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Magisterarbeit aus dem Jahr 2004 im Fachbereich Pädagogik - Familienerziehung, Note: 1,7, Universität Potsdam (Institut für Pädagogik ), Sprache: Deutsch, Abstract: Wenngleich die Schule unter verschiedenen Perspektiven im Blickfeld der Forschung steht und es eine Vielzahl an Literatur zu einzelnen Themenfeldern gibt, so ist doch dem Prozess der Schulwahl am Übergang zur Sekundarstufe I bisher wenig Beachtung geschenkt worden. Daher gibt es zum Schulwahlverhalten in Deutschland bislang kaum Untersuchungen. Dabei bietet die genauere Beleuchtung dieser Phase die Möglichkeit, Zusammenhänge und gewisse wiederkehrende Grundstrukturen elterlicher Vorgehensweisen besser zu verstehen und in der Folge auch adäquater auf bestimmte Sachverhalte in einem übergeordneten Kontext eingehen zu können. So ist der Vergleich des Schulwahlverhaltens je nach sozialer Herkunft eine geeignete Herangehensweise, um über Bildungsaspiration, die soziale Selbstpositionierung und damit über Aufstiegschancen Aussagen machen zu können. Auch wäre es für die Wettbewerbsdiskussion förderlich zu wissen, welche Kriterien bei der Schulwahl für Eltern und Kinder in den Blickpunkt rücken und vor allem, welche tatsächlich am Ende ausschlaggebend sind. Oder, um bei den oben genannten Beispielen zu bleiben, es würde sich lohnen, die Auswirkungen von schulischem Leistungsdruck auf Familien und in der Folge auf ihr Verhältnis zur Schule genauer zu untersuchen. Auch für das Problem der Ghettoisierung mancher Schulen könnten Interviews mit Eltern über ihre Wahrnehmung der Schulen erkenntnisfördernd sein. In der vorliegenden Arbeit sollen daher Erkenntnisse über das Schulwahlverhalten im Allgemeinen gewonnen werden, indem es exemplarisch an verschiedenen Eltern anhand von Interviewanalysen untersucht wird. Dabei versteht sich die Untersuchung, wenn auch die erwartungsoffene, fallbezogene Beobachtung und Beschreibung im Vordergrund steht, zugleich als Beitrag zur Diskussion um die Bildungschancengleichheit, da ich auf die soziale Herkunft und deren Einfluss auf die Bildungschancen des Kindes gesondert eingehen werde.
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1. Einleitung
Wenngleich die Schule unter verschiedenen Perspektiven im Blickfeld der Forschung steht und es eine Vielzahl an Literatur zu einzelnen Themenfeldern gibt (beispielsweise die schulpolitische Entwicklung zu mehr Autonomie und Wettbewerb und die daraus entstehende Veränderung der Schullandschaft hin zu Quasimärkten; Diskussionen um die Leistungsmessung, zu der zuletzt durch PISA wieder eine neue Flut von Literatur auf den Markt geraten ist; Untersuchungen zur Sozialisation von Immigranten- und ausländischen Kindern), so ist doch dem Prozess der Schulwahl am Übergang zur Sekundarstufe I bisher wenig Beachtung geschenkt worden. Daher gibt es zum Schulwahlverhalten in Deutschland bislang kaum Untersuchungen. Dabei bietet die genauere Beleuchtung dieser Phase die Möglichkeit, Zusammenhänge und gewisse wiederkehrende Grundstrukturen elterlicher Vorgehensweisen besser zu verstehen und in der Folge auch adäquater auf bestimmte Sachverhalte in einem übergeordneten Kontext eingehen zu können. Zum Beispiel ist der Vergleich des Schulwahlverhaltens je nach sozialer Herkunft eine geeignete Herangehensweise, um über Bildungsaspiration, die soziale Selbstpositionierung und damit über Aufstiegschancen Aussagen machen zu können. Auch wäre es für die Wettbewerbsdiskussion förderlich zu wissen, welche Kriterien bei der Schulwahl für Eltern und Kinder in den Blickpunkt rücken und vor allem, welche tatsächlich am Ende ausschlaggebend sind. Oder, um bei den oben genannten Beispielen zu bleiben, es würde sich lohnen, die Auswirkungen von schulischem Leistungsdruck auf Familien und in der Folge auf ihr Verhältnis zur Schule genauer zu untersuchen. Auch für das Problem der Ghettoisierung mancher Schulen könnten Interviews mit Eltern über ihre Wahrnehmung der Schulen erkenntnisfördernd sein.
In der vorliegenden Arbeit sollen daher Erkenntnisse über das Schulwahlverhalten im Allgemeinen gewonnen werden, indem es exemplarisch an verschiedenen Eltern anhand von Interviewanalysen untersucht wird. Dabei versteht sich die Untersuchung, wenn auch die erwartungsoffene, fallbezogene Beobachtung und Beschreibung im Vordergrund steht, zugleich als Beitrag zur Diskussion um die Bildungschancengleichheit, da ich auf die soziale Herkunft und deren Einfluss auf die Bildungschancen des Kindes gesondert eingehen werde. Die Auseinandersetzung mit dem Thema Bildungschancengleichheit ist angesichts der Situation an den Schulen nach wie vor geboten, denn heute, 40 Jahre nach dem Beginn der Bildungsexpansion, lassen die statistischen Untersuchungen erkennen, dass in der Folge der Reformen zwar das Gesamtbildungsniveau angestiegen, eine Angleichung der Chancen
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jedoch nicht erfolgt ist, sondern sich im Gegenteil die Unterschiede noch verschärft haben1. Die Ursachen für diese andauernde Ungleichheit scheinen komplexer und fester in ein Gesamtgeflecht eingebunden und daher nicht mit einer bloßen Neustrukturierung des Systems zu beseitigen zu sein, wie man zunächst wohl gehofft hatte. Es genügt nicht allein, Angebote zu schaffen, sondern eine entscheidende Rolle spielt darüber hinaus auch die Wahrnehmung der Schule und das Bildungsinteresse in den Familien (Bildungsaspiration). Denn nach wie vor ist in Deutschland der Einfluss des Elternhauses von herausragender Bedeutung für die Schullaufbahn des Kindes. Von diesem Zusammenhang zeugt nicht zuletzt der ungebrochen hohe Grad an ständischer Reproduktion. In den Interviews wird daher zu prüfen sein, inwieweit diese Mechanismen zu erkennen sind.
Darüber hinaus wird als zweiter übergeordneter Faktor der Einfluss der beginnenden Adoleszenz, die für die gesamte Familie eine spezifische, potenziell konflikthafte Dynamik in Gang setzt, bei der Auswertung des Vorgehens bei der Schulwahl berücksichtigt. Es ist anzunehmen, dass die Eltern, je nachdem, welche Entwicklung sich bei ihrem Kind abzeichnet und wie zufrieden oder besorgt sie darüber sind, sich verstärkt für bestimmte Kriterien interessieren werden und gegebenenfalls auch gegen den Willen ihrer Kinder handeln.
Da ich für den Prozess der Schulwahl diesen beiden Faktoren eine feste Bedeutung zumesse, werden sie in eigenen Kapiteln am Ende der Interviewauswertung besprochen. Außerdem werde ich den Leistungsbegriff als dritten übergreifenden Faktor diesen dazustellen, denn ich gehe davon aus, dass auch das Thema Schulleistungen übergreifend in jedem Interview auftauchen wird, da die Schulwahl durch die bisherigen Noten und die Empfehlung der Lehrer einen äußeren Rahmen erhält, welcher auf die Fähigkeiten des Schülers abzielt. An diesen Rahmen kann man sich halten, muss es nach Berliner Schulgesetz aber nicht zwingend.
Zur Bedeutung der Adoleszenz und zu den mit ihr zusammenhängenden Veränderungen in der Beziehung zwischen Eltern und Kind werde ich daher zunächst ein einführendes Kapitel vorweg stellen. Ebenso werde ich zur Einteilung der Menschen in soziale Gruppen wie Klassen, Schichten und Milieus zunächst einen Überblick geben und dann dasjenige Modell vorstellen, auf welches ich mich bei der Auswertung der Interviews beziehe. So dass sich die Arbeit wie folgt aufbaut:
Zunächst erfolgt eine Einführung in Begriffe und Strukturentwicklung der sozialen Lebenslagen, sowie eine Einführung in die Bedeutung des Ablösungsprozesses während der
1vgl. z. B. Geißler, Die Sozialstruktur Deutschlands, 2002
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Pubertät; darauf folgt ein kurzer Methodenteil, in welchem die Vorgehensweise bei der Datenerhebung und Auswertung erläutert wird. Im sich anschließenden Hauptteil werden die vier Interviews einzeln analysiert und am Ende bezüglich der drei übergeordneten zentralen Themen „Soziales Milieu und Selbstpositionierung mittels Schulwahl“, „Bedeutung der Schulleistung“, „Bindung/Ablösung“ verglichen. Im Schlussteil werden die Ergebnisse dann zusammengefasst.
2. Soziale Selbstpositionierung
In der vorliegenden Arbeit interessiert unter anderem die Frage, welchem soziokulturellen Milieu die Interviewten sich selbst zugehörig fühlen (wollen). Mit anderen Worten: mit welcher Schicht identifizieren sie sich, von welcher Lebenswelt grenzen sie sich ab, in welche Richtung orientieren sie sich.
Diese Selbstpositionierung findet gerade auch über die Wahl der Schule statt. So kann man sich bei der Suche primär darauf konzentrieren, eine Schule in einem anderen Wohnumfeld oder Bezirk zu suchen, um dem momentanen sozialen Umfeld zu entkommen, bzw. sich ein konkretes neues Umfeld zu erschließen. Man kann bewusst sein Kind auf ein Gymnasium schicken, auch wenn es keine entsprechende Empfehlung hat, weil man ihm einen sozialen Aufstieg ermöglichen will. Anderen wiederum ist es am wichtigsten, die bisherigen Kontakte aus der Klasse des Kindes aufrecht zu erhalten. Dann werden sie sich vor allem daran orientieren, auf welche Schule die Klassenkameraden der Kinder gehen wollen, oder die Anmeldung in Abstimmung mit anderen Eltern vornehmen.
Da solche sozialen Orientierungen mitsamt ihren Voraussetzungen in die Schulwahl mit einfließen, gehören sie als einer der drei Hauptpunkte zum zentralen Erkenntnisinteresse dieser Arbeit. Um die Zuordnung zu bestimmten Schichten oder Milieus zu deuten und auch selbst vornehmen zu können, möchte ich zunächst eine Definition dessen vorwegnehmen, was ich unter den BegriffenKlasse, SchichtundMilieuverstehe, bzw. worauf ich mich bei der Verwendung dieser Begriffe beziehe.
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Zum Beschreiben und zur Analyse sozialer Ungleichheiten wurde der Begriff der Klasse von Karl Marx bereits Mitte des 19. Jahrhunderts geprägt. Er verwendet ihn noch in einem statisch-deterministischen Sinne, nach dem Prinzip „das Sein bestimmt das Bewusstsein“ und stellt vor allem die Arbeiterklasse der Klasse der Besitzenden gegenüber oder anders ausgedrückt, das Arbeitspotential der Kaufkraft.
Der Begriff der Schicht wurde in den 1930-er Jahren von Theodor Geiger in der Auseinandersetzung mit Marx eingeführt:
Im Laufe des 20. Jahrhunderts vollzog sich ein gesellschaftlicher Wandel, den Geiger als Einschmelzung der Klassengesellschaft bezeichnet. Die Gesellschaftsstruktur und mit ihr die sozialen Unterschiede wurden differenzierter und komplexer. Der Wechsel von einer Agrarzu einer Industriegesellschaft, der sich bereits zu Marx’ Zeiten vollzog, und die Weiterentwicklung, die sich durch immer neue, spezialisiertere Technologien fortsetzte, schufen spezialisiertere Arbeitsbereiche, die unterschiedliche Qualifikationen verlangten und auch unterschiedliche Entlohnung zur Folge hatten. Dies und auch die Sozialgesetzgebung Bismarcks, welche zunehmende Sicherheiten für Arbeitnehmer schuf, führten dazu, dass die solidarisierende, einende Kraft der Arbeiterklasse abnahm. Der Wohlstand mehrte sich auch unter der Arbeiterklasse, die Grenzen zwischen den Klassen im Marxschen Sinne verloren an Schärfe. Der Erwerbstätigenanteil des alten Mittelstands, bestehend vornehmlich aus kleineren Selbständigen, schrumpfte um etwa zwei Drittel von 25,6% 1882 auf 9,6% 19942und machte Erwerbstätigen aus anderen Bereichen Platz, die nun ebenfalls in den mittleren Bereich aufstiegen. Auch die Aufgaben und Funktionen des Beamtentums differenzierten sich und beschränkten sich, so Geißler, „immer weniger auf die traditionellen Sicherungs- und Ordnungsfunktionen“3, sondern weiteten sich zunehmend auf „soziale Vor- und Fürsorgeaufgaben“4, Bildung und Wissenschaft und öffentliche Dienstleistungen aus. Durch diese zunehmende Vielfalt können auch innerhalb der Klassen verschiedene Schichten voneinander abgrenzt werden.
Die Ausdifferenzierung der Gesellschaft hat sich kontinuierlich fortgesetzt und es überschneiden sich zunehmend verschiedene soziale Faktoren wie Einkommensgröße, Sozialstatus, Prestige der einzelnen sozialen Schichten. Die Grenzen sind vielfältiger geworden, aber auch durchlässiger, sowohl nach oben als auch nach unten.
2vgl. Geißler, Die Sozialstruktur Deutschlands, 1996, S. 111, Abb. 6.1
3ebd., S. 150
4ebd.
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Ebenso wie es zur Entwicklung der Sozialstruktur Deutschlands kontroverse Ansichten und Theorien gibt5, existieren auch verschiedene Modelle zur Darstellung der heutigen Sozialstruktur. Ein Grund dafür ist, dass keine Einigkeit darüber herrscht, welche Kriterien mit einbezogen werden müssen, um die Schichtzugehörigkeit zu bestimmen. Zusätzlich zu den klassischen Faktoren Beruf/Qualifikation und Einkommen bestimmen auch andere Faktoren wie Schulbildung, Geschlecht, Alter, Familienverhältnisse, Region, Staatsangehörigkeit den sozialen Status eines jeden Einzelnen. Nicht jede Untersuchung und nicht jedes Modell bezieht die gleichen Faktoren mit ein.
Diese horizontalen Differenzierungsmerkmale (horizontal, weil sie nicht zwischen den in ihrer Wertigkeit aufsteigenden Merkmalen der beruflichen Position und des Einkommens verlaufen, sondern quer dazu) sind, wie Geißler betont, nicht etwa neu, sie hätten nur bis Mitte des 20. Jahrhunderts und zum Teil auch darüber hinaus keine weitere Beachtung in der Klassen- und Schichtanalyse gefunden. Dies ist sicherlich vor allem damit zu begründen, dass die vertikalen Differenzierungsmerkmale bis Anfang des letzten Jahrhunderts in Bezug auf die soziale Lage die entscheidenden waren.
Durch die Pluralisierung und Individualisierung von Lebenslagen und Lebensformen jedoch, wie sie unter anderem Ullrich Beck sehr ausführlich diagnostiziert6, wird es zunehmend schwieriger für Soziologen, mit ihren Beschreibungsmodellen Schritt zu halten:
„Auf der einen Seite tritt für das Handeln der Menschen die Bindung an soziale Klassen eigentümlich in den Hintergrund. Ständisch geprägte Sozialmilieus und klassenkulturelle Lebensformen verblassen. Es entstehen der Tendenz nach individualisierte Existenzformen und Existenzlagen, die die Menschen dazu zwingen, sich selbst [...] zum Zentrum ihrer eigenen Lebensplanungen und Lebensführung zu machen.“7
Ob soziale Ungleichheit bereits klassenlos sei, wie Beck weiter ausführt, und „in der Konsequenz Systemprobleme in persönliches Versagen abgewandelt“8werden, möchte ich jedoch als grundsätzlich Geltendes noch bezweifeln.
5vgl. Geißler, S. 71 ff.
6vgl. Beck, Risikogesellschaft, 1986
7Beck, Risikogesellschaft, 1986, S. 116 ff.
8ebd., S. 118
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So bestätigt auch Geißler, dass reichlich empirische Untersuchungen belegen, „dass schichttypische Soziallagen, Subkulturen und Lebenschancen [...] fortbestehen [und] die traditionelle vertikale Hierarchie, die mit den Zuweisungskriterien Beruf und Bildung verknüpft ist, in der komplexen Struktur der sozialen Ungleichheit weiterhin dominiert.“9Die Individualisierung der Lebenslagen und -formen ist daher nicht zu verstehen als eine von traditionellen Klassen- und Schichtdeterminanten losgelöste Neugestaltung der eigenen Soziallage, es bilden sich vielmehr neue soziale Milieus aufgrund der Kombination von vielfältigeren Faktoren.
Der Ansatz der „Sozialen Milieus“ wurde seit 1979 von Ueltzhöffer/Flaig10als lebensweltlich orientiertes System für die anwendungsbezogene Markt- und Sozialforschung konzipiert und soll das zugrunde liegende Modell sein, an dem sich diese Arbeit bei der Beschreibung der Interviewten und deren Einordnung in soziale Milieus orientiert. Denn es entspricht durch seine spezifische Art der Herangehensweise, die vor allem die Eigenwahrnehmung undpositionierung berücksichtigt, genau ihrem programmatischen Vorhaben. Der Ausgangspunkt dieses Modells ist das subjektive Bewusstsein und die Lebensweise der Menschen und nicht, wie sonst üblich, deren objektive Soziallage. Die soziokulturelle Identität des Einzelnen, welche sich aus Faktoren wie Wertorientierungen, Lebensstil, Freizeit- und Konsumverhalten, Einstellung zu Arbeit, Familie und Partnerschaft und politischen Grundüberzeugungen konstituiert, bildet hier ein bestimmtes soziales Milieu. Sie entsteht natürlich nicht losgelöst von den objektiven sozialen Merkmalen wie Berufsstatus, Einkommen, Bildung, Alter, etc., vielmehr werden individuelle Lebensentwürfe vor dem Hintergrund dieser Faktoren wie auch des eigenen Herkunftsmilieus gebildet. Es wird aber mit diesem Modell dem Umstand Rechnung getragen, dass „gleiche sozioökonomische Lebensbedingungen [...] im Alltag offensichtlich ungleiche Stilwelten“ produzieren und dass oftmals „die Unterschiedlichkeit von Lebensstilen [...] für die Alltagswirklichkeit von Menschen - und somit für die Prozesse subjektiver Sinnkonstitution - vielfach bedeutsamer [ist] als die Unterschiedlichkeit sozioökonomischer Lebensbedingungen“11.
Die so entstandenen sozialen Milieus (zunächst waren es neun, in der aktuellsten, hier verwendeten Studie, die im Auftrag des Baden-Württembergischen Sozialministeriums vom SIGMA-Institut12für eine empirische Untersuchung zur lebensweltlichen Struktur des
9Geißler, Die Sozialstruktur Deutschlands, 1996, S. 78
10Ueltzhöffer/Flaig, Soziale Milieus in Ost- und Westdeutschland, 1992
11Ueltzhöffer, Soziale Milieus in der Bürgergesellschaft, 2000, S. 16
12Sozialwissenschaftliches Institut für Gegenwartsfragen Mannheim; führende Position in der internationalen
Milieuforschung, hat den Ansatz der „sozialen Milieus“ inzwischen auch auf andere große Länder der EU
ausgedehnt, sowie auf die USA, Japan und andere südostasiatische Länder
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Freiwilligenwesens in Deutschland zugrunde gelegt wurde, sind es zehn) sind in einer veranschaulichenden Abbildung in einem zweidimensionalen Raum angesiedelt, dessen vertikale Achse die soziale Lage und dessen horizontale Achse die subjektiven Wertorientierungen darstellt13. Die Soziallage (Schichtzugehörigkeit) ist nach der gängigen Praxis in der Sozialstrukturanalyse inUnterschicht, Untere Mittelschicht, Mittlere Mittelschicht, Obere Mittelschicht, Oberschichtaufgeteilt und die Wertorientierung wird nach traditionell-materiellen und postmateriellen Grundorientierungen differenziert. Im Folgenden seien die zehn verschiedenen sozialen Milieus in komprimierter Form dargestellt, übernommen aus dem Bericht des SIGMA:
1. Etabliertes Milieu
Ein „eher konservativ orientiertes Elitemilieu mit traditioneller Lebensführung [...]. Die meisten Angehörigen des Etablierten Milieus verfügen über eine überdurchschnittlich hohe Formalbildung. Es finden sich dort viele leitende Angestellte und höhere Beamte sowie selbständige Unternehmer und Freiberufler. Im Vordergrund der Wertorientierungen stehen traditionelle gesellschaftliche Werte und eine meritokratische Lebensphilosophie: beruflicher und materieller Erfolg durch Leistung, Zielstrebigkeit und - wo nötig - Härte. Ein ausgeprägtes Leistungsträgerbewusstsein prägt die subjektiv wahrgenommene Stellung im gesellschaftlichen Gefüge des Landes. Wichtig sind ein distinguierter Lebensstil, gute Umgangsformen, Understatement und Diskretion. Teilnahme am gesellschaftlichen und kulturellen Leben, aktives Engagement in Vereinigungen und Verbänden gilt vielen Milieuangehörigen als ethische und soziale Verpflichtung.“14
2. Traditionelles bürgerliches Milieu
„Niedrige bis mittlere Formalbildung und klassische Ausbildungsberufe (Facharbeiter, kleine und mittlere Angestellte und Beamte, Landwirte) [...]. Der gerade in diesem Milieu lange akzeptierten Rollenteilung zwischen Mann und Frau folgend, haben die Frauen des Milieus ihren Beruf häufig schon recht früh zugunsten von Haus und Familie aufgegeben. Geregelte familiäre und finanzielle Verhältnisse, die traditionellen (deutschen) Tugenden, Pflichterfüllung, Verlässlichkeit, Ordnung und Anstand, bleibende Werte schaffen, materielle Sicherheit, kurz: ein geordneter, bürgerlicher Lebensrahmen, den es zu bewahren gilt, stehen im Mittelpunkt der Wertorientierungen. Das Sicherheitsbedürfnis in allen Lebenslagen ist im Traditionellen bürgerlichen Milieu besonders stark ausgeprägt. Wie auch im Traditionellen
13siehe Abb. 1
14Ueltzhöffer, Soziale Milieus in der Bürgergesellschaft, 2000, S. 18 ff.