstlicht.

„Bäume sollte man verbieten!“ Schott tastete sich mit bloßen Füßen durch das Scherbenfeld, stieß den Ast aus der scharfkantigen Bruchstelle und knickte ihn an einem Knorren ab. Schneeflocken wirbelten durch das tellergroße Loch, umtanzten seinen Unterleib.

„Du bist doch versichert, oder?“ Christina stellte sich hinter ihn. Ihre beringte Brust drückte gegen seinen Rücken. „Sieh mal, meine Mum ist schon wieder in ihrem Büro!“ Sie schob den Arm unter Schotts Achselhöhle und deutete auf die Umrisse des mächtigen Schulgebäudes, dessen klassizistische Architektur im dämmrigen Licht nur noch schemenhaft zu erkennen war. Im Zentrum des Gebäudes, dort wo die Schatten sich am dichtesten ballten, lag das spärlich erleuchtete Büro der Schulleiterin. „Meine Mum hat gesagt, wenn ich bei dir ausziehe und die Armbinde nehme, darf ich mit Federico die Theater-AG der Mittelstufe leiten.“

„Gut, dass du so charakterfest bist.“

Ein Schemen erschien hinter dem Fenster der Schulleiterin. Die Schwarz! Schott konnte ihren Blick auf seinem Körper spüren. Wo der Sehstrahl ihn traf, gefror sein Fleisch. Er trat zur Seite, griff nach dem Vorhang.

Stechender Schmerz. Eine Scherbe schnitt in seinen Fuß.

„Scheiße, tut das weh!“ Er ließ sich stöhnend auf das Bettlaken sinken.

„Pass auf, da sind noch mehr.“ Christina knipste die kegelförmige Nachttischlampe an und untersuchte die Wunde. „Freu dich! Du überlebst!“ Sie zog eine blutverschmierte Glasscherbe aus dem Knorpel seines abgetrennten Zehs und schnippte sie durch das Fensterloch in den stärker werdenden Schneefall. „Warte, ich mache dir einen Flicken drauf! Aber zuerst…“ Sie rollte ihren kräftigen Körper über das Bett und weckte den kleinen Radiowecker, der in das gepolsterte Kopfteil eingelassen war. Eine Yodelversion von We will rock you schepperte durch das Schlafzimmer.

Schott stöhnte nicht mehr nur vor Schmerz.

„Du magst die Cherusker wirklich nicht, was?“ Christina jodelte den endlos wiederkehrenden Refrain mit, während sie den Verbandskasten aus dem Badezimmer holte.

„Bestimmt lacht diese Hexe jetzt über mich.“

„Meine Mum?“ Christina desinfizierte die Wunde und klebte ein dickes Pflaster auf den Knorpel. Aseptischer Krankenhausgeruch stieg in Schotts Nase. „Woher soll sie denn wissen, dass du in eine Scherbe getreten bist?“

Schott legte den Zeigefinger auf ihre Lippen. „Deine Mutter hört uns ab, Christina!“, flüsterte er.

„Meine Mum?“ Die Schülerin klappte kopfschüttelnd den Verbandskasten zu. „Und ich dachte, die Geisterhörner wären dein einziges Problem!“ Sie schaltete den Lichterbaum ein, der neben dem spitzen Giebel des Kleiderschrankes in die Höhe wuchs, und blickte in das leuchtende Geäst. Ihre aufreizende Silhouette schimmerte im Gegenlicht. „Versprich mir, dass du ihr bei der Aufführung aus dem Weg gehst!“

„Der Stehlampe?“

„Meiner Mum, du Honk!“ Sie sah auf die Armbanduhr. „Ich muss zurück.“ Sie zog den zerfetzten BH von seinem Gemächt und band ihn um ihre schwellenden Brüste. „Goethe will vor der Premiere noch die Verwandlung wiederholen.“

„Muss ich wirklich kommen?“

Christina pflückte ihren roten Slip vom Bettpfosten und klatschte ihn in Schotts Gesicht. „Kein Stress mit meiner Mum, klar?“ Sie suchte die auf dem Fußboden verstreuten Teile ihrer Schuluniform zusammen und schlüpfte hinein. „Wünsch mir Glück!“

Die Wohnungstür fiel ins Schloss. Schott war mit dem Radiowecker allein. Der blecherne Lautsprecher verlas eine Sturmwarnung. Lichtkegel irrlichterten über die Zimmerwand. Das Dröhnen der Motoren, die über die verstopften Fahrspuren des Paradewalls krochen, klang ungewohnt nah.

Schott stieg in die kuhgesichtigen Pantoffeln, die Christina ihm zu Weihnachten geschenkt hatte. Seine Schnittwunde schmerzte bei der Berührung. Er löschte die Lichter und trat ans Fenster. Die Scherben knirschten unter seinen Füßen. Die verblassende Abenddämmerung tauchte den Himmel in düsteres Kupferrot. Eine gewaltige Wolkenformation wuchs über dem Dach des Schlossgymnasiums empor.

„Wie eine blutige Krone!“, durchfuhr es ihn. Beklemmung stieg in ihm auf. Selbst die spitzen Zacken waren deutlich ausgeformt. Und darüber … Er schloss die Lider, massierte seine Augäpfel.

Tatsächlich! Über den Spitzen der Krone erhoben sich zwei gigantische, flammende, einwärts gekrümmte Stierhörner.

2  Die Aufführung

Schott humpelte die 13 Stufen des Portals empor, die die Eingangshalle des Schlossgymnasiums mit der Restwelt verbanden. Sein verletzter Fuß schmerzte. Die beiden gekrönten Greifen, die zwischen den ionischen Säulen beiderseits der Treppe Wache hielten, musterten ihn aus kalten, mitleidlosen Augen. Ihre steinernen Raubvogelmienen schienen noch missgelaunter als er.

Goethes neuestes Werk! Sechs bleierne Akte schwer! Nebst Vorspiel und Epilog! Er fluchte, hielt sich am schmiedeeisernen Handlauf fest. Sollten die marmornen Wächter das Schloss nicht vor den Einfällen böser Geister bewahren? Warum hatten sie dieses Stiefkind der Musen dann nicht längst zerfleischt?

Der Ostwind zupfte sacht an Schotts Schal, blies ihm seinen eisigen Atem in den Nacken. Schneeflocken wirbelten um das säulengestützte Glasdach, das die jahrhundertealten Granitstufen seit dem letzten Umbau der Schule überwölbte, verschleierten für einen Augenblick das riesige, hell erleuchtete Plakat, das in kalligraphisch verschnörkelten Großbuchstaben eine Welturaufführung ankündigte: Die Verpuppung des Parmenides. Abenteuerliche Verwandlungsgeschichte nach Ovid.

Schott blickte hilfesuchend in den Nachthimmel. Die Mondsichel schimmerte schwach zwischen den träge dahinziehenden Wolken hervor. Sturmwarnung? Ha! Seit die Hohen Frauen die Funkhäuser übernommen hatten, log sogar die Wetterfee!

„Mach ma’ Platz, Mann!“ Eine Rotte verlebter Specknacken drängte sich an ihm vorbei. Der finanzielle Hochadel der Stadt! Die Herren waren in schwarze, goldverbrämte Ledermäntel gekleidet, an ihren Armen schimmerte die kupferrote Armbinde der Bewegung. Das Schlossgymnasium lebte von ihren Spenden wie die Ratte von der Kanalisation.

„Ist das Schloss jetzt zur Heimstatt für behinderte Lehrer geworden?“, murrte eine raue Stimme aus dem Herzen des Schwarms.

„Als ich Schüler war“, knurrte eine zweite, „gab es hier nicht einen einzigen Krüppel! Wir wussten noch, was mens sana in corpore sano bedeutet!“

„Stand Latein denn schon auf den Lehrplänen der Kreidezeit?“, rief Schott den Ledermänteln hinterher. „Kein Wunder, dass die Dinosaurier damals ausgestorben sind.“

Die hohen Herren wandten sich überrascht um. In ihren feisten, kapaunartigen Mienen spiegelten sich Unglaube und Empörung, hier und dort mit einem Funken zoologischen Interesses vermischt. Widerworte rangniederer Primitiver widersprachen ihrem plutokratischen Weltbild.

„Sie tragen ja immer noch keine Armbinde, Schott!“ Eine rosige Glatze aus der Nachhut der Horde zog eine schmale Wodkaflasche aus dem Ärmel ihres Ledermantels und prostete ihm zu.

Der schon wieder, dachte Schott. Gerd Gerken, Schulsturmführer des Schlossgymnasiums und Erstes Männchen der Oberbürgermeisterin. Die blutigen Äderchen, die sich wie ein feines Spinnennetz über die unförmige Nase, die fahlgelben, aufgedunsenen Wangen des Schulsturmführers wanden, verrieten, dass er seine Schnapsflaschen inniger liebte als seine Gemahlin. Und weitaus häufiger.

„Wirklich, Schott, als Lehrer am Schloss …“ Gerken rülpste. Die Schneeflocken, die durch seine Abluftwolke taumelten, zerschmolzen selig. „Wenn Sie nicht bald Ihre Binde beantragen … Die Hohen Frauen werden allmählich ungeduldig.“

„Eine Binde tragen? Wie Sie?“ Schott tippte sich an die Stirn. „Nichts für ungut, Herr Gerken, aber nicht jeder Mann muss bei Neumond menstruieren! Auch wenn die Faltblättchen Ihrer

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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