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Am 26. April 2002 erschütterte der Amoklauf am Gutenberg-Gymnasium in Erfurt ganz Deutschland. Drei Jahre nach dem amerikanischen Columbine-Massaker passierte eine solch schrekliche Tat auch in Deutschland. Danach stand nur eine Frage im Raum: Warum? Seitdem fanden noch weitere School-Shootings in Deutschland, Europa und den USA statt, immer mit ähnlichem Tathergang. Die Frage nach den Gründen bleibt bis heute jedoch nahezu ungeklärt. Im Mittelpunkt des vorliegenden Bandes stehen daher das Profil der Täter, die Rolle der Medien und die Schulen selbst. Aus dem Inhalt: der Amoklauf von Erfurt, mediale Gewalt im Diskurs, die Rolle der Medien, kriminalistische Gesichtspunkte, Ursachen und Hintergründe.
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Veröffentlichungsjahr: 2013
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Impressum:
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Ein Imprint der GRIN Verlags GmbH
Druck und Bindung: Books on Demand GmbH, Norderstedt, Germany
Coverbild: pixabay.com
Schüler außer Kontrolle.
Amoklauf und School-Shooting
Amoklauf – Warum gerade an Schulen? Von Hanna Horn
Einleitung
Begriffserklärung
Taten
Die Lebensphase Jugend
Ursachen, Hintergründe und Entstehung
Tatort Schule
Medien
Prävention
Fazit
Literaturverzeichnis
Amoklaufende Jugendliche – eine zunehmende Gefahr oder übertriebene Hysterie? Von Burkhard Schröter
Einleitende Gedanken
Begriffsbestimmung
Kriminalstatistische Gesichtspunkte
Die Rolle der Medien
Multidisziplinäre Erklärungsansätze
Mögliche Präventionen
Resümee
Quellenverzeichnis
Der Amoklauf von Erfurt. Widersprüche eines öffentlichen Diskurses von Florian Bödecker
Einleitung
Zur Methode
Der Diskurs
Zusammenfassung: Der Amoklauf von Erfurt als diskursives Ereignis im Spannungsfeld zwischen Kritikabwehr und konstruktiver Kritik
Literaturverzeichnis
Anhang
2012
„Man will geliebt werden;
wenn das nicht gelingt, will man bewundert werden;
wenn das nicht gelingt, will man gefürchtet werden;
gelingt auch das nicht, will man verabscheut und verachtet werden.
Der Seele graut es in der Leere, und sie muss Kontakt herstellen,
koste es, was es wolle.“[1]
Hjalmar Söderberg
„Am Vormittag des 16. April 2002 ereignet sich während der schriftlichen Abiturprüfungen im Erfurter Gutenberg-Gymnasium eine bis dahin unfassbare und unvorstellbare Tat: Der 19-jährige ehemalige Schüler Robert S. betritt mit einer Sporttasche das Schulgebäude. In der Toilette im Erdgeschoss zieht er sich schwarze Kleidung an sowie eine Maske über den Kopf und bewaffnet sich. Danach bewegt er sich zielsicher und systematisch durch das Schulgebäude und tötet in nur zehn Minuten zwölf Lehrer, zwei Schüler und jeweils eine Sekretärin und einen Polizisten. Am Ende tötet er sich selbst.“[2]
Ähnliche Nachrichten von derartigen Taten sind bisher nur durch die Medien bekannt und erscheinen eher weit entfernt. Es gilt vielmehr als ein spezifisches Problem der USA, wie beispielsweise die weltweit aufsehenerregendste Tat an der Columbine High School. Nachdem jedoch mit den Städten Erfurt, Emsdetten und Winnenden erschreckende Ereignisse mit blutigen Spuren assoziiert werden, steht fest, dass auch in Deutschland Taten dieser Art möglich sind. Obwohl solche krisenhafte Ereignisse nur selten vorkommen, ist ihre Anzahl in den letzten Jahren stetig gestiegen. Diese grausamen Taten, über die immer wieder in den Medien berichtet wird, haben großes Entsetzen und Ratlosigkeit allerorts ausgelöst und sich dauerhaft in das Gedächtnis der Gesellschaft eingebrannt. Es ist also von Bedeutung sich mit der Thematik des School Shootings auseinander zu setzten und die Bevölkerung zu sensibilisieren. Wenn die Medien von grausamen, brutalen und furchtbaren Taten sprechen, beschreiben diese Worte ausschließlich das Handeln, nicht die Gründe. Die öffentlichen Diskussionen fokussieren den psychischen Zustand, der zumeist männlichen Täter, konzentrieren sich auf deren Medienkonsum, insbesondere die gewalthaltigen Videospiele, und thematisieren den Zugang sowie den Gebrauch von Waffen. Es erweckt den Anschein, als würden die sozialen Voraussetzungen sowie die tatauslösenden Beweggründe der Täter eher außer Acht gelassen werden. Darüber hinaus gewinnt zunehmend die Frage an Bedeutung, warum Jugendliche gerade an Schulen solch tödliche Gewalttaten ausüben. So werden solche Taten im Englischen als School Shootings bezeichnet, womit im Deutschen der Begriff der Schulschießerei gemeint ist.
Die nachstehende fachwissenschaftliche Bachelorarbeit thematisiert diese Frage und beschäftigt sich demnach ausschließlich mit Taten, die sich an Schulen ereignen. Es werden entscheidende innere und äußere Beweggründe aufgezeigt, die solche Taten auslösen, um letztendlich feststellen zu können, warum Jugendliche ausgerechnet Schulen als Tatort wählen.
Einführend wird der Terminus Amoklauf als eine spezifische Gewalttat definiert und in den Kontext der Mehrfachtötungen eingeordnet. Im Anschluss daran erfolgt eine Begriffsabgrenzung zu dem Terminus School Shooting, die in der folgenden Arbeit bei Tötungen an Schulen die Verwendung der Begrifflichkeit des School Shootings rechtfertigt. Nach dieser begrifflichen Einführung wird sich im weiteren Verlauf den äußeren Umständen der Taten gewidmet, um einen ersten Eindruck von dem Ausmaß und den Rahmenbedingungen eines School Shootings zu erhalten. Zuerst wird an dieser Stelle das Ausmaß des Phänomens genauer beschrieben, wobei zunächst der internationale Kontext im Vordergrund steht. Hierbei wird auf die zeitliche Verteilung von School Shootings, sowie deren Opfer und Tatausgang eingegangen. Anschließend werden die Täter, deren Geschlecht, Anzahl und Alter sowie die verwendeten Tatwaffen genauer definiert, um im weiteren Verlauf von diesen Fakten ausgehen zu können. Im letzten Gliederungspunkt wird der Fokus auf Deutschland und die dort bisher aufgetretenen School Shootings und deren jährliche Verteilung gelegt.
Basierend auf der zuvor beschriebenen Altersstruktur der Täter, wird im folgenden Kapitel die Lebensphase Jugend erläutert. Die für diese Lebensphase typischen und relevanten Veränderungen und Probleme werden dargestellt, um so ein Gesamtbild der Entwicklungsprozesse im Jugendalter zu vermitteln und später gegebenenfalls Rückschlüsse auf bedeutende Entwicklungen ziehen zu können. Zu Beginn werden hier die von Robert Havighurt für notwendig erachteten Entwicklungsaufgaben geschildert und die daraus entstehenden entwicklungspsychologischen Aspekte aufgegriffen. Ein spezielles Augenmerk wird hierbei auf die Identitätsentwicklung, besonders in den Bereichen Familie, Schule und Peer-Group, gelegt.
Im nachfolgenden Kapitel werden spezifische Ursachen und Hintergründe zur Entstehung von School Shootings angeführt. Dazu werden die gesellschaftlichen Aspekte sowie das familiäre und soziale Umfeld voneinander abgegrenzt, um aufzuzeigen, welche Bereiche die Jugendlichen in ihrer Entwicklungsphase beeinflussen können. In einem folgenden kurzen Abschnitt wird das unauffällige Erscheinungsbild des School Shooters skizziert. Den Abschluss des Kapitels bilden die psychopathologischen Auffälligkeiten, die aus theoretischer Sicht die Ursache eines School Shootings darstellen können.
Daran schließt sich folglich das Kapitel ‚Tatort Schule‘ an, das bei der Beantwortung der Frage, warum Jugendliche gerade an Schulen derartige Gewalttaten begehen, eine wesentliche Rolle spielt. Um genauere Gründe herausfinden zu können, weshalb die Schule als Tatort gewählt wird, werden drei bedeutende Aspekte, die die Jugendlichen negativ beeinflussen können, näher erläutert. Zum einen wird der Selektions- und Leistungsdruck sowie die soziale Kontrolle durch die Schule fokussiert. Zum anderen werden die Mitschüler und deren Verhalten gegenüber den späteren Tätern thematisiert.
Um das Phänomen School Shooting in allen seinen Elementen erfassen zu können, darf auch der Aspekt der Medien nicht unbeachtet bleiben. So wird im Anschluss der Konsum von gewalthaltigen Medien bei Jugendlichen beschrieben und deren möglicher Einfluss auf die Tat dargelegt. Im Zuge der Nachahmungstaten wird ebenso das gesteigerte mediale Interesse als Auswirkung auf den Rezipienten vorgestellt.
Den Abschluss dieser Arbeit bilden mögliche Ansätze der Prävention um aufzuzeigen, dass es durch bestimmte Maßnahmen möglich ist derartige Gewalttaten zu verhindern. Dazu erfolgt zunächst eine kurze Einteilung in Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention. Da es sich bei dem Phänomen School Shooting um ein gesamtgesellschaftliches Problem handelt, existieren zahlreiche Präventionsmaßnahmen. Der Fokus der Arbeit liegt jedoch auf dem Tatort Schule. So wird sich an dieser Stelle nur auf präventive Maßnahmen im schulischen Bereich beschränkt. Diese werden gemäß der vorherigen Einteilung in drei Abschnitten näher erläutert.
In einem abschließenden Fazit werden alle Aspekte, die für die Entstehung eines School Shootings, aber insbesondere für die Wahl der Schule als Tatort, von bedeutsamem Ausmaß sind, noch einmal zusammengetragen.
Der Forschungsstand der verwendeten Literatur ist verhältnismäßig umfangreich. Es fand sich, aufgrund der erst in den letzten Jahren zunehmend relevant gewordenen Thematik, fast ausschließlich Werke jüngeren Datums.
Der Begriff Amok findet im Alltag eine sehr häufige und vielfältige Verwendung. Neben Tötungshandlungen, werden auch stark übertrieben wahrgenommene Handlungen im Allgemeinen sowie extreme Gemütszustände mit dem Terminus umschrieben und bestimmte Situationen illustriert. Demgegenüber wird Amok im Zusammenhang mit schwerwiegenden Taten, wie der Tötung ganzer Familien durch ein Elternteil, Mehrfachmorden sowie der willkürlichen Tötung unbekannter Personen, auf offener Straße verwendet.[3]
Etymologisch leitet sich der Begriff Amok aus dem Malaiischen von meng-âmok ab, wird mit wütend oder rasend übersetzt und ist ein spontaner, ungeplanter Gewaltausbruch mit meist tödlichen Folgen für das Opfer. So wird Amok nach der Definition der Weltgesundheitsorganisation als
„eine willkürliche, anscheinend nicht provozierte Episode mörderischen oder erheblich destruktiven Verhaltens, gefolgt von Amnesie und Erschöpfung verstanden. Viele Episoden gipfeln im Suizid. Die meisten Ereignisse treten ohne Vorwarnung auf, einigen geht ein Zeitraum mit intensiver Gewalt oder Feindseligkeit voraus“.[4]
Um die Begrifflichkeit genauer definieren zu können wird dieses Gewaltphänomen im Spektrum der Mehrfachtötungen nach Scheithauer/Bondü eingeordnet und somit eindeutiger definiert. Mehrfachtötungen werden zunächst in die drei wesentlichen Formen Massenmord, Serienmord oder Spree Killing unterteilt. Bei Serienmorden werden mindestens drei Personen in größeren zeitlichen Abständen ermordet, wohingegen bei Spree Killings an mehreren Orten mehrere Personen umgebracht werden. Bei Massenmorden fallen an einem Ort mindestens vier Personen dem oder den Tätern zum Opfer. Des Weiteren werden Amokläufe, opferspezifische Massenmorde, terroristische Anschläge sowie zivile Massaker den Massenmorden untergeordnet. Amokläufe sind jedoch von opferspezifischen Massenmorden zu unterscheiden, die in der Regel in einem nicht öffentlichen Rahmen, wie zum Beispiel in Familien, stattfinden. Ebenfalls davon abzugrenzen sind terroristische Anschläge sowie zivile Massaker, die meistens wiederholt durch eine Mehrzahl von Tätern erfolgen und gegenüber individuellen Motiven oftmals religiöse oder politische Absichten verfolgen. Auf Basis dieser Einordnung kann die folgende Neudefinition des Terminus Amoklauf vorgenommen werden: bei einem Amoklauf handelt es sich um die versuchte Tötung mehrerer Personen durch einen Einzelnen, der mit tödlichen Waffen in einem zumindest teilweise öffentlichen Raum agiert.[5]
Dennoch werden Taten weiterhin häufig, sowohl in öffentlichen als auch wissenschaftlichen Diskursen, mit dem Terminus Amok oder Amoklauf bezeichnet, die zwar den genannten Kriterien entsprechen, sich aber trotzdem in Bezug auf Täter, Tatort und Opfer stark voneinander unterscheiden. Daher folgt eine weitere Untergliederung des Begriffs Amoklauf in School Shootings, die im nächsten Kapitel weiter erläutert werden, Workplace Violence sowie der klassische Amoklauf. Letzteres findet in den meisten Fällen durch einen erwachsenen Täter statt, der zunächst ohne erkennbaren Grund an einem öffentlichen Ort, wie beispielsweise auf der Straße oder im Einkaufszentrum, scheinbar wahllos Personen tötet. Bei Workplace Violence handelt es sich um Gewalttaten am Arbeitsplatz, woraus resultiert, dass die Täter in der Regel ebenfalls Erwachsene sind, die den Arbeitsplatz bewusst als Tatort auswählen, da hier breitgefächerte, individuelle Motive entstehen können.[6]
In den letzten Jahren ist der Ausdruck Amok, für die Bezeichnung von Mehrfachtötungen durch jugendliche Täter in Bildungseinrichtungen, im alltäglichen Sprachgebrauch und in der öffentlichen Diskussion populär geworden. Der zuvor definierte Aspekt einer spontanen Handlung, trifft jedoch für diese Taten der Jugendlichen nicht zu. Denn es handelt sich weder um plötzliche, ungeplante Taten noch ist eine folgende Amnesie festzustellen. Daher sind diese Betrachtungen ausschließlich historisch interessant und werden nicht weiter ausgeführt. Da sich die Merkmale der ursprünglichen Bedeutung also in wesentlichen Punkten von den hier thematisierten Tötungshandlungen jugendlicher Täter in Bildungseinrichtungen unterscheiden, wird in der Fachliteratur die Bezeichnung School Shooting, als eine Subform von Amok, auch für den deutschen Sprachraum übernommen.[7]
School Shootings benennt Tötungen oder Tötungsversuche durch Jugendliche an Schulen, die die Bildungseinrichtung bewusst als Tatort auswählen. Die Tat wird durch individuell konstruierte Motive im direkten und zielgerichteten Bezug zu der jeweiligen Schule begangen. Dieser Bezug richtet sich entweder gegen mehrere mit der Schule assoziierte, zuvor ausgewählte Personen oder gegen eine einzelne Person, die aufgrund ihrer Funktion an der Schule als potentielles Opfer ausgesucht wird.[8]
Daraus resultiert, dass School Shootings durch bestimmte Erlebnisse im Schulkontext entstehen und somit die Schule vorsätzlich als Tatort sowie die Personen innerhalb dieser Einrichtung bewusst als Opfer ausgewählt werden. Prinzipiell kann es sich bei den Tätern auch um erwachsene Personen handeln, die ehemalige Schüler dieser Schule waren und an ihre alte Schule zurückkehren, um die Tat zu verüben. Solche Fälle stellen allerdings Ausnahmen dar, sodass es sich in der Regel bei den Tätern um Kinder und Jugendliche handelt.[9]
Darüber hinaus werden School Shootings von gravierenden Auseinandersetzungen rivalisierender Gruppen, von Affekthandlungen, terroristischen Anschlägen, Suiziden im Schulkontext sowie von anderen Taten außerhalb der Bildungseinrichtung abgegrenzt. School Shootings werden zusätzlich mehrfach auch als besonders extreme Form der schweren, zielgerichteten Gewalt an Schulen bezeichnet, worunter jeder zielbewusste Angriff auf ein oder mehrere Opfer im Schulzusammenhang verstanden wird. Demnach schließt der Terminus der schweren, zielgerichteten Schulgewalt nicht nur Tötungsdelikte sondern auch andere extreme Gewalttaten, wie beispielsweise gezielt im Schulkontext geplante Geiselnahmen.[10]
Die Begrifflichkeit des School Shootings, für die zur Zeit keine sinngemäße deutsche Übersetzung existiert, steht aufgrund seiner etwas irreführenden Bedeutung unter Kritik, da mit School Shootings automatisch Tötungsdelikte mit Schusswaffen assoziiert werden, was jedoch nicht zwangsläufig der Fall sein muss. Auch andere Waffen, wie Klingen oder explosive sowie brennbare Stoffe, können bei den Taten zum Einsatz kommen. Zum Beispiel verwendete der Täter des School Shooting in Ansbach 2009 sowohl brennbare Stoffe als auch eine Axt. So wird, wie eingangs bereits erwähnt, sehr häufig der Begriff Amok oder Amoklauf an Schulen synonym zu School Shootings verwendet. Trotz vieler Ähnlichkeiten zwischen den beiden Bezeichnungen, sind die Taten dennoch nicht immer gleichzusetzten. Basierend auf der zuvor beschriebenen Definition von School Shootings, werden im Folgenden Gründe für eine Abgrenzung der beiden Begrifflichkeiten angeführt: zwar gibt es School Shootings bei denen, wie es bei Amokläufen üblich ist, mehr als drei oder vier Menschen getötet werden, diese entsprechen jedoch nicht unbedingt dem Regelfall. Denn gemäß der obigen Definition, werden ebenfalls Taten als School Shootings bezeichnet, die weniger Opfer fordern. Hiermit sind die relativ häufigen Angriffe gegen einzelne Lehrpersonen sowie gegen einzelne Mitschüler gemeint.[11]
Des Weiteren sind School Shootings meist lange und präzise geplante Handlungen, die aus individuellen Beweggründen, wie Hass- und Rachefantasien, resultieren und zum Teil im ebenfalls geplanten Suizid enden. Teilweise sind solche Entwicklungen sogar schon lange im Vorfeld zu beobachten. Dennoch zeigen jugendliche Täter, im Gegensatz zu üblichen Gewalttätern, im Vorfeld keine oder lediglich geringe aggressive Verhaltensauffälligkeiten.[12]
Ferner können Amokläufe grundsätzlich an vielen verschiedenen, öffentlichen Orten, wie auf offener Straße, in Restaurants oder am Arbeitsplatz stattfinden, sodass Bildungseinrichtungen mögliche Tatorte unter vielen sind. So können Amokläufe an Schulen auch von Personen verübt werden, die keinerlei persönlichen Bezug zu der jeweiligen Schule haben. Beispielsweise bietet die Schule eine besondere Tatgelegenheit, weil sich dort viele Menschen aufhalten oder aber sie suchen die schulischen Einrichtungen auf, um an einer dort beschäftigten Person Rache zu nehmen. In solchen Fällen stellt die Schule lediglich einen öffentlichen Tatort wie jeder andere dar. Resultierend daraus scheint die Bezeichnung Amoklauf an Schulen zu unpräzise und dem Phänomen der School Shootings nicht gerecht zu werden. Demzufolge ist ein eigener Begriff für die geplanten und gezielten Tötungshandlungen an Schulen, durch Schüler oder Ehemalige, unabdingbar.[13]
Da jedoch die Bezeichnung School Shooting der in dieser wissenschaftlichen Arbeit behandelten Thematik am nächsten kommt, wird in den folgenden Auslegungen von diesem Terminus Gebrauch gemacht.
Eine Analyse der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) zeigt, dass nicht nur die generelle Tötungskriminalität sondern auch die Tötungskriminalität durch Jugendliche und Heranwachsende in den letzten 15 Jahren in Deutschland kontinuierlich abnimmt. Dies gilt allerdings nicht nur für Deutschland, denn auch in den USA ist ein Rückgang der allgemeinen, jugendlichen Tötungskriminalität zu vernehmen.[14]
Werden jedoch die für diese Arbeit relevanten School Shootings betrachtet, wird eine entgegengesetzte Tendenz festgestellt. Es existieren zwar keine offiziellen Statistiken über diese Tötungsform, obgleich wird dieses Phänomen international stets von einer erheblichen Medienberichterstattung begleitet. Aus diesem Rohmaterial werden Kerndaten anhand von Zeitungs- und Onlinearchiven gesammelt, gegenrecherchiert und mit den bislang verfügbaren wissenschaftlichen Studien und Veröffentlichungen überprüft. Zusätzlich werden Quellen, wie Polizeiberichte, Urteile oder Interviews mit jugendlichen Schützen, durch Strafverfolgungsbehörden zum Quervergleich herangezogen. Somit ist es möglich ein hochgradig umfassendes Gesamtbild der bislang international aufgetretenen Taten aufzuzeigen.[15]
Nachdem am 30. Dezember 1974 in Olean, New York, das erste School Shooting stattfindet, folgen in den ersten zehn Jahren nach dieser Tat insgesamt neun weitere School Shootings, wohingegen es in den vergangenen zehn Jahren (gemessen bis zum 01.01.2010) zu 71 Vorfällen dieser Art kommt. Neben diesem eindeutigen Anstieg ist zu erkennen, dass diese schulischen Gewalthandlungen ab 1999 eine besonders rapide Zunahme aufzeigen. Es wird davon ausgegangen, dass hierfür die weltweit aufsehenerregendste Tat an der Columbine High School am 20. April 1999 verantwortlich ist und eine Vielzahl von Nachahmungs- und Folgetaten nach sich zieht. Im Zeitraum 2000-2002 ist erneut ein leichtes Wachstum zu verzeichnen. Seit 2002 ist jedoch die Häufigkeit der durchgeführten Taten leicht rückläufig, aber dennoch auf einem sehr hohen Niveau von circa 6 bis 7 Fällen pro Jahr angesiedelt. Die Abschwächung lässt sich vermutlich auf eine mittlerweile frühere Erkennung der School Shootings und folglich deren Abwendung durch Polizei- und Schulbehörden zurückführen. Diese Annahme lässt sich durch eine in den letzten Jahren bekannt gewordene hohe Zahl rechtzeitig aufgedeckter und damit nicht in die Statistik eingegangener School Shootings bestätigen. Die leichte Rückläufigkeit der School Shootings, die noch immer um ein Vielfaches höher liegt als vor Beginn der 90er Jahre, ist in den USA zu vermerken, nicht aber in anderen Staaten. Außerhalb der USA waren solche Fälle bis Ende der 90er Jahre vollkommen unbekannt. Eine Ausnahme bilden 2 kanadische Taten. Ab dem Jahr 1999 finden sich jedoch Berichte über School Shootings aus allen Teilen der Welt. Seither bilden die Taten außerhalb der USA, mit durchschnittlich dreieinhalb Taten pro Jahr, eine ernstzunehmende Konstante, die seit 2008 sogar drastisch ansteigt. Daher sind im Jahr 2009 neun Fälle außerhalb der USA zu registrieren, davon alleine drei in Deutschland.[16]
Eine potentielle Ursache für den Rückgang in den USA und der gleichzeitigen Zunahme der internationalen Fälle, könnten die starken präventiven Bemühungen der USA sein, wohingegen sich anderorts in den vergangenen Jahren nur recht wenig geändert hat.
Bei der genauen Beschäftigung mit School Shootings kann festgestellt werden, dass die meisten Taten in den Monaten von März bis April und Oktober bis Dezember verübt werden. Diese Betrachtung zeigt auf, dass in den Sommermonaten von Juni bis September insgesamt deutlich weniger Taten auftreten. Eine erste mögliche Ursache könnte hierbei in der Ferienzeit zu suchen sein, denn in den Sommerferien finden sich weniger Gelegenheiten ein School Shooting durchzuführen. Eine Studie des Landeskriminalamtes Nordrhein-Westfalen deutet diese Verteilung der School Shootings jedoch anders. Demnach ist die Häufung der Taten im Frühling und Herbst weniger abhängig von dem Schuljahresverlauf sondern lässt sich eher mit Nachahmungstaten, in Folge besonders medienwirksamer und opferreicher School Shootings, in Zusammenhang bringen. In den Jahren 1993-2001 stellt eine Studie über 143 School Shootings heraus, dass 44% der School Shootings innerhalb einer Zeitspanne von zehn Tagen nach einer vorausgegangenen Tat, von der in den Medien berichtet wird, stattfinden.[17]
Außerdem erweisen sich auch Jahrestage von spektakulären Taten als relevant. Dabei ist der Jahrestag des School Shooting an der Columbine High School besonders auffällig, denn zu diesem Zeitpunkt konzentrieren sich durchgeführte, geplante und angedrohte Nachahmungstaten. Insbesondere der April, in dem die Jahrestage von Columbine und Erfurt kurz aufeinander folgen, erfordert eine erhöhte Aufmerksamkeit zur Früherkennung solcher Fälle.[18]
Wird das Augenmerk auf die Opfer derartiger Taten gelegt, so wird deutlich, dass bei etwa einem Drittel aller Vorfälle ausschließlich Schüler oder Lehrer Ziel der Attacken sind. Bei einem weiteren Drittel sind beide Gruppen, sowohl Schüler als auch Schulpersonal, Opfer der Täter. Zudem werden in Einzelfällen, neben den genannten Personengruppen, auch Familienmitglieder angegriffen und getötet. Allerdings ist zu betonen, dass nicht die vorab geplanten Absichten der Täter dokumentiert werden, sondern nur die Fakten des tatsächlichen Tatausgangs festgehalten werden können. Demnach kann nicht ausgeschlossen werden, dass eventuell auch andere oder mehr Menschen zu Schaden hätten kommen sollen, hätte der Tatverlauf anders stattgefunden.
Während bei den bislang insgesamt 124 aufgetretenen School Shootings zusammengerechnet 209 Menschen getötet und 421 Menschen verletzt werden, liegt der Durchschnitt pro School Shooting bei 1,7 Toten und 3,4 Verletzten. Besonders schwerwiegende Taten, wie in Columbine mit 13 Toten, in Erfurt mit 16 Toten sowie in Winnenden mit 15 Toten, sind in Bezug auf die Auswirkungen dieser School Shootings bislang eher die Ausnahme.[19]
In den meisten Fällen ist die Festnahme des Täters der Ausgang von School Shootings. Die Jugendlichen werden in der Regel von Mitschülern oder Lehrern aufgehalten, denn Polizisten sowie Wachpersonal der Schule erscheinen nur in wenigen Ausnahmen rechtzeitig am Tatort, sodass sie einschreiten können. Jeder vierte jugendliche Täter jedoch tötet sich im Anschluss an seine Tat selbst. Weitere haben den Suizid versucht, haben jedoch nicht den entscheidenden Schuss ausgelöst. Von der Polizei erschossen wird bisher nur ein einziger Jugendlicher.[20]
Bei School Shootern handelt es sich fast ausschließlich, um männliche Täter. 2009 wird allerdings auch ein Mädchen zu Beginn der Tatausführung in der Schule entdeckt und schließlich an der vollendenden Handlung gehindert. Dennoch sind, sowohl in Deutschland als auch weltweit, nahezu nur Männer bekannt, die derartige Taten begehen. Diese Tatsache muss allerdings nicht zwingend bedeuten, dass niemals weibliche Täterinnen solche Tötungsdelikte verüben werden. Generell ist bei der Begehung von Gewalttaten die Beteiligung des weiblichen Geschlechts weitaus geringer als die des männlichen. Etwa 13% der Gewalttaten werden von Frauen und Mädchen verübt. Je schwerer jedoch die Gewalttat ist, umso seltener sind diese tatbeteiligt. Folglich werden die meisten Gewaltdelikte von männlichen Jugendlichen begangen, wie es auch bei den School Shootings der Fall ist. Sicherlich lässt sich hier ein Zusammenhang zwischen Gewalt und Männlichkeit vermuten, da Männer grundsätzlich eher zu gewalttätigem Verhalten neigen als Frauen.[21] Abgesehen von geringen Ausnahmefällen, wird demzufolge in dieser wissenschaftlichen Arbeit lediglich von männlichen Tätern ausgegangen.
Die Jugendlichen handeln zu 97% alleine, die Ausnahme jedoch stellen die beiden Fälle in Columbine und Jonesboro dar. Hier führen jeweils zwei jugendliche Täter gemeinsam ein School Shooting durch. Neben diesen Ausnahmen gibt es sowohl in den USA als auch in Deutschland eine Vielzahl von rechtzeitig aufgedeckten Fällen, bei denen mehr als ein Jugendlicher plant, eine schwere zielgerichtete Gewalttat an seiner Schule zu verüben. So beabsichtigen beispielsweise in Deggendorf drei 14-jährige Schüler ein halbes Jahr nach der Tat von Columbine die Direktorin und eine Lehrerin ihrer Schule zu töten. In Usedom sind es sogar fünf Schüler, die eine Todesliste von Lehrern und Mitschülern erstellen.[22]
Eine detaillierte Betrachtung der Altersstruktur bisheriger School Shooter zeigt vordergründig, dass derartige Gewalttaten ein Phänomen des Jugendalters sind, auch wenn es erheblich ältere Täter gibt. Es ist festzustellen, dass das Durchschnittsalter eines School Shooters bei etwa 16 Jahren liegt. Rund zwei Drittel aller Taten geschehen im Alter von 14 bis 18 Jahren. Somit handelt es sich bei den Tätern von School Shootings größtenteils um Jugendliche, nicht selten sogar um Kinder. Eine Ausnahme stellen die bereits zuvor erwähnten, ehemaligen Schüler dar, die nach einiger Zeit zurück an ihre Schule kehren, um dort eine schwere Gewalttat zu begehen. So können in Einzelfällen auch Heranwachsende oder Erwachsene School Shootings verüben.[23]
In 88% aller Fälle von School Shootings werden bei der Tatdurchführung Schusswaffen benutzt. Teilweise legen die Täter sogar ganze Waffenarsenale an, die jedoch meistens nicht zum Einsatz kommen. Manchmal verwenden die Täter zusätzlich Sprengstoffe, Schlagwaffen oder Benzin, aber auch Klingenwaffen können als alleiniges Tatwerkzeug genutzt werden. So werden in immerhin 18 Fällen Messer oder andere Klingenwaffen als einzige Tatwaffe gebraucht. Die Jugendlichen erwerben ihre Waffen in fast allen bekannten Gewalttaten nicht legal, was darin begründet ist, dass die meisten Täter zum Zeitpunkt des Geschehens minderjährig sind. Oftmals stammen die genutzten Waffen aus dem Waffenschrank des eigenen Elternhauses oder werden durch Kontakt zu älteren Freunden beschafft. So besitzt die überwiegende Mehrheit aller School Shooter einen direkten Zugang zu Schusswaffen.[24]
Bei der Betrachtung von School Shootings entsteht oftmals übereilt der Eindruck, dass es sich hierbei vor allem um ein US-amerikanisches Problem handelt. Bei genauerer Auseinandersetzung mit der Thematik wird jedoch deutlich, dass auch in Deutschland nicht selten Vorfälle solcher Art geschehen. Seit 1999 bis zum Jahr 2010 finden in Deutschland bereits zwölf bekannte Taten statt, die der oben genannten Definition eines School Shootings entsprechen. Über 40 Menschen kommen ums Leben.[25]
Meißen, 09.11.1999:
15-jähriger Schüler ersticht Geschichtslehrerin mit zwei Küchenmessern und flieht anschließend.
Brannenburg, 16.03.2000:
16-jähriger Täter fügt Leiter seines Internats nach einem Schulverweis eine tödliche Schussverletzung zu. Versucht dann im Anschluss sich selbst zu erschießen.
Freising, 21.02.2002:
21-jähriger ehemaliger Schüler erschießt seinen ehemaligen Vorgesetzten und den Vorabreiter, erschießt dann an seiner damaligen Schule den Direktor, verletzt einen weiteren Lehrer und erschießt sich schließlich selbst.
Erfurt, 26.04.2002:
19-jähriger Täter erschießt an seiner ehemaligen Schule, nach einem Schulverweis, die Sekretärin, zwölf Lehrkräfte, zwei Schüler, einen Polizeibeamten und am Ende sich selbst.
Behrenhoff, 29.08.2002:
15-jähirger Schüler greift mit Messer eine Lehrerin an, wird dann aber von Schülern und Lehrern an der Tatumsetzung gehindert.
Coburg, 02.07.2003:
16-jähriger Täter schießt auf seine Klassenlehrerin, trifft aber nicht, verletzte eine weitere Lehrerin und erschießt sich dann selbst.
Emsdetten, 20.11.2006:
18-jähriger ehemaliger Schüler schießt wahllos um sich, zündet Rauchbomben und verletzt dabei über 30 Menschen. Im Anschluss erschießt er sich selbst.
Biberach, 23.07.2008:
15-jähriger Schüler sticht mit Messer auf den Direktor ein, verletzt diesen jedoch nur leicht.
Winnenden, 11.03.2009:
17-jähriger ehemaliger Schüler erschießt neun Schüler, drei Lehrerinnen, drei weitere Menschen, verletzt elf Menschen und nimmt sich das Leben.
St. Augustin, 11.05.2009:
16-jähirge Schülerin plant einen Anschlag auf ihre Schule und verletzt dabei eine eingreifende Schülerin.
Ansbach, 27.09.2009:
18-jähriger Schüler wirft Brandsätze in die Schule, verletzt eine Schülerin mit der Axt und zehn weitere Menschen werden verletzt.
Ludwigshafen, 18.02.2010:
23-jähirger ehemaliger Schüler ersticht einen Lehrer und greift andere Menschen an.
Durchschnittlich kommt es somit in Deutschland seitdem zu etwa einem School Shooting pro Jahr. Trotzdem finden in den Jahren 2002 und 2009 jeweils drei Taten statt, während sich in anderen Jahren keine ähnlichen Vorfälle ereignen. Ferner sind vereinzelte, durch rechtzeitige Interventionen, verhinderte Taten bekannt.
Nach den USA und Kanada ist Deutschland bisher, mit insgesamt neun umgesetzten Taten, international am zweithäufigsten von solchen Taten betroffen. Dennoch handelt es sich weiterhin um ein sehr seltenes Phänomen. Bei circa 20.000 Schulen in ganz Deutschland und durchschnittlich einer Tat im Jahr kommt es im Schnitt alle 20.000 Schuljahre zu einem School Shooting.[26]
Die Phase der Jugendlichkeit ist der Lebensabschnitt zwischen dem Status eines Kindes und dem eines Erwachsenen. Dieser Durchgangsphase, auch Adoleszenz genannt, an deren Ende der Zielstatus des Erwachsenen zu erreichen ist, wird ebenfalls eine charakteristische Bedeutung im Lebenslauf zugesprochen. In dieser Zeit gilt es für das Individuum eine Vielzahl weitreichender Herausforderungen zu bewältigen. Hierzu zählen vor allem die Herausbildung eines sozial akzeptierten Verhaltens, das Erlernen und Ausbilden der spezifischen Geschlechterrollen sowie die Gewinnung und Festigung der eigenen Identität. Im Vordergrund steht dabei, dass der Mensch in dieser Phase die sozialen Fähigkeiten erlernt, die zum normalen Verhalten benötigt werden. Mit Beginn der Jugendphase setzen auch die körperlichen Veränderungen ein. Gleichzeitig beginnt der Jugendliche diesen voranschreitenden Wandel zu beobachten, zu bewerten und letztlich mit anderen zu vergleichen. Folglich entsteht eine gesteigerte Selbstwahrnehmung, wobei alle Veränderungen kritisch bewertet und mit Gleichaltrigen verglichen werden, sodass dieser Prozess von extremen Gefühlsausdrücken begleitet werden kann.[27]
Aufgrund der individuellen Entwicklungsverläufe, ist das Ende des Jugendalters schwierig und wenig präzise zu bestimmen. Ausgehend von äußerlichen Veränderungen des Erscheinungsbildes kann nicht auf den Abschluss dieser Phase geschlossen werden. So lässt sich das Ende der Jugendphase, also der Eintritt in das frühe Erwachsenenalter, eher an Merkmalen der sozialen Reife sowie der Übernahme bestimmter Rollen und Aufgaben festmachen. Dennoch wird in Etwa von der Altersspanne zwischen 11 und 25 Jahren ausgegangen. Dieser Zeitraum lässt sich in eine frühe Jugendphase zwischen dem 12. und dem 17. Lebensjahr, in eine mittlere oder auch nachpubertäre Phase vom 18. bis zum 21. Lebensjahr sowie in eine späte Jugendphase von 22 bis 27 Jahren einteilen. Bei der Betrachtung des Altersabschnittes in Bezug auf diese Arbeit kann allerdings eine Untergrenze für Kinder unter zehn Jahren gezogen werden, da typische Veränderungen der Jugendlichkeit mit den jeweiligen biologischen und psychologischen Entwicklungsprozessen bei Kindern noch nicht eingesetzt haben. Zusätzlich haben Kinder unter zehn Jahren ein anderes Konzept vom Tod, entsprechend ihrem Entwicklungsstand und dem kindlichen Weltbild. Demzufolge steht im weiteren Verlauf besonders die Altersgruppe der 11 bis 25 Jährigen im Fokus, wenn hier die Rede von ‚Jugendlichen‘ ist.[28]
Wird nun das Augenmerk auf die Täter der School Shootings gelegt, die zur Tatzeit durchschnittlich 16 Jahre alt sind, so lassen sich diese in die frühe oder mittlere Jugendphase einordnen. Die Anforderungen und Entwicklungsaufgaben dieses Jugendalters sind es, die das Phänomen zielgerichteter Gewalt an Schulen begünstigt. Abweichende Verhaltensweisen zu den oben genannten sich üblich entwickelnden Prozessen, werden aus den Belastungen heraus erklärt, die aus einer insuffizienten Entwicklung solcher lebensphasenspezifischen Anforderungen resultieren. Es wird daher zunächst auf das Konzept der Entwicklungsaufgaben eingegangen, um in den sich anschließenden Kapiteln herausarbeiten zu können, aus welchen Konstellationen sich diese strapazierenden Gefühle, der in dieser Arbeit thematisierten School Shooter, ableiten lassen.[29]
Zu der Lebensphase Jugend zählen die körperliche und sexuelle Entwicklung, die psychosoziale Entwicklung, die intellektuelle Entwicklung, die Identitätsentwicklung sowie die Bedeutung der Gleichaltrigen. Der Fokus soll allerdings nur, auf den für die Thematik der Ausarbeitung relevanten Aspekten, der Identität, der psychosozialen Entwicklung sowie der Gleichaltrigengruppe liegen.[30]
Ein von Robert Havighurt entwickeltes Konzept fasst Entwicklungsaufgaben als Lernaufgaben auf, die sich über die gesamte Lebensphase erstrecken. Jeder Lebensabschnitt enthält charakteristische Aufgaben, die in diesem Zeitraum gut bewältigt werden können. Demnach steht dem Individuum eine enorme Verdichtung von Entwicklungsaufgaben bevor. Hierbei ist die erfolgreiche Bewältigung der altersspezifischen Anforderungen jeweils die Bedingung für nachfolgende Phasen der Persönlichkeitsentwicklung. Kann eine Entwicklungsaufgabe in der vorgegebenen Zeitspanne nicht gelöst werden, kann dies negative Auswirkungen auf die folgenden Entwicklungsaufgaben haben. Zudem kann dies die psychische Verfassung des Individuums beeinflussen und seitens der Gesellschaft zu Missbilligung und Ablehnung führen. Nach Havighurt ergeben sich die Aufgaben aus drei wesentlichen Quellen:
• Gesellschaftliche Erwartungen
• Individuelle Zielsetzungen und Einstellungen
• Physiologische Reifeprozesse
Körperliche Veränderungen bewirken oftmals auch bei der Gesellschaft veränderte Erwartungen, wobei diese Anforderungen aber auch von den individuellen Bedürfnissen abweichen können. Somit bedingen sich Individuum und Umwelt gegenseitig und können nicht separat voneinander betrachtet werden. Das heißt nicht nur die Umwelt bestimmt den Jugendlichen, sondern auch der Heranwachsende beeinflusst diese ebenfalls durch das Selektieren der Umweltgegebenheiten sowie deren aktiven Aneignung und eventuellen Veränderung.[31]
Havighurt hat folgende Entwicklungsaufgaben vorgesehen:
• Aufbau neuer und reifer Beziehungen zu Gleichaltrigen des gleichen und anderen Geschlechts
• Übernahme der weiblichen bzw. männlichen Geschlechterrolle
• Akzeptanz und effektive Nutzung des eigenen Körpers
• Emotionale Unabhängigkeit von den Eltern und anderen Erwachsen
• Vorbereitung auf Ehe und Familie
• Vorbereitung auf eine berufliche Karriere
• Entwicklung eines Wertesystems und einer Ideologie
• Erreichung eines sozial verantwortlichen Verhaltens
Heute zählen zu den Entwicklungsaufgaben auch die Entwicklung einer Zukunftsperspektive, eines Selbstkonzeptes, der Identität sowie die Aufnahme intimer Beziehungen zu einem Partner.[32]
In der Phase der Adoleszenz, die Endphase des Jugendalters, ist der Jugendliche erstmals zum bewussten Erleben des eigenen Ichs fähig, da gleichzeitig die kognitive Reifung vorangeschritten ist, sodass es dem Heranwachsenden möglich ist, sich selbst sowohl emotional als auch intellektuell als einheitlich und selbstständig zu verstehen. Somit unterscheiden sich die altersspezifischen Entwicklungsaufgaben der Adoleszenz von denen der Kindheit und des Erwachsenenalters. Denn die Jugendphase zeigt einen deutlichen Sprung in der Persönlichkeitsentwicklung gegenüber der Kindheitsphase, da sich der Jugendliche zum ersten Mal mit den Fragen wer er ist, wie er zu dem geworden ist, was er ist und wer er in der Zukunft sein möchte, auseinander setzt. Eine solche Konfrontation mit dem eigenen Selbst wird stets von der Rollenzuweisung und den Erwartungen der sozialen Umwelt begleitet, sodass sich der Heranwachsende zwischen diesen beiden Polen verorten und ein stabiles Identitätserleben aufbauen muss.[33]
Die Auseinandersetzung mit den genannten Themen sollte definitiv im Jugendalter stattfinden, wobei das Ziel der Erreichung dieser geforderten Aufgaben die Identitätsentwicklung des Jugendlichen darstellt. „Die Summe ihrer ‚erfolgreichen Bewältigung‘ (der Entwicklungsaufgaben) ergibt dann schließlich so etwas wie ‚Erwachsensein‘.“[34]
Zusammen mit den körperlichen Veränderungen und folglich deren psychische Verarbeitung kommt es zu einer gestärkten Selbstwahrnehmung, wobei der Körper und das eigene Aussehen einen wichtigen Stellenwert erhalten. Genauste Beobachtungen und Bewertungen des eigenen Veränderungsprozesses sowie der Vergleich mit anderen gewinnen an Bedeutung. Diese durch die Entwicklung bedingte narzisstische Haltung wirkt sich auf die Selbstwahrnehmung, das Selbstbewusstsein und die Stimmungslage aus. Folglich entsteht eine intensivere Wahrnehmung der subjektiv erlebten Abweichungen von persönlichen oder durch das Umfeld geprägten Idealen. Diese eventuellen Unterschiede zu Gleichaltrigen werden besonders kritisch wahrgenommen und bewertet, sodass diese Andersartigkeiten von Ängsten, sozialem Rückzug, aggressiven Reaktionen, ambivalenten Verhaltensweisen oder übersteigerter Sensibilität und Verletzlichkeit begleitet werden.[35]
Zusätzlich kommen Wachstumssprünge in Form von sich entwickelnden Geschlechtercharakteristika sowie motorischen und intellektuellen Fähigkeiten hinzu, die ebenfalls das Selbstbild und die Stimmungslage der Jugendlichen beeinflussen und zu einem veränderten Erleben von Beziehungen führen. Sowohl das äußere Erscheinungsbild als auch die subjektive Bedeutung des eigenen Aussehens sind ausschlaggebend bei der Annäherung an das andere Geschlecht. Bekanntermaßen erleichtern Schönheit und Attraktivität die Kontaktaufnahme und wirken sich auf die soziale Beliebtheit unter den Gleichaltrigen aus. Zudem beeinflusst dies wiederum die Entwicklung eines positiven Selbstwertgefühls sowie die Selbstwahrnehmung der Heranwachsenden, da diese die wesentlichen Aspekte des Selbstkonzeptes darstellen. Mit der Entwicklung körperlichen Geschlechtsmerkmale und der wachsenden sexuellen Aktivitäten entsteht zudem eine gesteigerte gesellschaftliche Erwartung, die fordert, dass die Jugendlichen nun immer mehr Verhaltensweisen erarbeiten, die zu der gesellschaftlichen Rolle des Mannes oder der Frau zählen.[36]
Das Resultat dieser Vielzahl an Veränderungen sind zumeist hochemotionale Ansichten mit einer extremen Bewertung von Begebenheiten und bestimmter Situationen. So kann beispielsweise eine intensive Freundschaft zu einem Mitschüler die Thematik der Homosexualität nach sich ziehen. Besonders bei Jungen kann dies Folgen haben, da die Geschlechtsidentität noch nicht ausreichend bewiesen ist und sie dann meist zu einem demonstrativ männlichen Verhalten antreibt. Aufgrund der in der heutigen Industriegesellschaft vagen Männerrollen, kehren sie oftmals zu altgebrauchten Kernelementen, wie der Nachwuchserzeugung, des Beschützens und der des Versorgens zurück. Somit resultiert aus subjektiven Bedrohungen der eigenen Sexualität nicht selten gewaltbereites Verhalten.[37]
Ebenso kennzeichnend sind Neigungen zu impulsiven und gefährlichen Verhaltensweisen, denn die Heranwachsenden versuchen ihre Ziele meist auf ungewöhnliche Art und Weise zu erreichen, wobei körperliche und psychische Gefahren außer Acht gelassen werden. Die Jugendlichen glauben intensiv an ihre eigene Stärke und Unverwundbarkeit, während ihnen negative Konsequenzen oder ein langfristiges Hinarbeiten auf ein Ziel eher fremd sind. Die Befriedigung des Wunsches wird immer größer und Jugendliche, mit wenig bis kaum Erfahrungen mit erprobten Problemlösungsstrategien, können so in schwierige Situationen geraten, in denen die Gewalt als einziger Ausweg gesehen wird.[38]
Am Ende der erfolgreichen Auseinandersetzung und Bewältigung der beschriebenen Entwicklungsaufgaben im Jugendalter steht das Ziel, die eigene Identität des Jugendlichen zu entwickeln. Der Prozess der Identitätsentwicklung stellt ein zentrales Thema des Jugendalters dar und nimmt somit eine besondere Rolle innerhalb der Entwicklung ein.
Zunächst ist im Allgemeinen mit Identität die Kombination individueller, unverwechselbarer sowie kennzeichnender Daten einer Person wie Name, Alter, Geschlecht etc. gemeint. Darüber hinaus wird Identität aus psychologischer Sicht als eine einzigartige und unverwechselbare Persönlichkeitsstruktur verstanden. Neben dem Selbstverständnis und der Selbstkenntnis der eigenen Person kommt es ebenfalls auch auf die Wahrnehmungen sowie Einschätzungen des sozialen Umfeldes bezüglich der Persönlichkeitsstruktur an.[39]
Es wird also davon ausgegangen, dass eine gelungene Persönlichkeitsreifung eine ungestörte Beziehung zu sich selbst ist, die durch Selbstvertrauen, Selbstachtung sowie Selbstschätzung charakterisiert ist. Für das Identitätserleben und die Entwicklung einer gesunden Individuation ist die soziale Anerkennung von großer Bedeutung, sodass die Identitätsentwicklung immer in Abhängigkeit der sozialen Anerkennung steht. Für den Aufbau von Selbstvertrauen ist die soziale Anerkennungsform der Liebe unabdingbar. Diese erfährt das Individuum durch Primärbeziehungen, die von starken kontinuierlichen Gefühlsbindungen zwischen mehreren Menschen geprägt sind. Die Erfahrung, dass die Menschen auch trotz entzogener Aufmerksamkeit Zuneigung und Liebe aufrechterhalten, ist für das Individuum eine essentielle Basis, sich künftig sorglos seiner Umwelt zuwenden zu können. Somit stellt diese Fähigkeit eine Grundvoraussetzung für die autonome Teilnahme am öffentlichen Leben dar. Es wird davon ausgegangen, dass Heranwachsende, basierend auf ihren Interaktionserfahrungen mit zentralen Bezugspersonen, eigenständige Vorstellungen darüber entwickeln, inwieweit sie sich auf diese in Bedürfnis- und Notsituationen verlassen können. Es werden folglich auf Grundlage der Erfahrungen innere Arbeitsmodelle konstruiert, die zum einen die Erwartungen gegenüber den Bezugspersonen beinhalten und zum anderen im Anschluss auf außerfamiliäre soziale Beziehungen übertragen werden. Dabei kommt es in Bezug auf die persönliche Selbsteinschätzung zu einer Verallgemeinerung, sodass Kinder und Jugendliche, die beispielsweise von ihren Eltern immer wieder das Gefühl erfahren, dass sie unerwünscht und nicht akzeptiert sind, dazu tendieren sich selbst auch in sozialen Umgebungen als gering anerkannt zu erfahren. Diese Personen offenbaren Misstrauen und weichen problematischen Situationen eher schneller aus, da ihnen Formen der Unterstützung in der Vergangenheit fehlen. Demgegenüber stehen Heranwachsende, die in ihren primären Beziehungen eine stabile Unterstützung sowie emotionale Zuwendung erlebt haben und somit in für sie unbekannten Begebenheiten und neuen sozialen Interaktionen mit weitaus mehr Vertrauen reagieren können.
Demnach ist also das Anerkennungsmuster Liebe äußerst bedeutsam, da es als primäre Grundlage sozialer Anerkennung dem Individuum Selbstvertrauen, Integration und Fremdvertrauen ermöglicht.[40]
Neben den Erfahrungen emotionaler Zuwendungen, ist für den Aufbau eines stabilen Selbstverständnisses sowie Selbstschätzung die soziale Wertschätzung notwendig. Diese nimmt Bezug auf die Fähigkeiten und Eigenschaften, durch die sich das Individuum von anderen unterscheidet. Der soziale Wert entsteht durch die Wertschätzung der eigenen Leistungen und persönlichen Merkmale sowie der Bewertung inwiefern der Einzelne im Stande ist zu der Verwirklichung der gesellschaftlichen Zielvorgaben beizutragen. Somit wird es dem Individuum ermöglicht sich auf seine Eigenschaften positiv zu verlassen und beziehen zu können, sodass, basierend auf dem gesellschaftlichen Werte- und Normsystem, eine Selbstverwirklichung aufgebaut werden kann. Das Individuum lernt sich selbst zu schätzen und vertraut darauf, seine Leistungen erbringen zu können und Fähigkeiten zu besitzen, die von anderen Mitgliedern der Gesellschaft als wertvoll anerkannt werden. Wird jedoch im Zusammenhang sozialer Interaktionen Missachtung, Beleidigung oder Demütigung erfahren, so geht dies mit einer erheblichen Belastung des Selbstwertgefühls einher. Die soziale Anerkennung sowie das eigene Selbstbild sind also stets miteinander verbunden, sodass das Individuum immerzu sein Selbstbild mit dem ihm explizit sowie implizit vermittelten Idealen oder Fremderscheinungen in Beziehung setzt.[41]
Einer positiven Selbstdefinition geht also immer eine soziale Anerkennung voraus, was bedeutet, dass Anerkennungsverweigerungen und Missachtung für die Betroffenen eine erhebliche Belastung sind und mit negativen Erfahrungen einhergehen. Gelingt es dem Jugendlichen nicht eine klare Position zu sich selbst zu finden und sich auf bestimmte Perspektiven, Werte und Ziele festzulegen, so kann dies zu Verunsicherung, Selbstzweifel und Krisen führen. Folglich ist der Jugendliche bezüglich seiner Identität äußerst unsicher und verwirrt.[42]
Besonders in dieser identitätssensiblen Lebensphase ist das Erleben von Anerkennung für Jugendliche demnach von äußerst wichtiger Bedeutung. In dieser Zeit sind die drei Erfahrungsbereiche Familie, Schule und Ausbildungsinstitution sowie die Gleichaltrigengruppe als Sozialisationsinstanzen und zentrale Anerkennungsquellen besonders relevant.[43]
In der Regel sind die ersten bedeutsamen emotionalen Beziehungen in der Familie zu finden. Zum einen dienen diese als Quelle der emotionalen Anerkennung und sozialen Unterstützung und zum anderen um entstandene Anerkennungsdefizite in anderen Lebensbereichen auffangen zu können. Zudem fungiert die Familie als vermittelnde Instanz zwischen dem Individuum und der äußeren Realität, sodass Bezugssysteme gebildet werden, an denen sich die Jugendlichen orientieren können. Die Familie wirkt unterstützend indem sie Vorschläge zur Verarbeitung gibt und Anregungen zur Aneignung der inneren und äußeren Realität macht. So lernen Heranwachsende meist über Hilfestellungen der Familie sich selbständig und selbstbewusst mit der Umwelt auseinanderzusetzen.[44]
Eine weitere Sozialisationsinstanz stellen die Schulen und die Bildungsinstitutionen dar. Diese übernehmen die gesellschaftliche Funktion der sozialen und berufsrelevanten Wissensvermittlung und werden in diesem Zusammenhang als Selektions- und Qualifikationsinstanz verstanden. Der Institution Schule wird die Funktion der Statuszuweisung zugesprochen, da diese in Form von Notengebung und Versetzungsentscheidungen sowohl über die gegenwartsbezogene als auch die zukünftige soziale Positionierung von Heranwachsenden mitbestimmt. Des Weiteren stellt die Schule ein soziales System dar, das durch die Bedingungen des Heranwachsens definiert ist und sich in allen Kommunikationsbeziehungen zwischen den Mitschülern ausdrückt.[45]
Ein weiteres wichtiges Kennzeichen der Jugendphase ist die zunehmende Distanzierung des Jugendlichen von Erwachsenen, speziell von den Eltern. Bei dieser beginnenden Loslösung von der Familie intensivieren sich gleichzeitig die Beziehungen zu Gleichaltrigen. In dieser Phase kommt es zu einem Umbau der sozialen Beziehungen, das heißt die Qualität der Elternbeziehung sowie die erlebten Bindungserfahrungen in der Kindheit werden auf das Verhältnis zu den Gleichaltrigen übertragen. Dadurch entstehen Veränderungen in der Beziehungs- und Bindungsqualität sowohl zwischen Eltern und Jugendlichen als auch zwischen den Gleichaltrigen und den Heranwachsenden.[46]
Die Peer-Group, die heutige Bezeichnung für Gleichaltrigengruppe, kann erheblich zur Orientierung, Stabilisierung und Identitätsfindung beitragen. Durch die verschiedenen Lebensstile der Jugendlichen schafft die Gruppe zum einen Vorbilder und bietet zum anderen emotionale Geborgenheit. Ebenso hilft die Peer- Group bei der Bewältigung des Alleinseins, indem die Freizeit durch vielfältige jugendtypische Aktivitäten gemeinsam gestaltet wird. Zudem unterstützt die Jugendgruppe den Heranwachsenden bei der oben erwähnten Ablösung von den Eltern sowie der Abgrenzung von der Erwachsenenwelt und der dabei entstehenden Trennungsängsten. Diese intensiven Beziehungen unter den Gleichaltrigen ermöglichen eine enge Vertrautheit, die sich im gegenseitigen Anvertrauen und Austausch von Problemen und deren Bearbeitung zeigt.[47]
Somit bietet die Peer-Group also ein Übungsfeld für den Jugendlichen, in dem neue Umgangsformen im Sozialverhalten mit den Gleichaltrigen erprobt werden können. Neben diesen bedeutenden Kennzeichen der Gleichaltrigengruppe gibt es jedoch auch Schattenseiten. Erhält eine erhoffte Anerkennung und Beachtung einer Gruppe Gleichaltriger bei dem Jugendlichen einen so hohen Stellenwert, kann es dazu kommen, dass dieser wenig unversucht lässt um diese Bestätigung zu erreichen. Dann können Teenager mit fehlenden Problemlösungsstrategien und einer Neigung zu impulsiv gefährlichen Handlungsweisen mit einem irrationalen Verhalten reagieren. Demzufolge kann die Motivation zur Begehung von Straftaten durchaus aus dem Versuch der Gleichaltrigengruppe zu imponieren, resultieren. Das heißt, neben den wichtigen Lernchancen innerhalb der Peer-Group, kann es vielfältige weniger entwicklungsfördernde Peerkontakte mit Unterdrückungs-, Ausbeutungs- und Beeinflussungstendenzen sowie Kränkungen, Enttäuschungen und Rivalitäten geben.[48]
Ferner gibt es jedoch auch Jugendliche, die keine Peerkontakte haben und somit relativ einsam und isoliert sind. Unter diesen Bedingungen wird das Bedürfnis der Jugendlichen nach Zugehörigkeit, Verständnis und Akzeptanz nicht ausreichend erfüllt und kann folglich schwerwiegende Auswirkungen auf die psychische Gesundheit haben. Denn die Anerkennung durch die Gruppe stellt einen wichtigen Einflussfaktor für ein positives Selbstwertgefühl dar.[49]
Die Jugendphase ist also das Alter, in dem das Bedürfnis verstanden und anerkannt zu werden so stark, wie in keinem anderen Lebensabschnitt ist. Wie oben bereits beschrieben, steht der Wunsch nach Anerkennung oft in engem Zusammenhang mit der Suche nach einer eigenen Identität sowie der Geschlechterrolle. In den sozialen Strukturen können die Jugendlichen verschiedene Rollenmuster erproben, sodass mit der Zeit, basierend auf der damit errungenen Anerkennung, funktionsfähige Rollen beibehalten und andere wiederum verworfen werden. Dieses Austesten kann zwangsläufig Konflikte im sozialen Umfeld zur Folge haben und wird somit von den Jugendlichen oft als belastend erlebt. Demzufolge ist das Durchleben dieser Phase, je nach individueller Entwicklung, psychischer Verfassung und Stand der sozialen Integration sehr entscheidend für das Selbstbewusstsein, die Kontaktfreude sowie die Fähigkeit zur Beziehungsaufnahme zum anderen Geschlecht. So kann in diesem Zeitraum eine fehlgeleitete Entwicklung hinderlich auf den zukünftigen Aufbau des Selbstvertrauens, die Aneignung von gesellschaftlich akzeptierten Rollenbildern und die Fähigkeit zu sozialem Verhalten wirken.[50]
In der Literatur finden sich verschiedene Hinweise darauf, dass sowohl ungünstige gesellschaftliche als auch soziale und familiäre Konstellationen School Shootings nicht allein, aber im Zusammenwirken mit individuellen Risikofaktoren beeinflussen können.
Wie im vorherigen Kapitel bereits erwähnt, stehen die Jugendlichen während ihrer Entwicklungsphase unter einem gesteigerten gesellschaftlichen Erwartungsdruck. Es wird davon ausgegangen, dass die Jugendlichen immer mehr Verhaltensweisen erarbeiten, die einer vollwertigen, erwachsenen männlichen oder weiblichen Rolle entsprechen. Zudem werden die eigenen Leistungen sowie persönliche Merkmale beurteilt und bewertet.
Auch die Institution Schule zählt, bezüglich ihrer Leistungserwartungen, zu einem gesellschaftlichen Einfluss, dem sich die Jugendlichen nicht entziehen können. Durch Notengebung und andere schulische Entscheidungen werden auch hier die Heranwachsenden bewertet und ihre Leistungen gemessen. Die Schüler werden somit im Bereich des Bildungsgrades durch die Schule positioniert.
Neben diesen psychosozialen, gesellschaftlichen Aspekten, zählen möglicherweise auch die Waffengesetzgebung und die Einstellung des Staates und seiner Bürger gegenüber Waffen, die Medienberichterstattung über School Shootings und letztlich die Haltung zu gewalthaltigen Büchern, Filmen und Computerspielen zu den gesellschaftlichen Einflussfaktoren. Hierbei handelt es sich um besonders wichtige und umfangreiche Themen, die zum Teil in eigenen Kapiteln erläutert werden.[51]
Die Täter stammen meist aus gut situierten und intakten Familien mit guter Einbindung in das Gemeindeleben. Die Familienformen variieren allerdings und reichen von der intakten Kernfamilie über Ein-Elternfamilien bis hin zu Pflegefamilien. Die Familienverhältnisse zeichnen sich durch Unauffälligkeit sowie Normalität aus und weisen in der Regel keinerlei Risikofaktoren, wie Gewalt, Vernachlässigung, Alkohol- oder Drogenprobleme, auf. Sie erscheinen für Außenstehende „auffällig unauffällig“[52]. Die Täter leben also keinesfalls in den sogenannten „broken homes“, wie es oftmals durch die Medien verbreitet wird, sondern kommen aus kleinbürgerlichen Elternhäusern oder Mittelschichtfamilien, in denen ein gemeinsames Familienleben zu erkennen ist.[53]
In diesem Zusammenhang sind allerdings weniger die scheinbar intakten, formalen Bedingungen des familiären Zusammenlebens von Bedeutung, sondern vielmehr die Art und Weise des alltäglichen Umgangs innerhalb der Familie, speziell die emotionale Qualität der zwischenmenschlichen Beziehungen.[54]
Dieses Bild der normal erscheinenden Oberfläche zeigt bei genaueren Betrachtungen allerdings Risse, denn die Beziehungen eines School Shooters innerhalb der Familie werden zumeist als problematisch und dysfunktional beschrieben. Oftmals fühlen sich die Jugendlichen in ihren Familien nicht geborgen, da eine familiäre Atmosphäre, die von elterlichem Desinteresse und emotionaler Gleichgültigkeit geprägt ist, dominierend zu sein scheint. Meistens wissen die Eltern nur wenig über ihre Kinder und nehmen an ihrem Leben und deren persönlichen Problemen kaum Anteil. Sie kennen weder die Interessen und Neigungen ihrer Kinder, noch ihre Freundschaften oder schulischen Leistungen. So kann also von keiner engen emotionalen Bindung oder Beziehung zwischen Eltern und Kind ausgegangen werden kann, was unter anderem an einer schon früh vorhandenen Kontaktschwierigkeit der Jugendlichen liegen kann.[55]
Zusätzlich resultiert aus der geringen Beteiligung der Eltern am Leben ihrer Kinder auch der Eindruck, dass den späteren Tätern ein großer Freiraum in den Familien gelassen wird. Die Eltern sind häufig nur wenig informiert darüber, was ihre Kinder den ganzen Tag tun. Die Jugendlichen können dies, sowie den Umstand über ein eigenes Zimmer zu verfügen, zu ihren Zwecken nutzen. Somit ist davon auszugehen, dass die soziale Kontrollfunktion der Eltern nur unzureichend ausgeführt wird und sich die Täter somit unbewacht und unbeobachtet mit der Tatplanung auseinander setzten können.[56]
In den meisten Fällen sind ein bis zwei Geschwister vorhanden. Bezüglich des Geschwisterverhältnisses lässt sich sagen, dass diese oftmals schulisch oder beruflich erfolgreicher sind als die Täter, woraus Minderwertigkeitskomplexe sowie eine geringe Anerkennung der schulischen Leistungen des Täters entstehen können.[57] Häufig kann die Familie zum späteren Täter nur wenig sagen und charakterisiert diesen als jemanden, der still, zurückgezogen, wenig redselig und oft zu Hause ist, kaum Freizeitinteressen und nicht viele Freunde hat sowie schulisch eher nicht erfolgreich ist. Oftmals wird auch die Affinität zu Waffen wahrgenommen, jedoch als harmlos und unbedenklich dargestellt. Die Eltern erkennen also schon, dass mit ihrem Kind etwas nicht stimmt, dies wird aber nur selten bekannt oder gar genauer hinterfragt und gegebenenfalls in Angriff genommen. Die Eltern empfinden die Entwicklung ihres Kindes scheinbar als ungefährlich und bedenkenlos.[58]
Es lässt sich folglich festhalten, dass die Familienverhältnisse der Täter durch fehlende familiäre Nähe und Unterstützung geprägt sind. Die emotionalen Bindungen und Beziehungen innerhalb der Familie scheinen nicht ausreichend ausgebildet zu sein, sodass die primäre Grundlage zur sozialen Anerkennung, die in der Familie liegen sollte, fehlt. Somit ist es für die Jugendlichen schwer ein gesundes Selbstvertrauen sowie eine positive Selbstdefinition aufzubauen und dies kann bei den späteren Tätern zu Selbstzweifeln und Identitätskrisen führen. Auch die mangelnde soziale Unterstützung und Beschäftigung mit dem Heranwachsenden erschwert diesem das selbstständige und selbstbewusste Handeln in der Umwelt. Es fehlen grundlegende soziale Aneignungen, die im Regelfall primär in der Familie erlernt und dann in die Umwelt übertragen werden.
Es ist möglich, dass diese Tatsachen einen fördernden Einfluss auf die Entstehung eines School Shootings haben. Die daraus resultierenden Minderwertigkeitsgefühle sowie die unzureichende Aufmerksamkeit und Anerkennung innerhalb der Familie können eine unterstützende Wirkung auf mögliche Gewalttaten haben.[59]
Prinzipiell wird die Qualität der Eltern-Kind-Beziehung auf den Umgang mit Gleichaltrigen übertragen, sodass es nicht wenig erstaunlich ist, dass aufgrund der oben beschriebenen mangelnden Bindung zwischen Eltern und Jugendlichen, diese ebenfalls nur schwach ausgeprägte Beziehungen zu Gleichaltrigen aufbauen. Die neben den unstabilen Familienverhältnissen zusätzlich fehlenden festen Peer-Beziehungen führen dazu, dass School Shooter oftmals als sozial isolierte, introvertierte Einzelgänger mit mangelhaften sozialen Kompetenzen beschrieben werden. Die Annahmen, dass die Täter überhaupt keine Freunde oder andere soziale Kontakte besitzen, treffen in der Regel nicht zu. Es gibt viele, denen es gelingt Freundschaften zu anderen aufzubauen, die jedoch häufig ebenso zu der Gruppe der sozialen Außenseiter zählen. Dadurch kommt es zur Verstärkung des Gefühls keinen sozial angepassten Platz in der Gesellschaft finden zu können. Der spätere Täter wird von den Gleichaltrigen nicht akzeptiert, da diese ihn eher als ruhig, still und unreif wahrnehmen. Der Jugendliche zeigt kein Interesse an jugendtypischen Aktivitäten, sodass es kaum zu gemeinsamen Unternehmungen kommt. Auch die Beziehung zum anderen Geschlecht spielt zumeist keine Rolle. Diese Distanz zwischen den Peers und dem späteren Täter muss nicht unbedingt eine drastische Ablehnung und Beleidigung bedeuten, sondern eher ein nebeneinander leben, weil dieser Jugendliche anders ist und sich nicht für Jugendtypisches interessiert.[60]