Schule der Unterscheidung -  - E-Book

Schule der Unterscheidung E-Book

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Beschreibung

Kirchliche Weltanschauungsarbeit im Sinne einer dialogischen Apologetik versucht beides zusammenzuhalten: "Dialog und Unterscheidung", dialogische Offenheit und die Bereitschaft zur öffentlichen Rechenschaft über den christlichen Glauben. "Unterscheidungen haben etwas Heilsames an sich" (Reinhard Hempelmann). Dieses Buch mit dem schönen Titel "Schule der Unterscheidung" bildet in 36 Beiträgen nicht nur einen aktuellen Stand der Weltanschauungsarbeit in den evangelischen Landeskirchen einschließlich römisch-katholischer Perspektiven ab, sondern zeigt auch die Resonanz kirchlicher Weltanschauungsarbeit im akademischen Raum auf. Grundsätzliche theologische Themen, religiös-weltanschauliche Phänomene sowie praktische Erfahrungen und Aspekte kirchlicher Arbeit werden im Spannungsfeld von religiös-weltanschaulicher Vielfalt und forcierter Säkularität reflektiert. The School of Discernment. Reformatory Faith and Religious- Ideological Diversity Ecclesial work regarding ideological issues in the sense of dialogical apologetics tries to hold together both: "dialogue and discernment", dialogical openness and readiness for the public witness to the Christian faith. "Discernments have a healing quality" (Reinhard Hempelmann). This book with its wonderful title "The School of Discernment" presents with its 36 contributions not only the current state of the work on ideological issues within the Protestant regional churches, including Roman-catholic perspectives, but highlights also the response to the ecclesial work on ideological issues in the academic field. Fundamental theological themes, religious-ideological phenomena and practical experiences and perspectives are subjects of reflection between the poles of ideological diversity and forced secularity.

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SCHULE DER UNTERSCHEIDUNG

REFORMATORISCHER GLAUBE UND RELIGIÖS-WELTANSCHAULICHE VIELFALT

Festschrift für Reinhard Hempelmann

Herausgegeben von Friedmann Eißler,

Kai Funkschmidt und Michael Utsch

EVANGELISCHE VERLAGSANSTALT

Leipzig

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2018 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · Leipzig

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Cover: Fruehbeetgrafik, Thomas Puschmann, Leipzig

Satz: 3W+P, Rimpar

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2018

ISBN 978-3-374-05844-0

www.eva-leipzig.de

INHALT

Einleitung

Matthias Pöhlmann

Aufklärung im Dienste des Evangeliums

Reinhard Hempelmanns Beitrag für eine wahrnehmungs- und auskunftsfähige Kirche

I THEOLOGISCHE GRUNDSATZFRAGEN

Ulrich H. J. Körtner

Religiöse Religionskritik

Über das Wagnis christlicher Gottesrede in der gegenwärtigen Religionslandschaft

Reinhard Slenczka

»Theologia a Deo docetur, de Deo docet, ad Deum ducit«

Die Wissenschaftlichkeit der Theologie in der Bindung an Schrift, Bekenntnis und Kirche

Andreas Hahn

Das »Buch der Natur«

Ein Blick aus der frühen Neuzeit auf den Kreationismus

Traugott Schächtele

Schau dir doch mal die Welt an!

Fragmentarische Reflexionen als kleine Erschliessungshilfe zum Begriff der Weltanschauung

Bernhard Nitsche

Die Rede von Gott oder dem Göttlichen

Orientierungsversuche

Wolf Krötke

Gottes Ebenbild

Das christliche Menschenverständnis vor den Herausforderungen der Gegenwart

Gottfried Küenzlen

Der alte Traum vom Neuen Menschen

Ideengeschichtliche Perspektiven

Werner Thiede

Veränderung

Theologische Überlegungen zu einem Lebensbegriff

Helga Kuhlmann

Alter Wein, neue Schläuche

Zum Gefühl der Gottverbundenheit

Gunther Wenz

Religion, Christentum und Ökumenismus

Historische Notizen aus der Perspektive des deutschen Protestantismus im Zeitalter der Globalisierung

II BEGEGNUNG, DIALOG, MISSION

Walter Fleischmann-Bisten

»Wer verhindern will, sucht Gründe. Wer verändern will, findet Wege«

Konfessionskundliche Aspekte einer Konflikt- und Friedensgeschichte reformatorischer Kirchen

Hubertus Schönemann

Weltanschauungsarbeit und Mission

Ein Plädoyer für eine neue Art sendungsorientierter Apologetik

Andreas Goetze

Interreligiöser Dialog

Oder: Wie glauben im Angesicht der anderen?

Olaf Grobleben

Zu allem »Ja« und »Amen« sagen?

»Toleranz aus Glauben« als Haltung in einer pluralistischen Gesellschaft

Gabriele Lademann-Priemer

Die Kirche Jesu Christi vertreten durch den Sondergesandten Simon Kimbangu

Eine Afrikanische Unabhängige Kirche zwischen Tradition und Christentum

Horst Georg Pöhlmann

Hinduismus und Christentum

Chancen und Grenzen der Verständigung

Ulrich Dehn

Kann man nicht auch hier vom Hinduismus lernen? Nahtoderfahrungen und Reinkarnationsvorstellungen

Eine Verhältnisbestimmung

Jan Badewien

»Ich lebte schon zur Zeit der Mammute«

Johann Peter Hebel und die Faszination des Glaubens an die Reinkarnation

Reinhard Thöle

Die Bekehrung des »Verräters«

Ein ritualpsychologischer Liturgiekommentar

III ATHEISMUS, HUMANISMUS, LAIZISMUS

Matthias Petzoldt

Religion für Atheisten

Beobachtungen und Überlegungen zu einem Phänomen

Michael Plathow

Religion ohne Gott

Gegen naturalistische Geltungsansprüche

Martin Hochholzer

Richard Dawkins’ Bibelverständnis

Eine kleine Studie zu »Der Gotteswahn«

IV EVANGELIKALISMUS, PENTEKOSTALES CHRISTENTUM

Hans Gasper

Fundamentalismus und Modernitätsverträglichkeit

Zur Charismatischen Erneuerungsbewegung

Dietrich Werner

Pentekostale Kirchen und Entwicklung

Perspektiven nach einer theologisch-entwicklungspolitischen Konsultation von Brot für die Welt

Hartmut Bärend

Was ist evangelikal?

Nicht nur eine Begriffsklärung!

V PRAXIS UND ZUKUNFT DER KIRCHE

Theo Sundermeier

Glaubensdialog und Glaubensidentität in der Begegnung mit Muslimen

Predigt über Römer 11,33–36

Christoph Morgner

100 Jahre Berliner Erklärung

Predigt über Römer 12,4–16

Oliver Koch

Kinder des Lichts

Apologetische Predigt zu Epheser 5,8–9

Jörg Pegelow

Martin Luther

Ein Rückpass im Lichte der Pediludiologie

Heiko Ehrhardt

»Jugend ohne Gott«

Anmerkungen zu einem dystopischen Thema in aktuellen Blockbustern

Reiner Knieling

Gotteserfahrungen an der Grenze

Beschenkt im Dialog mit Konfessionslosen

Interview mit der Islamwissenschaftlerin Christine Schirrmacher

Die Frage der heutigen Auslegung und Anwendung des Koran

Terrorismus und Islamwissenschaften

Hansjörg Hemminger

Die evangelische Kirche im Leben der Mehrheit

Impulse aus der Sozialforschung

Hans-Martin Barth

Die Reformation wirkt weiter

Zukunfts-Chancen und -Aufgaben des Protestantismus

AUSKLANG

Karin Wolff, MdL

Toleranz ist Mühe und Arbeit

Die Autorinnen und Autoren

EINLEITUNG

Über ein Vierteljahrhundert lang hat Reinhard Hempelmann die Weltanschauungsarbeit im Raum der Evangelischen Kirche in Deutschland mitgeprägt, fast 20 Jahre lang in herausgehobener Position als Leiter der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW). Sein Abschied von diesem Dienst fällt nicht genau mit seinem 65. Geburtstag zusammen, doch liegen beide Ereignisse zeitlich auch nicht weit auseinander, sodass wir herzlich gratulieren und zugleich dankbar auf so viele Jahre intensiver Arbeit zurückschauen. Neben den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen der EZW tun dies viele Freunde und Kollegen in den Landeskirchen und Bistümern, Wegbegleiter aus akademischen, politischen und gesellschaftlichen Zusammenhängen.

Eine stattliche Zahl von Autorinnen und Autoren hat zu diesem Buch beigetragen, nicht wenige weitere hätten gern gewollt, konnten das aber aus den unterschiedlichsten Gründen nicht verwirklichen. Ihnen allen sei herzlich gedankt.

Ein Begriffspaar, auf das man in der Begegnung mit der EZW sehr bald stößt, ist das Begriffspaar »Dialog und Unterscheidung«,1 das geradezu als das ungeschriebene Motto der EZW-Arbeit gelten kann. Die EZW »versucht beides zusammenzuhalten: dialogische Offenheit und die Bereitschaft zur öffentlichen Rechenschaft über den christlichen Glauben, zur Unterscheidung«.2

Für Reinhard Hempelmann ist die Dialogperspektive theologisch tief verankert. Gott geht dialogisch auf die Welt ein, er redet den Menschen an und lässt sich anreden. Dialog entspricht dem Inkarnationsgeschehen, die Dialogizität des Menschseins entspricht seiner Ebenbildlichkeit. Aus der geschöpflichen Solidarität mit allen Menschen erwächst der Dialog als Beziehungsgeschehen und grundlegende christliche Handlungsperspektive. Von hier aus wird immer wieder das Thema der theologischen Unterscheidungsfähigkeit aufgenommen. Ist mit dem Stichwort Apologetik das ganze Spektrum der »Kunst des Antwortens«, der kontextbezogenen Darlegung des christlichen Glaubens, aufgerufen, so trägt dieser Kontext zunehmend das Signum des Auseinandertretens von Religiosität und religiös-konfessioneller Bindung. Im Spannungsfeld von religiös-weltanschaulicher Vielfalt und »forcierter Säkularität« gewinnt die Unterscheidungsfähigkeit im Sinne einer dialogischen Apologetik an Gewicht und Bedeutung. »In einer durch weltanschauliche Vielfalt geprägten Gesellschaft ist es wichtig, unterscheiden zu lernen, Unterscheidungsfähigkeit zu gewinnen und zu vermitteln.«3 Dabei gilt es, sowohl Rückzugs- und Abgrenzungsstrategien als auch Harmonisierungsstrategien und Verschmelzungswünschen begründet zu begegnen. So kann Reinhard Hempelmann formulieren: »Christlicher Glaube ist eine Schule des Unterscheidens. Unterscheidungen haben etwas Heilsames an sich.«4

Eine solche Schule kann vor allem in der reformatorischen Theologie erblickt werden.5 Reinhard Hempelmann war und ist es ein Herzensanliegen, das Erbe reformatorischer Theologie nicht nur erinnernd wachzuhalten, sondern seine Aktualität für die heutige Situation zu formulieren und für die Gegenwart fruchtbar zu machen. Für die theologische Ortsbestimmung der evangelischen Kirche sind gesellschaftliche und politische Perspektiven ebenso im Blick wie kulturelle und religiöse. Der Gravitationspunkt ist dabei stets klar auszumachen: die Ausrichtung der Botschaft von der freien Gnade Gottes als zentrale Aufgabe der Kirche, also die Botschaft von der »Rechtfertigung allein durch Christi fremde Gerechtigkeit«. Dies wird als erkenntnisleitendes Interesse wie auch als praktische Orientierung immer wieder deutlich und gilt gerade auch für seine Auffassung kirchlicher Weltanschauungsarbeit.

Eine angemessene Würdigung dessen, wie der Jubilar christliche Apologetik als Schule des Sehens und Unterscheidens versteht und wie er sie in seiner Tätigkeit praktisch vermittelt, nimmt Matthias Pöhlmann im Anschluss an diese Einleitung vor.

Wir können uns deshalb an dieser Stelle darauf beschränken, wenige Hinweise zu diesem Buch zu geben. Die Themenkreise sollten natürlich die Hauptarbeitsgebiete von Reinhard Hempelmann zumindest annähernd widerspiegeln, wobei es in der Natur der Sache liegt, dass die Vielfalt der Beiträge und Perspektiven – eine logische Folge jahrzehntelangen Wirkens im Arbeitsfeld »Weltanschauungsfragen« – sich nicht immer vollkommen nahtlos unter eine Überschrift fügt.

»Theologische Grundsatzfragen« stehen am Anfang. Hier geht es um Wahrnehmungen der religiösen Gegenwartskultur unter (religions-)soziologischen, philosophischen und theologischen Gesichtspunkten, um Phänomene des »Zeitgeistes« und der Globalisierung sowie Reflexionen auf die Theologie in grundsätzlicher Hinsicht wie auch im Blick auf inhaltliche Einzelaspekte. Thematisiert werden die Religionskritik in religiöser Perspektive, die Wissenschaftlichkeit der Theologie, der Protestantismus im Horizont der Ökumene und der Kreationismus. Es wird über die menschliche Rede von Gott, über die Gottebenbildlichkeit des Menschen, über utopische Entwürfe des Menschen, seine Aufgabe zur stetigen Veränderung und die Bedeutung der Emotionalität nachgedacht.

Ein zweiter Themenkreis enthält unter der Überschrift »Begegnung, Dialog, Mission« Beiträge, die sich mit der konkreten Begegnung mit anderen Kirchen, Religionen und Weltanschauungen befassen. Apologetik wird hier unter den Bedingungen der religiösen Vielfalt am Schnittpunkt zwischen interreligiösem Dialog und christlicher Sendung bzw. Missionstheologie verortet. Die Perspektiven reichen dabei von grundlegenden Überlegungen über einzelne Theologumena (Reinkarnation und Nahtoderfahrungen) zu Einzeluntersuchungen (Kimbanguisten, Hinduismus).

Als Reinhard Hempelmann 1999 sein Amt als Leiter der EZW antrat, erweiterte sich sein Aufgabengebiet, das bis dahin den Schwerpunkt »Pentekostale Bewegungen und neue Gemeindegründungen« hatte, um den Bereich »Strömungen des säkularen und religiösen Zeitgeistes«. Er hat sich diesem Themengebiet in den folgenden Jahren mit großer Hingabe gewidmet. Dies wird etwa an den zahlreichen EZW-Texten deutlich, die er zu atheistischen Weltdeutungen, Glaubenskommunikation mit Konfessionslosen, Dialog und Auseinandersetzung mit Atheisten und Humanisten sowie Schöpfungsglaube zwischen Anti-Evolutionismus und neuem Atheismus geschrieben und herausgegeben hat. Diesem Bereich widmet sich der dritte Themenblock »Atheismus, Humanismus, Laizismus«.

Als vierter Themenbereich sind Evangelikalismus und pentekostales Christentum zu nennen. In seiner Tätigkeit als EZW-Referent hat Reinhard Hempelmann sich um die Analyse und Bewertung evangelikaler und pentekostaler Frömmigkeit einen Namen gemacht. Zusammen mit seinen langjährigen Kolleginnen Ingrid Reimer und Ulrike Liebau hat er ein Standardwerk vorgelegt, das in Fachkreisen wegen der Einbandfarbe kurz »der blaue Hempelmann« genannt wird: das »Handbuch der evangelistisch-missionarischen Werke, Einrichtungen und Gemeinden. Deutschland – Österreich – Schweiz« (Stuttgart 1997). Für alle Weltanschauungsexperten ist dieses Lexikon nach wie vor ein unverzichtbares Nachschlagewerk für den Handapparat. Das Werk besticht durch die sachliche Darstellung auch kleiner Initiativen und Werke in alphabetischer Reihenfolge. Darüber hinaus belegen »thematische Ausführungen« über die charismatischen und evangelikalen Bewegungen, den Fundamentalismus, die Glaubensbewegung, neue Gemeindegründungen und die Pfingstbewegung, wie fair, kenntnisreich und entschieden reformatorisch der Herausgeber diese bis heute wichtigen Themen behandelt. Drei Weggefährten haben stellvertretend für zahlreiche ökumenische und freikirchliche Gesprächspartner für die vorliegende Festschrift Beiträge zu diesem Themenbereich verfasst.

Apologetik ist Verantwortung des Glaubens im Angesicht des Anderen. Weil »der Glaube aus der Predigt« kommt (Römer 10,17), ist es passend, dass der letzte Abschnitt »Praxis und Zukunft der Kirche«, der sich praktischen Fragen und Herausforderungen für die evangelische Kirche widmet, mit mehreren Predigten einsetzt. Daran schließen sich anhand konkreter Problemstellungen, die der Populärkultur und neuzeitlichen Herausforderungen für die Kirche und die Gläubigen entnommen sind, Gedanken zur Zukunft von Christentum im Allgemeinen und Protestantismus im Besonderen an.

In diesem Sinne wünschen wir dem Jubilar, dass ihm auch nach seinem Ausscheiden aus dem aktiven Dienst noch viele Jahre und mancherlei Gelegenheit zum Hören, zum Predigen und zum Bezeugen des Wortes Gottes im Angesicht einer religiös und weltanschaulich vielfältigen Gegenwartskultur geschenkt werden.

Für tatkräftige Mithilfe bei der Entstehung des Buches danken wir sehr herzlich Hanna Fülling und Ulrike Liebau.

Mit Druckkostenzuschüssen wurde die Publikation unterstützt durch die Evangelische Kirche in Deutschland, die Evangelische Kirche von Westfalen, die Evangelische Landeskirche in Württemberg sowie die Konferenz der Landeskirchlichen Beauftragten für Sekten- und Weltanschauungsfragen in der Evangelischen Kirche in Deutschland. Auch dafür herzlichen Dank.

Friedmann Eißler/Kai Funkschmidt/Michael Utsch

Berlin, im Mai 2018

1 So auch der Titel der Festschrift für Reinhard Hempelmanns Vorvorgänger Reinhart Hummel: Ulrich Dehn/Reinhard Hempelmann (Hg.), Dialog und Unterscheidung. Religionen und neue religiöse Bewegungen im Gespräch (FS Reinhart Hummel), EZW-Texte 151, Berlin 2000; s. auch Reinhart Hummel, Apologetische Modelle, in: Begegnung und Auseinandersetzung. Apologetik in der Arbeit der EZW, EZW-Impulse 39, Stuttgart 1994, 3–13.

2 Reinhard Hempelmann, Vorwort, in: Ders. u.a. (Hg.), Panorama der neuen Religiosität. Sinnsuche und Heilsversprechen zu Beginn des 21. Jahrhunderts, Gütersloh 2005, 13.

3 Reinhard Hempelmann, Reformationsjubiläum als kulturelles und religiöses Ereignis, in: Materialdienst der EZW 11/2016, 403 f., hier: 404.

4 Ebd.

5 »Reformatorische Theologie ist bestimmt und geprägt von Unterscheidungen: zwischen Schöpfer und Geschöpf, zwischen Person und Werk, zwischen Glaube und Liebe, zwischen Gesetz und Evangelium.«, ebd.

AUFKLÄRUNG IM DIENSTE DES EVANGELIUMS

REINHARD HEMPELMANNS BEITRAG FÜR EINE WAHRNEHMUNGS- UND AUSKUNFTSFÄHIGE KIRCHE

Matthias Pöhlmann

Meines Erachtens kommt es im Kontext religiöser Vielfalt darauf an, das christliche Zeugnis erkennbar zur Sprache zu bringen. Zugleich fordert diese Situation dazu heraus, die unterschiedlichen religiösen Geltungs- und Wahrheitsansprüche aufeinander zu beziehen. Dialogfähigkeit setzt die Kenntnis des Eigenen voraus, das Beheimatetsein im christlichen Glauben, die Kenntnis und Wertschätzung der christlichen Tradition. Für das Gespräch der Religionen miteinander ist beides wichtig: Hörfähigkeit gegenüber anderen und Auskunftsfähigkeit im Blick auf die eigenen Glaubensgrundlagen.1

(Reinhard Hempelmann)

1.THEMENVIELFALT

Reinhard Hempelmann hat das Profil der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW) und die Weltanschauungsarbeit in der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) nachhaltig geprägt. In vielen Beiträgen hat er zu weltanschaulich-religiösen Herausforderungen theologisch profiliert Stellung bezogen. Nach Kurt Hutten, Helmut Aichelin, Reinhart Hummel und Michael Nüchtern wurde 1999 Reinhard Hempelmann vom Rat der EKD zum fünften Leiter dieses traditionsreichen Instituts berufen. Im Jahr 2018 kann er somit auf die längste Amtsdauer zurückblicken. Insgesamt 26 Jahre, sieben Jahre als Referent und 19 Jahre als Leiter, hat er der Weltanschauungsarbeit im Dienst der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) geschenkt. Die Zeitspanne seines Wirkens ist geprägt von neuen Themen und Herausforderungen: Säkularisierung, neue Religionsfaszination, Pluralisierungs- und Individualisierungstendenzen der Religionskultur im wiedervereinigten Deutschland seit 1990, später aber auch die Themen Islam sowie Religion und Gewalt.

Da er bereits seit 1992 als EZW-Referent am Stuttgarter Hölderlinplatz 2 A tätig war, stand Reinhard Hempelmann aufgrund seiner Expertise für Kontinuität und Weiterentwicklung der inhaltlichen Arbeit. Die Verlegung der EZW nach Berlin-Mitte hat – entgegen vielfach geäußerter Befürchtungen – die Weltanschauungsarbeit der EKD keineswegs geschwächt. Im Gegenteil: Rückblickend lässt sich sagen, dass die Präsenz in der Bundeshauptstadt für das Institut – trotz allem – auch Vorteile mit sich brachte: So konnten die neuen Themen Säkularisierung, Konfessionslosigkeit und neuer Atheismus genauer in den Blick genommen werden. Am Medienstandort Berlin finden die EZW-Themen eine große Beachtung, was zu einer erhöhten Nachfrage und Publizität der Arbeit geführt hat. Bereits unter der Leitung von Michael Nüchtern, der in den ersten Jahren für die »neue« Berliner EZW verantwortlich zeichnete, rückten auch die Facetten des säkularen Zeitgeistes in das Beobachtungsfeld. Nach dem Weggang Nüchterns kamen unter dessen Nachfolger Reinhard Hempelmann seit 1999 neue inhaltliche Schwerpunktsetzungen, publizistische Projekte und EKD-weite apologetische Weiterbildungsangebote hinzu.

Die nachfolgenden Überlegungen konzentrieren sich auf Beiträge Reinhard Hempelmanns für die apologetische Arbeit der Kirche im Rahmen seiner Tätigkeit für die EZW, zunächst als Fachreferent (1992 bis 1999) und seit 1999 in der Funktion als Leiter des traditionsreichen Instituts. In die Zeit seines vielseitigen Schaffens fielen neue Initiativen und Arbeitsschwerpunkte der EZW wie die Buchpublikation »Panorama der neuen Religiosität« (2001/2005) sowie das erfolgreiche »Curriculum Religions- und Weltanschauungsfragen« (2009–2011 sowie 2015–2017), eine zweijährige Ausbildung für Pfarrer und Religionspädagogen. In den zurückliegenden Jahren hat er eine Vielzahl an Beiträgen und Fachartikeln verfasst. Seine Veröffentlichungsliste umfasst Ende 2017 insgesamt 27 Seiten.2 Sie spiegelt in beeindruckender Weise die große Bandbreite an Themen, Analysen und theologischen Einschätzungen des evangelischen Theologen, Weltanschauungsexperten und Religionspublizisten wider.

Bislang hat der aus der Evangelischen Kirche von Westfalen stammende Theologe 25 EZW-Texte als Autor und Herausgeber publiziert. Sie befassen sich u.a. mit Evangelikalismus, Kreationismus, mit Schöpfungsglauben zwischen Anti-Evolutionismus und neuem Atheismus, mit alternativen Heilungsansätzen und moderner Esoterik, Kindererziehung in religiösen und weltanschaulichen Gemeinschaften, Exorzismus, Religionstheologie und Apologetik, mit Problemfeldern im christlich-muslimischen Dialog, mit der Neuapostolischen Kirche und der Ökumene sowie mit der Glaubenskommunikation mit Konfessionslosen und dem Thema Dialog und Auseinandersetzung mit Atheisten und Humanisten.

Im Zentrum seiner zahlreichen Publikationen und Fachartikel steht das Plädoyer für eine wahrnehmungs- und auskunftsfähige Kirche. An dieser Stelle sollen wichtige Beiträge im Blick auf die weltanschaulich-religiöse Themenvielfalt und die damit verbundenen Herausforderungen im Kontext der zurückliegenden Jahrzehnte in den Blick genommen werden.

2.STATIONEN

2.1 EZW-REFERENT AM HÖLDERLINPLATZ IN STUTTGART

Als Reinhard Hempelmann im März 1992 bei dem damals noch in Stuttgart ansässigen Institut seine Tätigkeit als Referent »für pfingstlerische Gruppierungen, christlich-fundamentalistische Strömungen sowie eigenständige Gemeindebildungen und freie evangelistisch-missionarische Aktivitäten im Bereich der deutschen Landeskirchen« aufnahm, war die damalige Szene überschaubarer als heute. Vorausblickend war die Besetzung dieses Themas in jedem Fall: Viele der Anfragen, die kirchliche Weltanschauungsbeauftragte erreichen, beziehen sich auf diese Thematik, die Hempelmann in späteren Jahren als Erscheinungsformen christlicher Pluralisierungsprozesse deuten sollte. Der neue Referatszuschnitt innerhalb der EZW markierte auch eine Zusammenlegung von Arbeitsbereichen, für die bislang Ingrid und teilweise Hans-Diether Reimer verantwortlich gezeichnet hatten. Der damals 39-jährige Theologe brachte für diese neue Aufgabe vielerlei Kompetenzen mit: Die Jahre zuvor hatte er als Assistent an der Universität Osnabrück gearbeitet und wurde 1989 in Heidelberg über die Sakramententheologie im evangelisch-katholischen Dialog promoviert. Der wissenschaftlich ausgewiesene Systematische Theologe und langjährige Dozent an der CVJM-Sekretärschule / Private Fachschule für Sozialpädagogik Kassel verband damit in idealer Weise systematisch-theologische Reflexion mit Wahrnehmungs- und Auskunftsfähigkeit – zwei Eigenschaften, die für seine spätere Arbeit von großer Wichtigkeit werden sollten. In der Augustausgabe der Institutszeitschrift berichtete er über eine Tagung im Schloss Craheim zum Thema »Neue Gemeindegründungen und Kirche«.

Hempelmanns Resümee lautete damals: »Der heute erlebte Konflikt zwischen Charisma und Institution erfordert somit einen doppelten Lernprozess: In neuen Situationen und Herausforderungen wird die Werdegestalt der Institution deutlicher hervortreten müssen, so sehr die Kirche immer ecclesia semper reformanda ist. Zugleich ist Gottes Geist kein traditionsloses Erneuerungsprinzip, und neu aufbrechende Erfahrungen des Geistes sind an geschichtlicher Kontinuität zu verifizieren. Die Thematik ›Neue Gemeindegründungen und Kirche‹ wird weitere Aufmerksamkeit auf sich ziehen.«3 Mit dieser Prognose sollte er Recht behalten. Das Thema hat bis heute, rund ein Vierteljahrhundert später, nichts an Aktualität eingebüßt. In den folgenden Jahren verfasste er neben Kongressberichten der Charismatischen Bewegung u.a. Artikel zur Schaffranek- Gruppe, in der er auffällige Parallelen zu den von Witness Lee geführten Ortsgemeinden konstatierte, aber auch das ihr innewohnende, von separatistischen Tendenzen geprägte Potential kritisierte.4

Mit seinem ersten Hauptartikel über »Charismatische Bewegung und neue Gemeindegründungen« stellt er sich im Mai 1993 den Materialdienst-Lesern vor. Darin verstand er es, Anliegen und Hintergründe dieser neuen christlichen Religiosität positiv zu würdigen, ohne jedoch theologische Anfragen an Ausdrucksformen charismatischer Frömmigkeit zu verschweigen:

»In ihnen begegnen der kirchlichen Normalfrömmigkeit nicht nur die vergessenen Themen der eigenen Glaubensorientierung, sondern berechtigte Anfragen und Herausforderungen, die innerhalb der Reformationskirchen gehört werden sollten. […] Eine Kirche ohne den Geist ist tot. Die Kirche allein im Geist ohne Bezug des Geistes auf Jesus, den Gekreuzigten und Auferstandenen, und den Vater, von dem und zu dem hin alles geschaffen ist, wird zum Spielball des Zeitgeists, die als zu spät Gekommene ihrer Zeit immer hinterherlaufen wird.«5

Neben Informationen aus dem Bereich der neuen christlichen Religiosität steuerte Hempelmann größere Beträge bei: Sie befassen sich u.a. mit der Biblischen Glaubensgemeinde6, mit dem »Marsch für Jesus«7, dem Segen von Toronto8 und Reinhard Bonnke.9

2.2 »ZWISCHEN DEN ZEITEN« – VON STUTTGART NACH BERLIN

Eine Meldung vom 8. Juli 1993 in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« versetzte die damaligen Mitarbeiter der EZW in Aufregung: Demnach habe der Rat der EKD die Verlegung der EZW von Stuttgart nach Berlin beschlossen, ohne die Mitarbeitenden im Vorfeld über diesen Schritt zu informieren. Dies führte zum entschiedenen Protest der Betroffenen und zu einer pointiert kritischen Meldung der »Materialdienst«-Redaktion.10 Hempelmann gehörte zu den Unterzeichnern eines Protestschreibens, das die Institutsmitarbeiter an das Kuratorium der EZW adressierten, in dem sie gegen die Verlegungspläne nach Berlin protestierten, denn damit »werde die langjährige Berufserfahrung hochspezialisierter Experten aufs Spiel gesetzt und ein personeller Kahlschlag sowie ein völliger Neuaufbau der Arbeit riskiert.«11 Dennoch beschloss der Rat der EKD im Mai 1994, die EZW bis spätestens Februar 1997 vollständig nach Berlin zu verlegen, um – wie es der damalige Leiter Reinhart Hummel schrieb – »dort die Arbeit mit alten oder neuen Referenten« aufzunehmen.12 Ab 1995 zeichnete Reinhard Hempelmann nun auch für den »Materialdienst der EZW« verantwortlich. Neuer Leiter der EZW in Berlin wurde zum 1. Juli 1995 der Karlsruher Theologe Michael Nüchtern. Der Umzug von Stuttgart erfolgte in mehreren Etappen. Im Frühjahr 1996 war die EZW noch unter zwei Adressen erreichbar. Die Umbruchphase wurde bis Februar 1997 abgeschlossen. Reinhard Hempelmann gehörte mit Hans-Jürgen Ruppert zu den Referenten, die in die Bundeshauptstadt wechselten. So nahm er 1995 in Berlin seine Arbeit zum Themenbereich »Neue Gemeindegründungen, pfingstlerische und charismatische Gruppen und Orientierungen, fundamentalistische Strömungen« auf.13 Im Februar 1997 war der Umzug abgeschlossen, im Mai 1997 war das neue EZW-Team in Berlin komplett. Gleichzeitig legte Hempelmann 1997 und 1998 zwei wichtige Publikationen vor:

Zum einen veröffentlichte er das »Handbuch der Evangelistisch-missionarischen Werke, Einrichtungen und Gemeinden, Deutschland – Österreich – Schweiz« (Stuttgart 1997), in dem er lexikalisch über die verschiedenen missionarischen, evangelikalen und pfingstlich-charismatischen Bewegungen und Gruppen informierte:

»Missionsaktivitäten tragen zur fortschreitenden innerchristlichen Pluralisierung bei, die sich in zahlreichen neuen Gruppenbildungen konkretisiert, die ihrerseits innerhalb der Kirchen und Freikirchen wie auch öffentlicher Institutionen einen intensiven Informationsbedarf hervorrufen. Schon seit Jahren bezieht sich ein nicht unerheblicher Teil der Anfragen, die sich an die Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen richten, auf das weite Spektrum evangelikaler Bewegungen.«14

In diesem Werk nahm er auch einleitend grundlegende Differenzierungen des Evangelikalismus im Blick auf Typen und Ausprägungen vor.

Ein Jahr später erschien die über 400 Seiten umfassende Monografie »Licht und Schattenseiten des Erweckungschristentums. Ausprägungen und Herausforderungen pfingstlich-charismatischer Frömmigkeit« (Stuttgart 1998), in der er nicht allein Hilfen für die kritische Auseinandersetzung geben, sondern auch »Verständnis und Sympathie für das Anliegen einer geistlichen Erneuerung der Kirche«15 wecken will. Das Buch ist auch aus der Kenntnis und dem Erfahrungshorizont vielfältiger Begegnungen und Dialogerfahrungen mit pfingstlichcharismatischen Erneuerungsgruppen entstanden.

Im September 1998 wurde die Stelle des EZW-Leiters frei, nachdem Michael Nüchtern in die badische Landeskirche gewechselt war, um dort das Amt eines Oberkirchenrats zu übernehmen.

2.3 BERUFUNG ZUM LEITER DER EZW

Im Herbst 1998 berief der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland Reinhard Hempelmann zum neuen Leiter der EZW. Sein Amt trat er zum 1. Januar 1999 an. Zwei Monate später, am 5. März 1999 an, wurde Hempelmann als neuer Leiter in der Tauf- und Traukapelle des Berliner Doms vom damaligen EKD-Ratsvorsitzenden Manfred Kock in sein neues Amt eingeführt. Sein Aufgabengebiet umfasste neben seinem Spezialgebiet »Pentekostale Bewegungen und neue Gemeindegründungen« nun auch »Strömungen des säkularen und religiösen Zeitgeistes«.

»Heilung durch den Geist als Thema neuer Religiosität« war das Thema seines Hauptartikels, mit dem er sich als neuer Leiter der EZW vorstellte:

»Mit dem Schwinden eines bewußt gestalteten Glaubens breiten sich offensichtlich nicht nur Indifferenz und religiöse Gleichgültigkeit aus, sondern auch eine archaische Religiosität, die keine Scheu kennt vor Astrologie und Okkultismus und Spiritismus und die offen ist für die Aufnahme von Traditionen, Weltanschauungen und religiösen Praktiken und Ritualen aus unterschiedlichen Religionen. Ein wichtiger Bestandteil dieser neuen Religiosität ist eine überaus facettenreiche und alternative Heilungspraxis, die sich in deutlicher Distanz zur modernen Medizin begreift.«16

Dabei ging er auf die Phänomene Reiki, Positives Denken, Neoschamanismus sowie auf die »Heilung in der Kraft des Geistes« innerhalb des pfingstlich-charismatischen Christentums ein. Heil und Heilung seien – wie er abschließend konstatiert – »eine zentrale Kraft gegenwärtigen religiösen Fragens«.17 Aus theologischer Perspektive könne es letztlich nicht gelingen, »die letzten Ursachen von Leiden und Krankheit aufzuklären«.18 Drei Monate später beleuchtete Hempelmann in einem weiteren Hauptartikel »Trends und Gegentrends«19 in der Religionskultur, womit er anschaulich die zeitgenössischen widersprüchlichen Tendenzen zwischen Säkularisierung, Pluralisierung und Individualisierung herausarbeitete. Er veranschaulichte dies anhand von Fundamentalismus und Relativismus, Gruppenbildung und Fragmentierung. Abschließend benannte er klar die kirchlich-theologische Aufgabe:

»Religiöse Vielfalt schafft für das christliche Zeugnis eine Vielfalt von Gesprächssituationen. Der säkulare Zeitgenosse ist dabei nur einer unter anderen. […] Verschmelzungswünsche und Harmonisierungsstrategien sind als Antwort auf die Situation religiöser Vielfalt ebenso untauglich wie fundamentalistische Abwehrreaktionen, die von starren Wahrnehmungsmustern ausgehen und vor allem an scharfen Abgrenzungen interessiert sind.«20

3.AUFKLÄRUNG IM DIENSTE DES EVANGELIUMS

»Postmoderne Selbstrelativierungen, das ästhetische Collageprinzip sind kein Weg, mit der Krise der Kirchen in der Krise der Moderne umzugehen. Das Bündnis mit dem ›postmodernen Lob der Vielfalt‹ und einem gönnerhaften Beliebigkeitspluralismus enthält keine Hilfe für Menschen, die in der Vielfalt von Orientierungsmöglichkeiten Entscheidungen treffen müssen und nach Kriterien fragen. Damit ist kein Nein zu einem persönlichen religiösen Weg und einem individuellen Religionsvollzug gesagt; auch kein Votum gegen die Bereitschaft und Offenheit, von der Weisheit anderer Kulturen und Religionen zu lernen. Es gehört allerdings zu den Essentials christlichen Glaubens, dass der Mensch sich Sinn und Ziel des Lebens nicht schaffen kann. Wenn es um die Erfahrung der göttlichen Gnade geht, ist er Empfangender.«21

Mit diesem klaren Votum und dieser klaren Standortbestimmung evangelischapologetischer Arbeit brachte Reinhard Hempelmann in seiner Einführung zum 2005 neu überarbeiteten Standardwerk »Panorama der neuen Religiosität« die Arbeit der EZW auf den Punkt. Weder reine Pluralismus-Euphorie ohne Selbstpositionierung noch Harmonisierungs- oder Verschmelzungswünsche im Sinne einer All-Einheit der Religionen seien gangbare Wege für eine reformatorische Kirche, die sich zum dreieinigen Gott bekenne und des unverfügbaren ewigen Heils bewusst sei. Im Rahmen seiner langjährigen Tätigkeit für die EZW hat er an diese bleibende apologetische Aufgabe immer wieder erinnert. Ihm ging es von Anfang an um eine Kirche, die weder den weltanschaulich-religiösen Kontext des christlichen Zeugnisses noch das Eigene, das entscheidend und unterscheidend Christliche, aus dem Blick verlieren dürfe. Der promovierte Theologe will Apologetik nicht als reines Abwehrgeschäft betrachten. Die Religionsfaszination und die Suchbewegungen stellen aus seiner Sicht Anfragen an die moderne Kultur wie auch an die christliche Spiritualität insgesamt:

»Die anhaltende Nachfrage nach spirituellen Erfahrungen deutet gleichermaßen auf elementare Bedürfnisse wie unübersehbare Defizite der modernen Kultur hin. Der weitgehende Ausfall einer gelebten christlichen Spiritualität unterstützt die Empfänglichkeit für religiöse Alternativen. Auch wenn die Antworten neuer Religiosität christlich weithin nicht einholbar sind, sollte die Suche, die hinter ihr steht, dem kirchlichen Handeln zu selbstkritischer Prüfung Anlass geben. Zur Annahme der pastoralen Herausforderung gehört auch, sorgfältig der Frage nach Entstehungsbedingungen, speziell nach kulturbedingten Ursachen nachzugehen. Offen und selbstkritisch ist über Versäumnisse der Kirchen nachzudenken. Mystik, religiöse Erfahrung, Meditation, Spiritualität, Kontemplation, Glaubensheilung, das sind Themen neuer Religiosität, zu denen aus christlicher Perspektive etwas gesagt werden kann und muss.«22

Hempelmann will die apologetische Arbeit der EZW als »Aufklärung über den fremden und den eigenen Glauben« begreifen. So hat er – durchaus in Anknüpfung an das Erbe des ersten Leiters Kurt Hutten – die verschiedenen apologetischen Motive in einem Beitrag zum 50-jährigen Bestehen der EZW zum Ausdruck gebracht:

»In der EZW geschah und geschieht Weltanschauungsarbeit im Zusammenspiel verschiedener Motive, die nicht gegeneinander gerichtet sind, sondern zusammengehören. Aus der jeweiligen Gewichtung der Motive ergibt sich das Profil. Weltanschauungsarbeit ist bestimmt durch: ein hermeneutisches Motiv, das auf Verstehen anderer Glaubensauffassungen zielt, ein religionskritisches, das auf Protest gegenüber vereinnahmenden Formen von Religion und Religiosität gerichtet ist, ein seelsorgerliches Motiv, das Ratsuchende im Blick hat, ein Toleranzmotiv, insofern es um das öffentliche Eintreten für die Freiheit der Religionsausübung und das Gespräch mit religiös-weltanschaulichen Minderheiten geht, ein analytisches Motiv, das auf die Wahrnehmung des Kontextes des christlichen Zeugnisses zielt, ein theologischapologetisches Motiv, insofern es um die Artikulation des unterscheidend Christlichen geht.«23

Christliche Apologetik als Schule des Sehens und Unterscheidens orientiert sich demzufolge am christlichen Welt- und Daseinsverständnis. Die Unterscheidung zwischen Schöpfer und Geschöpf und die Akzeptanz menschlicher Grenzen und der Gebrochenheit menschlicher Existenz gehören wesentlich dazu. Schon früh hatte er sich in einschlägigen EZW-Publikationen wiederholt mit Grundfragen für die Neugewinnung einer evangelischen Apologetik auseinandergesetzt.24 Dabei wies er vor allem auf die Kontextualität apologetischer Arbeit hin, die sich als kritisch-informierende Beratung, als »Kunst des Antwortens« und insgesamt als kontextbezogene Darlegung des christlichen Selbstverständnisses vollziehe.25 Wie aktuell die weltanschaulichen Herausforderungen für die Kirche sind, dokumentieren seine neuen Beiträge zu Religion und Gewalt sowie zu extremistischen Ideologien. So identifiziert er Ende 2017 in unserer Gesellschaft drei extremistische Herausforderungen: Rechtsextremismus, Linksextremismus und Islamismus. Von den Kirchen fordert er ein eindeutiges Engagement:

»Eine ideologiekritische Aufklärungsarbeit der christlichen Kirchen muss sich mit extremistischen Ideologien, gleich welcher Ausrichtung, auseinandersetzen. Zwischen dem christlichen Glauben und einer extremistischen Weltsicht kann es nur ein Entweder- Oder geben. Dies sind Aufgaben der christlichen Kirchen: beitragen zum Abbau von Feindbildern und Vorurteilen, Impulse geben für ein respektvolles Zusammenleben, unrealistische Utopien entzaubern, der Rechtfertigung von Gewalt widersprechen, nein sagen zu jedem offenen und verdeckten Versuch, einen Scharia- Staat zu errichten, Ideologien von der fundamentalen Ungleichheit der Menschen eine Absage erteilen, darauf hinweisen, dass die Würde eines jeden Menschen in seiner Gottebenbildlichkeit begründet ist.«26

4.»CURRICULUM RELIGIONS- UND WELTANSCHAUUNGSFRAGEN« – EINE ERFOLGSGESCHICHTE

Bereits 2003 hat Reinhard Hempelmann einen Lehrauftrag für Konfessionskunde an der Universität Leipzig übernommen, den er bis heute in jedem Sommersemester wahrnimmt. Der häufig angefragte Referent und Dozent verfügt über die gute Gabe der Reflexion der christlichen Glaubensüberzeugungen wie auch die ihrer Vermittlung und Elementarisierung. Davon konnte und kann die EZW vielfältig profitieren. Aufgabe des Leiters ist laut Ordnung der EZW auch die Koordination der Weltanschauungsarbeit in der Evangelischen Kirche in Deutschland. Dazu gab er einen für die Geschichte der EZW bedeutenden und zukunftsweisenden Impuls, indem er die apologetische Bildungsarbeit in die EZW-Konzeption integrierte. Herkömmlich waren die Referenten der EZW vor allem mit Vortragsund Beratungstätigkeit befasst. Den eigentlichen Schwerpunkt in ihrer Arbeit bildete die Publizistik, ob im »Materialdienst« oder in den Publikationsschienen des Instituts. Bereits Mitte der 1990er Jahre zeichnete sich mit dem Umzug in die Bundeshauptstadt in der Arbeit der EZW eine neue Schwerpunktsetzung ab: So boten einzelne Referenten in Berlin Grundkurse zu Weltanschauungsfragen und Aufbaukurse zu thematischen Schwerpunktsetzungen (Neuoffenbarungen, Anthroposophie, Das Böse und Verschwörungstheorien u.a.) sowie Beratertagungen an. Unter der Leitung von Reinhard Hempelmann sollte das Weiterbildungsangebot stärker konzentriert und vertieft werden. So entwickelte er mit dem Kollegium der EZW für den Bereich der EKD das »Curriculum Religions- und Weltanschauungsfragen«. Im Kern hatte es bereits Vorbilder in einzelnen Landeskirchen (z.B. Bayern und Hannover). Dem Curriculum war zunächst ein Konsultationsprozess über die Zukunft der Weltanschauungsarbeit im Bereich der EKD vorangegangen, an dem landeskirchliche Beauftragte für Weltanschauungsfragen, Vertreter der EZW sowie die Referenten der Kirchenleitungen teilnahmen. Der Vorschlag Hempelmanns für ein Curriculum stieß auf große Resonanz, und es wurde empfohlen, ein Curriculum für Religions- und Weltanschauungsfragen zu entwickeln, das der Nachwuchsförderung, Netzwerkbildung und insgesamt der Professionalisierung dienen sollte. Ziel dieser Ausbildungsinitiative sollte es sein, Pfarrerinnen und Pfarrer für die Weltanschauungsarbeit in ihren Landeskirchen zu qualifizieren, ihre Unterscheidungs-, Auskunfts- und Dialogfähigkeit zu stärken und die Medien- und Beratungskompetenz zu fördern.

Mit Claudia Knepper konnte die EZW für das mehrjährige Projekt eine engagierte wissenschaftliche Mitarbeiterin gewinnen, die für die Koordination und Durchführung des Curriculums verantwortlich zeichnete.

4.1 CURRICULUM I (2009–2011)

Im März 2009 startete die zweijährige Weiterbildung für Pfarrerinnen und Pfarrer aus den Landeskirchen der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Vom 16. bis 20 März 2009 fand die erste Kurswoche im Johannesstift in Berlin- Spandau statt. Die Wahl des ersten Tagungsortes war bewusst gewählt: Dort hatte das Vorläuferinstitut der EZW, die »Apologetische Centrale«, bis zur ihrer gewaltsamen Schließung durch die Gestapo am 10. Dezember 1937 viele Lehrgänge durchgeführt.

Claudia Knepper konnte nach der ersten Kurswoche berichten:

»An der Fortbildung nehmen 27 Frauen und Männer teil, darunter 24 Pfarrerinnen und Pfarrer und ein Diakon aus 17 Gliedkirchen der EKD und der Evangelischen Kirche in Österreich, sowie eine katholische Theologin und ein katholischer Theologe aus zwei Bistümern. Unter den Teilnehmerinnen und Teilnehmern befinden sich auch Weltanschauungsbeauftragte auf Landeskirchen- bzw. Kirchenkreisebene. In der ersten Woche des Curriculums standen Apologetik, säkulare Religiosität und Versprechen der Psychoszene im Zentrum. Reinhard Hempelmann stellte Typologien religiöser Gemeinschaften, Themen und Strömungen vor.«27

Weitere Seminarwochen und eine Exkursion nach Freiburg/Br. und Basel rundeten die Fortbildung ab. Am 22. Januar 2011 erhielten die Absolventen nach Anfertigung einer schriftlichen Hausarbeit und nacheines mündlichen Kolloquiums die Zertifikate.

Rückblickend heißt es im »Materialdienst der EZW«:

»In vier Seminarwochen in Berlin im März und September 2009 sowie im Februar und September 2010 waren grundlegende Fragen in der Auseinandersetzung mit dem religiösen und weltanschaulichen Pluralismus behandelt worden. Zu den theoretischtheologischen Themen gehörten: Apologetik, der Dialog mit Andersglaubenden, die Religionstheologie und methodische Fragen der Erkundung des religiösen Feldes. Die religiöse und weltanschauliche Vielfalt in Deutschland kam mit säkularer Religiosität, Psychoszene, Atheismus und Konfessionslosigkeit, Esoterik, christlichen Sondergemeinschaften, Evangelikalismus und Pfingstbewegung, Buddhismus, östlicher Spiritualität im Westen sowie Islam in Deutschland in den Blick. Zur Ausbildung gehörten auch Fragen der Praxis im kirchlichen Handlungsfeld des religiösen Pluralismus wie Beratungsarbeit und Seelsorge, Pressearbeit und Rechtsfragen. Zu jedem Thema gehörten neben Fachvorträgen die Besinnung auf eigene biblische Quellen und Begegnungen mit Vertretern der behandelten religiös-weltanschaulichen Richtungen. 22 Begegnungen fanden im Rahmen des Curriculums statt.«28

4.2 CURRICULUM II (2015–2017)

Von Herbst 2015 bis Frühjahr 2017 bot die EZW zum zweiten Mal ein Curriculum an. Es sollte Pfarrerinnen und Pfarrern aus der EKD eine Zusatzqualifikation ermöglichen. Ausdrücklich wurden auch Kollegen aus den Freikirchen und der römisch-katholischen Kirche dazu eingeladen. An dem EZW-Curriculum, das in den insgesamt vier Kurswochen zweimal in Berlin sowie in Pullach und London stattfand, beteiligten sich zwölf Landeskirchen, ebenso die evangelisch-reformierte Landeskirche des Kantons Zürich der Schweiz. Vertreten waren die sächsische und die mitteldeutsche Landeskirche, die Nordkirche, die beiden hessischen Landeskirchen, ebenso die rheinische, westfälische, hannoversche, braunschweigische, württembergische, pfälzische und bayerische Landeskirche. Themen der Ausbildung waren u.a. Tendenzen der Sakralisierung des Profanen, atheistische Weltdeutungen, Versprechen der Psychoszene, esoterische Strömungen, Gesichter des Islam und des Buddhismus, die Ausbreitung ostasiatischer Spiritualität im Westen, biblizistische und enthusiastische Ausdrucksformen christlicher Frömmigkeit, christliche Sondergemeinschaften und Neuoffenbarungsgruppen. Besonders attraktiv waren dabei auch zahlreiche Begegnungen mit Vertreterinnen und Vertretern religiöser und weltanschaulicher Gemeinschaften sowie Hinweise zur Beratungsarbeit und Einführungen in religionsrechtliche Rahmenbedingungen.

Den Ertrag und die Bedeutung dieses Curriculums fasst der Initiator Hempelmann so zusammen:

»Die Ausbildung versteht sich als Beitrag für eine auftragsbewusste und wahrnehmungsfähige evangelische Kirche, die mit Zuversicht und Lernbereitschaft den Aufgaben der Gegenwart begegnet. Sie möchte dazu beitragen, die religiöse Gegenwartskultur (Strömungen und Gruppen) kennen und deuten zu lernen, das evangelische Gottes- und Weltverständnis im Gegenüber zu anderen weltanschaulichen Orientierungen darstellen zu können, Unterscheidungs-, Auskunfts- und Dialogfähigkeit zu stärken, Medien- und Beratungskompetenz zu fördern. Theologische Ausbildung und kirchliche Praxis haben heute die Aufgabe, sich auf den Dienst in einer durch religiösen und weltanschaulichen Pluralismus geprägten Gesellschaft einzustellen. Dazu ist beides nötig: den eigenen Glauben zu kennen und den anderen Glauben zu achten. Die Erschließung des eigenen Glaubens orientiert sich an Impulsen und Orientierungen reformatorischer Theologie (u.a. Unterscheidungen zwischen Person und Werk, Evangelium und Gesetz, Glaube und Liebe, Gott und Mensch), die in der Begegnung und Auseinandersetzung mit dem Phänomen neuer religiöser und weltanschaulicher Bewegungen von besonderer Relevanz sind.«29

Rückblickend kann das Curriculum Weltanschauungsfragen in Form einer berufsbegleitenden Ausbildung als Erfolgsgeschichte bezeichnet werden. Es ist gelungen, Pfarrerinnen und Pfarrer auf die Herausforderungen der gegenwärtigen weltanschaulich-religiösen Gegenwartskultur vorzubereiten. Mit der von Hempelmann angeregten Ausbildungsinitiative wurde das übergemeindliche Handlungsfeld »Weltanschauungsfragen« in der EKD deutlich gestärkt, wovon letztlich die Landeskirchen durch Zugewinn an Kompetenzen profitieren können. Die EZW hat sich auf diesem Gebiet stark profiliiert, was unter ihrer Vorgängerin, der »Apologetischen Centrale« (1921–1937), in Anknüpfung an Johann Hinrich Wichern noch »Schulungsarbeit« geheißen hatte.30

5.SCHLUSS

Reinhard Hempelmann gilt als einer der führenden Experten für die pfingstlichcharismatischen Bewegungen in Deutschland. Aber auch in Fragen des weltanschaulich-religiösen Pluralismus in der Bundesrepublik hat er sich wiederholt profiliert geäußert. In seiner umfangreichen Publikationsliste spiegelt sich die ganze Bandbreite an Themen der sich verändernden Religionskultur seit den 1990er Jahren wider. Seit vielen Jahren meldet er sich regelmäßig im »Materialdienst der EZW« in der Rubrik »Zeitgeschehen« zu aktuellen weltanschaulichen Fragestellungen zu Wort, ob zur Wiederkehr der Gnosis, zu Patchworkreligiosität, zur Frage von Kruzifixen in Gerichtssälen, zur Diskussion über Sterbehilfe, zu Extremismus, Toleranz, Konfessionslosigkeit und Atheismus, aber auch zu aktuellen und für die Gegenwartslage relevanten theologischen Fragestellungen.

Überblickt man die Beiträge des EZW-Leiters, die seit 1992 für die EZW, ob im »Materialdienst«, in den EZW-Texten oder in der EZW-Publikation »Panorama der neuen Religiosität« erschienen sind, so werden Themen, Aufgabenstellungen und Herausforderungen für eine evangelische Weltanschauungsarbeit neu lebendig. Reinhard Hempelmanns unermüdliches publizistisches Eintreten für eine wahrnehmungs- und auskunftsfähige Kirche, die sich der Aufklärung im Dienst des Evangeliums verpflichtet weiß, sein unaufgeregtes, aber klares Engagement für die Weltanschauungsarbeit der Evangelischen Kirche in Deutschland verdienen besonderen Dank, höchste Anerkennung und großen Respekt.

1 Reinhard Hempelmann, Den eigenen Glauben kennen – den fremden Glauben verstehen. 50 Jahre Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen, in: Materialdienst der EZW 6/2010, 205–216, hier: 215.

2www.ezw-berlin.de/downloads/Hempelmann%20Veroeffentlichungen%20Langfassung. pdf (28.12.2017).

3 Reinhard Hempelmann, Neue Gemeindegründungen und Kirche, in: Materialdienst der EZW 8/1992 (im Folgenden: MD), 240–244, hier: 244.

4 MD 3/1993, 81–85,

5 MD 5/1993, 136.

6 MD 5/1994, 135–140.

7 MD 10/1994, 300–306.

8 MD 2/1995, 33–42.

9 MD 4/1995, 111–118.

10 MD 11/1993, 341–343.

11 A.a.O., 342.

12 Reinhart Hummel, Die EZW geht bis 1997 nach Berlin, in: MD 8/1994, 246–247, hier: 247.

13 Michael Nüchtern, EZW zur Zeit mit zwei Adressen, in: MD 3/1996, 96.

14 Reinhard Hempelmann, Einführung, in: Ders. (Hg.), Handbuch der Evangelistisch-missionarischen Werke, Einrichtungen und Gemeinden, Deutschland – Österreich – Schweiz. Eine Publikation der EZW, Stuttgart 1997, 9.

15 Reinhard Hempelmann, Licht und Schattenseiten des Erweckungschristentums. Ausprägungen und Herausforderungen pfingstlich-charismatischer Frömmigkeit, Stuttgart 1998, 11.

16 MD 3/1999, 66–74, hier: 74.

17 A.a.O., 72.

18 A.a.O., 74.

19 MD 6/1999, 161–171.

20 A.a.O., 170.

21 Hempelmann, Einführung, in: Ders. u.a. (Hg.), Panorama der neuen Religiosität. Sinnsuche und Heilsversprechen der neuen Religiosität, Gütersloh 22005, 22.

22 A.a.O., 21.

23 Reinhard Hempelmann, Den eigenen Glauben kennen – den fremden Glauben verstehen, a.a.O., 210.

24 Vgl. z.B.: Reinhard Hempelmann, »Sie beobachtet die religiösen und weltanschaulichen Strömungen der Zeit…«. Zum Kontext des christlichen Zeugnisses im 21. Jahrhundert, in: Matthias Pöhlmann, Hans-Jürgen Ruppert, Reinhard Hempelmann, Die EZW im Zug der Zeit. Beiträge zu Geschichte und Auftrag evangelischer Weltanschauungsarbeit, EZW-Texte 154, Berlin 2000, 27–40. Siehe auch insgesamt: Reinhard Hempelmann, Religion und Religiosität in der modernen Gesellschaft. Evangelische Beiträge, EZW-Texte 179, Berlin 2004.

25 Reinhard Hempelmann, Apologetik und Kontextualität, in: Matthias Petzoldt, Michael Nüchtern, Reinhard Hempelmann, Beiträge zu einer christlichen Apologetik, EZW-Texte 148, Berlin 1999, 25–34.

26 Reinhard Hempelmann, Nein sagen zu jedem Extremismus – Abschied vom negativen Essentialismus, in: MD 9/2017, 323 f., hier: 324.

27 MD 5/2009, 191.

28 Claudia Knepper, Abschluss des »Curriculums Religions- und Weltanschauungsfragen« der EZW, in: MD 3/2011, 108f., hier: 109.

29 MD 2/2016, 67 f., hier: 68.

30 Vgl. hierzu meinen Beitrag: Johann Hinrich Wicherns vergessenes Erbe. Impulse für eine evangelische Apologetik zwischen Innerer Mission und Publizistik, in: MD 4/2008, 125– 133.

ITHEOLOGISCHE GRUNDSATZFRAGEN

RELIGIÖSE RELIGIONSKRITIK

ÜBER DAS WAGNIS CHRISTLICHER GOTTESREDE IN DER GEGENWÄRTIGEN RELIGIONSLANDSCHAFT

Ulrich H. J. Körtner

1.RELIGION, THEOLOGIE UND KRITIK

Kritik ist ein Moment aller Religion, jedenfalls aller Religionen, die prophetischen Charakter tragen oder doch ein prophetisches Moment aufweisen. Man denke nur an die Schriftprophetie Israels in alttestamentlicher Zeit. Immer wieder haben Israels Propheten, verbunden mit scharfer Sozialkritik, massive Kritik am religiösen Kult geübt.1 Deuterojesaja, der zweite Jesaja, ergießt seinen beißenden Spott über die selbstgemachten Götterbilder und diejenigen, welche sie anbeten.2

Wenn wir über religiöse Religionskritik nachdenken, gilt es zu beachten, dass die Bibel – das Alte Testament nicht minder wie das Neue Testament – »nicht nur ein religiöses, sondern auch ein antireligiöses Buch«3 ist, wie Paul Tillich urteilt. »Die Bibel kämpft für Gott gegen die Religion«4, d.h. gegen Mythos und Kultus. Die »Entmythologisierung«, die von Rudolf Bultmann zum theologischen Programm erhoben worden ist,5 gibt es schon in der Bibel selbst avant la lettre. Man denke nicht nur an die bereits erwähnte ätzende Kritik Deuterojesajas an den Göttern der Umwelt Israels, sondern auch an die Schöpfungsgeschichte in Genesis 1. Die Gestirne sind keine Gottheiten mehr wie in anderen altorientalischen Schöpfungsmythen, sondern lediglich Leuchten, die Jahwe an den Himmel gesetzt hat. Auch das Neue Testament ist von scharfer Kritik an bestehenden Religionen durchzogen, und schon Jesus selbst kritisiert immer wieder die Praxis des Judentums seiner Zeit. Aber auch das Christentum selbst, sofern es Züge einer mythischen und kultischen Religion annimmt, ist schon im Neuen Testament Gegenstand der Kritik. Nicht nur, dass etwa Paulus an bestimmten Formen des Judenchristentums und seiner Forderung nach der Beschneidung von nichtjüdischen Christen oder an einem enthusiastisch-spiritualistischen Christentum in Korinth Kritik übt. Man kann auch wie Tillich oder Bultmann in der johanneischen Theologie kultus- und mythoskritische Züge erkennen.6 Die Sakramente von Taufe und Abendmahl treten deutlich in den Hintergrund, und die futurische Eschatologie, welche die Wiederkunft Christi, Weltende und Jüngstes Gericht in mythischen Bildern ausmalt, wird von einer präsentischen Eschatologie marginalisiert, nach welcher sich Gericht und Auferweckung zum ewigen Leben bereits hier und jetzt im Akt des Glaubens ereignen. Doch auch wenn das Christentum, um noch einmal mit Tillich zu sprechen, »mehr sein will als eine Religion«7, ist seine fundamentale Kritik an aller Religion doch selbst eine Erscheinungsform von Religion. Sie bedient sich auf paradoxe Weise religiöser Mittel, religiöser Sprach- und Denkformen, um die Religion zu bekämpfen.

Immer wieder sind Religionen aufgrund neuer religiöser Erfahrungen oder theologischer Einsichten aus der kritischen Auseinandersetzung mit bestehenden Religionen entstanden. Das gilt für das Christentum ebenso wie für den Islam, aber auch für den Buddhismus. Reformbewegungen und religiöse Neuaufbrüche kommen in der gesamten Christentumsgeschichte bis in die Gegenwart vor. Immer wieder haben sie auch zu Kirchenspaltungen geführt, verbunden mit scharfer Kritik an jenen, welche den neuen Lehren nicht folgen wollten. Nicht zuletzt sind die Kirchen der Reformation aus einer religiösen Freiheitsbewegung und aus der Kritik an bestehenden kirchlichen Verhältnissen und Lehren hervorgegangen. Das protestantische Prinzip der ecclesia semper reformanda stellt die aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen unter den Anspruch permanenter Selbstkritik und das heißt: religiöser Religionskritik.

Religiöse Religionskritik begegnet uns einerseits in der Form der Kritik, die von einer bestimmten Religion an anderen Religionen geübt wird, andererseits aber auch als Kritik innerhalb einer bestimmten Religion. Im Unterschied zu areligiösen Formen der Religionskritik nimmt die religiöse Religionskritik keinen Standpunkt außerhalb jeglicher Religion ein, sondern kritisiert die eigene oder fremde Religion von einem religiösen Standpunkt aus und unterscheidet zwischen wahrer und falscher Religion. Sie stellt also nicht die Sinnhaftigkeit von Religion überhaupt in Frage, wohl aber die Sinnhaftigkeit oder Angemessenheit einzelner Erscheinungsformen von Religion.

Seit der Aufklärung sind nicht nur Formen der Religionskritik entstanden, welche konkrete Religionen, ihre Lehren und ihre Praxis radikaler Vernunftkritik unterziehen, um zum Konstrukt einer natürlichen Religion vorzustoßen, deren Wesenskern ein moralisch vernünftiger sein soll, sondern auch Formen einer noch radikaleren Kritik, welche Religion überhaupt als Irrtum, als Wahn und als etwas zu Bekämpfendes und zu Überwindendes ansieht.8 Religionen können darauf reagieren, indem sie entweder diese Spielarten radikaler Religionskritik ihrerseits mit allen Mitteln als Form des Irrtums oder der Bosheit bekämpfen oder aber, indem sie Wahrheitsmomente solcher Religionskritik in die eigene religiöse Sicht auf die Religion zu integrieren versuchen. Tatsächlich gibt es dafür aus der Geschichte des Christentums in der Moderne genügend Beispiele.

Eine wesentliche Rolle spielt dabei die Theologie. Theologie im christlichen Kontext ist die Selbstprüfung des christlichen Glaubens in einer wissenschaftlichen Form. Auch wenn moderne Theologie religionswissenschaftliche Elemente enthält, ist die Theologie als Ganze doch von Religionswissenschaft zu unterscheiden, weil sie die eigene wie fremde Religionen nicht von einem neutralen oder areligiösen Standpunkt aus betrachtet, sondern explizit einen religiösen Standpunkt einnimmt. Sie beschreibt eben nicht nur die eigene Religion oder fremde Religionen, sondern sie bezieht Stellung. Sie verfährt nicht nur deskriptiv, sondern sie argumentiert normativ, mag dies auch noch so zurückhaltend geschehen. Theologie als Selbstprüfung des christlichen Glaubens unter historischen, systematischen und praktischen Gesichtspunkten ist ein unaufgebbares Moment des Glaubens. In ihr verhält sich der Glaube kritisch zu sich selbst. Theologie als Wissenschaft ist die institutionalisierte religiöse Religionskritik des Christentums, die sich in der Moderne ihrerseits zu areligiösen oder antireligiösen Formen der Religionskritik verhalten muss.9 Theologische Religionskritik kann unter den Bedingungen der Moderne nicht einfach aus der Binnenperspektive des Glaubens geübt werden, sondern diese Binnenperspektive muss sich ausdrücklich zu den unterschiedlichen Außenperspektiven ins Verhältnis setzen. Die Aufgabe besteht nicht darin, eine Außenperspektive in die Binnenperspektive zu integrieren, sie also von einer Außenperspektive zu einem Moment der Binnenperspektive zu transformieren und damit als Außenperspektive zu beseitigen. Die Herausforderung liegt vielmehr darin, die Außenperspektive am Ort der Binnenperspektive so zur Sprache zu bringen, dass das Andere zur eigenen Perspektive als dieses gewahrt bleibt. Dabei setzt sich Theologie, wenn sie es ernst meint, immer wieder selbst aufs Spiel, weil ihr Nachdenken über Gott nicht mit der fraglosen Gewissheit seines Seins, sondern mit seinem Strittigsein konfrontiert.

Außerdem hat Theologie als religiöse Religionskritik zu bedenken, dass das Christentum nur im Plural von Christentümern existiert und dass es selbst innerhalb der verschiedenen Christentümer eine Pluralität von Perspektiven oder Gesamtinterpretationen des christlichen Glaubens und seines Verhältnisses zu anderen Religionen oder Weltanschauungen gibt. Religiöse Religionskritik bedeutet daher, dass auch diese anderen Perspektiven christlichen Glaubens auf sich selbst, das heißt aber auch die Pluralität der Theologien, innerhalb einer konkreten Gestalt von Theologie thematisch werden. Das ist keineswegs immer eine harmonische Veranstaltung, in der sich die unterschiedlichen Sichtweisen des Christentums wechselseitig bereichern, sondern hier werden auch wechselseitig Einsprüche laut. Theologie als religiöse Religionskritik bearbeitet Erfahrungen von Differenz, und zwar auch Erfahrungen von solchen Differenzen, die sich – zumindest bis auf weiteres – nicht in einem Konsens aufheben lassen. Eine theologische Hermeneutik des Einspruchs setzt sich mit den von anderer Seite erhobenen Einsprüchen nicht bloß deshalb auseinander, um sie als unbegründet zu widerlegen, sondern um sie als Anstoß zur Selbstprüfung und Selbstkritik zu hören.

Religiöse Religionskritik im Sinne der Bereitschaft zur Selbstkritik ist ein unaufgebbares Moment von öffentlicher Religion10 und öffentlicher Theologie.11 Der Begriff Öffentliche Theologie oder public theology ist in den USA von Ronald Thiemann, Max Stackhouse, Don Browning und David Tracy in die Diskussion eingeführt worden, in Großbritannien von Duncan Forrester und Will Storrar, in Südafrika von John de Gruchy und Dirkie Smit, in Deutschland von Wolfgang Huber und Jürgen Moltmann.12 Der evangelische Theologe Wolfgang Vögele definiert öffentliche Theologie als »die Reflexion des Wirkens und der Wirkungen des Christentums in der Öffentlichkeit in die Gesellschaft hinein«. Sie ist für Vögele sowohl »die Kritik und die konstruktive Mitwirkung an allen Bemühungen der Kirchen, der Christen und Christinnen, dem eigenen Öffentlichkeitsauftrag gerecht zu werden, als auch die orientierend-dialogische Partizipation an den öffentlichen Debatten, die unter Bürgern und Bürgerinnen über Identität, Ziele, Aufgaben und Krisen dieser Gesellschaft geführt werden«13.

Ein wichtiges Thema öffentlicher Theologie wie auch der gegenwärtigen zivilgesellschaftlichen Diskurse ist die Rolle von Religion in der modernen Gesellschaft. Nach einer vielzitierten Formulierung Ernst-Wolfgang Böckenfördes lebt der »freiheitliche, säkularisierte« – und das heißt eben pluralistisch verfasste – Staat »von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann«14. »Als freiheitlicher Staat kann er«, wie Böckenförde ausführt, »nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des Einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert«15, ohne diese Regulierungskräfte durch rechtliche Sanktionen erzwingen zu können. Böckenförde deutet die Situation des modernen Staates freilich noch mittels des Säkularisierungsbegriffs und unterstellt eine Homogenität, die stillschweigend aus der mehrheitlichen Zugehörigkeit der Bürgerinnen und Bürger zum Christentum abgeleitet wird.16 Doch eben dies versteht sich in der multikulturellen und multireligiösen Situation heutiger Gesellschaften nicht mehr von selbst, wie z.B. die Diskussion in Deutschland um den Begriff einer Leitkultur zeigt. Ob die pluralistische Demokratie oder auch das Konzept einer Zivilgesellschaft in jedem Fall auf irgendeine Form von Religion, d.h. eine Form der Zivilreligion angewiesen bleibt, ist aber umstritten.17

Umgekehrt stellt sich die Frage, wie pluralismusfähig die Religionen sind, d.h. in welchem Maße sie in der Lage sind, sich der Moderne zu öffnen, ohne ihre Substanz preiszugeben und ihre Kritikfähigkeit einzubüßen. Das gilt insbesondere für die monotheistischen Religionen, deren Bekenntnis zu dem einen und einzigen Gott traditionellerweise zur Behauptung eines exklusiven Geltungsanspruchs für die eigene Religion führt. Die Religionen sind deshalb herausgefordert, sich produktiv mit der konfliktträchtigen Konkurrenz religiöser Geltungsansprüche und ihrer grundsätzlichen Relativierung in modernen pluralistischen Gesellschaften auseinanderzusetzen. Steht im Hintergrund der Überlegungen Böckenfördes die Frage, wieviel Religion der säkulare Staat braucht,18 so stellt sich heute mit gleichem Recht die umgekehrte Frage, wieviel Religion der moderne demokratische und weltanschaulich plurale Rechtsstaat verträgt.19

Zur Pluralismusfähigkeit der Religionen gehört in jedem Fall die Anerkennung der Religionsfreiheit durch die Religionen selbst – d.h. aber auch die Anerkennung des Rechts auf Religionsübertritt und der Abkehr von jeder Religion überhaupt! – sowie die Bejahung der repräsentativen Demokratie, des weltanschaulich neutralen Rechtsstaats und damit der Trennung von Staat und Religion. Wollen sich Theologie und Kirche am gesellschaftlichen und politischen Diskurs beteiligen, können sie weder für die von ihnen vertretenen ethischen Grundhaltungen noch für materialethische Handlungsempfehlungen einen Monopolanspruch erheben. In politischen Fragen können sie ebenso irren wie andere gesellschaftliche Kräfte. Auch wenn die Beteiligung von Theologie und Kirche an gesellschaftlichen Prozessen der Meinungsbildung in unseren Breitengraden nach wie vor erwünscht ist, wird ihnen doch längst nicht mehr die Rolle einer letzten Entscheidungsinstanz zugewiesen. So kann ein theologischer Standpunkt im politischen Bereich auch nur als einer neben anderen vertreten werden. Das entbindet Theologie und Kirche freilich nicht von der Aufgabe, die Verbindlichkeit des Glaubens für das individuelle Leben und die Gestaltung der Gesellschaft ernst zu nehmen, besteht doch andernfalls die Gefahr der »Selbstsäkularisierung«20. Nur eine Kirche, »die ihres eigenen Auftrags neu gewiß wird, kann auch ihren Ort in der Gesellschaft überzeugend wahrnehmen«.21

2.THEOLOGISCHER RELIGIONSBEGRIFF UND RELIGIONSKRITIK

Wenn Theologie als religiöse Religionskritik charakterisiert wird, fragt sich allerdings sogleich, welcher Begriff von Religion und welche Maßstäbe für die Kritik von Religion zugrunde gelegt werden. Ich möchte die These vertreten, dass Fundament und Maßstab von Theologie nicht ein allgemeiner Begriff von Religion ist, sondern das Evangelium von Jesus Christus als Bezeugung der letztgültigen Selbstoffenbarung Gottes. Es ist nun aber nach biblischem Zeugnis Gott selbst, der alle Religion der Kritik unterzieht, weil auch jede Form der Religion oder der Frömmigkeit Gegenstand seines endzeitlichen Gerichtes ist. Das Kommen Gottes in diese Welt führt zur fundamentalen Krise aller Religion einschließlich des Christentums und einschließlich aller Theologien. Kurz: Am Christusgeschehen orientierte religiöse Religionskritik ist letztlich eschatologisch begründet. Mit Bedacht rufe ich mit solchen Aussagen die religionskritischen Einsichten jener theologischen Aufbruchbewegung nach dem Ersten Weltkrieg in Erinnerung, die als Dialektische Theologie in die Geschichte eingegangen ist.

Zwar kann auf den Religionsbegriff theologisch nicht verzichtet werden, doch ist zunächst zwischen Religion und Gottesglaube zu unterscheiden. Heutige Formen neuer Religiosität sind oftmals eine Religion ohne personenhafte Gottesvorstellung. Sie rechnet mit kosmischen Energien und Kraftfeldern, die man spirituell anzapfen kann, nicht aber mit einem personenhaften Gott, der den Menschen als verantwortliches Gegenüber geschaffen hat. Wichtige Strömungen, die als neue Religiosität bezeichnet werden, laufen auf einen Pantheismus oder Monismus hinaus, der kein Gegenüber von Gott und Welt, Schöpfer und Schöpfung kennt, sondern nur ein kosmisches Einheitsprinzip. Umfragen zeigen, dass auch unter Kirchenmitgliedern solche neureligiösen Vorstellungen anzutreffen sind, während man dem Glauben an einen personenhaften Gott mit wachsendem Unverständnis begegnet. Die Wiederkehr der Religion, besser gesagt das neu erwachende Interesse an Religion, kann im Einzelfall ebenso sehr Ausdruck der Gottsuche wie des Gottesverlustes sein. Umgekehrt kann ein Gewohnheitsatheist Gott näher sein als so mancher, der sich für religiös hält. Insofern ist Religion in theologischer Hinsicht ein ambivalentes Phänomen.

Der Glaube an Gott und die Rede von ihm sind ebensowenig unabdingbar wie die Frage nach Gott.22 Wohl mag es sein, dass der Mensch nicht umhin kann, nach Sinn zu fragen. Die Frage nach dem Sinn des Lebens ist aber nicht einfach mit der Gottesfrage identisch. Und nicht alle Antworten auf die Sinnfrage lassen sich als religiös bezeichnen. Religion ist eine Möglichkeit neben anderen, aber nicht die einzige, Sinnfragen und Erfahrungen von Sinnwidrigkeiten zu bearbeiten.

Bei vielen neuzeitlichen Versuchen, von Gott auf Religion als Leitthema der Theologie umzuschalten, bleibt durchaus unklar, ob die Unvermeidbarkeit von Religion behauptet werden soll und aus ihr die Unvermeidbarkeit des menschlichen Gottesbezuges, oder ob aus der vom christlichen Glauben behaupteten Unvermeidbarkeit Gottes – jedenfalls für gebildete Menschen – die Unvermeidbarkeit von Religion behauptet werden soll. Weder das eine noch das andere trifft zu.23 Davon abgesehen darf die vom Glauben behauptete Unausweichlichkeit Gottes nicht mit der Unausweichlichkeit der Frage nach Gott verwechselt werden. Das ist die theologische Begründung für die Bestreitung der These, Religion gehöre unauflöslich zum Wesen des Menschen.

Die Vertreter der Dialektischen Theologie haben sich von der positiven Verwendung des Religionsbegriffs in der neuprotestantischen Theologie seit Schleiermacher scharf abgesetzt und die Alternative zwischen dem von Gott gewirkten Glauben und jeglicher Religion als einer menschlichen Aktivität aufgestellt.24 Namentlich Barth hat die Theologie nicht länger als Funktion von Religion, sondern der Kirche bestimmt und alle Formen menschlicher Religiosität einschließlich des auch von ihm als Religion bezeichneten Christentums einer gewissermaßen religiösen Religionskritik unterzogen. Denn der aktuale Glaube als Antwort auf das Wort Gottes und der durch diese bezeugte Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus wird nicht nur von Religion im allgemeinen, sondern auch vom Christentum als eine Erscheinung menschlicher Geschichte trennscharf unterschieden.

Seine »Religionstheologie« in der »Kirchlichen Dogmatik« beginnt bekanntermaßen mit der schroffen These: »Religion ist Unglaube; Religion ist eine Angelegenheit, man muß geradezu sagen: die Angelegenheit des gottlosen Menschen.«25 Sogleich stellt Barth klar, dass es sich bei diesem Satz um »kein religionswissenschaftliches und auch kein religionsphilosophisches Urteil« handelt, »das in irgendeinem negativen Vorurteil über das Wesen der Religion seinen Grund hätte. Es soll nicht nur irgendwelche andere mit ihrer Religion, sondern es soll auch und vor allem uns selbst als Angehörige der christlichen Religion treffen. Es formuliert das Urteil der göttlichen Offenbarung über alle Religion.«26 Das bedeutet nun allerdings keineswegs, dass Barth den Religionsbegriff als theologische Kategorie aufgegeben hätte. Er hat allerdings nicht länger die Funktion eines theologischen Leitbegriffes. Diese wird von den Termini »Wort Gottes« und »Selbstoffenbarung Gottes« übernommen. Sie bezeichnen bei Barth die Instanz einer theologischen Letztbegründung, die keiner äußeren Rechtfertigung mehr bedarf, sondern im Geschehen des Glaubens unmittelbare Evidenz gewinnt.

Das hindert Barth freilich nicht daran, den Religionsbegriff theologisch zu verwenden. Insofern ist es irreführend, wenn man der Barthschen Theologie mangelnde Anschlussfähigkeit oder hermetische Unzugänglichkeit vorwirft. Sehr wohl und bewusst bezieht sich Barth auf die neuprotestantische Problemlage, deutet aber den Religionsbegriff in bezeichnender Weise um. Hierbei schließt er nicht an die durch Schleiermacher aufgebrachte Unterscheidung zwischen natürlicher und positiver Religion, sondern an die altprotestantische Unterscheidung zwischen wahrer und falscher Religion an. »Keine Religion ist wahr. Wahr, d.h. entsprechend dem, als was sie sich gibt und wofür sie gehalten wird, kann eine Religion nur werden, und zwar genau so, wie der Mensch gerechtfertigt wird, nur von außen.«27 Theologisch verwendbar bleibt der Religionsbegriff für Barth also, sofern er mit der Thematik der Rechtfertigungslehre verknüpft wird.

»Es gibt eine wahre Religion: genau so, wie es gerechtfertigte Sünder gibt. Indem wir streng und genau in dieser Analogie bleiben – und sie ist mehr als eine Analogie, sie ist im umfassendsten Sinn die Sache selbst, um die es hier geht – dürfen wir nicht zögern es auszusprechen: die christliche Religion ist die wahre Religion.«28

Die Implikationen und Konsequenzen dieser Argumentation sollen hier nicht weiter verfolgt werden. Uns interessiert an dieser Stelle nur, dass und wie von der Thematik des Wortes Gottes aus die Religionsthematik bei Barth keineswegs nur in Abgrenzung vom Neuprotestantismus, sondern sehr wohl auch positiv aufgegriffen wird.

Gegen Ende seines kurzen Lebens steht der »undogmatische« Religionsbegriff »liberaler« Theologie im Hintergrund der Überlegungen Dietrich Bonhoeffers zur Religionskritik, zu einem vermeintlich heraufziehenden religionslosen Zeitalter, zur Möglichkeit eines religionslosen Christentums sowie einer nichtreligiösen Interpretation biblischer Begriffe.29 Bonhoeffer verfolgt die Spur einer theologischen Rezeption der Religionskritik Feuerbachs und Nietzsches, die von Barth eingeleitet wurde. Religion steht bei Bonhoeffer für eine fragwürdig gewordene Metaphysik und eine individualistische, weltflüchtige Erlösungsreligion. Bonhoeffers Prognose eines religionslosen Zeitalters und seine Suche nach einer religionslosen Gestalt des Christentums hat viel Widerspruch hervorgerufen. Die Kritik betrifft nicht nur Bonhoeffers Verwendung des Religionsbegriffs, sondern auch seine Sicht der mündigen Welt. »Uns Heutigen«, so urteilt beispielsweise der Praktische Theologe Wilhelm Gräb, »muß diese Kommunikation über Religion ziemlich abwegig erscheinen. Uns ist die Rede von einem rational mündigen Menschen, der diese Mündigkeit in Wissenschaft und Technik, Politik und Recht, Bildung und Erziehung gewinne und beweise, sie in der Religion jedoch aufgebe, nicht mehr nachvollziehbar.«30

Wenn Gräb demgegenüber Religion zum festen, wenngleich in höchst pluraler und oftmals nachchristlicher Gestalt in Erscheinung tretenden Bestandteil moderner Kultur bzw. der unterschiedlichen Alltagskulturen erklärt, gelingt dies nur um den Preis, dass die religionssoziologisch beschriebenen Phänomene von Religionslosigkeit und Gewohnheitsatheismus31 zugunsten von »religionsproduktiven Tendenzen«32 der fortgeschrittenen Moderne abgeschattet werden. Möglich ist dies außerdem nur deshalb, weil Gräb die Religionsthematik auf die Sinnfrage bezieht und unter Religion »die Kultur der Symbolisierung letztinstanzlicher Sinnhorizonte alltagsweltlicher Lebensorientierung« versteht.33 Bezeichnenderweise greift er einerseits auf die kultursoziologische Theorie Gerhard Schulzes zurück34 und will doch andererseits nicht akzeptieren, dass Schulze nicht jede Form von lebensorientierender Grundeinstellung als Religion bezeichnet, sondern stattdessen lieber von »Lebensphilosophien« oder »persönlicher Grundeinstellung« spricht.35

Dass das Christentum Religion ist, lässt sich ebenso wenig bestreiten wie die Tatsache, dass dieses in der ausdifferenzierten modernen Gesellschaft nicht nur in seiner kirchlichen Gestalt vorkommt. Dietrich Rössler hat die plausible Unterscheidung zwischen kirchlichem, gesellschaftlichem und individuellem oder privatem Christentum aufgestellt.36 Tendenzen der Distanzierung von der Kirche oder der Entkirchlichung bedeuten darum religionssoziologisch noch keineswegs eine radikale Entchristlichung der Gesellschaft und ihrer Individuen. Wenn aber Phänomene einer sich selbst als solche verstehenden Religionslosigkeit gegen deren eigene Selbstauslegung zu einer Form von unsichtbarer Religion37 umgedeutet werden, geschieht dies erkennbar in apologetischer Absicht.

Auch was die von Rössler als gesellschaftliches Christentum bezeichnete Gestalt christlicher Religion betrifft, lässt sich eine Wechselwirkung zwischen Entchristlichung und dem Funktionsverlust kirchlichen Christentums und seiner Institutionen nicht verleugnen. »Sie ist zum einen daran zu erkennen, dass die ›latente Kirche‹ die inneren Entfremdungsprozesse nicht hat aufhalten können, zum anderen an dem massiven Substanzverlust des christlichen Glaubens, der in den letzten Jahren das Kirchenvolk selbst ergriffen hat – bei fortbestehendem gesellschaftlichen Einfluß kirchlicher Institutionen.«38 Wieweit die »kirchlich-dogmatische Phraseologie«39 diesen Substanzverlust zumindest mitverursacht hat, wäre gesondert zu diskutieren. Auch dass die Wort-Gottes- Theologie nicht gegen die Gefahr gefeit war, in einem binnenkirchlichen Jargon zu erstarren, soll nicht in Abrede gestellt werden. Es sei aber daran erinnert, dass gerade die Erfahrung der Sprachnot des Glaubens und der Predigtnot zu den entscheidenden Motiven der Entstehung der Dialektischen Theologie gehörten.40

Fraglich ist aber auch, inwiefern ein singularischer und theologisch-normativer Religionsbegriff der Pluralität und Partikularität konkreter Religionen gerecht wird.41 Im Übrigen erfassen die sozioökonomischen Folgen der Moderne und ihrer fortwährenden Modernisierungsschübe inzwischen sämtliche Religionen, und zwar auch außerhalb Europas und Nordamerikas. Nicht nur dem Christentum, sondern auch den anderen Religionen wird eine Transformation zugemutet, »die ihre Existenz gefährdet und zu der es keine geschichtlichen Parallelen gibt. Das bleibt der Wahrheitskern in Bonhoeffers irriger Annahme, daß wir einer völlig religionslosen Zeit entgegengehen.«42

Theologisch wie humanwissenschaftlich und religionssoziologisch ist nun aber auch auf die Ambivalenz jeglicher Religion hinzuweisen. Geschichte und Gegenwart sind reich an bedrückenden Beispielen für religiöse Herrschaftsansprüche, religiösen Fanatismus und religiöse Zwietracht und Intoleranz. Eine zur »Religionshermeneutik«43 erweiterte Theologie bedarf daher theologischer Kriterien für den Umgang mit den Ambivalenzen des Religiösen, von denen auch das Christentum nicht ausgenommen ist. Ob »Lebensdienlichkeit« ein hinreichendes Kriterium ist, darf bezweifelt werden, bedarf doch gerade der schillernde Begriff des Lebens einer gründlichen – und zwar auch theologischen! – Klärung.44 Und ebenso bedarf auch eine Religionshermeneutik, wenn sie denn wirklich Theologie und nicht eine Kulturtheorie der Religion sein will, einer theologischen Fundierung und Kriteriologie.

Die Fragestellung einer hermeneutischen Theologie ist in diesem Sinne bereits von Gerhard Ebeling erweitert worden, indem er einerseits das Christentum konsequent als Religion interpretiert und andererseits nach der Bedeutung des christlichen Glaubens für die Existenz von Religion gefragt hat. Ein dezidiert theologischer Zugang zum Phänomen der Religion(en) und seinen Ambivalenzen ist nach Ebeling über den im Evangelium zentrierten Glauben zu finden bzw. über die rechte Unterscheidung und gleichzeitige Zuordnung von Evangelium und Religion. Sie gewinnt bei Ebeling ihr Gewicht zurück, das sie bei Barth und Bonhoeffer hatte, wenngleich mit anderer Nuance.

»Die Unterscheidung zwischen Evangelium und Religion darf keinesfalls dazu dienen, das Christentum offenbarungspositivistisch und pauschal als die göttliche Wahrheit den Religionen als bloßem Menschenwerk entgegenzusetzen. Die Unterscheidung zwischen Evangelium und Religion intendiert vielmehr in erster Linie eine christliche Selbstkritik am Maßstab des Evangeliums.«45

Doch darf die notwendige Unterscheidung zwischen Evangelium und Religion nicht auf ihre Scheidung hinauslaufen.46

Alle Religionen einschließlich des Christentums in seiner Gesamtheit – ganz zu schweigen von der Vielfalt seiner Konfessionen und Denominationen – bleiben trotz ihres universalen Geltungsanspruches und ihrer teilweise missionarischen Ausrichtung partikular. Das Evangelium bzw. die Botschaft des Glaubens – Bultmann sprach bekanntlich vom Kerygma – transzendiert jedoch die auch dem Christentum innewohnende Partikularität zur universalen Menschlichkeit hin.47 Christlicher Glaube deutet dies nach Ebeling so, dass alle Religion darin zu ihrer Erfüllung gebracht wird, was aber keine religionswissenschaftlich-empirische Aussage ist und auch nicht die Möglichkeit ausschließt, dass auch andere Religionen an der christlicherseits mit dem Evangelium in Verbindung gebrachten Erfüllung der Religion auf verborgene Weise partizipieren. Nur sofern sie dem Evangelium gemäß in Gebrauch genommen wird, darf die christliche Religion nach Ebeling als »die zur Wahrheit gebrachte Religion« gelten.48