Schrei, wenn du kannst - Judith Kelman - E-Book
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Schrei, wenn du kannst E-Book

Judith Kelman

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Beschreibung

Sie stürzt sich in eine Jagd auf Leben und Tod ... Der fesselnde Thriller »Schrei, wenn du kannst« von Judith Kelman als eBook bei dotbooks. Ein Triebtäter lauert kleinen Mädchen auf ... Eine Reihe von Morden und Kindesentführungen erschüttert die Kleinstadt Westport in Connecticut. Als die junge Rettungshelferin Lenny ein Mädchen aus tödlicher Gefahr befreit, wird schnell klar, dass sie vom selben Serientäter vergewaltigt wurde – und dem Tod nur um ein Haar entkommen ist. Für Lenny ist es wie ein Schock, denn sie erlebt einen Flashback zu ihrer eigenen dunklen Vergangenheit, die sie seit Jahren in sich begraben hat. Sie wird alles tun, um den Killer zu schnappen und die entführten Kinder zu befreien – auch wenn sie sich damit in Lebensgefahr bringt ... »Schnell, spannend und äußerst fesselnd!« Dean Koontz Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der Psychothriller »Schrei, wenn du kannst« von Judith Kelman ist so atemlos spannend wie Mary Higgins Clark und so abgründig wie Harlan Coben. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 445

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Über dieses Buch:

Ein Triebtäter lauert kleinen Mädchen auf ... Eine Reihe von Morden und Kindesentführungen erschüttert die Kleinstadt Westport in Connecticut. Als die junge Rettungshelferin Lenny ein Mädchen aus tödlicher Gefahr befreit, wird schnell klar, dass sie vom selben Serientäter vergewaltigt wurde – und dem Tod nur um ein Haar entkommen ist. Für Lenny ist es wie ein Schock, denn sie erlebt einen Flashback zu ihrer eigenen dunklen Vergangenheit, die sie seit Jahren in sich begraben hat. Sie wird alles tun, um den Killer zu schnappen und die entführten Kinder zu befreien – auch wenn sie sich damit in Lebensgefahr bringt...

Über die Autorin:

Mit mehr als zwei Millionen verkauften Exemplaren ihrer Bücher ist Judith Kelman eine Meisterin der psychologischen Spannung. Sie wurde für ihren Thriller »Fürchte dich vor mir« mit dem Mary Higgins Clark Award ausgezeichnet und war Vorsitzende der Mystery Writers of America. Sie lebt in New York City.

Judith Kelman veröffentlichte bei dotbooks bereits ihre Thriller um Rechtsanwältin Sarah Spooner mit den Bänden »Wo das Dunkel herrscht« und »Wenn die Unschuld stirbt« sowie die Standalone-Thriller »House on the Hill« und »The Black Widow«.

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eBook-Neuausgabe Februar 2024

Die amerikanische Originalausgabe erschien erstmals 1996 unter dem Originaltitel »More Than You Know« bei Bantam Books, New York. Dieses Buch erschien parallel zur Erstausgabe von Droemer Knaur unter dem Titel »Lauf, bevor ich bei dir bin« bei Weltbild.

Copyright © der amerikanischen Originalausgabe 1996 by Judith Kelman

Published by Arrangement with Peter Lampack Agency, Inc. 350 Fifth Avenue, Suite 5300, New York, NY 10118 USA

Copyright © der deutschen Erstausgabe 2000 Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf., München

Copyright © der Neuausgabe 2024 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Shutterstock/Pro_Studio, milates, Darya KoM, Nadia Chi

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (vh)

ISBN 978-3- 98690-918-5

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit gemäß § 31 des Urheberrechtsgesetzes ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Judith Kelman

Schrei, wenn du kannst

Thriller

Aus dem Amerikanischen von Peter Strack

dotbooks.

In liebevollem Andenken an Poppa George

KAPITEL 1

Dana

Dana Saunders zögerte, als sie die Bühne betrat. Das Thema der heutigen Show lag ihr schwer im Magen, und ihr Puls raste. Als sie aus der Seitenkulisse erschien, brach das Publikum in wilden Applaus aus. Eingestimmt worden war es von Mickey Conway, einem jungen Mann in einem Princeton-Sweatshirt. Die Produzentin, die plumpe, semmelblonde Lucy Breitmeier, hatte verfügt: kein Kaugummi, nicht in die Kamera starren, aufstehen, wenn man dazu aufgefordert wird, und deutlich ins Mikrophon sprechen. Fragen und Kommentare sind kurz zu halten. Wilde Begeisterungsausbrüche bei Aufforderung. Fluchen, Nasepopeln oder das Kratzen an intimen Stellen haben zu unterbleiben, außer Sie wollen das für die Ewigkeit konservieren. Den Platz nicht ohne Aufforderung verlassen. Das sind die Zehn Gebote bei Talkshows. Ansonsten ist alles möglich.

Der stürmische Applaus hielt an. Das Publikum war gut, elektrisiert.

Dana musterte die Reihen der gespannten Gesichter. Die drei Reihen rechts waren mit pensionierten älteren Ma-Bellman-Mitarbeiterinnen besetzt, das wußte sie von ihrer Assistentin. Links saß ein Kirchenchor aus München, der am Abend in der St.-Patricks-Kathedrale auftreten sollte. Diese Show sollte allen an die Nieren gehen, dachte Dana grimmig. Die Opfer, neun Frauen und drei junge Mädchen, saßen auf den Flügelsitzen in der Mitte des Studios. Dana fing den ängstlichen Blick eines Teenagers in der fünften Reihe auf und erwiderte ihn mit einem warmen Lächeln. Das Mädchen war fürchterlich fett, mindestens dreihundert Pfund. Das arme Ding versuchte wahrscheinlich, sich hinter ihrer Fettleibigkeit zu verstecken, als würde sie ihr eine Art von Schutz gewähren. Das betretene Lächeln verschwand, und sie kaute an ihren Nägeln. Von der Regie kam das Zeichen, und Dana las ihren Text vom Teleprompter.

»Alle fünf Minuten wird in diesem Land eine Frau vergewaltigt. Ein Viertel aller amerikanischen Mädchen bis zu sechzehn Jahren ist schon einmal sexuell belästigt worden. Schreckliche Statistiken? Ganz bestimmt. Aber die Zahlen beschreiben in keiner Weise das persönliche Grauen der Opfer dieses verabscheuungswürdigen und gewalttätigen Verbrechens.

Was sind das für Menschen, die so eine grausame Tat begehen? Warum tun sie das? Und vor allem – kann ein Sexualverbrecher geheilt werden?

In Back Talk werden wir heute diese und andere umstrittene Fragen behandeln. Bleiben Sie dran.«

Das musikalische Erkennungsthema der Show übertönte Danas Stimme, und das Back-Talk-Logo flimmerte über die Monitore. Dann folgte der erste Dreißig-Sekunden-Spot aus dem zweiminütigen Werbeblock.

Lucy Breitmeier verteilte die Hauptgäste der heutigen Show auf die Sessel, die auf der erhöhten Bühne im Kreis standen. Während die Produzentin mit den Ansteckmikrophonen herumhantierte, ging Dana zu ihren Gästen, um sie zu begrüßen. Um der Show nicht ihre Schärfe und Brisanz zu nehmen, ging Dana niemals vorher in die Garderobe. Angesichts ihres heutigen »Stargasts« wäre sie glücklich gewesen, dieses Treffen auf unbestimmte Zeit zu verschieben.

Zuerst reichte sie Dr. Marlene Mosher die Hand, einer attraktiven, solide wirkenden Frau mit einem ebenso soliden Ruf. Während der letzten zehn Jahre hatte Mosher, Professorin für Psychiatrie an der Yale Medical School, sich mit über tausend Fällen von sexueller Gewalt beschäftigt. Sie war zu dem Schluß gekommen, daß dieser unterschwellige Trieb unheilbar war. Ihr kürzlich erschienenes Buch Im Schafspelz: Der Mythos vom geheilten Sexualverbrecher hatte äußerst heftige Kontroversen unter ihren praktizierenden Kollegen ausgelöst. Es hatte eine so große öffentliche Debatte hervorgerufen, daß es, obwohl ein Fachbuch, auf Platz eins der New York Times-Bestseller-Liste landete.

Rechts von Dr. Mosher saß Dr. Patterson Graham, Gründer und Leiter des Cambridge Center zur Behandlung von Sexualstraftätern. Sein Programm beinhaltete einen kostspieligen, dreimonatigen Aufenthalt in einer Privatklinik in Greenwich, Connecticut. Seine Patienten kamen entweder auf gerichtliche Anordnung oder auf freiwilliger Basis. Seine »Behandlung« bestand aus Gourmet-Mahlzeiten und Luxuszimmern sowie täglichen Sitzungen, die Graham »Intensive Aufarbeitung« nannte. Soviel Dana bisher davon verstanden hatte, bedeutete diese Aufarbeitung, daß ein erwachsener Triebtäter zu einem kleinen, unartigen Jungen weichgekocht wurde, der in der Ecke saß und über seine Sünden nachgrübelte.

Graham, der in Botanik promoviert hatte, hatte es irgendwie geschafft, seine gefährliche Mixtur auch einer erschreckenden Anzahl von Leuten schmackhaft zu machen, die normalerweise als eher vorsichtig galten. Er behauptete, mit diesem Programm, das er seit fast dreißig Jahren praktizierte, eine Erfolgsquote von fünfundneunzig Prozent zu haben, und das, obwohl Triebtäter bekanntermaßen die höchste Rückfallquote aller Kriminellen aufweisen. Angeblich um die Persönlichkeit der Patienten zu schützen, weigerte sich Graham aber, die Unterlagen seines Centers einer öffentlichen Untersuchung zur Verfügung zu stellen. So konnte die atemberaubende Erfolgsquote weder überprüft noch ihr Gegenteil bewiesen werden. Graham hatte zwar zugesagt, seine Daten selbst zu veröffentlichen, aber bisher hatte er noch nichts herausgebracht.

Patterson Graham war gekommen, um seine Glaubwürdigkeit aufzupolieren. Er trug einen bequemen grauen Cardigan, hatte leicht zerzaustes weißes Haar und den zerstreuten Ausdruck eines stolzen Opas, der in das Neugeborenenzimmer lugt. Seine gesunde Gesichtsfarbe verdankte er der Maske, die sein Gesicht mit einem leichten Braun grundiert und darüber einen Hauch Rouge gelegt hatte. Das Kunstwerk war jenseits der Kamera nicht zu erkennen. Dana fühlte wieder ihre Entschlossenheit, diese unechte Fratze zu entlarven.

Sie nickte ihm brüsk zu und ging weiter. Neben ihm saß die Anwältin des Hauptdarstellers, Valerie Eckhard, von dem Back-Talk-Team lieblos als »Großmaul« bezeichnet. Sie war eine spröde, scharfzüngige Rothaarige, die schon verschiedene Male in der Show aufgetreten und in aller Schärfe für eine Reihe von nicht zusammenpassenden Fällen eingetreten war. Beim letzten Mal hatte sie die Superfeministin gespielt, die Privatclubs und Colleges anprangerte, die keine Frauen aufnehmen wollten. Heute focht sie für das Monster zu ihrer Rechten.

Dana zwang sich schließlich, sich diesem Schwein zuzuwenden. Das Aussehen des Verbrechers war fast lächerlich verändert worden durch eine lockige braune Perücke, eine spiegelnde Sonnenbrille und eine massive Make-up-Schicht. Die Nase war ein zwiebelartiger Zinken. Auf den Wangen aufgeklatschtes Rouge, die Lippen aufgedunsen. Dicke graue Striche hatten aus den Augenbrauen schmutzige Stränge gemacht. Trotz dieser Clownsmaske erschauderte Dana.

Valerie Eckhard hatte für den Auftritt ihres Mandanten klare Bedingungen gestellt: Der Mann würde anonym bleiben. Weder Dana noch die interne Rechtsabteilung von Back Talk durften den Namen erfahren. Mr. X mußte das übliche Auftrittsformular unterschreiben, allerdings nur in Anwesenheit von Großmaul, die die Echtheit bestätigte und das Formular im Safe ihrer Kanzlei aufbewahrte. Die Maske mußte bereits vor der Sendung aufgetragen werden.

Während der Sendung sollte er John genannt werden, und es war Dana untersagt, Fragen zu seiner Identität zu stellen, oder zu seinem Wohnsitz, seinem Beruf, Werdegang oder Familienstand. Auch die Zuschauer sollten dahingehend instruiert und notfalls daran erinnert werden.

Valerie Eckhards Bedingungen waren ungewöhnlich und ärgerlich. Dana haßte Blindflüge. Ihr Team jedoch hatte diese Idee ganz toll gefunden und sie gedrängt, mitzumachen. Sexualverbrechen war ein heißes Thema. Viele Konkurrenzshows hatten bekannte Sexualtäter gezeigt, die sicher hinter Gitter saßen oder die nach Verbüßung ihrer Strafe rehabilitiert waren.

Jemanden, der seine Vergewaltigungen bekennt und noch nie festgenommen worden war, in der Show zu zeigen, so das Team, wäre ein frischer Nervenkitzel.

»Denk daran, Dana«, hatte Lucy sie beschworen, »diese namenlose, maskierte Kreatur stellt einen Teil einer unverdächtigen Gemeinschaft dar.« Die Zuschauer würden sich dieser unseligen Vorstellung nicht entziehen können – jeder Mann könnte ein Sexualverbrecher sein: der hilfsbereite Nachbar, der vertraute Hausarzt, der freundliche alte Pastor der Ortsgemeinde, jeder Ehemann oder Vater, Bruder oder Sohn.

Eine Sonderwerbekampagne hatte dem Programm, das Ende nächster Woche gesendet werden sollte, schon im Vorfeld einen großen Wirbel beschert, und man erwartete Rekordquoten. Der Anwalt der Show hatte keine nennenswerten Bedenken. Jetzt, so kurz vor der Sendung, hatte Dana keine andere Wahl, als die eindringlich warnende Stimme in ihrem Kopf zu unterdrücken.

»Guten Morgen, John«, sagte sie steif, »danke, daß Sie zu uns in die Show gekommen sind.«

»Nichts zu danken, Ms. Saunders.« Er sprach mit einem Zischen, von dem Dana eine Gänsehaut bekam. Das Make-up verlieh ihm ein wächsernes, groteskes Aussehen. »Ich freue mich, hier zu sein.«

In den verspiegelten Gläsern seiner Sonnenbrille konnte Dana eine doppelte Version ihres eigenen unbehaglichen Aussehens erblicken. Auf ihrer Stirn standen angespannte Falten. Ihr Lächeln war steif, wie das einer Maske. Sorge verdunkelte ihre großen braunen Augen. Sie wandte sich ab, dankbar für das nächste Zeichen der Aufnahmeleiterin.

»Noch zehn Sekunden. Plätze einnehmen, alle! Noch fünf – vier ...« Lucy brüllte die letzten Sekunden des Countdowns, hielt drei dicke Finger hoch – zwei – eins. Das Kameralicht blinkte rot, wieder füllte das weiß-blaue Back-Talk-Logo die Monitore. Die Erkennungsmelodie der Show übertönte den einsetzenden tosenden Applaus. Auf dem Teleprompter erschien Danas nächster Textblock.

Mit einem Schritt nach vorn, den Blick in die Kamera, sagte sie: »Kann ein Triebtäter wirklich jemals geheilt werden? Das ist unser Thema, und um diese Frage zu klären, haben wir eine hervorragende Runde von Experten eingeladen. Begrüßen Sie sie jetzt mit uns.«

Dana versuchte, die Vorstellung ihrer vier Gäste ausgewogen zu halten, doch das Publikum erwärmte sich sofort für Dr. Mosher. Der Applaus für Patterson Graham und Rechtsanwältin Großmaul war lau. John, der Vergewaltiger, erntete verängstigtes Gemurmel vermischt mit Buhrufen.

Dana hob beschwichtigend ihre Hände. »Okay, okay. John ist heute hier, um sein Verbrechen zuzugeben und seine Reue zu zeigen. Wir sollten ihm zuhören.«

Sie wandte sich dem maskierten Gesicht zu: »John, Sie haben vor fünfundzwanzig Jahren ein zwölfjähriges Mädchen vergewaltigt. Für dieses Verbrechen wurden Sie nie verhaftet. Sie wurden niemals in irgendeiner Weise bestraft. Kurz nach dem Verbrechen haben Sie an Mr. Grahams Cambridge-Programm teilgenommen und sind überzeugt, daß Sie nie wieder und unter keinen Umständen eine Vergewaltigung begehen würden. Stimmt das?«

Valerie Eckhard pfiff sie an. »John steht hier nicht vor Gericht, Dana. Sie brauchen ihn hier nicht anzuklagen!«

»Ich versuche lediglich, den Fall zu erklären, Ms. Eckhard. Warum lassen Sie John nicht für sich selbst sprechen?«

Großmaul wollte gerade wieder loslegen, doch John kam ihr zuvor. Er nickte mit seinem perückenbestückten Kopf und breitete priesterlich seine Hände aus. »Genau deshalb bin ich hier, Ms. Saunders. Das, was ich dem kleinen Mädchen vor vielen Jahren angetan habe, bereue ich mehr, als man sich vorstellen kann. Ich würde alles – alles – geben, um diese eine furchtbare Nacht ungeschehen zu machen.«

Seine Stimme war tonlos und unaufrichtig. Dana fühlte Wut in sich aufsteigen. »Unsere Zuschauer möchten sicher wissen, warum Sie das getan haben.«

»Ich war daneben, total besoffen. Als ich das Mädchen sah, ist bei mir etwas ausgehakt.« John schüttelte mit dem Kopf, als wollte er die häßliche Erinnerung daraus vertreiben.

In Dana stieg ein furchtbares Bild auf. Sie hatte plötzlich vor Augen, wie dieses Ekel sich an ihrem eigenen geliebten Kind verging. Ohnmächtige Wut verkrampfte ihren Magen. Dieser Mann hatte den Tod verdient. Sie preßte ihre Finger zusammen, als wollte sie ihn erwürgen.

Mit einem tiefen Atemzug brachte sie sich wieder unter Kontrolle. Sie schaffte es sogar, ihrer Stimme einen leichten Hauch von Sympathie zu verleihen. Ihr Job war es schließlich, das Feuer der Show zu entfachen und nicht, die Teilnehmer selber zu grillen. »John, ich kann hören, wie leid es Ihnen tut; ich glaube, alle können es. Aber wie können Sie so absolut sicher sein, daß Sie nie wieder in diesen Ausnahmezustand geraten? Wie können Sie sicher sein?«

Elegant fing Dr. Mosher den Ball auf: »Genau das ist der Punkt, Dana. Meine Studien haben ganz klar ergeben, daß Sexualverbrecher Zwangstäter sind. Sie werden von den Umständen getrieben. Sogar nach vielen Jahren ohne das geringste Vorkommnis kann ein Triebtäter diese Hemmschwelle in der gleichen Situation wieder überschreiten, in der er sie auch bei früheren Taten überschritten hat.«

»Zum Beispiel?« fragte Dana nach.

»Bei einem kann es ein Pornofilm sein. Beim anderen, daß er betrunken ist. Die trivialsten Sachen können zu einem Rückfall führen. Ich hatte schon Patienten, die mir erzählt haben, es sei ein Krach mit der Frau oder ein schlechter Tag im Büro gewesen.«

Dana zog die Brauen hoch: »Das ist der ganz normale Streß, Dr. Mosher, den wir alle jeden Tag haben.«

»Genau. Und darum können wir nie zu hundert Prozent sicher sein, daß ein Sexualtäter sein Verbrechen nicht wiederholt«, sagte Dr. Mosher bestimmt.

»Unsinn!« donnerte Patterson Graham los. »Bei allem Respekt, Dr. Mosher, aber es ist doch ganz klar, daß all die Täter, die Sie aufgezählt haben, sich nie einer professionellen Behandlung unterzogen haben, wie wir sie in Cambridge anbieten. Meine Patienten erhalten eine intensive Betreuung, fachärztliche Beratung und langzeitige Nachbehandlungen.«

»Warum erlauben Sie dann nicht einem unabhängigen Gremium, Ihre Ergebnisse zu bestätigen?« fragte Dana.

»Weil ich mich weigere, meine Arbeit gefährden zu lassen, deshalb. Die Einmischung von Fremden würde eine unerträgliche Störung darstellen. Ich werde alles in meinem Buch Der Weg zur Heilung offenlegen, das im kommenden Mai erscheint. Unsere Erfolgsquote liegt bei über fünfundneunzig Prozent.«

»Aber das sind immer noch unbestätigte Zahlen«, insistierte Dana.

»Ich habe sie persönlich überprüft, außerdem spricht unser Erfolg für sich selbst.«

Dr. Mosher nahm einen Computerausdruck zur Hand, den sie im Schoß gehalten hatte.

»Dr. Graham, siebenundsechzig meiner Testpersonen waren frühere Cambridge-Patienten. Zweiundzwanzig von ihnen haben eingestanden, wieder Straftaten begangen zu haben, fünfzehn waren nahe dran, und siebzehn der verbleibenden dreißig sagten, sie hätten immer wiederkehrende Phantasien von sexuellem Mißbrauch. Die meisten dieser Phantasien drehten sich um Kinder.«

Im Publikum machte sich Unbehagen breit.

Graham lächelte, doch auf seinem Nacken zeigten sich rote Flecken. Er wandte sich an Dana: »Sie wissen, was man sagt. Da gibt es Lügen, verdammte Lügen – und Statistiken.«

»Wie erklären Sie dann die Ergebnisse von Dr. Mosher, Mr. Graham?«

»Die muß nicht ich erklären. Sie muß das. Und übrigens, Doktor Graham ...«

Dana verkniff sich ein Lächeln. »Ach ja? Was genau ist Ihr medizinischer Fachbereich, Doktor?«

Graham hatte diesen wunderbaren Ausdruck von Ertapptsein, der sich so herrlich einfrieren ließ, für das letzte Bild vor dem Werbeblock. »Ich bin Dr. phil., kein Arzt.«

»Ach so. Dann sind Sie Psychologe?«

Der Schaumschläger wand sich in seinem Cardigan und murmelte eine unverständliche Antwort. Widerwillig ließ Dana ihn vom Angelhaken los. Es war noch zu früh in der Show, um diesen Armleuchter wirklich auflaufen zu lassen. Ohne Zweifel würde das Publikum diesen Faden wieder aufnehmen im Frage-und-Antwort-Teil.

»Das Cambridge-Programm funktioniert«, warf John ein. »Ich sitze hier als lebender Beweis. Ich habe dort gelernt, die Dinge aus der Perspektive des Opfers zu sehen. Das ist der ganze Unterschied.«

Dana zwang sich, in seine versteckten Augen zu sehen. »Wollen Sie damit sagen, John, daß Sie seit Ihrer Teilnahme an diesem Programm nie wieder störende Träume oder Phantasien hatten? Nicht einen einzigen Augenblick, in dem Sie Angst hatten, wieder die Kontrolle zu verlieren?«

John, der Vergewaltiger, zögerte genau den Moment, den Dana erwartet hatte. Bevor er antworten konnte, schickte sie ihr Beste-Freundin-Lächeln in die Kamera.

»Bleiben Sie dran! Back Talk ist nach der Werbung wieder da ...«

Sie ging nach hinten, ihr Make-up wurde aufgefrischt, ihr Team ließ die unvermeidlichen Scherze los.

»Weißt du noch, als du gesagt hast, daß in diesem Land alle fünf Minuten eine Frau vergewaltigt wird?« fragte Mickey Conway. »Wetten, daß da irgendso ein Typ im Publikum gleich fragen wird, wie es kommt, daß der Kerl nicht müde wird.«

»Wage es nur nicht, das morgen im Warm-up von dir zu geben, Mickey«, warnte Dana ihn.

Conway lächelte unschuldig. Geschmacklosigkeit war seine Spezialität. »Bist du sicher? Ich wette, die würden drauf abfahren.«

»Du würdest abfahren«, entgegnete Dana. »Kapiert?«

Schiefe Zähne und ein dichter, eigenwilliger Haarschopf verliehen Conway das Aussehen eines in die Jahre gekommenen Dennis the Menace. »Laut und deutlich. Das Amt für politische Korrektheit hat gesprochen.« Er schlug seine Hacken zusammen und salutierte.

»Erzähl keinen Blödsinn, Mickey. Politische Korrektheit hat damit nichts zu tun. Sexualverbrechen sind kein Spaß. Menschen werden verletzt.«

»Ja, Chefin. Was immer du sagst, Chefin.« Die Augen gen Himmel verdreht, verzog sich Mickey in Richtung Aufnahmeraum.

Dana sah ihm nach. Conway war ein Computerfreak und ein hartnäckiger Recherchierer. Seine Arbeit auf diesem Gebiet war für die Show unentbehrlich, weswegen er auch schon mehrere Angebote von anderen Abteilungen bekommen hatte. Mickey blieb nur deshalb bei Back Talk, weil er so gern den Anheizer und Komiker in den fünfzehn Minuten vor Beginn jeder Sendung spielte. Die Notwendigkeit, ihn bei Laune zu halten, hatte Dana durchaus eingesehen, andererseits würde sie auch wunderbar ohne Mickeys zweifelhafte Auffassung von Humor auskommen.

»Ich finde diesen John-Typen absolut abstoßend«, meinte Julie Westerman, die jüngste Produktionsassistentin der Show. Jules, wie sie sich gern nennen ließ, war brillant, eifrig und hatte hervorragendes Organisationstalent. Vielversprechend nach Danas Ansicht. Doch die hübsche, rötlich-blonde junge Frau brauchte manchmal einen Dämpfer. Ihre Stimme war zu schrill, ihre Bewegungen zu lebhaft und manchmal war sie überheblich. Jules’ explosiver Enthusiasmus erinnerte Dana an einen jungen Hund, der dringend strenges Training bräuchte.

Aber diesmal teilte Dana die Abneigung der Assistentin gegen den Stargast. »Man kann kaum anders empfinden, wenn man sich vorstellt, daß er eine Zwölfjährige vergewaltigt hat«, antwortete sie grimmig.

Die anderen verfielen in unbehagliches Schweigen. Sie wußten alle, daß sich Danas Welt außerhalb des Studios ausschließlich um ihre zwölfjährige Tochter Rebecca drehte.

Becky war ein Superkind, kontaktfreudig, lustig, bemerkenswert unbefangen trotz ihrer enormen Intelligenz. Außerdem verfügte sie über ein herausragendes Talent für die Violine.

Anscheinend war das Kind total unbeeindruckt von der landesweiten Popularität seiner Mutter. Dana kämpfte wie eine Löwin, um ihre Tochter von der Schattenseite des Ruhms fernzuhalten. Becky trug den Familiennamen ihres Vaters, den auch Dana in der Schule oder bei anderen Anlässen benutzte. Um ihre Identität zu verbergen, trug sie einen Hut und eine Brille. Dana kannte das Problem von Spannern und anderen Verrückten. Eine erschreckende Anzahl von Leuten fühlte sich zu Prominenten hingezogen oder war von ihnen verblendet.

Ein höchst widerlicher Typ, ein Mann namens Lester Yurie, hatte Dana jahrelang verfolgt. Yurie war ein Gelegenheitsverbrecher und Danas selbsternannter glühendster Fan. Er hatte es regelmäßig geschafft, Danas Sicherheitskreis zu durchbrechen, und dann bot das Ekel begierig seine Dienste an. »Kann ich irgendwas für dich drehen, soll ich mich um was kümmern? Ein Wort – ich mach alles. Wahnsinnig gern, aber nur ich!«

Den Vernünftigen im Team war klar, daß Dana und Becky vor Typen wie Lester Yurie geschützt werden mußten. Sie gaben keine Informationen weiter und weigerten sich, die häufig angebotenen, saftigen Schmiergelder von Revolverblättern anzunehmen, die nach Einzelheiten über Dana und ihre Familie gierten.

»Dreißig Sekunden!« rief Lucy.

»Okay, Leute, los geht’s«, sagte Dana.

»Noch fünf ...« Lucy zählte ab und die Kameras richteten sich auf die Gäste. Dana wandte sich zum Publikum und las den Eingangstext.

»Kann ein Triebtäter geheilt werden? Diese Frage beschäftigt uns heute. In unserer Expertenrunde sitzt ein geständiger Kinderschänder.«

Johns Geisterbahngesicht erschien in Großaufnahme auf dem Bildschirm. Er grinste zufrieden.

Dana näherte sich ihm und fragte kalt: »Finden Sie hier irgend etwas lustig, John?«

Der Vergewaltiger rutschte in seinem Sessel herum. »Natürlich nicht. Ich wollte nur gerade ...«

»Sie sagen also, daß Sie gelernt haben, die Dinge aus der Perspektive Ihrer Opfer zu sehen. Ist das richtig?«

»Das Einfühlen in das Opfer, so nennt Dr. Graham das«, sagte John eifrig.

»Glauben Sie allen Ernstes, Sie könnten nachempfinden, was eine Vergewaltigung für ein kleines Mädchen bedeutet? Erwarten Sie wirklich, daß wir das glauben?«

»Jeder macht mal einen Fehler, Lady. Ich bin kein schlechter Mensch.«

Das Publikum antwortete mit Buhrufen und Zischen.

Dana bat mit einer Handbewegung um Ruhe und sah John geradewegs an.

»Ein Fehler? Nennen Sie die Vergewaltigung eines unschuldigen Kindes einen Fehler?«

Das Publikum saß wie festgenagelt auf den Plätzen. Fasziniert beobachtete es Dana wie einen Schlangenbeschwörer, der eine Kobra zähmt.

»Nun, John, ich würde sagen, daß es für Sie noch eine Menge zu lernen gibt.«

Die Show endete mit ohrenbetäubenden Standing ovations. Das Team verpackte Kameras und Ausrüstung, und während das Publikum das Studio verließ, begleitete Lucy die Gäste zum Bühnenausgang. Dana folgte ihnen, um sich zu bedanken und zu verabschieden. Als sie mit Dr. Mosher sprach, verspürte sie ein unbehagliches Gefühl. Der Vergewaltiger hatte seine verspiegelte Brille abgenommen. Seine Augen waren harte schwarze Kugeln. Er fixierte sie starr.

Dana schauderte. Sie wollte ihn loswerden. Schnell ging sie weiter zu Graham und dann zu Eckhard. Sie brachte es nicht fertig, dem stechenden Blick des Vergewaltigers zu begegnen. Gerade als sie ihm zum Abschied zunicken wollte, kam Jules Westerman aus dem Kontrollraum hereingestürzt.

»Wißt ihr, was gerade übers Radio kam? Becky hat den Lassiter-Preis gewonnen! Glückwunsch, Dana! Kannst du das fassen – deine Tochter und so ein Preis! Ich wette –«

Danas strenger Blick brachte die junge Frau sofort zum Schweigen. Aber die verhängnisvollen Worte waren raus. Rasch drehte Dana sich um, sie wollte die Reaktion des Vergewaltigers sehen. Die Lippen des Bastards zuckten. Glomm da ein Anflug von Belustigung in seinen Augen?

Danas Fäuste ballten sich. Der Lassiter-Preis – das war großartig. Alljährlich wurde er an ein Nachwuchstalent im Fach Violine vergeben. Ohne Zweifel würden Berichte über Becky und ihre Auszeichnung landesweit durch die Presse gehen! Einige der Artikel würden preisgeben, wo Becky in die Schule ging oder andere wichtige Einzelheiten verraten. Ein geständiger Kinderschänder hatte nun jede Möglichkeit, ihre Kleine zu finden.

Es mußte einen Weg geben, das zu stoppen, die Zeit zurückzudrehen und diese tödlichen Worte ungehört zu machen. Vielleicht hatte das Ekel nicht gehört, was Jules gesagt hatte. Vielleicht wußte er auch gar nicht, was das überhaupt bedeutete ... »Gute Show heute«, sagte Lucy Breitmeier, um das beklommene Schweigen zu unterbrechen. »Herzlichen Dank Ihnen allen.« Die anderen verabschiedeten sich. Großmaul Eckhards Nicken war lebhaft und ärgerlich. John trottete einen Schritt hinter ihr her. Er musterte Dana mit seinem beunruhigenden Blick und reichte ihr die Hand. Dana ignorierte sie und versuchte, hinter diesen glitzernden und undurchdringlichen Blick zu schauen.

»Danke für die Einladung, Ms. Saunders. Hat mich sehr gefreut, wirklich.« Er drehte sich um und folgte seiner Anwältin nach draußen.

Der Weg zur Heilungvon Dr. phil. Patterson Graham(Unkorrigiertes Leseexemplar)

Ein Sexualverbrecher kann geheilt werden. Im Cambridge Center für die Behandlung von Sexualstraftätern lernen diese, ihre Motive zu analysieren, mit ihren Opfern zu fühlen, und schließlich ihr destruktives Verhalten zu modifizieren.

Während meiner dreißig Jahre als Gründer und Leiter dieses Programms haben Tausende von Patienten die Effizienz unserer Therapie erprobt und bestätigt. Zu unseren größten Erfolgen zählt Johns1 Entwicklung vom Täter zu einem zuverlässigen Beschützer kleiner Kinder. Wie John im folgenden beschreibt, kann seine abwegige Neigung bis zu prägenden ersten sexuellen Erfahrungen zu Hause zurückverfolgt werden:

Ich wollte das Kind, also nahm ich es. Sie war wie ein hübsches Geschenk. Eine Schachtel Bonbons. Eine Sache. Eigentlich nichts.

Meine Eltern haben mich so erzogen. Ich konnte haben, was ich wollte. Keine Grenzen.

In unserer Familie galten nicht die normalen Regeln: Gesetze, Wahrheit, Richtig und Falsch – das war für die da unten. Mein Vater bezeichnete diese Leute als »der Müll«. Wir waren besser und größer, standen über allen. Wir durften unseren Appetit stillen, egal worauf.

Der größte Hunger meines Vaters war der nach Schmerz. Er weidete sich an der Todesangst von anderen. Das mußte groß, laut und häufig sein. Er entwickelte ein ganzes Ritual, um mir Schmerz zuzufügen, eins, das er ausdehnen konnte. Er wollte jeden Moment auskosten.

Zunächst hielt er mir vor, was ich falsch gemacht hatte. Er zählte die Vergehen auf. Dabei blieb seine Stimme tödlich ruhig, fast freundlich. Dem Klang nach zu urteilen, hätte man meinen können, er erzählte eine Gutenachtgeschichte.

Es war generell meine Sünde, nicht gut genug zu sein, zu wenig Talent zu haben. Daddy verehrte jede Art von Brillanz, aber besonders bei Kindern. Es machte ihn wahnsinnig, daß ich zwar intelligent, aber kein Genie war. Gut, aber nicht riesig. Das war für Daddy eine tödliche Sünde. Grund für erbarmungslose Strafe.

Nachdem er sein Mißfallen ausgedrückt hatte, zündete er ein Feuer in einem Kreis aus Steinen an. Dieser brennende Kreis sollte den Herrn darauf aufmerksam machen, daß ich versagt hatte. Ich mußte in das Feuer schauen, während Daddy mich schlug. Nicht zu schauen war ebenfalls eine schwere Sünde. Je lauter ich schrie, desto glücklicher wurde Daddy. Ich erinnere mich, wie er mir einmal ein Bein und drei Rippen mit einem mächtigen Schraubenschlüssel gebrochen hatte. Zufällig kam gerade ein Nachbar vorbei. Er hörte mich schreien und klopfte an die Tür, fragte, ob alles in Ordnung sei.

Daddy blieb völlig ruhig. Er behauptete, der Lärm käme vom Fernseher. Als der Nachbar außer Sicht war, beendete er die Prügelei noch. »Lauter«, sagte er immer, wenn ich weinte. »Gut so, Junge.« Nie sah ich den Mann so glücklich. Man hätte glauben können, er hätte im Lotto gewonnen.

Wenn er mich quälte, hatte er diesen gelangweilt-friedlichen Gesichtsausdruck. Haben Sie jemals jemanden beobachtet, der schmerzliche Musik hört, oder jemanden, der wahnsinnig verliebt ist? Das war wie der Schmerz für Daddy. Ekstase.

Mutters Vorlieben waren subtiler. Als Kind habe ich überhaupt nicht gemerkt, daß das, was sie tat, ihrem eigenen Vergnügen diente. Ich dachte, das war alles für mich.

Wenn Daddy fertig war, kam sie rein und spielte Krankenschwester. Sie zog mich aus und schaute sich die Flecken an: »Hat er dir hier weh getan, Liebling? Und dort?«

Diese Frau hatte Samthände. Die sanftesten Finger auf der ganzen Welt. Noch heute spüre ich, wie sie mich hier und da mit einem Antiseptikum abtupfte, dann reinigte sie die Stellen mit einem warmen Lappen, und ich zitterte am ganzen Leib.

Danach steckte sie mich in einen frischgewaschenen, weichen, warmen Pyjama. Sie schaute zu, wie ich mir die Zähne putzte. Sie hörte zu, wenn ich betete. Dann brachte sie mich ins Bett und legte sich neben mich.

Diese sanften Hände wußten, wie man Schmerzen wegstreichelt. Die Hände meiner Mom lehrten mich fast alles.

KAPITEL 2

Lennie

Das Feuerwehrauto bog quietschend in die Griscom Woods ein. Nick Marzullo stellte die Sirene ab. Durch das blitzende Licht wehte feiner Schnee, und das Eis knirschte unter den riesigen Reifen wie zerstoßenes Glas. Der Wind heulte um die Ecken.

»Wo ist denn das Feuer, verdammt noch mal?« fragte Marzullo. Er war kurz und gedrungen, und mit einer eingequetschten Visage und dem aggressiven Mund war er die Antwort der Menschheit auf eine Bulldogge.

»Langsam, Zulu. Ich kann die Hausnummern nicht erkennen.« Captain Joe Perriman blinzelte durch das Schneegestöber auf das Riesenhaus rechts, die Nachbildung eines französischen Landhauses aus der Normandie. »Weiter, Mann, der Anruf war für zwei-eins-drei Ledgebrook. Wir sind immer noch bei den Zweistelligen.«

Früher war das riesige Griscom-Gelände Privatbesitz gewesen, bis es vor fünf Jahren an Entwicklungsunternehmen verkauft wurde. Die Baufirmen hatten das Gebiet mit künstlichen Teichen und Zierbäumen aufgepeppt. Jedes Grundstück war zwei Morgen groß und mit einem riesigen Haus bestückt, protzig und grell wie eine aufgetakelte Matrone.

Zwar standen die Häuser in großzügigen Abständen voneinander, aber dennoch hatte man die typische Vorstadtkrankheit nicht vermeiden können: Überfluß. Die ganze Umgebung stank nach Zuviel. Luxuswagen säumten die Straßen, und die manikürten Höfe waren mit verschwenderisch ausgestatteten Pools und Tennisplätzen vollgepfropft. Es war alles zu viel, zu neu, und es sah alles unecht aus.

»Da!« brüllte Perriman. »Da drüben, zieh rüber!«

Die Reifen quietschten, und mit einem Ruck blieb der Wagen direkt an der Kurve stehen, vor dem massiven Abklatsch eines Hauses im Tudorstil. Nur ein leichter Rauchgeruch hing in der Luft. Das deutlichere Zeichen eines Zwischenfalls war eine verwirrte Frau, die ohne Mantel im verschneiten Vorgarten stand.

Das Licht an der Tür fiel auf ihr angstverzerrtes Gesicht. Sie starrte zum Dach hoch und schrie beschwörend hinauf. Beißende Windböen zerrten an ihrem schwarzen Chiffonrock und ihrer cremefarbenen Seidenbluse. Der Schnee fiel auf ihr honigblondes Haar, doch das schien ihr völlig egal zu sein. Man mußte schon ein Herz aus Stein haben, um ihr markerschütterndes Geschrei zu ignorieren. Ich sprang vom Sitz.

»Kitty, bitte!« hörte man ein ums andere Mal.

Captain Perriman war der Chef des Löschzugs. Schnell überquerte er den Rasen, stellte der Frau ein paar Fragen und machte plötzlich voller Wut kehrt.

»Mein Baby«, heulte die Frau hinter ihm her, »bitte, Sie müssen mir helfen!«

Perriman war stocksauer. »Dieses Weib denkt, daß ich das Leben meiner Leute aufs Spiel setze, nur um ihre dämliche Katze zu retten. Die spinnt!« Er spuckte die Worte wie Steine aus.

Er ging zum Wagen zurück, aber ich hielt ihn an: »Ich würde das gern machen, Captain.«

Perriman ist eine Gestalt aus Flächen und Winkeln: quadratische Kinnbacken, Hakennase, auf seinem Kopf heufarbene Stoppeln. Er ist massig, hat dicke Finger und legt sich gern mit anderen an.

»Vergiß es, Finn. Wenn du da hochkletterst, wirst du zerkratzt oder schlimmer.«

»Das klappt schon, Captain«, antwortete ich ruhig. »Ich kann prima mit Tieren umgehen.«

»Ich habe gesagt, vergiß es! Die dämliche Katze kommt schon runter, wenn sie genug hat. Oder hast du schon mal gehört, daß ’ne Katze von ’nem Baum gefallen ist – oder von ’nem Dach? Wohl kaum!«

»Sie selber weiß das offensichtlich nicht.«

»Zu dumm für sie«, schnaufte Perriman. »Ich hätte das Weib wegen falschen Alarms einbuchten sollen. Damit sie’s ein für allemal kapiert. Sie glaubt sonst, sie kann wegen allem und jedem anrufen.«

Aus den Augenwinkeln sah ich an der Ecke des Hauses, hinter der Heckenreihe, einen Kreis aus Steinen. Aus seiner Mitte wehten Rauchschwaden, die aus einem Haufen von verkohltem Schutt kamen.

Ein Kreis aus Steinen? Qualmende Asche? Das Bild kam mir eigenartig bekannt vor. Aber hartnäckig weigerte sich meine Erinnerung, mehr zu liefern.

Ich schob den Gedanken beiseite und wandte mich dem dringenderen Problem zu. Diese Frau, die so verloren und verzweifelt auf dem Rasen stand, brach mir das Herz.

»Bitte, Captain, sie ist doch völlig fertig. Lassen Sie mich die Katze für sie runterholen!«

Perriman schlug seinen Kragen hoch und polterte los. »Verdammt noch mal, Finn, bist du taub? Du wirst nicht dafür bezahlt, daß du für so ’ne verrückte Katzennärrin den Helden spielst.«

»Es dauert doch nur eine Minute ...«

»Feuerwehrleute löschen Feuer und retten Menschen, das ist doch hier kein Kitschfilm!«

»Bitte!«

»Nein – und nochmals nein! Wenn du da hochkletterst und dir deinen dämlichen Hals brichst, bin ich dran!«

»Bitte, Captain!«

Perriman hob verzweifelt die Hände: »Wer bist du, Finn? Ein halber Maulesel? Okay, verdammt, hol die blöde Katze. Aber mach schnell!«

»Mach ich. Danke!«

Bevor er es sich anders überlegte, lief ich zum Wagen, um eine Leiter und Hilfe zu holen. Ich nahm meinen Helm vom Kopf, der kalte Wind, der mir durchs Haar fegte, tat gut. Das Helmtragen war Pflicht, aber er drückte mir auf den Schädel wie ein Stein.

Auch wenn ich in voller Uniform bin, sehe ich nicht gerade stattlich aus. Mit meinen knappen ein Meter fünfundsechzig bin ich auch beträchtlich kleiner als ein typischer Feuerwehrmann. Für ein Poster, um Nachwuchs zu werben, eignet sich mein Gesicht auch nicht gerade. Meinen Augen fehlt dieses Stahlharte, mein Mund ist zu weich, meine Gesichtsfarbe zu bleich. Jeder selbstbewußte Dalmatiner nimmt sich an meiner Seite besser aus als ich. Einige meiner zweibeinigen Kollegen sind auch nicht so von mir überzeugt: Ich bin zu klein, zu sentimental. Ich habe Brüste.

Als ich trotz aller Warnungen vor zehn Jahren als erste Frau in die Feuerwehr von Stamford eintrat, hatte ich eigentlich keine besonderen Probleme erwartet. Ich hatte die Anzeige in den Ortsnachrichten gesehen und das als Omen genommen. Damals war ich völlig fertig und suchte eine Möglichkeit, mein Leben nachhaltig zu ändern. Viele meiner Freunde hielten das für eine ausgemachte Schnapsidee, doch gegen meine überentwickelte Hartnäckigkeit zogen diese Argumente nicht.

Eine Karriere bei der Feuerwehr schien für mich genau das Richtige: körperlicher Einsatz, Risiko, Heldentum. Menschen zu retten schien mir das Edelste und Erstrebenswerteste überhaupt. Ganz abgesehen davon, daß es bezahlt wurde, einer Krankenversicherung einschloß (sogar für Zähne) und eine traumhafte Rente.

Ich bin eigentlich ein halber Junge. Meine Narben aus diversen Schlachten beweisen das. Die leichte Krümmung meiner Nase verdanke ich einem saftigen Wurf bei den Baseball-Meisterschaften in der regionalen Liga. Andere denkwürdige Ereignisse auf und abseits des Feldes haben mir einen abgebrochenen Schneidezahn und eine Narbe in der Form einer fliegenden Möwe über meiner rechten Augenbraue eingetragen.

Mein Körper ist eher athletisch als mit Kurven gesegnet. Obwohl meine Brüste meine sonstige Norm überschreiten, sind sie in Wirklichkeit erheblich kleiner als in der Phantasie meiner infantilen Kollegen. In der Feuerwehruniform fallen sie schon gar nicht auf, auch nicht die Tatsache, daß ich eine Frau bin: in einem großen braunen Mantel mit leuchtenden, goldenen Streifen, abgetragenen, braunen sackförmigen Hosen und kniehohen, schwarzen Neoprenstiefeln.

Marzullo hatte damals schon seinen Platz als Fahrer des Löschwagens erobert. Wild Bill Hitsig, der andere Mann am Schlauch, hatte seine lange, linkische Gestalt gegen den Schlauch gelehnt. Hitsig ist hohlwangig und schielt. Ekelhaft wie monatelang abgestandene Milch. Wenn er atmet, produziert er sichtbare Wolken wie ein Drache. Aber ich biß die Zähne zusammen und ging auf ihn zu.

Wild Bill hatte sich seit meinem ersten Tag der Aufgabe verschrieben, mir das Leben zur Hölle zu machen. Das Weltbild dieses Kerls war so unerschütterlich wie idiotisch. Für ihn gehörte eine Frau an den Herd. Hardware, Sport, Beruf und vor allem Wissen (zumindest das mit dem Gehirn) war Menschen mit Haaren auf der Brust vorbehalten. Wild Bill konnte mich nicht als menschliches Wesen sehen, geschweige denn als normale Kollegin.

»Ich hol jetzt die Katze runter, Hitsig. Hilf mir bitte mit der Leiter, ja?« Hinter mir hörte ich die Frau schluchzen.

»Gott, Finn. Es ist ein blödes Tier! Es ist drei Uhr morgens und saukalt!«

»Perriman ist einverstanden. Hilfst du mir jetzt bitte?«

Er grinste geil und zeigte seine gelben Zähne. »Klar, Baby. Wie hättest du’s denn gern?«

Ich schluckte meinen Ärger runter und sah ihm gerade in seine Schielaugen. »Wenn wir schon von blöden Tieren reden ...«

»Halt die Klappe, dumme Kuh!«

»Es reicht«, bellte Perriman. »Nun mach schon, Finn. Hitsig, du hilfst ihr, und zwar sofort!«

Unter dem wachsamen Blick des Captains tat Wild Bill sein Bestes, um einen Menschen zu imitieren. Zur Abwechslung unterließ er es mal, mich auszutricksen oder zu unterlaufen. In kurzer Zeit hatten wir die Leiter fest ans Dach gelehnt. Ich stemmte mich gegen den bitterkalten Wind und kletterte hoch. Jetzt klang die Stimme der Frau plötzlich kratzend rauh.

»Kitty, bitte!«

Ich schaute über das dunkle Dach und suchte die verlorene Katze. Der Wind blies Schneewehen durch die Luft, doch sonst war auf dem Vorderdach nichts Lebendes zu entdecken. Vorsichtig kroch ich über die rutschigen Ziegel und nahm die Regenrinnen in Augenschein. Verrottete Blätter, Äste und anderer Müll hatte sich darin gesammelt. Eine kleine Katze hätte da schon reinfallen können und sich im Gestrüpp verfangen. Wahrscheinlich war das kleine Tier ja auch schon tot. Ich verlor etwas von meinem Mut.

Als ich aber am Ende des Vordachs angekommen war, hörte ich von hinten einen gedämpften Laut, ein dünnes, trauriges Jammern.

»Warte, Kitty, ich komme!«

Auf den Knien kroch ich langsam zum First und auf der anderen Seite wieder runter. Ich hielt inne und hörte wieder das leise Weinen. Durch das Heulen des Windes war es aber unmöglich, es irgendwie zu lokalisieren.

»Hierher, Kitty! Wo zum Teufel steckst du?«

Meine Hände wurden von der Kälte klamm. Ich stand jetzt und schob mich etwas tiefer. Trotz des starken Profils meiner Stiefel war dieses abschüssige Gehen gefährlich. Vereiste Stellen konnten mich aus dem Gleichgewicht bringen. Tränen traten mir in die Augen.

»Komm her, Kitty. Sei brav. Es ist saukalt hier!«

Ich bewegte mich vorsichtig, balancierte jeden Schritt vorwärts aus. Auf dem halben Weg jedoch brach unter meinem Fuß ein Dachziegel heraus, ich knallte hart auf den Rücken. Mit schwindelerregendem Gleiten rutschte ich auf die Dachkante zu. Der Himmel verschwand plötzlich vor meinen Augen. Ich drehte mich wie in einem Kaleidoskop des Schreckens und schoß in eine kalte, schwarze Leere.

Verzweifelt krallte ich meine Hände in die Dachziegel und versuchte, mich mit den Stiefeln abzufangen. Mein Körper verkrampfte sich, und mit erschreckender Klarheit sah ich mich vom Dach stürzen, runter in die Dunkelheit. Auf dem steinharten Boden aufschlagen.

Nein!

Plötzlich packte mich irgend etwas am Kragen meines Uniformmantels. Meine Absätze fanden Halt, mit einem Ruck kam ich zum Stillstand. Nur ein paar Zentimeter vom Abgrund entfernt!

Zitternd setzte ich mich auf und rieb meine schmerzenden Hände. Mein Puls raste. Ich schaute über die Schulter und sah den Nagel, der sich in meinem Kragen verfangen und so meinen Sturz abgefangen hatte. Durch meinen Kopf schoß Captain Perrimans Warnung: »Wenn du da hochkletterst, wirst du zerkratzt oder schlimmer.«

Ich hustete und rang nach Atem.

»Sind Sie okay?«

Erschreckt schaute ich in die Richtung, aus der die zaghafte Stimme kam. Hinter einem weißen Ziegelschornstein stand eine schmächtige Gestalt. Ein süßes Kind mit hellen Augen. In seinem Mund glitzerte eine Zahnspange. Ihre Wangen waren von der Kälte gerötet, ihr dunkles Haar hing wirr. Sie trug ein geblümtes Flanellnachthemd, flauschige, pinkfarbene Hausschuhe und zitterte am ganzen Körper.

»Wer bist du?« fragte ich.

»Entschuldigung!«

Komischer Name für ein Kind, wollte ich rausplatzen, aber der schmerzliche Gesichtsausdruck des Kindes hielt mich davon ab. Plötzlich wurde mir klar, was hier ablief.

»Heißt du Kitty?« fragte ich.

Sie nickte steif: »Kitty Dolan.«

»Ich bin Lennie Finn. Kitty, was machst du hier? Was ist los?«

»Nichts. Lassen Sie mich in Ruhe!«

»Was ist passiert?«

Sie duckte sich, als hätte ich sie geschlagen. »Bitte gehen Sie!« Ich stand auf und ging näher, kämpfte gegen den wirbelnden Schnee an. Ein Schauer schüttelte das kleine Mädchen wie wütende Hände.

»Du frierst doch so. Komm, ich bring dich runter.«

»Das geht nicht. Mami erschlägt mich.«

»Das tut sie nicht. Sie ist froh, wenn du wieder sicher da drinnen bist.«

»Kitty, bitte!« schrie die Frau unten.

»Das verstehen Sie nicht.« Tränen quollen aus den großen Augen. »Ich war böse. Deswegen ist es passiert. Ich darf niemandem die Tür aufmachen. So ist die Regel.«

Ich war wie vom Schlag getroffen. »Wer war das, Kitty? Jemand, den du kennst?« Gott, mach, daß das nicht wahr ist! Das Schluchzen wurde stärker. »Er hat gesagt, sein Auto springt nicht an. Er wollte telefonieren und den Abschleppdienst rufen ... Er schien so nett.«

»Kitty, was ist passiert?« Aber ich wußte schon, was sie mir erzählen würde.

Das Kind verkrampfte sich. »Er kommt wieder, wenn ich was sage. Er ersticht mich, wie das Mädchen auf dem Bild. Ich hab das Messer gesehen, das war ganz blutig.«

»Er kommt nicht wieder. Er wollte dich nur erschrecken.«

Kinderschänder sind schlechte Selbstverleugner, nachträglich tun sie nichts. Wenn das Schwein Lust aufs Abschlachten gehabt hätte, würde das Kind nicht so mehr oder minder unversehrt vor mir stehen.

»Aber ich hab ihn reingelassen! Ich bin so blöd.«

Sie sank auf die verschneiten Ziegel nieder und vergrub das Gesicht in den Händen. Ich setzte mich neben sie.

»Der Mann hat was Böses getan, Kitty. Nicht du. Komm, laß uns hier runtergehen. Ich helf dir.«

Sie hörte auf zu weinen, eine ängstliche Stille setzte ein. Als sie wieder sprach, war ihre Stimme kaum stärker als der Wind.

»Er hat mich aufs Bett geworfen und mich mit seinem – Sie wissen schon. Ich habe mich gewehrt. Aber ich konnte nichts gegen ihn machen, ich konnte nicht.«

Ich strich über ihr zerzaustes Haar. »Ich verstehe, Schätzchen.«

»Er hat gesagt, ich soll mich nicht rühren, aber ich mußte weg. Ich hab ihn in Mamis Zimmer gehört, da bin ich hier rausgeklettert.«

»Das war sehr tapfer von dir.«

»Ich dachte, er kommt hinter mir her, ist er aber nicht. Er hat mich nur gerufen und gesagt: ›Komm her, ich bring dich zu einem schönen Platz.‹ Ich bin ganz still geblieben, und dann hat er aufgehört.« Sie schluchzte. »Ich fühl mich so dreckig.«

»Bist du nicht, Kitty, du bist wunderschön. Der ist dreckig.«

»Ich hätte nicht aufmachen sollen. Es war mein Fehler.«

»Das ist nicht deine Schuld, Schätzchen. Das ist nicht dein Fehler.«

Ich zog meinen Mantel aus und legte ihn um ihre Schultern. Sie sah so zart und zerbrechlich aus, ein verletzter kleiner Vogel.

»Kitty«, sagte ich sanft, »komm, ich bring dich die Leiter runter.«

»Nicht vor all den Leuten. Ich will nicht, daß sie das erfahren.«

»Du kannst nicht ewig hier oben bleiben.« Es schneite jetzt so stark, daß der Schnee wie Nebelschwaden durch die Luft trieb.

Sie überlegte einen Moment, rieb sich die Augen und seufzte. Dann nickte sie mit dem Kopf zur Dachkante. »Da unten ist mein Balkon.«

Vorsichtig führte ich das Kind zur Ecke. Ihre Mutter rief immer noch nach ihr. Ich hielt mich an der Dachrinne fest und ließ mich auf den schmiedeeisernen Stuhl runter, der unten auf dem Balkon stand. Dann half ich Kitty runter und zog sie ins Haus.

Ihr Zimmer war mit einem Blumenmuster tapeziert. Eine lila Rüschendecke über dem Bett paßte farblich zu den Kissen. Puppen und Teddybären standen ordentlich aufgereiht im Regal und auf dem Schreibtisch, genauso akkurat waren Kinderbücher, CDs und Videospiele eingeordnet, exakt nach Größe und Kategorie. Sogar ihre Notizzettel am Memobrett hingen in peniblen Reihen.

Alles schaute genauso sauber und aufgeräumt aus, als ich Kitty nach unten geleitete. Kein Dreck, keine Unordnung. Nirgends ein schiefes Bild oder ein kleiner Fleck auf der Tapete. Und dennoch wußte ich, daß diese Welt der Dolans mehr durcheinander geraten war, als sie sich je hätten träumen lassen.

Ich öffnete die Eingangstür und rief Kittys Mutter rein. Mittlerweile hatten sich zwei weitere Feuerwehrwagen und ein paar neugierige Nachbarn auf dem Rasen versammelt. Wild Bill sauste rum und brüllte: »Die Show ist vorbei. Geht nach Hause, Leute.«

Mrs. Dolan sah verwirrt und zerzaust aus. Kupferfarbene Strähnen hingen aus ihrem Haarknoten im Nacken. Maskarafäden liefen aus ihren verweinten Augen über das Gesicht. Ihre Kleidung war naß, die Strümpfe hatten Laufmaschen. Sie sah ihre Tochter und verlor das letzte bißchen Selbstbeherrschung.

»Kitty Dolan, was zum Teufel ist in dich gefahren? Bist du total verrückt geworden?«

»Tut mir leid, Mami.« Bei der Wut in der Stimme ihrer Mutter zuckte Kitty zusammen.

Dann schien der Frau plötzlich bewußt zu werden, daß ich daneben stand. Sie wandte sich an mich: »Mein Mann ist auf Geschäftsreise. Ich war drüben bei den Nachbarn und habe Bridge gespielt. Als ich vor ein paar Stunden heim kam, war Kittys Bett leer, und die Balkontür stand offen. Ich hab sie gerufen, aber sie hat nicht geantwortet. Dann habe ich versucht, sie selbst da runterzuholen. Ich hab mir fast den Hals gebrochen, aber sie wollte nicht mitkommen. Und dann hat sie gesagt, sie springt, wenn ich sie nicht in Ruhe ließe. Springen!!! Haben Sie so was Verrücktes schon mal gehört? Was um Himmels willen ist los mit dir, Kitty?«

»Reg dich nicht auf, Mami, bitte!«

»Mich nicht aufregen. Natürlich rege ich mich auf. Weißt du eigentlich, was du da abgezogen hast? Ich könnte dich ...«

Angstvoll drückte sich das Kind an mich und umklammerte meine Hand. Sie zitterte wie Espenlaub. Ich wußte nicht, wie ich den Schlag abmindern sollte. »Kitty ist überfallen worden, Mrs. Dolan. Jemand ist ins Haus eingedrungen und hat sie vergewaltigt.«

Langsam drangen die Worte durch ihre getünchte Fassade. »Was?«

»Sie lebt. Das ist das Wichtigste.«

Die Augen der Frau weiteten sich voller Entsetzen. »Wovon reden Sie? Das ist doch unmöglich!«

»Sie sollten sie zum Notarzt bringen«, drängte ich sie, »der könnte sie behandeln und eine erste Aussage aufnehmen.«

»Was redet Sie da, Kitty? Was hast du gemacht?«

»Ihre Tochter hat gar nichts gemacht, Mrs. Dolan. Ihr ist etwas passiert!«

»Was ist hier los, Kitty? Ich will jetzt sofort die Wahrheit hören!«

Das kleine Mädchen schluchzte und warf sich auf die Couch, rollte sich zusammen wie ein verletztes Tier. Ich kniete mich vor sie hin und hob ihr Kinn, so daß sie mir in die Augen sah. »Bleib hier, Kitty. Ich muß mit deiner Mami allein reden, nur eine Minute.«

Ich zog Kittys Mutter am Ellbogen raus auf die Diele und schloß die Tür. »Kitty braucht jetzt unbedingt all Ihre Liebe und Ihre Hilfe, Mrs. Dolan. Sie ist verletzt worden. Was sie überhaupt nicht braucht, sind Vorwürfe oder Schuldzuweisungen. Das war nicht ihre Schuld. Sie ist das Opfer!«

Mrs. Dolan trat einen Schritt zurück und wischte meine Annäherung weg wie nichts. »Nett, daß Sie sie da runtergeholt haben, aber alles andere geht Sie nichts mehr an, Frau ...?«

»Finn, Lennie Finn. Das einzige, was jetzt wichtig ist, ist Kitty da durchzuhelfen.«

»Ich kümmere mich schon um meine Tochter«, keifte sie.

»Genau das befürchte ich.«

»Was soll das heißen?«

»Ihr Ärger, Ihre Schuldzuweisung. Sie verdrehen die Tatsachen und werden sie versohlen.«

Sie richtete sich gerade auf und schaute mich trotzig und arrogant an. Ohne den Schnee und den finsteren Gesichtsausdruck hätte sie als gealterte Schönheitskönigin durchgehen können. Perfekt manikürt, teuerste, wenn auch durchnäßte Klamotten, alles vom Feinsten. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie diese aufgedonnerte, überprivilegierte Person fähig sein sollte, einem verletzten Kind aus seiner Qual herauszuhelfen.

Ohne Vorwarnung war plötzlich ihre Blasiertheit weg. Dümmlich schüttelte sie ihren Kopf. »Das ist unglaublich. Sie ist doch noch ein kleines Kind ...«

»Es ist schlimm, ich weiß.«

»Notarzt, sagen Sie. Muß das sein? Wir haben einen sehr guten Kinderarzt!«

Geduldig erklärte ich ihr, warum. Wichtige Beweismittel konnten so gesichert werden, und das Kind mußte auf körperliche Schäden hin untersucht werden, auch auf eventuell übertragene Geschlechtserkrankungen. Die Notaufnahme würde jemanden vom Stanford Center für Vergewaltigungsopfer rufen. Beide zusammen waren bestens ausgerüstet, um alle notwendigen Tests, eine vorbeugende Behandlung und unterstützende Beratung zu gewährleisten.

»Kitty darf sich auf keinen Fall umziehen oder waschen, bevor sie untersucht wird, Mrs. Dolan. Auch wenn sie es will, das ist ganz wichtig.«

Jetzt war ihre Überheblichkeit völlig verschwunden. Tränen flossen über das gestylte Gesicht. »Woher wissen Sie das alles?«

»Das gehört zu meinem Job. Kinderschändung ist leider kein Einzelfall!«

»Aber das ist so kalt, so furchteinflößend ...«

»Sie ist da in besten Händen. Am liebsten würde ich mit Ihnen kommen, aber ich hab noch Dienst.«

Sie wischte sich die Augen mit einem bestickten Tuch. Kajalstift beschmutzte die feine Spitze. »Ich fahre sie da hin!«

»Gut!«

Ich schaute auf die Uhr. Mehr als eine halbe Stunde war vergangen, seit ich auf das Dach geklettert war. Wahrscheinlich war Captain Perriman inzwischen selbst hochgeklettert, ganz zu schweigen vom Wild Bill, der die Geduld und Mentalität eines Kettenhundes hatte.

»Ich muß gehen. Wenn es noch irgendwas gibt, wo ich helfen kann, rufen Sie mich an!« Ich gab ihr meine Dienst- und auch meine Privatnummer.

»Kitty kann damit fertigwerden. Das müssen Sie wissen.«

Mrs. Dolan starrte mich traurig an und sagte nichts.

Das Kind lag noch so da wie vorher. Noch einmal kniete ich mich vor es hin. »Ich muß gehen, Kleines. Mach’s gut!«

»Müssen Sie wirklich weg?«

»Ja, Kitty, meine Schicht ist noch nicht zu Ende. Aber später schau ich noch mal nach, wie’s dir geht, okay?«

Sie schloß die Augen. Das Mädchen war total am Ende, eine ausgebrannte Kerze.

Unglaubliche Wut stieg in mir bei ihrem Anblick auf. Diese Bestie, die ihr das angetan hatte, mußte gefunden und bestraft werden. Er mußte dafür bezahlen, daß er dieses kleine Mädchen so verletzt hatte, daß er ihr Vertrauen und ihre Unschuld geraubt hatte.

Sicher konnte man Kitty Dolan helfen, mit Verständnis und einer professionellen Behandlung, mit der Zeit heilen diese Wunden. Aber dennoch hatte dieses grauenvolle Ereignis ihr Leben unwiderruflich verändert. Sie war jetzt gezwungen, furchtbaren Stürmen zu trotzen auf dem aufgewühlten Meer der Heilung.

Mit grausamer Klarheit konnte ich die Schmerzen des Kindes in mir fühlen. Ich konnte die Fakten nicht verschweigen und nicht leugnen. Als ich so alt war wie Kitty, war mir dasselbe passiert.

KAPITEL 3

Lennie

Ich wollte in jener Nacht einen Engel fangen!

Ein Jahr war seit dem Tod meiner Mutter vergangen. Ein Jahr, seit sich die spärlichen Reste meiner Familie am Grab versammelt hatte, um den Körper meiner Mutter in die Erde zu versenken. Ihr Platz war an der Seite meines Vaters, der drei Monate vor ihr an Herzversagen gestorben war.

Offiziell hieß es, meine Mutter wäre erstickt. Sie hatte in unserem Buick gesessen, bei laufendem Motor in der geschlossenen Garage. Als ich an dem Tag von der Schule nach Hause kam, fand ich sie quer im Sitz hängend. Sie war kreidebleich, ihre Lippen schimmerten bläulich. Ihr Kopf hing in einem so seltsamen Winkel vom Körper, daß ich in sinnlosem Mitgefühl Schmerzen im Nacken verspürte.

Andererseits hatte sie seit Vaters Tod nie mehr so friedlich ausgesehen. Ihre Finger waren gespreizt, ihr dunkles Haar umgab sie wie ein Heiligenschein. Auf ihren Lippen ein Grinsen, als hätte sie im letzten Moment noch etwas Unanständiges gehört.

Einen Abschiedsbrief gab es nicht. Der Untersuchungsrichter beschloß, daß es ein Unfall sei. Das war mir sehr viel lieber als die unvorstellbare Alternative. Seit Vaters Tod war meine Mutter ziellos durchs Leben geglitten, so schwach wie ein Papierschiffchen in einem Teich. Manchmal hörte sie mich gar nicht, wenn ich mit ihr sprach. An manchen Abenden vergaß sie völlig, etwas zu essen zu machen, das Baby zu baden, mich ins Bett zu bringen, alles, was sie vorher mit fast religiösem Eifer gemacht hatte. Somit lag es nahe und schien logisch, daß sie die Gefahr von ausströmenden Abgasen in der geschlossenen Garage nicht erkannt hatte. Ich stellte mir vor, daß sie total gedankenverloren war, als sie das tödliche Gas einatmete. In meinem Herzen konnte ich einfach nicht glauben, daß sie uns absichtlich allein gelassen hätte. Ich war sicher, daß sie uns dafür viel zu sehr geliebt hatte.

Auch noch nach einem Jahr standen mir alle Einzelheiten von ihrer Beerdigung plastisch vor Augen. Ich konnte den Geruch der lehmigen, frisch aufgeworfenen Erde riechen. Ich fühlte immer noch, wo mich die zu enge Sonntagskleidung an der Hüfte und am wachsenden Busen gedrückt hatte. Noch immer klingt das Geräusch, wie der Sarg runtergelassen wurde und wie Erdklumpen darauf aufschlagen, in meinem Ohr. Noch immer höre ich die finstere Stimme von Pater Cleary: »Und wandele ich durch ein finsteres Tal, so will ich ohne Furcht sein ...«

Die Trauergäste kamen mit in unser Haus in Peoria, Illinois. Frauen aus der Kirchengemeinde hatten den Tisch gedeckt, es gab Rinderbraten- und Putenscheiben, Brötchen und Kekse. Die Männer packten sich ihre Teller voll und verzogen sich ins Wohnzimmer, tranken ihren Whisky und heuchelten Anteil. Glücklicherweise waren Mary und Dennis Finn gestorben und nicht sie. Ihnen schmeckte alles noch, das Essen und die Drinks und der Rest ihres scheinbar unbegrenzten Lebens.

Mit meinem kleinen Bruder, den ich wie eine Puppe rumschleppte, zog ich durch die Trauergesellschaft und versuchte, die mitleidigen Blicke und das Getuschel zu ignorieren.

»Was wird aus den Kindern?«

»Sie werden wohl bei Marys Schwester bleiben ...«

»Bei diesem Schandmaul aus Connecticut?«

»Sie ist die einzige, die sie haben, die armen Kinder ...«