Schreiben für die eigenen Augen - Virginia Woolf - E-Book

Schreiben für die eigenen Augen E-Book

Virginia Woolf

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Beschreibung

Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur. Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT+KRITIK »Ein Dialog der Seele mit der Seele« (Virginia Woolf über ihre Tagebücher) Zur Erholung von ihrer schriftstellerischen Arbeit notierte Virginia Woolf fast täglich rasch und spontan, was ihr durch den Kopf ging. So entstand das einzigartige Tagebuchwerk, das ihr inneres und äußeres Dasein von 1915 bis zu ihrem Tod 1941 dokumentiert. Eine Auswahl aus diesen Aufzeichnungen macht unser Bild von ihrem Leben und ihrer Persönlichkeit um einige Klischees ärmer und um viele Nuancen reicher. Wir sehen, welchen Mut sie immer wieder ihren Ängsten und psychischen Krisen entgegensetzte – und wie genau sie ihre Umwelt beobachtete, mit Witz und Freude an Spott und Klatsch.

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Seitenzahl: 539

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Virginia Woolf

Schreiben für die eigenen Augen

Aus den Tagebüchern 1915-1941 (Fischer Klassik PLUS)

Herausgegeben von Nicole Seifert

Fischer e-books

Mit einem Nachwort der Herausgeberin.

Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT+KRITIK.

Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur.

1917

Montag 8. Oktober 1917

Den Anstoß zu diesem Tagebuchversuch gab die Entdeckung eines alten Tagebuchbandes in einer Holzschachtel in meinem Schrank, das ich 1915 führte, & das uns immer noch zum Lachen bringen kann über Walter Lamb.[1] Dieses wird also dem alten Plan folgen – nach dem Tee geschrieben, indiskret geschrieben, & im übrigen vermerke ich hier, daß L. versprochen hat, seine Seite beizufügen, wenn er etwas zu sagen hat.[2] Seine Bescheidenheit muß überwunden werden. Heute planen wir, ihm eine Herbstgarderobe zu besorgen & mich mit Papier & Federn auszurüsten. Dies ist der glücklichste Tag, den es für mich gibt. Es regnete natürlich ununterbrochen. London scheint unverändert, was mich an die Veränderungen erinnert, die es gab, als man ein Kind war. Da war ein Mann, der Stiefel kaufte, der solch ein Connaisseur von Stiefeln war, daß er unterschiedliche Schnitte & Nagelungen kannte; & sehr verärgert war, als man ihm sagte, sein Paar sei »schön & fest«. »Ich hasse schöne, feste Stiefel«, knurrte er. Offensichtlich kann man ein Stiefel-Connaisseur sein. Wir gingen durch Gough Square; Dr. Johnsons Haus ist hübsch, sehr gut gehalten, nicht so schäbig, wie ich erwartet hatte. Ein kleiner Square, hinter Chancery Lane eingeklemmt, & jetzt überall Druckpressen. Dies ist die beste Gegend von London zum Anschauen – nicht zum dort leben, finde ich jetzt. Als ich mein Manuskript zur Times trug, kam ich mir wie ein ortsüblicher Schreiberling vor.[3] Wir gaben es beim Pförtner ab & stolperten über Bruce Richmond, der an der Station Ludgate Hill den perfekten Gentleman in weißen Handschuhen hervorkehrte. Er schwenkte seinen Hut & verschwand.[4] Liz. hat einen Sohn; so erledigen sich unsere Befürchtungen wegen der Vaterschaft.

Dienstag 23. Oktober 1917

Wieder ein Sprung in diesem Buch, muß ich gestehen; aber wenn ich es gegen meine Laune schreibe, werde ich anfangen, es zu hassen; also ist die einzige Lebenschance, die es hat, daß Sprünge klaglos hinzunehmen sind. Ich erinnere mich jedoch, daß wir spazieren gingen, druckten, & daß Margaret zum Tee kam.[5] Wie blaß diese älteren Frauen werden! Die rauhe blasse Haut von Kröten, leider: M. neigt besonders dazu, den Glanz ihrer Schönheit zu verlieren. Dieses Mal wurden wir überschüttet mit der Coop.-Revolution; den Charakteren von Mr King & Mr May, & Eventualitäten.[6] Ich kriege gelegentlich ein Schwanzwedeln ab, was mich an die äußerst unbedeutende Stellung erinnert, die ich in dieser wichtigen Welt einnehme. Ich werde etwas deprimiert, etwas mehr geneigt Kritik zu üben – es ist eine Frage des Nicht-in-der-richtigen-Atmosphäre-Seins. L. empfindet vermutlich dasselbe gegenüber Gordon Square. Und dann beeindruckt mich die feine Rücksicht, die die Älteren & Fürsorglichen aufeinander nehmen: »muß nach Hause, sonst wird Lilian sich Sorgen machen«, Probleme von Müdigkeit oder Kälte, die ständig auftauchen – zum Teil der unverheiratete Status vielleicht; zum Teil das Gefühl, der Mittelpunkt der eigenen Welt zu sein, das Margaret ganz selbstverständlich hat. Aber natürlich erliege ich ihrer Nettigkeit & Tapferkeit immer wieder trotz verletzter Eitelkeit.

Sonntag 28. Oktober 1917

Immer noch keine Luftangriffe, vermutlich hält der Dunst am Abend sie ab, obwohl es still ist & der Mond völlig klar. Die Vielen, die diese Woche London verlassen haben, müssen sich etwas komisch vorkommen. Ein herrlicher kalter Oktobertag; Sonne rot durch die Blätter, die noch hängen. Um so viel in L.s Gesellschaft zu sein wie ich irgend kann, beschloß ich, mit ihm nach Staines zu fahren.[7] Wir gingen von Shepperton durch Laleham, & dann nach Staines am Fluß entlang. Flaches, sehr ruhiges Land, oder Land das fast schon Stadt wird. Rosa Sessel waren um einen vollen aber nicht luxuriösen Teetisch aufgestellt; eine Mannigfaltigkeit von Tellerchen, winzigen Messern, die Leute ermuntert, sich selbst zu bedienen. Mr Lock, der etwas behindert ist, war da, & bald erschienen sie alle: Alice, Flora, Clara & Sylvia – Boshaftigkeit würde einen sagen lassen, die ganze Kensington High Street ergieße sich in ein Zimmer. Das Normale daran beeindruckte mich. Nichts Schönes; nichts Präzises; sehr sonderbar, daß die Natur diesen Typus in so reichlichem Maß hervorgebracht hat. Dann sagte das Dienstmädchen, »Mr Sturgeon«; Flora rief, »Ich gehe«, rannte aus dem Zimmer; alle sagten, Oh! Ah! Wie wunderbar!, wie auf der Bühne, wo die ganze Szene sich tatsächlich hätte abspielen können. Wir gingen, nach dem 2. Akt; Tinker rannte los; wurde aber eingefangen, & so nach Hause, sehr kalt, & Herbert schaute herein, & hier sitzen wir am Kaminfeuer, & ich wünschte, es wäre nächste Woche um dieselbe Zeit.[8]

Donnerstag 22. November 1917

Ich habe in Garsington so viel geprahlt mit diesem Tagebuch & dem Reiz, es aus einem nie versiegenden Quell zu füllen, daß ich mich schäme, einen Tag zu verpassen; & doch besteht, wie ich sage, seine einzige Chance darin, auf meine Stimmung zu warten.[9] Ottoline führt übrigens auch eines, allerdings ihrem »inneren Leben« gewidmet; was mich darüber nachdenken ließ, daß ich ein inneres Leben nicht habe. Sie las mir aber einen Abschnitt vor, in dem ich gepriesen werde, also kommen die Realitäten doch manchmal hinein. Am Dienstag ging L. zu Williams & Norgate, die Angebote für ein 2/6 Buch [2 Shilling 6 Pence] machen – was überlegt sein will. Offensichtlich wollen sie ihn sehr; & können das nicht völlig verbergen trotz ihres Wunsches, hart zu verhandeln. Ich meine, ich wäre fertig, nachdem ich eine Seite niedergeschrieben habe. Jedenfalls kam Barbara am Mittwoch um anzufangen, & die Maschine streikte daraufhin völlig, da eine der Walzen einen Einschnitt hatte, & bockte, & da unser Vorrat an Ks ausging, konnte sie nur 4 Zeilen setzen.[10] Das tat sie aber schnell & ohne Fehler, so daß es vielversprechend aussieht. Sie radelte von Wimbledon her, ihr kleiner kurzgeschorener Kopf, die roten Backen, das leuchtende Wams machen, daß sie wie ein lebhafter Vogel wirkt; aber ich bin nicht sicher, ob ich dieses sehr betonte Erscheinungsbild besonders interessant finde. Es scheint immer zu sagen, »Jetzt sind alle Decks klar zum Manöver«, & das Manöver folgt nicht.

Ich hatte Dinner mit Roger & traf Clive.[11] Wir saßen am niedrigen quadratischen Tisch, der mit einem bunten Tuch bedeckt war, & essen aus Schalen, die eine jeweils andere Bohne oder ein Salatblatt enthalten: köstliches Essen zur Abwechslung. Wir tranken Wein & beendeten die Mahlzeit mit weißem Käse, den man mit Zucker ißt. Dann, uns herrlich über die Persönlichkeiten erhebend, diskutierten wir über Literatur & Ästhetik.

Donnerstag 6. Dezember 1917

Als ich schrieb, daß wir erst am Anfang unserer Tagesarbeit waren, gestern abend, war ich der Wahrheit näher als ich wußte. Nichts war uns so fern wie der Gedanke an Luftangriffe; eine bittere Nacht, kein Mond aufgegangen bis elf. Um 5 jedoch wurde ich von L. aufgeweckt und spürte unmittelbar die Präsenz der Geschütze: als würden alle Sinne in vollem Dress aufspringen. Wir nahmen Kleidung, Steppdecken eine Uhr & eine Taschenlampe, die Geschütze klangen näher als wir die Treppe hinuntergingen, um mit den Dienstmädchen auf dem alten schwarzen Roßhaarsofa in Steppdecken eingewickelt im Küchengang zu sitzen. Lottie sagte, daß sie sich schlecht fühle, und legte dann los mit einem stereotypen Geratter von Witzen & Bemerkungen, das beinahe die Geschütze übertönte.[12] Sie schossen sehr schnell, offenbar in Richtung Barnes. Allmählich klangen die Geräusche ferner, & schließlich hörten sie auf; wir wickelten uns aus & gingen ins Bett zurück. Zehn Minuten später stand es außer Frage dort zu bleiben: Geschütze offensichtlich in Kew. Wir sprangen auf, hastiger dieses Mal, denn ich erinnere mich, daß ich meine Uhr vergaß, & Mantel & Strümpfe hinter mir herschleifte. Die Dienstmädchen offensichtlich ruhig & sogar zu Scherzen aufgelegt. In der Tat redet man durch den Lärm hindurch, fühlt sich eher gelangweilt als sonstwas, daß man um 5 Uhr früh reden soll. Die Geschütze waren zeitweise so laut, daß das Pfeifen der aufsteigenden Granate erst auf die Explosion folgte. Ein Fenster, meine ich, klirrte. Dann Schweigen. Kakao wurde für uns gebrüht, & wir zogen wieder ab. Nachdem man seine Ohren aufs Hören eingestellt hat, kann man sie eine Weile lang nicht davon abbringen; & da es nach 6 war, rollten Karren aus Ställen, tuckerten Automotoren, & dann anhaltendes gespenstisches Pfeifen, das vermutlich bedeutete, daß belgische Arbeiter zur Munitionsfabrik gerufen wurden. Schließlich hörte ich in der Ferne Hörner; L. war zu diesem Zeitpunkt schon eingeschlafen, aber die pflichtbewußten Boyscouts kamen unsere Straße entlang und weckten ihn sorgfältig auf; mir fiel auf, was für einen sentimentalen Beigeschmack der Klang hatte, & wie Tausende alter Damen bei diesem Klang ihre Dankgebete emporschickten, & ihn (einen Boyscout mit kleinen Engelsflügeln) mit irgendeiner freudigen Vision in Zusammenhang brachten – Und dann schlief ich ein: aber die Dienstmädchen saßen mit ihren Köpfen aus dem Fenster gestreckt in der bitteren Kälte – Rauhreif weiß auf den Dächern – bis das Horn erklang, woraufhin sie in die Küche zurückgingen und dort bis zum Frühstück aufsaßen. Die Logik des Vorgehens entzieht sich mir.

Heute haben wir gedruckt & über den Angriff geredet, der, laut dem Star den ich kaufte, das Werk von 25 Gothas war, die in 5 Staffeln angriffen & 2 wurden abgeschossen. Ein herrlich ruhiger & schöner Wintertag, also ungefähr um 5.30 morgen früh vielleicht – – –

Freitag 7. Dezember 1917

Aber es gab keinen Luftangriff; & da der Mond abnimmt, sind wir bestimmt für einen Monat frei davon. Glücklicherweise kein Lehrling heute, was ein Gefühl von Feiertag entstehen läßt. Wir mußten es Barbara ziemlich deutlich sagen, daß auf diese Arbeit vielleicht keine weitere folgen wird. Sie weigerte sich den Lohn für die letzte Woche anzunehmen. So kann man ihr keinen Vorwurf machen. Niemand könnte netter sein; & doch hat sie die Seele des Sees, nicht des Meeres. Oder ist man zu romantisch & anspruchsvoll in seinen Erwartungen? Jedenfalls, nichts ist faszinierender als ein lebendiger Mensch; immer sich verändernd, sich widersetzend & nachgebend entgegen den Voraussagen, die man macht; das stimmt sogar für Barbara, die nicht eine der beweglichsten oder talentiertesten ihrer Art ist. Nessa kam wegen einer Gouvernante in die Stadt (Mrs Brereton wurde vorgeschlagen anstelle der meckernden & männersüchtigen Miss E.),[13] so beendete ich meinen Nachmittag in einem der großen weichen Sessel in Gordon Square. Ich mag das Gefühl von Raum & tiefem weitem Muster, das man dort bekommt. Ich saß 20 Minuten lang allein, ein Buch über Kinder & Sexualität lesend. Als Nessa kam, tranken wir Tee & es stellte sich heraus, daß Clive & Mary im Hause waren;[14] Norton kam, dieselbe Gesellschaft wie gewöhnlich. Wie gewöhnlich nach meinem Geschmack; so lebendig, so voll neuester Nachrichten; ein wirkliches Interesse für jede Art von Kunst; & auch für Menschen. Ich erwarte fast, daß L. mit all diesem nicht übereinstimmt. Ich urteile nach der Menge von Anregung im Hirn, die sich in mir abspielt & nach dem Gefühl von völlig befreiten Gedanken. Nicht daß M. H. den Mund öffnen würde, aber sie strömt stumme Sympathie aus. Ich mag auch Norton – all den Verstand, den er für die allererhabensten Zwecke in seinem Kopf gehortet hat, weshalb seine Kritik immer unvoreingenommen ist. Clive fängt mit seinen Themen an – dabei Nessa mit Bewunderung & Aufmerksamkeit überschüttend, was mich nicht eifersüchtig macht wie früher, als der Ausschlag jenes Pendels so viel meines Glücks mit sich nahm: jedenfalls meines Wohlbefindens. Maynard sagt, daß Bonar Law die Regierung hereingelegt hat; das ganze Land hinter Lansdowne, & die Regierung unfähig, sich an die eigenen Erklärungen zu halten.[15] Das kam von Lord Reading. Manchmal fällt mir auf, daß es in der Politik kein einziges Geheimnis gibt; alles kann aus den Zeitungen erraten werden. Nessa mußte bei Roger vorbeigehen & ich ging mit ihr & kaufte unterwegs Wurst & Käse für eine Abendgesellschaft. Roger ist im Begriff, einer der augenblicklich großen Namen zu werden als ein Maler absolut wahrheitsgetreuer & sehr unangenehmer Porträts.

Heute (Samstag) gingen wir nach Twickenham, wo Leonard in den Zug nach Staines stieg. Ich fand Marny vor, als ich zurückkam.[16] Es ist 6.30 & sie ist gerade gegangen; wenn ich also die nächsten 10 Seiten nicht mit Familienklatsch fülle & jederlei Art von Details, geschieht es nicht aus Mangel an Stoff. Laß mich etwas davon aufschreiben, falls ich mich erinnern kann – aber es geht so schnell & wird zu Asche ohne die Atmosphäre. Aber Florence Bishop, mit einem Marine-Arzt verheiratet, lebt in einer Wohnung in Earls Court – gibt einem Tiptree-Marmelade zum Tee & sieht aus wie ein Bild & ist sehr arm wegen der Schwächen des alten Bishop; aber ihr Mann ist auch schon älter & versorgt jetzt verwundete Soldaten in Zügen. Und wir haben schon lange keine Butter mehr gehabt, & manchmal können wir nicht mal die gute Sorte Margarine bekommen, aber ich will nicht bei Barker einkaufen, nicht nach dem, was der Brand an den Tag gebracht hat. Wrights Kohlenschuppen brannte vor ein paar Nächten hinter uns ab – die ganze Kohle verpulvert, & im letzten Winter war sie uns einmal völlig ausgegangen. Es war noch ein Samstag dazu, & ich ging von Laden zu Laden und bettelte um einen Eimer voll Kohle, & was meinst du, wen ich bei Knightsbridge getroffen habe? Kitty Maxse.[17] & sie sagte, Oh ich gebe dir Kohle – ich habe doch 2 Keller voll: & tatsächlich noch an demselben Nachmittag kam sie in einem Taxi vorgefahren mit einem Sack voll, & das half uns weiter, aber ich habe sie seit dem Tage nicht wiedergesehen, so vornehm sieht sie aus, & kein Jahr älter, obwohl sie 50 sein muß. Na ja, ich bin 55; & Toad 43 – aber man vergißt das Alter der Leute, & ich fühle mich bestimmt nicht alt; & du siehst aus wie 25 – Und Nessa sicher so reizend wie immer! (hier folgte die ganze Geschichte von Nessa, Clive, Duncan, Adrian & uns).[18]

Du liebe Güte, wie wir alle herumziehen – zum Teil wegen des Krieges sicherlich; obwohl ich mit manchen meiner alten Freunde noch verkehre, wie Miss Harris, die malt, weißt du, & wirklich sehr gut, aber sie will nichts ausstellen, weil sie sich nur als Amateur betrachtet, & sie ist jetzt sehr mit Kriegsarbeit beschäftigt. Und Hilda Lightbody, die sehe ich gelegentlich; obwohl sie den ganzen Tag lang Schienen aus Papiermaché macht – ja, sie ist Witwe, ihr Mann ist stark invalid gewesen – Und manchmal sehe ich Adeline, die mit Hervey lebt, den Winter über in Hastings, sie hatten nicht die Absicht dort zu bleiben, aber sie fuhren hin, um eine Abwechslung zu haben, & es gab keinen Grund dafür nicht dortzubleiben – am Meer, natürlich; & Millicent nicht sehr weit weg. Millicents Junge ist ja gestorben, & Virginia melkt Kühe auf Lord Rayleighs Anwesen in Essex. Sie mag Pferde mehr, aber sie konnte keine Pferde bekommen, & sie hat Kühe sehr gern. Ja, Millicent lebt immer noch in Hastings, obwohl es ihr nicht gefällt, aber Vere gefällt es, wegen dem Meer & sie kennen eine Menge Leute, & Millicent hat eine Reihe von Tanzabenden für junge Leute letzten Winter organisiert, obwohl ihr sicher nicht nach tanzen zumute war, & sie unterstützt das Musikfestival, obwohl sie keine Kriegsarbeit machen will; & Augusta hat Kent immer schon geliebt, & jetzt haben sie ein Haus in Kent & einen kleinen Garten & Bob arbeitet manchmal für einen Nachbarn, & so kommen sie ganz gut aus weißt du – alle Kinder fort in der weiten Welt jetzt. Es ist wirklich eine Schande, wie schnell sie groß werden – Halford schon ein richtig großer Junge – mit einer poetischen Seite, aber sehr praktisch, glücklicherweise, Janet sehr ähnlich wie Madge; & ich wünschte, Madge würde wirklich schreiben. Vielleicht wäre sie dann glücklicher, obwohl ich nicht glaube, daß Madge jemals glücklich sein kann, aber es ist ein wunderbares Werk & ich bin sicher, daß Will ihr sehr viel verdankt. Ich glaube, ich habe seit Jahren nicht so viel Klatsch erzählt. Und Kusine Mia tot, & Tante Mary umgekommen – ja. Das war außerordentlich traurig, aber besser als ein langes Krankenlager, meine ich doch! Und Herbert in allen Zeitungen; aber Lettice gefällt London überhaupt nicht, aber Herbert wohl, & sie fährt nach Sheffield zurück, um andere Luft zu schnuppern – & wenn die Luftangriffe kommen, gehen wir & sitzen mit Wales zusammen im Erdgeschoß. Aber sie sollten einem wegen der Hörner Bescheid sagen. Wirklich, als sie das erste Mal geblasen haben, dachte ich, es wären vielleicht die Deutschen höchstpersönlich, & ich ging hinaus auf den Treppenabsatz & traf eine Dame, obwohl es 2 Uhr nachts war, zum Ausgehen gekleidet, & sie hat mir gesagt – & c & c – –

1918

Donnerstag 10. Januar 1918

Gestern platzten unsere Rohre durch das plötzliche Tauwetter. Von scharfem Frost der Umschwung zu mildem Wetter in ein oder zwei Stunden. L[ottie]. & N[elly]. kamen vernünftig damit zurecht, aber wir sind ohne Bad. Nachmittags gesetzt, dann zum Drucker. L. blieb beherrscht; der kleine MacDermott besteht darauf, daß es eine mündliche Abmachung gab, daß er die Presse nur liefern muß, wenn seine aufgestellt würde. So milde, hartnäckig & verwirrt, daß wir keinen Eindruck auf ihn machten. In Wirklichkeit hält er uns für Amateure, mit denen man nicht ernsthaft umzugehen braucht. Wir sollen uns die Sache überlegen.

Freitag 11. Januar 1918

Ein weiterer Tag mit Herumsitzen, der aber eingetragen werden muß um festzuhalten, daß die Lords das Gesetz über das Wahlrecht für Frauen verabschiedet haben.[19] Ich fühle mich nicht sehr viel wichtiger – vielleicht etwas. Es ist wie ein Ritterschlag; könnte nützlich sein, um Leute zu beeindrucken, die man verachtet. Aber es hat natürlich noch andere Seiten. L. zum Lunch mit Ka & einem Serben; ich setzte & kann jetzt leicht eine Seite an einem Nachmittag fertigstellen.[20] L. zurück, & wir gingen eine Runde am Fluß & dann zum Tee nach Hause, sehr viele Bücher. (Endlich Keats’ Leben.)

Samstag 12. Januar 1918

Jetzt wo wir mit dem Drucken angefangen haben (wir sind auf Seite 18), gibt es nicht viel zu schreiben, obwohl der Tag so angefüllt zu sein scheint wie ein Puzzle mit aufeinander folgenden Dingen. Wir sind immer noch ohne Bad, & das macht einige andere Einschränkungen noch spürbarer, unter denen wir leiden. Heute können wir nur einen kleinen Rinderbraten bekommen, der eine Woche reichen muß. Man bekommt kein Fett; keine Margarine, keine »nutter«.[21] Butter ist auf 1 Pfund pro Woche herabgesetzt worden; Eier kosten 5 Pence das Stück, ein Huhn zwischen 10 und 15 Shilling. Mrs Langston bereitete das Sonntagsmahl letzte Woche aus Würstchen & Brot & Bratenfett – »seit 5 & 20 Jahren haben wir nicht mehr solch ein Sonntagsmahl gehabt.«

Nach dem Drucken genehmigen wir uns einen kurzen Spaziergang, & sahen eine Vision von Tinker – alles bis auf die Nase stimmte; aber jeder Hund hat einen unverwechselbaren Eindruck. Die Hoffnung auf Frieden wieder völlig zerbrochen; Politik wiedermal ein Rennen in alle Richtungen, soweit man sehen kann.

Donnerstag 24. Januar 1918

Der letzte Tag, an dem ich 35 bin. Man kann die danach kommenden nur mit Zittern schreiben: alle angehaucht vom Schatten der 40er. Wieder ein Frühlingstag; ich komme morgens ohne Kaminfeuer aus. Der einzige Nachteil ist das Fehlen eines Feuers, & jenes Gefühls, in einer Höhle der Behaglichkeit zu sein, & Nässe & Dunkelheit draußen. Draußen ist ein blasses Grau. Ich ging zur [London] Library, um eine Handvoll Geschichten über das Übernatürliche zu holen; traf Sir Henry Newbolt, ein schlankes grauköpfiges Wiesel, aber wir erkannten einander nicht;[22] dann fegte ich Charing Cross Road hinauf & hinunter, nach Keats’ Briefen fragend, aber es gab sie nirgendwo. Dann zum Club, wo ich Lytton allein antraf, & da uns nicht nach Reden zumute war, lasen wir unsere Zeitungen nahe beieinander.[23] Fredegond kam herein, aber nachdem ich mich etwas über ihre Telefonbotschaft lustiggemacht hatte, ging ich. Sie & Alix & Carrington hatten sich getroffen & gemeint, daß ich sie kritisierte, wollten sich das nicht gefallen lassen, riefen mich an, verlangten, daß ich es zurücknehme, was ich nur tun wollte, wenn sie ihre Beschwerde schriftlich niederlegten: das werden sie wohl nicht tun.[24] Sie sagen, daß ich sie deprimiere, & die einzige Erklärung dafür wäre, daß ich eine Sadistin bin. Das ist die erste Windung des Wurms. Barbara aber läßt jede Kritik an sich ablaufen, ohne daß sie eine Spur hinterließe. L. druckte heute 4 Seiten beim Drucker & kam erst um 6 zurück; eine unbefriedigende Arbeit aufgrund der Inkompetenz des Druckers.

Montag 11. März 1918

Ich habe heute nachmittag 7 Shilling für Bücher ausgegeben; eine Tatsache, die festgehalten werden muß, denn es ist das einzige Mal in diesem Jahr, daß ich einen Bücherkauf erwähne, oder das letzte Mal, vielleicht. Tatsächlich habe ich 12 Shilling Times-Geld angesammelt; dazu 5 Shilling als ein Geburtstagsgeschenk, das macht 17 Shilling – ein großartiger Gewinn. Zunächst aber durchkämmte ich die Stadt nach Pralinen oder Süßigkeiten. In sämtlichen Geschäften gab es nicht eine einzige Unze Schokolade; nur ein paar einfache viereckige Drops, wie man sie früher in einer Tüte für einen Penny kaufte. Für eine halbe Krone kriegt man jetzt ein Pfund davon. Mit einer halben Krone hätte man in früheren Zeiten einen Kohleneimer voll gekauft. Dann fuhr ich oben im Bus, denn der Tag hatte die Qualität eines Junitages, nur frischer, & auch trauriger, zum Laden von Nutt, um einen Leopardi zu kaufen; dann zu Mudies, wo ich Mills Buch über die Freiheit kaufte; dann zur Charing Cross Road, wo ich den Happy Hypocrite von Max Beerbohm kaufte; & Exiles of the Snow, von Lancelot Hogben. Auf diese Art & Weise gab ich 7 Shilling aus. Aber es amüsierte mich zu entdecken, daß die Lust auf Bücher durch den geringsten Anstoß belebt wird. Ich will einen Band Congreve. Ich wette, ich hätte für 2 Shilling 6 Pence einen haben können, der alle Stücke enthält, die ich je lesen werde; aber dieser Dämon flüsterte mir doch zu, daß ich nach der Baskerville-Ausgabe in zwei Bänden suchen könnte. Der Buchhändler teilte mein lustvolles Verlangen und steigerte es dadurch; kurzum, ich bat ihn, sich danach umzuhören. Er wollte sich nicht auf einen schätzungsweisen Preis festlegen, woraus ich schließe, daß er auf meine Lust setzt, es haben zu wollen, wenn ich es sehe. Und schließlich bekommt man für sein Geld nie so viel Gegenwert wie bei einem schönen Buch – offensichtlich geht es abwärts mit mir. Ich stöberte in seinen Regalen herum, wie in den meisten anderen Läden. Er ist vorsichtig, wählerisch, ein Büchermensch; keine Gelegenheitsangebote, aber die Art von Büchern, die man gerne kaufen würde. Diese Buchläden wirken wie aus dem 18. Jahrhundert. Die Leute kommen vorbei & schwatzen mit dem Inhaber über Literatur, der, in diesem Falle, ebensoviel über Bücher weiß wie sie. Ich hörte eine lange Unterhaltung mit einem Pastor, der in Paddington einen Laden voller Elzevirs entdeckt hatte.[25] Er schmähte die Regierung, besonders wegen ihrer Papierverschwendung. Sie sollten alle Zeitungen abschaffen & ein Blatt Papier in der Post aufhängen, falls es irgendwelche Neuigkeiten gäbe.

Dann zum Club, wo ich L., Fredegond, Gerald [Shove], Goldie, Brailsford & Alix antraf. Der Lyriker Hogben war auch da. Ich legte sein kleines Buch auf die Armlehne meines Sessels. Gerede der üblichen Art. Das Buch des armen Hogben ist genau das öde nachgemachte Zeugs, das man hätte erwarten können; oder sogar schlimmer als man hätte erwarten können – was Lytton »illiterat« nennen würde; unter dem Einfluß von Swinburne, unglaublich unbegabt, & schwächlich rebellisch.

Nach Hause. L. zu einer Völkerbundversammlung.

Dienstag 12. März 1918

Diese Seite sollte ganz dem Lob des Wetters gewidmet sein. Eine der sonderbaren Auswirkungen des Frühlings in den Vororten ist, daß er abends eine erstaunliche Fülle männlichen & weiblichen Gesangs hervorruft. Wir sitzen bei offenen Fenstern, & eine Dame trällert Töne in offensichtlicher Ekstase. Aber es soll ihr verziehen sein, wenn man bedenkt – Hier ein paar Tatsachen. Ich saß in Kew auf einem schattigen Platz, den ich mir ausgesucht hatte; ich sah zwei Heide-Schmetterlinge [Hipparchia pamphilus oder Tithonus]; Weiden, Krokusse, Blausterne, alles knospt & blüht. Schwarze Kleidung wirkt wie staubiges Leichentuch. Was Pelze betrifft, kann man nur lachen. Wir trafen uns in Kew.

Ich kann sagen, »die Times verschmäht mich«. Um noch Salz in diese Wunde zu streuen, bekam L. 2 Bücher von der Nation. Es ist die zweite Woche, in der ich verschmäht werde; & das Ergebnis ist, daß ich meinen Roman in einem erstaunlichen Tempo schreibe.[26] Wenn ich weiterhin entlassen bleibe, werde ich in ein oder zwei Monaten fertig sein. Es wird sehr spannend. Wir stellen beide fest, daß wir in letzter Zeit mit einer ungeheuren Geschwindigkeit geschrieben haben: L. 40000 Worte, & dabei hat er mit dem Buch als solchem noch gar nicht angefangen; ich weit über 100000 –

Donnerstag 14. März 1918

Hätte ich gestern abend in diesem Tagebuch geschrieben, wofür ich zu aufgeregt war, dann hätte ich eine Reihe Fragezeichen ans Ende gesetzt. Was mich in Aufregung versetzte, war die Abendzeitung. Nachdem ich den ganzen Nachmittag gedruckt hatte, ging ich später hinaus, kaufte den Star, warf unter der Kneipenlampe einen Blick darauf & las, daß der Premierminister unsere Gebete bräuchte. Entscheidungen von großer Tragweite stünden uns ins Haus. Wir Briten müßten zusammenhalten. In einer Woche oder sogar nur in wenigen Tagen müßten wir Tatsachen ins Auge sehen, die das Britische Weltreich auf immer verändern würden. Wir schlossen daraus auf ein Friedensangebot an Frankreich: aber es scheint nur L[loyd]. G[eorge].s Methode zu sein, die Stimmung in seiner Gefolgschaft anzuheizen. Jedenfalls wurde ich angeheizt. Gerald, der zum Abendessen kommen sollte, rief an um mitzuteilen, daß ein Angriff erwartet würde & er sich »bereithalten« müßte.[27] Die Nacht war bedeckt, & wir ließen uns nicht allzusehr in Alarmbereitschaft versetzen, teilweise weil die Warnung aus offizieller Quelle stammte.

Meine Kündigung ist widerrufen worden. Ein großes Buch über Pepys kam an, das ich den Abend über gelesen habe, & nun erwartet ein weiteres über Swinburne mich am Bahnhof. Ich bin gespalten, ob es angenehmer ist, Bücher zu bekommen, oder ohne Unterbrechung Romane zu schreiben. Aber es könnte mir ein paar Shilling einbringen, um meinen Baskerville zu bezahlen.

Donnerstag 18. April 1918

Ein schwerwiegender Fehler in der Anlage dieses Buches ist das Gebot, daß es nach dem Tee geschrieben werden soll. Wenn Leute zum Tee kommen, kann ich ihnen nicht sagen, »Warten Sie bitte einen Augenblick, während ich einen Bericht über Sie verfasse«. Sie gehen, & es ist zu spät, um damit anzufangen. Und so kommt es, daß ich genau dann, wenn ich die Gedanken & Beschreibungen für diese Seite zusammenbraue, die herzzerreißende Empfindung habe, daß die Seite nicht da ist; dann liegen sie verstreut auf dem Boden. Tatsächlich ist es schwer, sie wieder aufzulesen. Und in diesem Augenblick schreckt die schiere Länge der Liste nicht vermerkter Besucher mich davor zurück, überhaupt anzufangen. Richter Wadhams, Hamilton Holt, Harriet Weaver, Ka, Roger, Nessa, Maynard, Shepherd, Goldie, ganz zu schweigen von der Guild & Alix & Bryn & Noel (die man den 17er Club nennen könnte:) sie alle haben sich seit Sonntag angesammelt; & jeder verdient etwas, um seinen besonderen Platz zu markieren; & zum Zeitpunkt, als sie da waren, markierte ich ihn auch. Aber wie kann man den Eindruck von Wadhams & Holt zurückholen?[28] Es war ein äußerst gelungener Besuch [am Sonntag, dem 14. April]. Wir hatten uns sehr sorgfältig vorbereitet. Sie hielten Reden & sahen sich die Bilder an & beglückwünschten L. alle wie vorausgesehen. Sie beeindruckten mich zunächst durch ihre Lebendigkeit, die in Verbindung mit ihren großen wohlgenährten Körpern sie mächtig erscheinen ließ; dann, weil sie mich mit Respekt behandelten; & schließlich, weil sie schlicht & stark in den Völkerbund verliebt waren. Richter Wadhams hatte jeden Minister in Amerika »anvisiert«. Sie standen mit allen Gruppierungen der Welt in Verbindung, so weit ich dahinterkam, mit einer Armee von Stenographen, die persönlich gefaßte Broschüren überall dorthin verschicken, wo eine Broschüre auch nur hängenbleiben kann. Verglichen damit ist unser Einsatz zahm. »Wir haben Ihnen, Mr Woolf, den ersten Rang eingeräumt unter den Denkern, die sich mit dem Krieg konstruktiv auseinandersetzen – in dieser Minute kann ich Ihren Platz auf meinen Regalen sehen – … Entschuldigen Sie, Sie haben das Wort »sozial« mehr als einmal verwendet. Ich verstehe nicht genau, was sie damit meinen …« Wir erklärten es beide 10 Minuten lang. »Nein; ich verstehe nicht.« »Nun, wir müssen jetzt zu den Sidney Webbs; aber wir haben kaum mehr als Ihre Oberfläche berührt, Mr Woolf, & wir müssen das nächste Mal tiefer gehen – Ihnen vielen Dank, Mrs Woolf, daß wir Ihr Haus sehen durften« & weg waren sie.

Aber fast sofort erschien Harriet Weaver.[29] Hier erwiesen sich unsere Voraussagen als völlig falsch. Ich tat mein Bestes, um sie dazu zu bringen, aus sich herauszugehen, trotz ihrer äußeren Erscheinung, ganz wie es der Herausgeberin des Egoist anstand, aber sie blieb unverändert bescheiden, kritisch-abwägend & gesittet. Ihr adrettes mauvefarbenes Kostüm kleidete die Seele ebenso wie den Körper; die grauen Handschuhe, die gerade ausgerichtet neben dem Teller lagen, standen für häuslichen Ordnungssinn; ihre Tischmanieren waren die einer wohlerzogenen Henne. Es kam keine Unterhaltung in Gang. Vielleicht war die arme Frau behindert durch ihr Empfinden, daß das, was sie in dem Paket in braunem Packpapier bei sich hatte, in überhaupt keiner Weise zu ihrem eigenen Innern paßte. Aber wie ist sie dann überhaupt mit Joyce & anderen in Berührung gekommen? Warum sucht der Unrat dieser Leute sich ihren Mund als Sprachrohr? Weiß der Himmel. Sie ist inkompetent, was die geschäftliche Seite angeht, & unsicher, welche Schritte sie unternehmen sollte. Wir sahen uns beide das Manuskript an, das ein Versuch zu sein scheint, die Grenzen des Ausdrucks weiter hinauszuschieben, aber immer alle in dieselbe Richtung. Und also ging sie. Und Ka kam & mußte Rizinusöl aus einem Eierbecher trinken & lag auf dem Sofa & mußte beinahe erbrechen & hatte eine unruhige Nacht & fühlte sich am nächsten Morgen besser. […]

Donnerstag 6. Juni 1918

Diese Lücken sind wetterbedingt. Es ist nicht das Wetter, um sich am Kaminfeuer niederzulassen & es sich gemütlich zu machen. In der Tat bereitet mir das Lesen gewisse Schwierigkeiten. Die Fenster stehen beide offen; die Nachbarskinder spielen im Garten; das übliche Gesinge ertönt aus dem Zimmer der Gesanglehrerin über der Waschküche; die Vögel singen laut in den Bäumen. Ich möchte grasbedeckte Räume durchstreifen. Es ist unmöglich, sich zu konzentrieren. Daher gehen die Dinge vorbei, ohne aufgezeichnet zu werden. Ziemlich viel Geselligkeit spielt sich in diesem Wetter ab – Adrian & Karin waren am Sonntag zum Dinner bei uns; sie mit entschlossen künstlerischem Flair, das etwas Bedrückendes hat; leuchtendes Grün, mit kräftiger eingesetzter Stickerei.[30] Sie leben ziemlich außerhalb unserer Welt; außerhalb aller Welten, will mir scheinen, obwohl ich mich da irren kann. A. macht sich nie die Mühe, jemanden aufzusuchen, & gemeinsam stellen sie einen zu kompakten Block dar, um bei einer Gesellschaft angenehme Gäste abzugeben. A. war amüsant, trotz allem. Aus Voreingenommenheit halte ich meine eigenen Verwandten für ziemlich bemerkenswert. Er kann einen wirklich zum Lachen bringen mit seinen Geschichten über Saxon: »Fünfzehn Minuten braucht er, um von der liegenden in die sitzende Stellung zu gelangen.« A. ist ein guter Beobachter, maliziös, aber freundlicher als früher. Er hat den Geschmack, & sie die Energie. Ich habe auch Alix wiedergesehen – genaugenommen sie eingeladen, mit mir hier zu Abend zu essen, als L. nicht da war. Ich meine der zarteste Schimmer einer Dämmerung zeichnet sich an ihrem kohlschwarzen Horizont ab. Sie ist in der Lage sich vorzustellen, daß sie eines Tages ein Buch finden könnte, das sie lesen möchte. Sie hat es mit Berties Mathematik versucht & es aufgegeben, hat aber meinen Vorschlag der Geschichte der Jurisprudenz nicht völlig verworfen. Sie möchte an etwas arbeiten, das niemandem wichtig ist; & das nie benutzt werden wird oder gesehen oder gelesen, & für das man weder mehr noch weniger als 3 Stunden am Tage aufbieten muß.

Dann kam Carrington zum Tee zu mir, da L. wieder eine Rede hielt. (Seine Aktivitäten sind jetzt nicht mehr zu zählen – mit diesem Völkerbund & all seinen bösen Machenschaften. Krieg & Frieden, & deren Möglichkeiten, wozu man noch die beharrlichen Schwarzen & das 17er Club-Komitee zählen muß.) Carrington blieb über 2 Stunden; & das allein empfinde ich als ein Zeichen von Jugendlichkeit. Sie ist sonderbar in ihrer Mischung aus Impulsivität & Befangenheit. Manchmal frage ich mich, worauf sie hinaus will: unendlich bereit gefällig zu sein, versöhnlich, rastlos & aktiv. Ich vermute, der Sog von Lyttons Einfluß bringt ihr seelisches Gleichgewicht stark durcheinander. Sie ist immer noch erfüllt von einer enormen merkwürdigen Bewunderung für ihn & uns. Wieweit das von Urteilskraft zeugt, weiß ich nicht. Sie betrachtet ein Bild wie ein Künstler es betrachten würde; sie hat die Strachey-Bewertung von Menschen & Kunst übernommen; aber sie ist ein so geschäftiges, eifriges Geschöpf, so rot & stabil, & gleichzeitig wißbegierig, daß man nicht umhin kann sie zu mögen. Sie versorgte mich mit dem Klatsch der letzten Wochen. Jos hat seine taube Gouvernante geheiratet & dadurch die Hoffnungen von weiß Gott wievielen Marjories zerstört. Sie ist auf die schroffste Art & Weise vor die Tür gesetzt worden, gedemütigt vor all ihren Freunden – so würde ich es jedenfalls empfinden. Lytton beklagt sich, daß die Kritiker seine Urteile nicht angegriffen haben. Sie haben voneinander abgeschrieben & ihm nicht sehr differenzierte Komplimente gemacht. Doch sein Buch wird neu aufgelegt; das Lob der Älteren, der Ottolines & Goldies, ist überschwenglich.[31] Ich habe es noch nicht zu Ende gelesen; in der Tat habe ich mich davor gedrückt, meine eigene Meinung zu formulieren, da sie recht kompliziert ausfallen könnte. Jedenfalls werde ich nicht jetzt damit anfangen, da ich im Begriff bin, das Abendessen zu machen & in die Stadt zu fahren, um die Zauberflöte zu hören.[32] Und Oliver hat eine neue Geliebte genommen, & Barbara & Saxon haben Asheham verlassen, & mehr Klatsch fällt mir im Augenblick nicht ein.[33]

Montag 24. Juni 1918

Die Völkerbundintrige hat sich nicht zu unseren Gunsten entwickelt, als Folge verschiedener Winkelzüge, die Sir Willoughby nach der Generalversammlung unternahm. Aber ich bin nicht kompetent genug, um darüber einen klaren Bericht abzugeben. Was mich amüsiert, ist, wie Adrian sich in einen Redner verwandelt hat, einen Agitator, einen Mann mit Überzeugungen. Ich kann das nicht ganz ernst nehmen; ich meine, daß ich das teilweise seinem Bedürfnis zuschreibe, seine eigene Haltung als »C. O.« [Conscientious Objector][34] zu rechtfertigen. Er ist etwas einfältig; arbeitet aber Punkte aus, setzt Briefe in Umlauf, produziert Konvertiten & organisiert Zusammenkünfte der Erwählten im 17er Club, wo die extremsten Maßnahmen geplant werden. Es ist merkwürdig, wie sich die Leute unweigerlich in solche Splittergruppen aufspalten & nicht mehr zusammengebracht werden können, wobei jede den Vollbesitz des Richtigen für sich beansprucht. Aber diese ganze Woche habe ich mich über das Zumutbare hinaus mit der großen Dienstmädchenfrage herumgequält. Da ich die Etappen nicht festgehalten habe, werde ich nicht jetzt damit anfangen. Es ging um die Frage, ob N[elly] & L[ottie] für 3 Monate zu Nessa gehen sollten. Zunächst stimmten sie freudig zu; dann zögerten sie; dann erbaten sie sich die Zusicherung, daß sie zu uns zurückkommen könnten; dann willigten sie formell ein; dann weigerten sie sich vehement; dann erschien plötzlich Trissie als Abgesandte; blieb über Nacht, argumentierte, gewann den Fall & verlor ihn wieder. Schließlich fanden sie & ich eine Witwe mit Kind in Soho, die die Stelle annahm; & jetzt ist alles wie es vorher war, nach mehr Unterredungen, Emotionen, Briefen, Telegrammen, Verhandlungen, Kompromissen & diplomatischen Schritten als nötig gewesen wären, um ganz Europa in Flammen aufgehen zu lassen. Trissies Ruf hat, so weit ich es beurteilen kann, in unseren Augen endgültig gelitten; die anderen sind im Wert leicht gestiegen. An einem bestimmten Punkt dieser Agonie kamen Gertler & Kot zum Dinner zu uns.[35] Gertler ist ein dicklicher weißer junger Mann, der sich für die Gelegenheit in Sackhosen sehr adrett gemacht hatte. Sein Gesicht ist etwas angespannt & verkniffen; aber die Bezeichnung, die er offensichtlich für sich wünscht, ist »kraftvoll«. Alle Juden haben etwas Komprimiertes. Sein Verstand hat gewiß eine kraftvolle Spannkraft. Er ist offensichtlich auch ein ungeheurer Egoist. Er gedenkt durch schiere Willenskraft die Kunst zu erobern. Aber abgesehen von dieser Art von Aggressivität, lohnte sich das Gespräch mit ihm durchaus. L. fiel seine erstaunliche Schnelligkeit auf. Er hätte uns fast seine ganze Lebensgeschichte erzählt. Mein Gefühl bei ihm war, wie ich es auch gegenüber manchen Frauen kenne, daß unnatürliche Unterdrückung bei ihm in unnatürlichen Behauptungswillen umgeschlagen ist. Er sah sich prüfend unsere Möbel & Bilder an. Poliertes Pensionsmobiliar gefalle ihm am besten, sagte er. Er habe niemals Verwandtschaftsgefühle für irgendjemanden empfunden. Er hält sich für sehr viel schlauer als die meisten Maler. Kot saß wohlwollend schweigend dabei und tat, als würde er kaum wahrnehmen, was er vor Augen hatte. Beide beschrieben ihre jüdischen Familien. Ich habe das Gefühl, daß auf Gertler, ebenso wie auf Murry & Katherine, der Schatten der Unterwelt liegt.[36] Man könnte ihm nicht trauen; im Grunde, denke ich, ist er skrupellos. Kot ist anders – eher von der Art des handfesten Pensionsmobiliars, aber mit einem Hauch von Romantik.

Margaret kam zum Besuch; welcher mit einer ungeheuerlichen Breitseite cooperativer Fachsimpelei eröffnet wurde; Klagen, Ambitionen & übersteigerte Erwartungen; alles übertrieben, fand ich, wenn man ihren wirklichen Wert bedenkt. Die Abstimmung im Kongreß gegen den Frieden hat für sie unvorstellbares Gewicht & Entsetzen. Sie spricht immer noch davon, nächstes Jahr zurückzutreten; aber dabei wurden wir von einer seltsamen Attacke in einem von L.s Augen unterbrochen; er stürzte davon zum Apotheker, und mit Margaret alleingelassen lästerte ich nur noch. L. ließ sich von Fergusson eine kleine Fliege herausnehmen; kam zurück & machte wieder weiter, & M. blieb bis zum letzten Zug. Sie ist ein feines Exemplar einer Frau im öffentlichen Leben; ein Typus, der schließlich nicht weniger ausgeprägt ist als der literarische, obwohl als solcher noch nicht so umfassend studiert & beschrieben. Ihre Absonderlichkeiten amüsieren mich auch dann noch, wenn ich, um die Wahrheit zu sagen, längst aufgehört habe, ihre Intrigen & Verleumdungen auseinanderhalten zu können. Aus Gewohnheit empfinden sie sich als zu Tode geritten, mit Arbeit überhäuft, ohne einen Moment Ruhe; & kein einziges Mal seit ich sie kenne hat Margaret ihren Gesundheitszustand anders als sehr müde genannt. Aber diese Eigenheiten nehme ich nicht besonders ernst; & ihre Direktheit & außerordentliche Charakterstärke nötigen mir immer Bewunderung ab. Hätte sie einen schärferen Verstand, oder einen subtileren gehabt, oder irgendeine Disziplinierung, die ihr nie zuteil wurde, sie hätte Wunder vollbringen können. Ich vermute manchmal, daß sie ihre Arbeit für weniger gut hält als sie hätte sein sollen. Oder vielleicht ist es nur der entsetzliche Schatten des Alters, in den niemand, weder Roger noch Goldie noch irgendeiner von ihnen, ohne Schauer eintreten kann.

Aber diese Bemerkungen über Personen im öffentlichen Dienst gelten genauso für Ka. Sie aß gestern abend bei uns & schlief hier & fuhr heute morgen pünktlich in ihr Büro. Mit etwas Anstrengung kann sie auch über andere Dinge reden, aber sie scheint niedergebeugt & gekrümmt unter einer Last von Verantwortung, was ich gegenwärtig für eine Art Korsett halte. Außerdem sinniert sie über den Krieg. Ihr eigenes Glück verschwand vermutlich völlig durch Ruperts Tod; & sie ist wohl im Begriff, sich auf ein Leben einzustellen, das unendlich ärmer & kälter ist als sie erwartet hatte.[37] Falls das stimmt, dann ist ihre Illusion über den Wert eines Schreibtisches in der Reederei & ihre Halluzination über ihren eigenen gehetzten, erschöpften, qualvollen Zustand eine Gnade. Uns erschienen sie doch recht übertrieben. Es ist vor allem die typische Büroatmosphäre, die übliche Einstellung. Man hat ihr in Newnham College die Leitung eines Hauses angeboten. So treten wir alle in die Reihen der Leute mittleren Alters ein, der Verantwortlichen, der Lastenträger. Das macht mich etwas melancholisch. Als Versager würden wir jung bleiben, das wenigstens.

Heute nachmittag vor dem Tee habe ich die letzten Wörter von Katherines Geschichte gesetzt – 68 Seiten.[38]

Dienstag 2. Juli 1918

Meine Hand zittert nicht mehr, doch vibriert mein Geist zu sehr, was immer der Fall ist nach einer Invasion von Besuchern; unerwartete, & nicht sehr einfühlsame. Man hat Unsinn geredet; man schämt sich; sie haben sich nicht wohl gefühlt; der Kontakt zwischen ihnen war schwierig. Ich las gerade beim Tee Macaulays Leben als Mrs Woolf angemeldet wurde. Edgar & Sylvia kamen vorbei, da sie gerade durch Richmond unterwegs waren. Er ist sehr viel netter als sie; wie ich wohl schon in diesem Buch festgestellt habe, halte ich sie für den absoluten Durchschnitt ihres Geschlechts, ihrer Gesellschaftsschicht & ihres Alters; in Anbetracht des Geburtsortes Putney & der Mittelschichts-Herkunft & der eher bescheidenen Verhältnisse. Millionen wie sie werden jedes Jahr von der großen Maschine hervorgebracht. Doch werden sie obendrein mit einer Reihe vorgestanzter Bemerkungen ausgestattet, also verplauderten wir die 20 Minuten – & jetzt sind sie fort. Aber was hat ihn bewogen, sie zu heiraten? »Mein lieber Junge«, nennt sie ihn. Ich habe heute nachmittag angefangen, K. M.s Geschichte zu falzen; & ging beim Drucker vorbei, der nur halbwegs versprechen wollte, die Presse morgen frei zu haben. Jedes nur mögliche Hindernis wird uns in den Weg geschleudert, obwohl wir unser Bestes tun, nächste Woche damit herauszukommen. Die Grippe, die überall wütet, ist nebenan eingezogen.

Montag 29. Juli 1918

Ich bin gelähmt von der Aufgabe, ein Wochenende in Garsington zu beschreiben. Ich vermute, wir produzierten miteinander rund eine Million Wörter; hörten uns noch sehr viel mehr an, hauptsächlich aus dem Munde von Mrs Hamilton, die an ihrem Halsband zerrt wie ein Spaniel & hauptsächlich die großen nußbraunen starrenden Augen eines solchen hat. Gertler war da; Shearman & Dallas zum Tee; Brett, Ottoline, 3 Kinder & Philip. Das Band, das alles von Anfang bis Ende zusammenhielt, war Philips Angriff auf Murry in The Nation wegen seiner Rezension von Sassoon. Halb war er stolz auf sich & halb war es ihm unangenehm; auf alle Fälle wurde mir unterstellt, auf Murrys Seite zu stehen, bevor auch nur 10 Minuten vergangen waren; & dann, um zu beweisen, daß er recht hatte, las Philip dreimal, wie mir schien, Murrys Artikel, dessen Brief & seinen Brief an Murry vor, seine Argumente betonend, & mit erhobenem Finger, damit wir aufpaßten. Und dann gab es noch Sassoons Dankschreiben. Ich glaube, Ott. war etwas gelangweilt. Glücklicherweise war das Wetter schön, das Essen gut, & wir strömten recht glücklich durcheinander, & ohne uns ernsthaft zu langweilen, was mehr ist als man von einem Wochenende verlangen kann. In der Tat war ich, aus irgendeinem Grunde, sehr zufrieden. Mein Bett wirkte wie Schichten eines äußerst elastischen Rasens; & dann ist der Garten fast melodramatisch vollkommen, mit seinem grauen rechteckigen Becken & rosa Bauernhäusern, seinem weichen weißgrauen Stein & riesigen sanften dichten grünen Eibenhecken. Diese Wege wandelten wir entlang; ein- oder zweimal mit Ott., einmal mit Mrs Hamilton. Sie arbeitet mit ihrem tüchtigen Verstand. Hat keinen Pfennig eigenes Geld; & verfügt über den eifrigen, schwer arbeitenden Verstand einer Berufstätigen und verdient sich immer ihren eigenen Lebensunterhalt. Ich bin nicht sicher, ob sie im Vergleich mit Ott. nicht sehr gut abschnitte. Kurz nach dem Tee wanderten wir drei davon »in Richtung Wald«. Aber wir langten natürlich niemals dort an. Ott. setzte sich sehr bald auf ein Gatter & besprach den Charakter von Lady Margaret Sackville; & wie gewöhnlich beklagte & bewunderte sie genau die Charaktereigenschaften die sie, so könnte man meinen, aus erster Hand kannte.[39] Ihr Gedankengang ist jedoch immer geradezu verwirrend verschlungen; & ich glaube, sie weiß oft nicht, warum sie eine bestimmte Richtung verfolgt. Die Schwierigkeit ist, daß jeder, der ihr zuhört, irgendein heimliches Motiv ausmacht; & deshalb wirkt ihr Reden ziemlich abschweifend & ermüdend. Als wir einen Hügel in der Sonne halb erklommen hatten, blieb sie stehen, stützte sich auf ihren Sonnenschirm, ließ ihren Blick vage über die Landschaft schweifen & fing eine Rede über die Liebe an. Ein Wind schien die Hälfte ihrer Wörter wegzublasen – ein weiterer Grund, warum es anstrengend ist, ihr zuzuhören –

»Ist es nicht traurig, daß sich heutzutage niemand mehr wirklich verliebt? Es ist das Allerungewöhnlichste – ich meine, die Menschen sehen einander nicht mehr als Ideal. Sie fühlen nicht, daß jedes Wort einfach zu wunderbar ist, nur weil der andere es ausgesprochen hat. Bei Bertie ist das natürlich der Fall – aber dafür ist seine Wahl oft nicht die glücklichste.«

An dieser Stelle sagte ich, hauptsächlich um uns wieder auf den Heimweg zu bringen, daß die Liebe sehr viele verschiedene Bedeutungen habe; & daß es absurd wäre, sie auf die romantische Liebe begrenzen zu wollen. Ich behauptete auch, daß man Gruppen von Menschen lieben könnte, & Landschaften. Unglücklicherweise bewegte diese Bemerkung Ott. dazu, sich wieder auf ihren Sonnenschirm zu stützen & sehnsüchtig ein Weizenfeld zu betrachten.

»Ja. Ich liebe das – so wie es ist – die Kurve dieses Weizenfeldes scheint mir ebenso göttlich zu sein wie irgendein menschliches Wesen. Ich bin schon immer so gewesen, seit ich mich erinnern kann. Ich liebe auch die Literatur –«

»Ich liebe ganz absurde Dinge – die ILP [Independent Labour Party] zum Beispiel«, sagte Mrs Hamilton.

Endlich bewegten wir uns wieder weiter, & wir fragten die arme alte Ziege warum sie, bei dieser Leidenschaft für Literatur, nicht schreibe.

»Ach, ich habe doch keine Zeit – niemals irgendwie Zeit. Außerdem, mein Gesundheitszustand ist so entsetzlich – Aber das Glück, schöpferisch tätig zu sein, muß jedwedes andere übersteigen, Virginia.«

Ich sagte, das sei zweifellos der Fall; obwohl ich finde, die Bemerkung hätte auch Mrs Hamilton mit meinen müssen. Wir schleppten uns durch das Dorf zurück, wo sämtliche Bauern auf der Straße herumlungerten, mit ihren Pfeifen & ihren Hunden & ihren Babies. Die leutseligsten & leider auch untertänigsten Grußformeln wurden ausgetauscht; wobei die blendende Erscheinung von Ott. mit ihren Perlen auf die Landarbeiter weder falsch noch lächerlich zu wirken schien, sondern wie ein Teil der aristokratischen Show, für die sie gezahlt hatten. Niemand lachte. Alte Damen in Schwarz blieben nur zu bereitwillig stehen, um über das warme Wetter zu reden. Alle schienen sie etwas aufgeregt & sehr darauf bedacht, sich beliebt zu machen. »Sehr nette Leute, nicht wahr?« sagte sie, als wir ins Haus traten; & ich wette, nichts in den nächsten 300 Jahren wird sie zu etwas anderem machen.

Man führte mich in Gertlers Studio & zeigte mir seine massive »unnachgiebige« Teekanne (um Bretts Wort zu verwenden).[40] Er ist ein resoluter junger Mann; & wenn man gute Bilder machen kann indem man will, daß sie gut werden, dann wird er Wunder bewirken. Kein niederes Motiv hat eine Chance bei ihm; & deshalb setze ich keine sehr großen Stücke auf ihn. Es ist eine zu moralische & intellektuelle Angelegenheit; oder vielleicht ist die natürliche Begabung nicht üppig genug, um sein Gewissen & seine Willenskraft zu überdecken. Er sagt geradeheraus, was er denkt, sitzt sehr aufrecht; alles an ihm eng gespult, gespannt, muskulös; seine Kunst ist für ihn oft eine Marter, erzählte er mir. Er verstehe aber nun endlich, daß er die Form in den kräftigsten Farben malen will. Er ist besessen von der Form. Er sieht eine Lampe als eine drohende, dominierende, überwältigende Masse Materie. Schon als Kind haben ihn die Festigkeit & die Umrisse von Gegenständen gequält. Ich riet ihm, um der Kunst willen, bei Verstand zu bleiben; zu erfassen, & nicht zu übertreiben, & Glasscheiben zwischen sich & seine Materie zu legen. Genau das, sagte er, sei jetzt sein persönlicher Wunsch. Aber er kann Musik aus dem Pianola für gleichwertig mit selbstgemachter halten, da sie die Form hergibt & Anschlag & Ausdruck nichts bedeuten.

Mittwoch 7. August 1918

Das Ashehamer Tagebuch verschluckt meine peinlich genauen Beobachtungen von Blumen, Wolken, Käfern & Eierpreisen; & da wir allein sind, gibt es keine anderen Ereignisse zu berichten.[41] Unsere Tragödie war, daß wir eine Raupe zertraten; unsere Aufregung die Rückkehr der Dienstmädchen von Lewes gestern abend, beladen mit L.s ganzen Kriegsbüchern & der English Review für mich, mit Brailsford über einen Völkerbund & Katherine Mansfields Bliss. Ich warf Bliss hin mit dem Ausruf, »Sie ist erledigt!« In der Tat weiß ich nicht, wieviel Vertrauen in sie als Frau oder Schriftstellerin diese Art von Geschichte überleben kann. Ich muß, fürchte ich, die Tatsache akzeptieren, daß ihr Geist eine sehr dünne Krume ist, ein oder zwei Zoll tief über sehr unfruchtbarem Fels. Denn Bliss ist lang genug, um ihr die Möglichkeit zu geben, tiefer zu gehen. Stattdessen begnügt sie sich mit oberflächlicher Gescheitheit; & die ganze Konzeption ist armselig, billig, keineswegs die Vision, wie unvollkommen auch immer, eines interessanten Geistes. Sie schreibt auch noch schlecht. Und die Wirkung war die, wie gesagt, daß ich einen Eindruck bekam von ihrer Abgestumpftheit & Härte als Mensch. Ich werde es noch einmal lesen; aber ich vermute nicht, daß ich meine Meinung ändere. Sie wird fortfahren diese Art von Sachen zu machen, völlig zu ihrer eigenen & Murrys Zufriedenheit. Ich bin jetzt erleichtert, daß sie nicht gekommen sind. Oder ist es absurd, diese ganze persönliche Kritik an ihr in eine Geschichte hineinzulesen?

Jedenfalls war ich sehr froh mit meinem Byron weiterzumachen.[42] Er hat wenigstens die männlichen Tugenden. In der Tat amüsiert es mich, wie mühelos ich mir seine Wirkung auf Frauen vorstellen kann – besonders auf eher dumme oder ungebildete Frauen, die nicht auf seinem Niveau waren. Es sind auch so viele, die ihn für sich reklamieren wollten. Schon als Kind (wie Gertler sagen würde, als wäre er damit schon als besonders bemerkenswerte Person ausgewiesen) hatte ich die Angewohnheit, voll & ganz in irgendeine Biographie einzutauchen & meine imaginäre Konfiguration der Person mit jedem kleinsten Fetzen von Information, die ich über sie fand, aufbauen zu wollen. Während dieser Passion schien der Name Cowper oder Byron oder wer es auch war auf den unwahrscheinlichsten Seiten aufzutauchen. Und dann, plötzlich, rückt die Figur in die Ferne & ist nur eine der gewöhnlichen Toten. Ich bin sehr davon beeindruckt, wie außerordentlich schlecht B.s Gedichte sind – jedenfalls die, die Moore fast sprachlos vor Bewunderung zitiert. Warum hielten sie diese Albumverse für das herrlichste Feuer der Dichtung? Es liest sich kaum besser als L. E. L. oder Ella Wheeler Wilcox.[43] Und sie brachten ihn davon ab, das zu schreiben, was er schreiben konnte, wie er sehr wohl wußte, nämlich Satiren. Er kehrte aus dem Osten zurück mit Satiren (Parodien von Horaz) im Gepäck & Childe Harold. Man redete ihm ein, daß Childe Harold das beste Gedicht wäre, das je geschrieben worden sei. Aber als junger Mann glaubte er nie an seine Gedichte; bei einer so selbstsicheren, dogmatischen Persönlichkeit ein Beweis, daß er nicht die Begabung hatte. Die Wordsworths & Keats’ glaubten daran mit der Intensität, mit der sie überhaupt etwas glauben konnten. Was seinen Charakter betrifft, fühle ich mich oft etwas an Rupert Brooke erinnert, wiewohl Rupert da schlechter abschneidet. Jedenfalls besaß Byron eine großartige Kraft; seine Briefe beweisen es. In vieler Hinsicht hatte er auch ein sehr angenehmes Wesen; obwohl er, da niemand ihm durch Spott seine Affektiertheiten austrieb, mehr Ähnlichkeit mit Horace Cole entwickelte als man wünschen würde. Nur eine Frau hätte ihn auslachen können, & die verehrten ihn stattdessen. Ich bin noch nicht bis zu Lady Byron vorgedrungen, aber ich vermute, daß sie, anstatt zu lachen, nur mißbilligte. Und so wurde er »byronisch«.

Dienstag 10. September 1918

Ich habe die letzten fünf Minuten mit dieser Kladde vor mir damit verbracht, zwei ertrunkene Fliegen mit meiner Federspitze aus meinem Tintenfaß zu fischen; aber ich beginne zu begreifen, daß das eines der Unterfangen ist, die völlig unmöglich sind – absolut unmöglich. Weder Darwin noch Plato würden es mit meiner Federspitze schaffen. Und jetzt nehmen die Fliegen zu & lösen sich auf; heute sind es drei. In Asheham fallen mir natürlich Darwin & Plato ein; aber darin bin ich keine Ausnahme. Meine intellektuelle Arroganz wurde heute morgen gemaßregelt, als ich von Janet hörte, daß sie Don Quichotte & Paradise Lost liest, & ihre Schwester abends Lukrez.[44] Ich hatte geglaubt, daß niemand in Sussex in diesem Augenblick Paradise Lost liest. Janet vertritt die typische Ansicht, daß Don Quichotte mehr Humor hat als Shakespeare. Shakespeares Derbheit wird sie schmerzen, das verstehe ich; sie wird das wohl mit dem Intellekt anpacken. Ihre ganze Generation geht zu engstirnig mit dem Verstand an die Bücher heran, auf der Suche nach Bedeutung statt einfach zum Vergnügen weiterzulesen, was mehr oder weniger meine Art ist, & deshalb natürlich die ergiebigste & beste. Margaret soll es nicht so gut gehen. Ich bin eher hartherzig, da ich die Erwartung hege, irgendwann einmal etwas zu meinem Nutzen zu lernen – über Altersleiden im allgemeinen und Margarets im besonderen. Sie scheint mir in einer Atmosphäre zu leben, wo kalte Füße mehr Gewicht haben als andernorts eine Bronchitis – ein Teil der Spannung ihres Lebens, wie es das Essen für Karin ist & Bücher zu besprechen für mich. Und dann noch das aufmerksame besorgte Echo, das Lilian & Janet abgeben! Margaret dominiert, & sie, denen Selbstlosigkeit Vergnügen bereitet, überschwemmen sie mit Mitgefühl & entwickeln irgendwie eine andere Gesundheitsskala für M. als für die übrige Menschheit – aber das klingt etwas phantastisch & entspringt teilweise der Überlegung, daß ich, wenn ich nett wäre, M. einen langen liebevollen heiteren Brief schreiben würde. Was mich daran hindert, sind meine Vorbehalte gegen Wohltätigkeit gegenüber den Alten. Ich möchte weder wohltätig umsorgt werden, noch andere umsorgen; & ich habe das Gefühl, daß die Art von Brief, den man bei einer solchen Gelegenheit schreibt, ein Akt der Gefälligkeit ist, & als solcher weder angetragen noch entgegengenommen werden sollte. Unweigerlich nähert sich der Sozialarbeiter dem Nicht-Sozialarbeiter mit der Absicht, das zu kriegen, was dieser geben kann & dabei den Gebenden ein Weniges an Geringschätzung spüren zu lassen. Der Gebende kann nichts Besseres sein als einer, der Unterhaltung liefert. Langeweile ist das legitime Königreich der Philanthropen. Sie herrschen in der Metropole.

Obwohl ich nicht der einzige Mensch in Sussex bin, der Milton liest, habe ich vor, meine Eindrücke von Paradise Lost niederzuschreiben, während ich damit beschäftigt bin. ›Eindrücke‹ gibt ziemlich genau das wieder, was in meinem Kopf nachgeblieben ist. Ich habe viele Rätsel ungelesen gelassen. Ich bin zu schnell weitergeeilt, um den vollen Geschmack auszukosten. Jedoch begreife ich & stimme auch in gewissem Maße der Meinung zu, daß dieser volle Geschmack der Lohn höchster Gelehrsamkeit ist. Mich beeindruckt der extrem große Unterschied zwischen dieser Dichtung & jeder anderen. Er liegt, will mir scheinen, in der sublimen Abgehobenheit & Entpersönlichung der Gefühle. Ich habe nie Cowper über das Sofa gelesen, aber ich kann mir denken, daß das Sofa ein herabgekommener Ersatz für Paradise Lost ist. Das Wesentliche bei Milton ist ein einziges Ganzes aus wunderbaren, schönen & meisterlichen Beschreibungen von Engelskörpern, Schlachten, Fluchten, Wohnstätten. Er handelt von Schrecken & Kolossalem & Verkommenheit & Erhabenem, aber nie von den Leidenschaften des menschlichen Herzens. Hat je ein großes Gedicht so wenig Licht auf die eigenen Freuden & Leiden geworfen? Ich bekomme keine Hilfe, um mir ein Urteil über das Leben zu bilden; ich habe kaum das Gefühl, daß Milton gelebt oder Männer & Frauen gekannt hat; außer in den grämlichen Bemerkungen über die Ehe & die Pflichten der Frau. Er war der erste Maskulinist; aber die Geringschätzung entspringt bei ihm dem eigenen Unglück & klingt gar wie das letzte gehässige Wort in seinen häuslichen Streitereien. Aber wie ebenmäßig, stark & kunstvoll ausgeführt das alles ist! Was für eine Dichtung! Ich kann mir denken, daß sogar Shakespeare danach ein wenig wirr wirken könnte, persönlich, heiß & unvollkommen. Ich kann mir denken, daß dies die Essenz ist & nahezu alle andere Dichtung die Verdünnung davon. Schon allein die unsagbare Feinheit des Stils, der eine Nuance nach der anderen hervortreten läßt & einen in der Anschauung gefangen hält, lange nachdem die im Vordergrund ablaufenden Geschäfte erledigt sind. Tief darunter wird man noch weiterer Kombinationen, Verwerfungen, glücklicher Einfälle & Meisterlichkeiten gewahr. Darüberhinaus, obwohl sich nichts wie Lady Macbeths Horror oder Hamlets Aufschrei finden läßt, kein Mitleid oder Mitgefühl oder intuitives Erkennen, sind die Gestalten majestätisch; sie enthalten die Summe vieler Vorstellungen, die sich der Mensch von unserem Platz im Universum gemacht hat, von unseren Pflichten gegenüber Gott, von unserer Religion.

Samstag 12. Oktober 1918

Die erste Woche in London ist immer besonders reichhaltig; & die reichhaltigen Wochen haben immer die Tendenz zu verstreichen, ohne daß man sie festhält. Ich habe auch meinen Jahrestag zu begehen; dieses Tagebuch ist ein Jahr alt, & wenn ich zurückblättere, sehe ich, wie man genau dieselben Dinge wiederholt. Zum Beispiel gingen wir diese Woche L. einen Mantel kaufen; letztes Jahr kauften wir Stiefel. Wieder stellte sich die Frage einer Abendgesellschaft; wieder das, was ich euphemistisch eine »Auseinandersetzung« nennen könnte. Nessa war auch in London, & ich hatte Dinner mit ihr & Clive, nur daß Duncan auch dabei war & wir in Gordon Square aßen.[45] Aber die Versammlung von Lord Grey hat keine Entsprechung im letzten Jahr; auch hätte ich auf gar keinen Fall damals schreiben können, wie ich es jetzt schreiben kann, daß die morgige Morgenzeitung Nachrichten von einem Waffenstillstand bringen könnte. Möglicherweise sind die Kampfhandlungen nächste Woche um diese Zeit vorbei. Alles was wir in dieser Woche unternommen haben, hat diesen außergewöhnlichen Hintergrund von Hoffnung gehabt; eine ungeheuer vergrößerte Variante des Gefühls, an das ich mich als Kind erinnern kann, wenn Weihnachten näherrückte. Die Northcliffe-Zeitungen tun was sie können, um die Unabdingbarkeit & die Freuden des Krieges zu betonen. Sie stellen unsere Siege groß heraus, damit uns der Mund wässrig wird nach mehr; sie schreien vor Freude, wenn die Deutschen die irische Post versenken; aber sie zeigen auch eine gewisse Besorgnis, daß Wilsons Bedingungen akzeptiert werden könnten. L. ist gerade aus Staines zurückgekommen mit einer Zeitung, die offensichtlich mißvergnügt berichtet, daß das Gerücht umgehe, Deutschland stimme dem Rückzug zu. Es soll natürlich nicht, wird hinzugefügt, irgendwelche Bedingungen stellen dürfen. Derweil steckt Philip mittendrin, & der Sohn von Maurice Davies ist gefallen. […]

Dienstag 15. Oktober 1918

Ich hätte nicht gedacht, daß ich so bald eine Begegnung mit einem Minister würde beschreiben müssen – obwohl wir tatsächlich, ohne daß es unser besonderer Wunsch wäre, in einen Kreis zu geraten scheinen, wo die offiziellen Größen gelegentlich auftauchen. Das ist die Auswirkung der [International] Review, vor allem; aber Herbert Fishers Besuch hatte nichts mit der Review zu tun; er hatte ganz offensichtlich etwas mit alten Familienbanden zu tun. Ich hatte mich am Sonntag allein zum Tee niedergesetzt mit meiner entsetzlichen Penny-Zeitung vor mir (die Deutschen hatten spät am Samstagabend sich mit dem Rückzug einverstanden erklärt), L. war in Sutton, um über unsere Kolonien zu referieren & die Dienstmädchen waren ausgegangen, als es klingelte & ich mehrere Gestalten hinter der Scheibe sah. Als ich die Tür öffnete, war ich im ersten Augenblick völlig verwirrt; da standen Olive & M. Heseltine & Herbert Fisher.[46] Die H.s gingen, & Herbert kam herein, wie sie es vorher ausgemacht hatten. Ob ich wohl nervös oder stolz war oder sonst was außer interessiert & begierig, ihm die Neuigkeiten aus der Nase zu ziehen? Ich glaube, ich war keinen Augenblick lang aufgeregt. Zunächst einmal sieht er nicht mehr so schmal & intellektuell aus; seine hohlen Wangen haben sich gerundet; seine Augen haben jenen blassen frostigen Ausdruck, den blaue Augen mit dem Älterwerden bekommen; sein Verhalten ist durchweg sehr ruhig, schlicht, & wenn er nicht spricht ziemlich betrübt & gedämpft. Die Zahl der Todesfälle in seiner Familie haben das vielleicht bewirkt; aber ich glaube fast, daß das Leben in London ihm den Wunsch ausgetrieben hat, ständig Studienanfängern kluge Sachen zu erzählen. Jedenfalls redeten wir ohne Unterlaß & ohne Schwierigkeiten.

»Wir haben heute den Krieg gewonnen«, sagte er sofort. »Ich habe heute morgen mit Milner gesprochen, & er sagt, wir werden spätestens zu Weihnachten Frieden haben. Die Deutschen haben begriffen, daß sie keine Rückzugsgefechte liefern können. Der deutsche Generalstab hat diese Tatsache erkannt, & sie haben den – wie ich finde – bemerkenswerten Mut gezeigt, es zuzugeben. Natürlich können wir ihre gegenwärtigen Bedingungen nicht annehmen. Damit würden sie ja immer noch als größte Militärmacht Europas dastehen. Sie könnten in zehn Jahren wieder anfangen. Aber die Entscheidung liegt bei den Franzosen. Lloyd George fährt am Montag nach Paris; sie bestehen aber auf dem Rückzug aus Elsaß-Lothringen als Garantie. Wir werden wahrscheinlich auch die Entwaffnung bestimmter Regimenter fordern. Aber wir haben den Krieg gewonnen.«

Dann erzählte er mir, wie wir den Krieg gewonnen haben, seiner Meinung nach, nämlich indem wir irgendwann im Juli ein enormes Risiko eingegangen sind & die englische Front ohne Verstärkung ließen & die Armee abzogen, um Foch bei seinem Schlag zu unterstützen, der mit französischer Präzision 10 Minuten vor dem deutschen Angriff losging. Wenn das nicht funktioniert hätte, hätte zwischen den Deutschen und den Kanalhäfen nichts gestanden. Es bestehen jetzt gute Aussichten für eine vollständige Niederlage der deutschen Armee; Foch sagt, »ich habe meine Schlacht noch nicht gehabt«. Trotz der extremen Rachsucht unserer Presse & der französischen Presse glaubt Herbert, daß wir Fochs Schlacht vereiteln werden, teilweise weil die Deutschen jede Bedingung annehmen werden, um ihr zu entgehen. »Lloyd George hat mir wiederholt versichert, daß er großzügig den Deutschen gegenüber sein will. ›Wir wollen ein starkes Deutschland‹, sagt er. Der Kaiser wird wahrscheinlich gehen. Oh ich war am Anfang ein großer Bewunderer der Deutschen. Ich bin dort in die Schule gegangen & habe viele Freunde dort, aber ich habe meinen Glauben an sie verloren. Der Anteil an Unmenschen ist bei ihnen höher als bei uns. Man hat sie dazu erzogen, brutal zu sein. Aber es hat sich nicht ausgezahlt. Jedes ihrer Verbrechen ist mißglückt. Niemand könnte einen neuen Krieg durchstehen. In 10 Jahren könnten sie ja ganz London mit ihren Flugzeugen auslöschen. Es hat uns 1000 Pfund gekostet, einen Deutschen an der Somme [1916] zu töten; jetzt kostet es uns 3000 Pfund. Aber der Anteil der Männer, die nie verwundet wurden oder auch nur irgendetwas Schreckliches gesehen haben, ist sehr groß. Seeley erzählte mir neulich, daß er mit Tausenden & Abertausenden von Soldaten gesprochen hätte, & sie alle wünschten sich, daß die Lebensbedingungen wie im Kriege weitergingen, nur »ohne diese verdammten Granaten«. Es wird Unruhen geben, wenn sie zurückkommen. Sie werden ihr altes Leben zu langweilig finden. Ich werde sie umerziehen, das ist wahr; aber das wird nicht gleich anfangen – nicht in meiner Zeit. Ich möchte als nächstes die Universitäten reformieren; & dann habe ich genug. Ich kann ohne Amt nicht im Parlament bleiben. Höchstwahrscheinlich werde ich nach Oxford zurückgehen und lehren.«

So unterhielten wir uns weiter, nicht viel anders wie in einem Roman von Mrs Humphry Ward.[47]