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Mit seinen Essays gelingt Karl-Markus Gauß ein kenntnisreiches und leidenschaftliches Plädoyer für die universalen Werte der Aufklärung. Seine Beschäftigung mit der jüdischen Geistesgeschichte, den Versäumnissen zeitgenössischer Gedenkpolitik, intellektueller Selbstzufriedenheit und nicht zuletzt dem neuen Antisemitismus leistet eine ebenso umfassende wie fundierte Kritik an den herrschenden Zuständen. Sein neuer Essayband vereint nuancenreiche Porträts wenig bekannter Gestalten der jüdischen Geistesgeschichte in Österreich, Polen, Litauen, Triest mit »ungeordneten Aufzeichnungen«, in deren Zentrum der Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 und sein Fortdauern stehen. Es sind Texte wider den Zeitgeist, die überzeugend darzulegen vermögen, dass der Antisemitismus von jeher eines anstrebt: eine Welt ohne Juden.
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Seitenzahl: 159
Veröffentlichungsjahr: 2025
Karl-Markus Gauß
Essays wider Zeitgeist und Judenhass
Karl-Markus Gauß
Essays wider
Zeitgeist und Judenhass
Czernin Verlag, Wien
Gedruckt mit Unterstützung der Stadt Wien, Kultur, des Landes Salzburg, des Zukunftsfonds der Republik Österreich und des Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus
Gauß, Karl-Markus: Schuldhafte Unwissenheit. Essays wider Zeitgeist und Judenhass / Karl-Markus Gauß
Wien: Czernin Verlag 2025
ISBN: 978-3-7076-0873-1
© 2025 Czernin Verlags GmbH, Kupkagasse 4, 1080 Wien, Österreich
Autorenfoto: Stefan Winkler
Lektorat: Florian Huber
Umschlaggestaltung und Satz: Mirjam Riepl
Umschlagabbildung: Wikicommons, Daniel Maleck Lewy
Druck: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN Print: 978-3-7076-0873-1
ISBN E-Book: 978-3-7076-0874-8
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1 DAS UMJUBELTE MASSAKER Anmerkungen zum 7. Oktober 2023
2 EIN ORT NAMENS EBENSEE Rede zum Tag der Befreiung des Konzentrationslagers
3 VERGEBLICHE WARNUNG, KÜHLE VERZWEIFLUNG Jean Améry und der Antisemitismus
4 WÜRDIGUNG UNTER VORBEHALT Dankesrede zum Jean-Améry-Preis für internationale Essayistik
5 VON DER PIAZZA OBERDAN INS KZ NATZWEILER Erinnerung an Boris Pahor
6 EIN KAMPF UMS VERGESSEN UND ERINNERN Polen zwischen Jedwabne und Warschau
7 EPITAPH AUF DAS SCHTETL Die Zugehörigkeiten und Fremdheiten des Grigori Kanowitsch
8 HERZL, DER ÖSTERREICHER Vom Zionismus als österreichischem Projekt
9 ZWEI WIENER GYMNASIASTEN IN PALÄSTINA Wie aus Poldi Weiss der »Islamische Löwe« und aus Eugen Hoeflich der »Jüdische Pförtner des Orients« wurde
10 WIEN DARF NICHT CHICAGO WERDEN Porträt des amerikanischen Ottakringers Theo Waldinger
11 EINE WELT OHNE JUDEN Marginalien zu Amos Oz, Philip Roth und Hugo Bettauer
12 SCHULDHAFTE UNWISSENHEIT Ungeordnete Aufzeichnungen 2023/2024
NACHWEISE
Als die Proteste im Iran 1978 zur Massenbewegung wurden, beschloss der Philosoph Michel Foucault, von Paris nach Teheran zu fliegen. Er wollte begreifen, welche Kraft die Aufständischen befähigte, das waffenstarrende Regime des Schahs Reza Pahlewi hinwegzufegen und die amerikanischen Imperialisten eines ihrer mächtigsten Vasallen zu berauben. In den Jahren zuvor hatte Foucault in einflussreichen Studien dargelegt, dass die europäische Aufklärung der bürgerlichen Disziplinierung den Weg bereitet, institutionell in Gefängnissen oder Kliniken ein wahres »Kerkersystem« erprobt und diesem schließlich die gesamte Gesellschaft unterworfen habe. Die iranische Revolution faszinierte ihn, gerade weil sie keine Revolution nach westlichem oder östlichem, bürgerlichem oder bolschewikischem Vorbild war, sondern etwas Neues in die Welt brachte. Er nannte es die »politische Spiritualität« und meinte im konkreten Falle damit die Einheit von antiimperialistischem Kampf und schiitischem Märtyrertum. Der Atheist, Kritiker des bürgerlichen Staates und Antikolonialist hatte den Islamismus entdeckt.
Foucault hat dieser neuen Form von Revolution begeisterte Artikel in der französischen Presse gewidmet und wurde vom Ayatollah Khomeini, der noch im Pariser Exil lebte, in Audienz empfangen. Der Sturz des Regimes war übrigens keineswegs das Werk der religiösen Opposition allein gewesen, gegen den Schah waren auch liberale Bürgerinnen, sozialistische Gewerkschafter, kommunistische Studenten auf die Straße gegangen und verfolgt worden. Wenige Monate, nachdem der Schah außer Landes gejagt und Khomeini aus dem Exil zurückgekehrt war, wurden sie zu Abertausenden als Ungläubige inhaftiert, gefoltert, ermordet – von jenen Islamisten, mit denen sie vorher gemeinsam gekämpft, die Gefängniszellen geteilt, Hungerstreiks durchgestanden hatten.
Foucault war gleichwohl offenbar weder willens noch fähig, auf den sich bildenden Gottesstaat sein eigenes Instrumentarium der Kritik anzulegen, das er aus der Analyse der bürgerlichen Gesellschaft gewonnen und zu deren Verwerfung angewandt hatte. Kein Wort hat er später darüber verloren, dass die Islamisten die Revolution kaperten, mit Blutgerichten jedwede Opposition verfolgten, über die Frauen eine patriarchale Zwangsherrschaft verfügten, den Antisemitismus zur Staatsdoktrin erklärten. Richtig wütend wurde er nur, als ihn feministische Iranerinnen im französischen Exil baten, seine Augen doch nicht vor der Entrechtung der Frauen zu verschließen. Da ließ er sie wissen, dass sie mit ihrer Kritik nur westliche Vorurteile gegen den Islam schüren würden und nicht verstanden hätten, was die historische Stunde verlangte: die eigenen Belange hintanzustellen gegenüber der einzigartigen Chance, die Erde endlich vom verdammten Kapitalismus mitsamt seiner europäischen Erbschaft zu befreien.
Bis heute hat bei manchen linken Intellektuellen im Westen niemand einen so schweren Stand wie die Oppositionellen der islamischen Länder, die die Menschenrechte nicht für Lug und Trug aus europäischem Ungeist halten, sondern auf deren universeller Gültigkeit bestehen und die religiöse Despotie anprangern. Notorisch werden sie als Kollaborateure des Imperialismus verleumdet, die der Islamophobie unentwegt neuen Zündstoff zuführen würden. Man halte sich vor Augen: Angehörige der Kolonialmächte von gestern, die es heute antikolonialistisch geben, klären staats- wie religionskritische Bewohner der einstigen Kolonien ohne jeden Genierer und mit ungebrochen fortwirkendem Dünkel der Überlegenheit darüber auf, wie sie sich angesichts der globalen Dekolonialisierung zu verhalten haben!
Was ist es, das viele sich selbst so deklarierende »Antiimperialisten« und »Antiimperialistinnen« reihum mit reaktionären Despotien sympathisieren lässt? Ich meine, es ist ihre beständige Suche nach etwas, das sie in ihren Ländern des Wohlstands nicht mehr zu finden wissen: jene revolutionäre Klasse, Schicht, Gruppe, die das Zeug hätte, mit der eigenen Emanzipation zugleich die Menschheit aus Unterdrückung und Entfremdung zu befreien. In der marxistischen Sicht der Dinge war die internationale Arbeiterklasse zu diesem Werk berufen, aber diese Aufgabe traut ihr nach all den ökonomischen, sozialen, technologischen Entwicklungen, ihrer Fragmentierung als Klasse und der politisch betriebenen Entsolidarisierung kaum jemand mehr zu.
Seit sechzig Jahren suchen die revolutionswilligen Geister des Westens daher nach Ersatz. Einmal waren es die Befreiungsbewegungen Asiens oder Lateinamerikas, deren heroische Kämpfe (die unter ganz anderen Bedingungen begonnen und geführt wurden) zum Vorbild für alle Welt dienen sollten – im Dschungel der Großstädte waren die Revolutionäre von einer Art Dschungelkommunismus fasziniert. Dann wieder hätten es ausgerechnet die Verfemten, Ausgestoßenen, Marginalisierten der hochkapitalistischen Länder richten sollen, denen die Hoffnung aufgeladen wurde, mit ihrer Revolte die solidarische Gesellschaft von morgen vorwegzunehmen. Und zu Zeiten woker Campusradikalität werden ohnedies beliebige Gruppen von Opfern und von vermeintlich oder tatsächlich Benachteiligten zu Projektionsflächen revolutionärer Anliegen.
Selbst als im Reich der Mullahs auf Homosexualität schon bald der Tod stand, sah sich Michel Foucault, der im bürgerlichen Zwangsstaat seine Homosexualität ausleben durfte, nicht dazu veranlasst, seiner Schwärmerei für die »politische Spiritualität« abzuschwören. Seiner standhaften Weigerung, sich ideologisch an so etwas Banalem wie der Realität zu messen, eifern seither Zahllose nach, die den wechselnden Moden pseudorevolutionärer Gesinnung folgen. Auch wenn manches bloße Attitüde bleibt, ist die Sache alles andere als harmlos, wie man an dem Jubel erkennen muss, den der Terrorangriff der Hamas hervorrief.
Es mutet zwar lächerlich an, ist aber im doppelten Sinne eine ernste Sache, wenn manch queere Aktivisten – offenbar in selbstmörderischer Absicht – ihre Solidarität mit der Hamas bekunden. Man kann sich vorstellen, wie lange ein queerer Solidaritätstrupp im Reich der Scharia überleben würde; aber man muss sich auch vorstellen, welche Begeisterung weltweit die von Hamas, Hisbollah und dem Iran ausdrücklich propagierte Vernichtung Israels bei Abermillionen Sympathisanten der palästinensischen »Freiheitskämpfer« hervorrufen würde. Yanis Varoufakis oder Judith Butler warteten mit ihren Rechtfertigungen der Mörderbande, die am 7. Oktober 1300 Menschen aus dem einzigen Grund massakrierte, dass sie Juden waren, nicht einmal so lange ab, bis Israel gerade so reagierte, wie die Hamas das wohl erwartet und erhofft hatte, nämlich mit Gegenschlägen, denen seither entsetzlich viele Zivilisten in Gaza zum Opfer gefallen sind.
Auch in Österreich haben sich nicht wenige beeilt, gleich der in den sozialen Medien umtriebigen Nicole Schöndorfer auf Instagram jene Terroristen als »Märtyrer« zu feiern, die beim Abschlachten von Juden selbst den Tod fanden. Man erinnere sich an den Atheisten Foucault, der sich Religionskritik an der islamistischen Bewegung verbat; warum soll es also nicht auch Frauen geben, die sich ausdrücklich als Feministinnen bezeichnen und doch die jungen Männer, die israelische Frauen vergewaltigen, verstümmeln, ermorden oder entführen und dem Mob als Trophäen präsentieren, als Märtyrer der gerechten Sache würdigen? Ein sprachlicher Kollateralschaden der heutigen Misere ist, dass löbliche Dinge wie Antirassismus, Antikolonialismus, Antiimperialismus so gründlich von denen desavouiert werden, die sich auf sie berufen, dass man sich fragen muss, ob neue Begriffe vonnöten sein werden, um noch sinnvoll die alte, die richtige Sache zu benennen, nämlich gegen Rassismus, Kolonialismus, Imperialismus einzustehen.
Einige Wochen vor dem Massaker der Hamas wurde ich gefragt, womit der Antisemitismus am leichtesten angeheizt werden könne. Heute müsste ich antworten: indem man möglichst viele Juden massakriert. Nichts hat den Judenhass stärker befeuert als die schlimmste Attacke auf Juden seit der Shoa, und weil die Attacke gegen Juden geführt wurde, kann es sich bei den Vergewaltigern und Mördern nur um »Widerstandskämpfer« gegen die jüdische Fremdherrschaft in Palästina handeln, die aus »heiligem Hass« gegen die zionistischen Unterdrücker handeln. Denn ob ein blutbesudelter Mörder ein Mörder oder ein Held des Widerstands ist, das entscheidet der »Kontext«. Auf ihn redeten sich die Präsidentinnen dreier US-amerikanischer Eliteuniversitäten hinaus, als sie sich einer Anhörung im Kongress stellen mussten. Auf die Frage, ob der »Aufruf zum Völkermord an den Juden«, der im ganzen Land auf den studentischen Versammlungen zu vernehmen war, nicht gegen den universitären Verhaltenscodex verstoße, antworteten sie ziemlich gleichlautend, dass dies auf den »Kontext« ankomme. Auch wenn die Frage von einer erzreaktionären Abgeordneten als Falle gestellt war, bleibt ihre Beantwortung doch so erbärmlich wie erbarmungslos.
Natürlich, der Kontext. Frauen anzüglich anzusprechen ist mittlerweile aus guten Gründen gebannt, aber im Kontext der Dekolonisierung kann es schon erlaubt sein, Frauen zu vergewaltigen, sofern es sich um die richtige Beute, also Angehörige des imperialistischen Siedlerstaates, handelt und die Täter aus »heiligem Hass« gegen die zionistischen Unterdrücker handelten. Der heilige Hass ist übrigens ein Motiv, das wörtlich aus Julius Streichers nazistischer Zeitschrift Der Stürmer in die antikoloniale Propaganda gelangt ist.
Es gibt eine Unwissenheit, die rundweg schuldhaft ist. Dazu gehört, dass die sich selbst als links verstehenden Israel-Hasser sich schlichtweg weigern, die politische Grundlegung der Hamas zur Kenntnis zu nehmen. Dabei hat diese nie einen Hehl daraus gemacht, dass es ihr nicht um nationale Gleichberechtigung, soziale Gerechtigkeit oder die so genannte »Zweistaatenlösung« geht, sondern um die Vernichtung Israels, was zugleich die wichtigste Etappe im Kampf um den Endsieg zwischen Gläubigen und Ungläubigen darstellt. Ihre Gründungscharta von 1988 ist eine kompakte Sammlung antisemitischer Stereotype und eine unverhohlene Absichtserklärung, dass »zwischen dem Fluss und dem Meer« dereinst ein islamischer Gottesstaat errichtet werde.
Als sich 2005 die israelische Armee aus Gaza zurückzog, hat die Hamas bei freien Wahlen gesiegt. Reichlich mit Geldern aus aller Welt versorgt, hätte sie jetzt die Gelegenheit gehabt, eine Selbstverwaltung zum Nutzen der Bewohner von Gaza aufzubauen. Doch das war nicht ihr Ziel, sie ging vielmehr flugs daran, ihre palästinensischen Gegner zu liquidieren und die Bevölkerung mit einer Serie von fundamentalistischen Gesetzen einzudecken. Sie hat das Ihre getan, dass Gaza zum »größten Freiluftgefängnis der Welt« wurde, und gleichzeitig verleugnet, wie stark sie an seiner Errichtung beteiligt war. 1970 lebten 280.000 Menschen in Gaza, als Israel sich aus dem Gebiet zurückzog, waren es etwa 1,2 Millionen, keine zwanzig Jahre später sind es 2,2 Millionen: So sieht die demographische Entwicklung aus, wenn der zionistische Aggressor jahrzehntelang »Völkermord« betreibt.
45 Jahre nachdem Foucault vor der »politischen Spiritualität« intellektuell wie moralisch abgedankt hat, schließt die empfindsamste Jugend des Westens ihr Bündnis mit den brutalsten Terrorverbänden der »politischen Spiritualität«. Manches ist neu an dem, was die Antizionisten zwischen Berkeley und Berlin vorzubringen haben – etwa die rigorose Verwerfung des aufklärerischen Erbes, das in westlicher Selbstverachtung als Waffe der weißen Suprematie denunziert wird; aber der Kern ihrer Anklage ist uralt.
Jean Améry hat im Jahrzehnt vor seinem Freitod im Jahr 1978 wie gehetzt einen hellsichtigen Essay nach dem anderen publiziert, in denen er »die Linke«, der er sich von je zugehörig gefühlt hatte, leidenschaftlich beschwor, mittels revolutionärer Phrasen nicht den ordinären alten zu einem neuen »ehrbaren Antisemitismus« zu modernisieren. Es ist in der Tat erschreckend, dass diese Texte anmuten, als wären sie gerade für heute geschrieben worden. Damals, zwischen 1969 und 1978, wurden Amérys scharfsinnige Warnungen als Marotte eines Autors abgetan, der aus der Zeit gefallen war; heute erweisen sie ihre geradezu prophetische Kraft.
Mit keinem Wort streitet Améry den Palästinensern das Recht auf Grund und Boden oder nationale Selbstentfaltung und Eigenstaatlichkeit ab. Völlig fremd ist ihm, wenn der moderne Staat Israel aus biblischen Legenden politische Ansprüche von heute ableitet. Benjamin Netanjahu, den Paten der extremistischen Siedlerbewegung und korrupten Feind der Demokratie, hätte er wohl noch schärfer angeprangert als seinerzeit Menachem Begin. Über Israel sagte er: »Ich habe es niemals besucht, spreche seine Sprache nicht, seine Kultur ist mir auf geradezu schmähliche Weise fremd, seine Religion ist nicht die meine. Dennoch ist das Bestehen dieses Staatswesens mir wichtiger als irgendeines anderen.«
Nicht zu Unrecht wird heute manchmal beklagt, dass es in der politischen Debatte kaum mehr um Erkenntnis, sondern einzig um das fortwährende Bekenntnis zu der einen oder der anderen Seite gehe. Ich muss jedoch festhalten: Der Antisemitismus ist nicht durch jüdisches Fehlverhalten in die Welt gekommen, und er wird nicht durch jüdisches Wohlverhalten aus ihr verschwinden. Natürlich kann die Hamas ihr offen deklariertes Ziel, Israel auszulöschen, nicht erreichen; aber sie hat bereits am Tag ihres Massakers erreicht, dass Abermillionen es wünschen. Daher ist es notwendig, den allerorts angefeindeten Juden und Jüdinnen Schutz und Sicherheit zu bieten, durch persönliche Courage, gesellschaftliche Initiativen, staatliche Gesetze. Und sich, zumal wenn man sich politisch der Linken verbunden fühlt wie ich, zum Staate Israel und seinem Recht auf Selbstverteidigung zu bekennen.
Heute vor 78 Jahren haben amerikanische Soldaten das Konzentrationslager Ebensee befreit. Am Vortag hatten sich die Häftlinge in einem selbsterrettenden Akt des Widerstands geweigert, dem letzten Befehl des Lagerleiters zu folgen, der zu ihrem Tod in den für die Sprengung vorbereiteten Stollen geführt hätte. Die Mannschaften der SS waren von dieser Weigerung entkräfteter, zur Vernichtung durch Arbeit bestimmter Menschen so überrascht, dass sie den Ort ihrer Verbrechen überstürzt verließen, um sich selbst in Sicherheit zu bringen. Damit die Pflicht nicht zur Routine, die Feier nicht zum Ritual werde, gilt es am Tag des Gedenkens zwei Fragen zu stellen: Warum sollen wir gedenken und wie können wir gedenken?
Um die erste Frage zu beantworten, braucht man vorerst gar nicht in die schreckliche Vergangenheit zu blicken, die nicht zu vergessen schon die Pietät gebietet, es genügt, sich zu vergegenwärtigen, was in unserer Zeit geschieht. In den letzten Jahren wurden auf Demonstrationen, an denen Abertausende teilnahmen, um gegen die Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie zu protestieren, Schilder mit der Aufschrift »Impfen macht frei« getragen und auf Transparenten »Schluss mit dem Impf-Genozid« verlangt. Menschen, die bei Gelegenheit die Shoa in Frage stellten, haben den höhnischen Satz »Arbeit macht frei«, der am Eingangstor vieler Konzentrationslager angebracht war, bedenkenlos auf sich gemünzt, sich also in bester körperlicher Verfassung und aus staatsbürgerlich gesicherter Position nachträglich den KZ-Häftlingen gleichgestellt. Sie beanspruchten für sich aber nicht nur den Rang von Opfern, sondern auch den von Widerstandskämpfern und Widerstandskämpferinnen, die tapfer wider das Unrecht aufbegehren. Opfer, die nicht verfolgt werden, präsentieren sich als Helden des Widerstands, die nichts zu fürchten brauchen, sondern bei ihren Demonstrationen auf Duldung und Schutz der Polizei rechnen können.
Diese Trivialisierung des Lebens und Sterbens in den Konzentrationslagern ist unerträglich, und der frivole Wettkampf um den Rang des meistverfolgten Opfers, der in unserer Gesellschaft entbrannt ist, darf nicht unwidersprochen bleiben. Dass sich Demonstranten von heute, wogegen immer sie auf die Straße gehen, ungeniert in die Nachfolge von Menschen stellen, über die Zwangsarbeit, Folter, ja der industriell vollzogene Mord verfügt wurde, verlangt von uns, der realen Opfer zu gedenken und den realen Widerstand zu würdigen. Die Selbstidentifikation der Heutigen als heldenmütige Opfer und aufopferungsvolle Helden zeugt von zweierlei: vom narzisstischen Wunsch, die eigenen, egoistisch verengten Interessen zu historischer Bedeutsamkeit aufzublähen, und von einer selbstzufriedenen Gleichgültigkeit, was den Faschismus und sein System der Verfolgung anbelangt, wobei sich die Mitleidlosigkeit dem tatsächlichen und die Wehleidigkeit dem halluzinierten Leid gegenüber die Waage halten.
Die Wörter und Begriffe davor zu schützen, entstellt, missbraucht, vernutzt zu werden, ist keine Freiübung in angewandter Rhetorik, an der man seine Freude haben mag, sondern eine bitter notwendige Aufgabe, der wir uns unterziehen müssen. Wir erleben fortwährend, wie Begriffe umgedeutet, in ihr Gegenteil verkehrt, der ideologischen Aufrüstung zugeführt werden. Im Bild von der »Festung Europa« wurde vor drei Jahrzehnten die inhumane, auf Abschottung zielende Politik europäischer Politiker kritisiert, die sich der Wählerschaft als Festungskommandanten empfahlen; mittlerweile haben es sich jedoch jene angeeignet, deren politisches Ziel eine autoritäre, Flüchtlingen wie Hilfesuchenden gegenüber unbarmherzige Politik ist.
Vor wenigen Wochen hat die FPÖ Niederösterreich, in deren Reihen sich, nach einem Wort von Oskar Deutsch, dem Präsidenten der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, zahllose »Kellernazis« befinden, einen enormen Wahlerfolg eingefahren. Die ruchlosen Sprüche, mit denen ihre Politiker auftrumpfend gegen die Grundlagen nicht nur unseres Staates, sondern der Zivilisation selbst zu Felde zogen – man erinnere sich nur an die offen propagierte Ablehnung der allgemeinen Menschenrechte oder die Attacke auf die spontane Bereitschaft, den türkischen Opfern eines Erdbebens Hilfe zukommen zu lassen –, hat der Partei nicht geschadet, sondern genützt, ihr Extremismus stößt nicht ab, sondern zieht an. Es ist unerheblich, ob sich ihre Wähler und Wählerinnen den Kellernazis ideologisch verschworen oder sich nur aus einem gleichermaßen diffusen wie aggressiven Protest gegen die da oben für diese Partei entschieden haben, die nirgendwo so autoritäre Pläne verficht wie in Niederösterreich und dennoch oder womöglich gerade deswegen dort zwei ihrer übelsten Sprachtäter auf zwei der höchsten politischen Ämter des Bundeslandes zu setzen vermochte. Wird der rechte Extremismus von der ÖVP, die einst die Zweite Republik mitbegründet hat, solcherart nobilitiert, verlassen die Kellernazis gerne den Keller, um sich im gut ausgeleuchteten Festsaal des Landtags in Amt und Würden setzen zu lassen.
Das Gedenken hat also nicht nur mit dem Respekt vor den Menschen, den geschundenen, ermordeten Menschen von gestern zu tun. Darüber aufzuklären, was der Nationalsozialismus war und was an Orten wie Ebensee geschehen ist, hat vielmehr mit uns und mit heute zu tun. Wir gedenken auch unseretwegen, die wir uns in der Gegenwart zu behaupten haben und die Vergangenheit – mit den nazistischen Schandtaten, aber auch mit den Versuchen zur Gegenwehr! – nicht entsorgen noch trivialisieren oder umdeuten möchten. Aus der Vergangenheit lernen bedeutet, gefährliche Konstellationen von heute, die denen von einst ähneln, aufzudecken und zu benennen, aber es heißt nicht, die fundamentalen Unterschiede zwischen damals und jetzt zu übersehen. Das Gedenken ist auch eine Frage des Herzens und des Gewissens, aber eben nicht nur. Im Wort »Gedenken« steckt das »Denken« und im »Gewissen« das »Wissen«.
Aber wie können wir gedenken? In den letzten Jahrzehnten waren es die Überlebenden der Konzentrationslager, die in Schulen, Seminaren und Bildungsvereinen Auskunft darüber gegeben haben, was ihnen widerfahren ist. Sie haben damit zahllosen Menschen die Möglichkeit geboten, sich mit dem Nationalsozialismus nicht bloß als einem historischen Phänomen zu beschäftigen, sondern von den Erzählungen konkreter Menschen, die ihnen Auge in Auge im selben Raum gegenüberstanden, auch persönlich erschüttern zu lassen. Diese so genannten Zeitzeugen und Zeitzeuginnen sind vor Generationen Heranwachsender gestanden und haben berichtet, was ihnen selbst widerfahren ist, was sie mit eigenen Augen gesehen haben und was sie persönlich bezeugen können.