Schwabenblues - Dorothea Böhme - E-Book

Schwabenblues E-Book

Dorothea Böhme

4,5

Beschreibung

Für die Stuttgarter Privatdetektivin Paula Schmidt könnte es besser laufen. Neben ihren Geldsorgen muss sie sich auch noch mit Gefühlen für den attraktiven Kriminalkommissar Brändle herumschlagen. Da kommt ihr die alte Hirschle aus dem dritten Stock überhaupt nicht gelegen. Seit Wochen hat die Seniorin von ihrem Nachbarn, dem Privatdozenten Martin Kirner, nichts gehört oder gesehen. Paula beginnt im Umfeld Kirners zu ermitteln und wird dabei mit ihrer eigenen unbequemen Vergangenheit konfrontiert.

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Dorothea Böhme

Schwabenblues

Kriminalroman

Impressum

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Schwabenbräute (2016), Tragödienstadl (2015),

Wer mordet schon in Kärnten? (mit Alexandra Bleyer) (2015),

Meuchelbrut (2014), Sauhaxn (2012)

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2018 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2018

Lektorat: Sven Lang

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © reginaspics/pixabay.com

ISBN 978-3-8392-5676-3

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

1. Kapitel

Leise. Vorsichtig. Und ganz langsam.

Paula robbte auf dem dicken Ast des Kirschbaums nach vorn, sodass sie besser in das Zimmer der Studentenverbindung sehen konnte. Sie musste nur ein, zwei Fotos mit ihrem Smartphone machen.

Leise, vorsichtig und langsam.

Sie balancierte ihr Gewicht aus, bis sie sich mit einer Hand halten konnte, dann hob sie mit der anderen das Telefon und aktivierte die Kamera – ohne Blitz, sie war schließlich keine Anfängerin.

In diesem Augenblick begann das Smartphone zu vibrieren, Paula verlor den Halt und mit einem dumpfen Geräusch landete sie knapp zwei Meter weiter unten auf dem Boden.

»Verdammt«, stöhnte sie, rieb sich die Schulter, schüttelte ihre Gliedmaßen und tastete dann im Dunkeln nach ihrem Handy. Hoffentlich hatte es keinen Sprung, hoffentlich hatte es keinen Sprung, hoffentlich hatte es keinen … natürlich hatte es einen: Ein dicker Riss zog sich quer über das Display.

Das Smartphone vibrierte immer noch, eine Mücke surrte ihr um die Ohren. Kein Wunder, ein leichter Schweißfilm lag auf ihren nackten Armen, trotz der Uhrzeit war es immer noch unerträglich heiß. Sie schlug nach dem Quälgeist, dann nahm sie seufzend den Anruf entgegen: »Was ist los, Timo?«

»Die Hirschle will wissen, wo du bist.«

»Die Hirsch…« Paula schnappte nach Luft. Wegen der neugierigen Alten aus dem dritten Stock hatte sie sich beinahe das Genick gebrochen? »Und das weißt du, weil …?«

»Weil ich schon seit fast einer Stunde im Treppenhaus auf dich warte. Du hast gestern Hackfleisch gekauft.«

Lasagne war eines der wenigen Gerichte, die Paula hin und wieder kochte. Zwei Meter über Paula verdunkelte ein Schatten das Licht des Fensters, das sie bis gerade eben beobachtet hatte. Jemand fasste an den Fenstergriff.

»Bin gleich zu Hause!«, sagte Paula noch schnell, dann sprang sie auf und rannte aus dem Garten der Studentenverbindung, den sie betreten hatte, indem sie über den Zaun geklettert war. Studentenverbindungen waren doch so etwas wie … öffentliche Einrichtungen. Also waren ihre Gärten auch so etwas wie … Parks. Trotzdem, sie sollte sich besser nicht erwischen lassen, manche Leute hatten spießige Ansichten, ganz besonders die Polizei.

Als Paula eine halbe Stunde später die Stufen zu ihrer Wohnung hochstieg, warteten bereits zwei Leute auf sie.

»Timo hat gesagt, es gibt Lasagne.« Julia zuckte beinahe entschuldigend mit den Schultern. »Und ich wollte doch noch dein neues Marketingkonzept mit dir besprechen.«

»Mein …«

»Wo warst du überhaupt so lange?«, fragte Timo vorwurfsvoll.

Er hatte recht. Es war schon beinahe halb zehn. So spät aß sie selten zu Abend, aber jetzt im Sommer wurde es eben nicht so früh dunkel, nachmittags um drei hätte man sie im Garten des Verbindungshauses entdeckt.

»Ich habe gearbeitet.« Paula öffnete die Tür und ließ ihre beiden Freunde herein.

»Ooooh, an was arbeitest du gerade?«, fragte Julia aufgeregt.

Timo winkte ab. »Sie beschattet untreue Ehemänner und Ehefrauen. Alles wie gehabt. Die Hirschle …«, begann er, aber Paula schnitt ihm das Wort ab.

»Ich habe keinen einzigen besorgten Ehepartner unter meinen Kunden«, sagte sie und holte die Pfanne fürs Hackfleisch heraus.

Timo und Julia setzten sich an den Küchentisch – Julia mit der Bereitschaft, Gemüse zu schneiden, was Paula jedoch nur mit hochgezogenen Augenbrauen quittierte. In ihre Lasagne kamen nur richtige Zutaten: Fleisch, Käse und Dosentomaten, in die sich garantiert kein einziges Vitamin hineinverirrt hatte.

»Jedenfalls, die Hirschle«, fing Timo wieder an, nachdem er ein Dosenbier aus den Untiefen seiner Cargohose hervorgeholt, geöffnet und einen tiefen Schluck daraus genommen hatte.

»Es ist doch immer wieder schön zu sehen, wie du auch an uns denkst«, grummelte Paula. Ihr Kühlschrank war derzeit bierlos, sie hatte keine Zeit gehabt, mit dem Auto einen Kasten zu holen, und war in der letzten Zeit immer nur zu Fuß einkaufen gegangen.

»Mir reicht auch Wasser.« Julia lächelte versöhnlich.

»Ich geb dir gern einen Schluck ab«, bot Timo an.

Paula beäugte die Dose. »Ich glaube, mir reicht auch Wasser.« Sie füllte zwei Gläser mit Leitungswasser, stellte sie auf den Tisch und wandte sich wieder dem Hackfleisch in der Pfanne zu, das gewürzt werden wollte.

»Diese Entscheidung hat dir womöglich das Leben gerettet«, sagte Julia, die ihren eigenen entsetzten Blick fest auf Timos Bierdose gerichtet hielt.

»Survival of the fittest.« Timo strich sich über den Bauch. »Also, die Hirschle …«, begann er dann erneut.

Was hatte er immer mit dieser nervtötenden Nachbarin?

»Hab ich die Kehrwoche nicht anständig gemacht?«, fragte Paula. »Zu laut Musik gehört? Irgendwas im Hausflur liegen lassen?« Das Salz in der linken Hand, fuchtelte sie mit dem Pfannenwender in der rechten vielleicht etwas zu stark in der Luft herum. Timo duckte sich.

»Nein, es …«

In diesem Augenblick klingelte es. Ihre Wohnung war ja der reinste Taubenschlag.

»Sie kochet?«, war die Begrüßung der Hirschle, nachdem Paula ihr die Tür – den Pfannenwender immer noch in der Hand – geöffnet hatte. »Des han i ned dachd, dess Sie kocha könna.«

»Tja, das bin ich, immer für eine Überraschung gut«, murmelte Paula und verkniff sich ein barsches »Was wollen Sie?«. Bevor sie sich jedoch eine etwas höflichere Version der gleichen Frage überlegen konnte, drängte sich die Hirschle an ihr vorbei.

»I derf doch kurz reikomma, gell?«

In der Küche stand Julia gleich auf, um der alten Frau ihren Platz anzubieten. Paula versuchte, ihr noch vergeblich mit den Augenbrauen ein Zeichen zu geben – nicht dass sich die Hirschle noch häuslich einrichtete.

»Ich hab Paula schon Bescheid gesagt.« Stolz sah Timo die Nachbarin an.

»Des isch abr nedd vo Ihna.« Die Hirschle drehte sich zu Paula um. »Dann machet Sie des?«

»Äh …«

»Sie ist schließlich Privatdetektivin«, sagte Timo, und auch das klang ein bisschen stolz. »Aber nicht ohne Bezahlung!«, fügte er jedoch besorgt hinzu.

»Dr Kirner hat bschdimmd was gschbard. I hon mol en Bligg in sai Wohnung neigworfa, zufällig, als i ihm a Bakeed bringa musst. Der hat a riesige Glotzkischd, da wird ’r sichr …«

»Stopp!«, sagte Paula. »Der Kirner? Der unterm Dach wohnt?« Sie konnte sich nicht erinnern, den mürrischen Kerl öfter als zweimal gesehen zu haben. »Was ist mit dem? Und was soll ich dabei tun?«

»Na, finda müsset Sie den!«

»Er wohnt unterm Dach. Fall gelöst.« Paula stocherte noch einmal in dem Hackfleisch herum und gab die Dosentomaten hinzu. »Sie sehen ja, ich bin leider …«

»I hab den Mo scho übr zwoi Wocha ned gseha.«

Julia, die gerade damit begann, Käse zu reiben, schien sich ein Grinsen verkneifen zu müssen. Paula kannte ihre alte Nachbarin. Die Hirschle registrierte jede Bewegung im Haus. Die wäre eine Top-Mitarbeiterin beim BND gewesen.

»Das heißt, er ist seit mindestens zwei Wochen nicht durchs Treppenhaus gegangen?«, fragte Paula trotzdem nach.

»In seiner Wohnung ischer nett. I han klingelt«, fügte die Hirschle unnötigerweise hinzu. Natürlich hatte sie geklingelt, sie klingelte ja ständig, auch bei Paula.

»Es ist Sommer. Urlaub ist da nicht völlig abwegig.« Paula war sich nicht sicher, ob die Hirschle Sarkasmus verstand.

Timo pflichtete ihr bei. »Ein paar meiner Kumpels sind grad in Spanien. Lloret de Mar.«

»Kulturbanausen«, murmelte Julia.

»Hey, ich bin auch mehr der Goa-Typ!«, verteidigte Timo sich.

»Noi, noi, der isch net im Urlaub. Des hot der nie g’macht. Des wüsst i.« Die Hirschle schüttelte vehement den Kopf. »Außerdem schdehd sai Karra uff dr Schdroß.«

Mittlerweile kochte die Bechamelsoße und Paula rührte um.

»Also, dass er Paula bezahlt, nur weil er einen teuren Fernseher in seiner Wohnung hat, das finde ich schon eine sehr wagemutige Schlussfolgerung.« Offenbar war die Bedeutung dieser Worte erst jetzt bei Timo durchgesickert.

»Er ist doch ein erwachsener Mann«, musste Paula zu bedenken geben. »Vielleicht hat er beschlossen, mit seiner Freundin … Hat er eine Freundin?«

Die Hirschle nickte. »Des Weib duad em gar ned guad.«

Paula überging die Bemerkung. »Vielleicht ist er bei ihr? Oder sie hat ihn doch zu einem Urlaub überredet, auf Teneriffa oder Lanzarote, da muss man ja fliegen. Und sind jetzt nicht ohnehin Semesterferien?« Kirner war Anfang 40 und Privatdozent an der Uni Stuttgart, das war das Einzige, was sie über ihn wusste, und auch das hatte sie unfreiwillig von der Hirschle erfahren.

»Noi, des glaub i ned.«

»Was soll ihm denn passiert sein? Eine Entführung? Ist er ein Milliardärssohn?« Gemeinsam mit Julia füllte Paula die Auflaufform abwechselnd mit Lasagneblättern und Hackfleisch-Tomaten-Soße.

»Oder … Aliens!« Timo hielt die Hände in die Höhe und wackelte mit seinen Fingern, aber außer Julia, die ihm einen irritierten Blick zuwarf, beachtete ihn niemand.

»Noi, ha noi, die Muadr isch Hausfrau ond der Vadr hod beim Daimlr gschaffd. Solid, abr ned schdinkreich«, erklärte die Hirschle. »Gell, die hennd sich au drieber gfreid, dass es beim Bäggr drei Bräddzla fir zwoi Eiro gäba hodd! Abr wia i immer sag: Bei de Reiche lärnd ma ’s Schbara, bei de Arme ’s Kocha. Entfiehrt? Ha noi, da würda sich d’ Raibr ja selbschd verseggla.«

»Ver-was?«, fragte Timo.

»Wie bitte?«, formulierte Paula es etwas höflicher.

Julia, die im Gegensatz zu ihnen im Ländle groß geworden war, übersetzte: »An eine Entführung glaubt sie nicht, denn da würden sich die Räuber ins eigene Fleisch schneiden.«

»Aaaaahhh.« Bei Timo und Paula leuchtete gleichzeitig die metaphorische Glühbirne über dem Kopf auf.

»Ich bemüh mich ja schon«, sagte die Hirschle eingeschnappt, aber in verständlichem Hochdeutsch. Wo die Nachbarin diese Informationen über Kirners Familie nun wieder herhatte?

»Wenn das so ist, hat er nicht nur keine Lust, sondern höchstwahrscheinlich auch wirklich kein Geld, um Paula zu bezahlen«, sagte Timo.

»Vielleicht will er auch gar nicht gefunden werden«, unterstützte Paula ihn. »Vielleicht braucht er einfach mal ein bisschen Ruhe und Frieden.« Was er in diesem Mietshaus beides nicht finden würde, solange die Hirschle auf Streife ging.

»Vielleicht musste er vor hartnäckigen Gläubigern fliehen?«, warf Timo ein.

»Vor der Mafia!« Julia hielt sich die Hand vor den Mund.

»Was soll denn der Herr Kirner mit der Mafia zu tun haben?«, fragte die Hirschle. Und Paula gab es ungern zu, aber wenn die Alte schon die Stimme der Vernunft war …

»Natürlich gar nichts«, beendete sie die Diskussion und schob die Auflaufform in den Ofen. »Und deshalb gibt es auch keinen Grund, ihn zu suchen. Er ist ein freier Mann, dies ist ein freies Land.«

Verärgert fuchtelte die Hirschle mit den Händen in der Luft herum. »Sie sind doch Privatdetektivin.«

»Natürlich. Und wenn Sie mir einen Auftrag geben wollen, dann ermittle ich auch sehr gerne. Mit Vertrag, Vorschuss und genauer Stundenabrechnung.« Paula stemmte die Hände in die Hüften. In dieser Hinsicht hatte Timo recht. Sie würde nicht völlig umsonst nach jemandem suchen, der sich wahrscheinlich auf Teneriffa die Sonne auf den Bauch scheinen ließ. »Ich habe andere Klienten. Die mir tatsächlich Geld zahlen.«

Während Timo und Julia eine gute halbe Stunde später noch Lasagne in sich hineinschaufelten, schrieb Paula an dem Bericht für ihre Klientin. Die Observation hatte sie zwar nur mit einem etwas verwackelten Beweisfoto abschließen können, aber sie hatte alles gesehen. Fein säuberlich trug sie Datum, Uhrzeit, Ort und Personen in das Notizbuch ein, das Timo ihr zum Berufseinstand geschenkt hatte. Ein großes grünes Hanfblatt prangte auf dem Deckel.

»Die Hirschle hätte eine Wahnsinns-Karriere in der Stasi hingelegt«, kommentierte Timo deren Auftritt, nachdem er sich den letzten Bissen Lasagne in den Mund geschoben hatte.

»Privatdozent«, sagte Paula mehr zu sich selbst als zu den beiden anderen. »Dieser Kirner arbeitet an der Uni.« Sie rutschte auf ihrem Stuhl nach vorn und griff den Kugelschreiber fester. Warum sie so ein seltsames Gefühl in der Magengegend hatte, konnte sie sich nicht ganz erklären. Uni, das lag weit zurück. Außerdem war es nicht eins der erfolgreicheren Kapitel in ihrem Leben gewesen. Ganz im Gegenteil. »Ich glaube, BWL.« Daran hatte sie sich bei all ihren Fächerwechseln nicht gewagt.

»Apropos BWL!« Julias Gesicht leuchtete auf. »Ich wollte dir doch noch das mit dem Marketing …« Sie wühlte in ihrer Handtasche und holte mehrere bunt bedruckte Blätter Papier hervor. »Du musst deine Detektei bekannter machen. Damit du nicht nur untreue Ehemänner beschatten musst. Diversifikation ist das Stichwort!«

»Ich beschatte keine untreuen Ehemänner«, erklärte Paula zum zweiten Mal an diesem Abend. Überhaupt hatte sie im Augenblick nur einen Fall. Da ging es zwar auch um Beschattung, aber nicht um Untreue. »Ich wurde von der Mutter meines Zielobjekts beauftragt«, sagte sie steif.

Julia blickte zu Timo, während dieser mit einer Geste andeutete, wie verrückt er diesen Auftrag fand.

»Vielleicht hätte deine Mutter dich mal beschatten lassen sollen, dann hättest du jetzt deinen Abschluss.« Die Heftigkeit, mit der sie das sagte, überraschte Paula selbst.

»Wooooooooahhhh, chill«, sagte Timo und schob ihr sein Dosenbier rüber. Das konnte doch nicht mehr dasselbe wie vor einer knappen Stunde sein? Wie viele von den Dingern versteckte er in seiner Hose? Ach, vielleicht wollte sie das besser gar nicht wissen.

»Tut mir leid. Ich bin wohl übermüdet.« Paula rieb sich die Stirn.

Timo zuckte mit den Schultern. Nachtragend war er noch nie gewesen.

»Oh, es ist ja auch schon spät.« Mit einem bedauernden Blick auf ihre bunten Blätter stand Julia auf. »Und ich hab morgen Frühschicht.«

»Ich lös dich am Mittag ab«, seufzte Paula. Ihr Bewährungshelfer hatte ihr dringend davon abgeraten, ihren Job als Bäckereiverkäuferin zu kündigen. Eigentlich war er auch dagegen gewesen, dass sie ihn auf eine Teilzeitstelle reduzierte, aber anders wäre es Paula überhaupt nicht möglich, Aufträge anzunehmen. Schließlich hatten sie einen Kompromiss geschlossen: Paula versprach, sich nur im völlig legalen Rahmen zu bewegen und auch keine Headshops mehr zu betreten, dafür durfte sie Teilzeit arbeiten, ohne dass in ihrer Akte ein negativer Kommentar vermerkt werden würde. Und immerhin verdiente sie über diesen Teilzeitjob (leider) immer noch einen Großteil ihres Einkommens.

»Ich lass dir mein Konzept da«, sagte Julia. »Aber ein ganz wichtiger Punkt: Du musst aus diesem zwielichtigen Milieu raus! Kein Wunder, dass du nur Bespitzelungs-Aufträge bekommst.«

Timo runzelte die Stirn. »Zwielichtiges Milieu? Ja, das sag ich auch seit Wochen: Paula, lass endlich die Finger von diesem Kriminalkommissar!«

*

Den Bericht für ihre Auftraggeberin säuberlich abgeheftet, machte Paula sich am nächsten Morgen auf den Weg in ihr Büro.

Ihr Büro.

Paula benutzte dieses Wort oft. »Kommen Sie doch morgen in mein Büro«, »Ich warte in meinem Büro auf Sie«, »Klingeln Sie einfach kurz bei mir im Büro durch«.

Paula liebte ihr Büro. Sie war eine Privatdetektivin mit Büro.

Gut, die Tatsache, dass ihr Büro im Hinterzimmer von Timos Geschäft, einem der besten Headshops Stuttgarts, untergebracht war, bereitete kleinere logistische Unannehmlichkeiten.

Um ihr Wort gegenüber ihrem Bewährungshelfer nicht zu brechen, musste Paula immer den Umweg über den Seiteneingang und Hausflur nehmen. Aber da war es dann auch: ihr Büro. Mit Schild und allem. Gut, das Schild war derzeit noch ein Blatt Papier, das Timo in seinem Schaufenster neben den mittelgroßen Wasserpfeifen angebracht hatte. Aber der Gedanke zählte.

Paula Schmidt, Privatdetektivin – Fälle aller Art

Paula schloss die Tür hinter sich und schaltete das Licht ein, da trotz des Sonnenscheins kaum Tageslicht durch den Hinterhof ins Zimmer drang. Auf dem Schreibtisch stapelten sich die Unterlagen, die meisten betrafen Timos chaotische Buchführung, die den Namen als solche nicht verdient hatte. Aber die Kaffeetasse gehörte ihr, der Kugelschreiber und der Aktenordner, der derzeit die Computertastatur verdeckte.

Eine richtige Privatdetektivin. Mit Büro. Für das sie Timo nicht einmal etwas zahlen musste. Er verlangte nur, dass sie besagte chaotische Buchführung übernahm. Mit etwas schlechtem Gewissen schob sie den Stapel ungeordneter und teils zusammengeknüllter Papiere beiseite. Damit würde sie sich in den nächsten Tagen beschäftigen. Sie wollte Julia zum Kaffee einladen und plante, ihr unauffällig die Unterlagen hinüberzuschieben.

Paula öffnete ihren Aktenordner, schlug den ersten, rosafarbenen Reiter auf und heftete den Kassenbon für die Cola aus dem Supermarkt ab. Dann schrieb sie in Stichpunkten Datum, Uhrzeit und Ort der gestrigen Observation auf und machte eine Kopie ihres Berichts vom Vorabend.

In diesem Augenblick vibrierte ihr Telefon. »Vorsicht Polizei« erschien auf dem Display. Timo hatte das dahingehend geändert, nachdem er herausgefunden hatte, dass sie Kriminaloberkommissar Brändle tatsächlich unter seinem Namen in ihrem Telefonbuch abgespeichert hatte.

Er rief öfter an. Meist ging Paula nicht dran. Manchmal rief sie zurück, legte aber auch schon mal nach dem ersten Klingeln auf. Der Mann löste in ihr etwas aus, mit dem sie sich nur ungern auseinandersetzen wollte.

Sie nagte an ihrer Unterlippe. Dann ignorierte sie auch diesmal den Anruf und druckte stattdessen das Foto der Observation aus. Immerhin hatte sie einen Blick in das Zimmer der Studentenverbindung erhaschen und rechtzeitig auf den Auslöser ihrer Smartphone-Kamera drücken können. Die vier jungen Leute waren zwar etwas verschwommen, aber ein liebendes Mutterauge würde den eigenen Sohn wohl erkennen.

Paula wählte die Nummer ihrer Klientin.

»Frau Niklas, ich habe gute Nachrichten«, begrüßte sie ihre Auftraggeberin, nachdem die ans Telefon gegangen war. »Ihr kleiner Leon wird nicht durch weibliche Reize vom Studium abgelenkt.« Obwohl am gestrigen Abend durchaus auch ein Mädchen im Zimmer gewesen war. Dennoch war die größte Sorge seiner Mutter unbegründet, es war hauptsächlich der Alkohol, der Leon vom heimatlichen Zimmer und von der Bibliothek fernhielt. Die Bierflaschen hatten es allerdings nicht aufs Foto geschafft, was vielleicht besser für Frau Niklas’ Gemüt war. »Er hat einfach ein paar neue Freunde gefunden.«

Am anderen Ende der Leitung blieb es für einen Augenblick still. Dann konnte Paula buchstäblich hören, wie Frau Niklas misstrauisch die Stirn in Falten zog. »Freunde?«

»Er besucht regelmäßig seine Kommilitonen in einer Studentenverbindung.« Was Timo während ihrer eigenen Studienzeit ebenfalls regelmäßiggetan hatte – um ihnen Farbbeutel ans Haus oder Stinkbomben in den Garten zu werfen.

»Ist da auch ein Mädchen dabei?« Frau Niklas stellte die Eifersucht jeder betrogenen Ehegattin in den Schatten.

»Zwei Jungs, ein Mädchen. Die ist aber mit dem anderen zusammen. Bei Leon ist alles ganz harmlos, rein freundschaftlich.« Zumindest hatte Paula keinerlei unsittliche Berührungen feststellen können. »Ich schicke Ihnen das Foto, das ich gestern gemacht habe.«

Erneutes Schweigen in der Leitung. Dann fragte Frau Niklas: »Können Sie dafür sorgen, dass das aufhört?«

Darauf nun wusste Paula ihrerseits so schnell keine Antwort. »Ich bin Privatdetektivin und kein Life Coach«, sagte sie schließlich vorsichtig. »Ich kann Ihren Sohn beschatten oder auch belauschen, aber ich kann nicht in sein Privatleben eingreifen. Es tut mir sehr leid, aber das verbietet der Ehrenkodex.« Den sie sich gerade ausgedacht hatte, aber … So etwas musste es doch geben? Und wenn nicht, könnte sie einen erfinden. Den würde sie sich einrahmen, hinter den Schreibtisch hängen und bei unmöglichen Forderungen ihrer Klienten darauf verweisen. So eine Art moralische AGB.

»Hm.« Frau Niklas schien nicht zufrieden zu sein mit diesem Ergebnis. »Er war immer so ein guter Schüler. Sein Vater ist gar nicht glücklich.«

Aus diesem Grund rief Paula auch nur noch selten bei ihren eigenen Eltern an. »Das gibt sich ganz von allein, glauben Sie mir. Irgendwann hat er genug vom Feiern und kümmert sich wieder um die Uni.« Oder er übertrieb es und musste sein Studium abbrechen. Womit sie wieder beim Nicht-Anrufen bei ihren Eltern war. Und Timo, da war sie sich ziemlich sicher, hatte sogar einen Uni-Verweis gesammelt. Aber das musste man einer besorgten Mutter ja nicht auf die Nase binden.

Sie versprach einer immer noch skeptischen Frau Niklas, ihr das Foto sowie den Bericht und die Rechnung über 300 Euro per Mail zuzuschicken, und verabschiedete sich.

Im Anschluss begann Paula mit der Bearbeitung ihrer E-Mail-Anfragen.

Liebe Detektivin,

mein Bruder hat den Controller meiner PS4 verloren. Meine Eltern wollen mir keinen neuen kaufen, und mein Bruder hat sein Taschengeld für Colalutscher ausgegeben. Können Sie den Controller wiederfinden?

Viele Grüße Max

Max schien sich über den Stundenlohn einer Privatdetektivin nicht im Klaren zu sein. Sie antwortete ihm mit einem Verweis auf den Weihnachtsmann und schlug ihm vor, bis dahin mit seinem Bruder lieber an der frischen Luft Privatdetektiv und Verbrecher zu spielen. Das wäre eine sinnvollere Beschäftigung, als auf der PlayStation Autorennen zu fahren. Das war gar nicht gesund, konnte man überall nachlesen, und wenn Paula Timo als Beispiel nahm … Auch wenn sie Max nicht kannte, so würde dieser sicher nicht als dauerbreiter Kleinunternehmer enden wollen.

Nachdem sie einige Spam-Mails gelöscht und vergeblich auf ihr Telefon gestarrt hatte, schrieb sie in ihren Notizblock mit dem Hanfblatt: »Aufträge Juli, Stand 28.: 1«. Dann machte sie sich auf den Weg, Julia in der Bäckerei abzulösen.

*

Da sie etwas getrödelt hatte und sich mittlerweile beeilen musste, schaffte sie es nicht mehr, etwas zu Mittag zu essen.

»Hast du schon Zeit gehabt, dir mein Marketingkonzept anzusehen?«, fragte Julia, als Paula mit knurrendem Magen das Geschäft betrat.

Statt einer Antwort schnappte Paula sich eine Butterbrezel. Julia schüttelte seufzend den Kopf. Dann wühlte sie in ihrer Handtasche. »Dachte ich’s mir doch«, sagte sie. »Ich hab’s dir einfach noch mal ausgedruckt. Wenn nicht genug Kundenverkehr ist, hast du was zu tun.«

Misstrauisch sah Paula sich die bebilderten Ausdrucke an. Spannend waren die vermutlich nicht, aber immerhin bunt. Und nachher, wenn sie gar nichts zu tun hatte, wie es eine Stunde vor Ladenschluss oft der Fall war, hätte sie immerhin etwas Ablenkung.

Die sie schon zwei Stunden später dringend benötigte. Es waren gerade keine Kunden im Laden, die Müdigkeit begann Paula zu übermannen. Wenn man die Nächte im Garten einer Studentenverbindung verbrachte, konnte das passieren. Also setzte sie sich gähnend mit einem Cappuccino und den Marketing-Unterlagen an einen der beiden kleinen Tische.

Wenn sie so müde war wie jetzt, wurde sie wehmütig und das führte nur dazu, dass sie nach ihrem Smartphone griff. Sie brauchte dringend Ablenkung, um nicht möglicherweise völlig versehentlich eine Nachricht an den falschen Empfänger zu schicken. An Kriminaloberkommissar Brändle zum Beispiel.

Der es nach seinem vormittäglichen Versuch nicht noch einmal gewagt hatte, sie anzurufen.

Vor ein paar Wochen hatte er Paula zum Abendessen eingeladen, sie nach Hause begleitet und die Frechheit besessen, sie zu küssen. Aus Versehen hatte sie zurückgeküsst. Ziemlich leidenschaftlich sogar. Aber Brändle hatte sich auch verdammt gut angefühlt, sein ganz, ganz leichter Bartansatz, seine Arme, die Brustmuskeln – vielleicht hatte sie ihn auch ein kleines bisschen umarmt und …

Dann waren Timo und sein Mitarbeiter und Kumpel Carsten aufgetaucht und hatten hysterisch geschrien. »Die Bullen! Die Bullen haben Paula erwischt!« Die beiden waren offenbar völlig zugedröhnt gewesen.

Brändle und Paula waren auseinandergefahren, der »Bulle« hatte sich verabschiedet und dann hatte sie nie wieder etwas von ihm gehört. Also beinahe nie wieder. Er hatte am nächsten Tag angerufen, aber da hockte Paula gerade wieder einmal im Garten der Studentenverbindung auf dem Kirschbaum und hatte nur in den Hörer gezischt: »Jetzt nicht, ich observiere.« Das hatte ihr am nächsten Abend so leidgetan, dass sie ihm eine besonders nette SMS geschrieben hatte, die beinahe einer Liebeserklärung gleichkam. Das wiederum hatte ihr so viel Angst gemacht – Brändle war Polizist! Und sie … nun ja … vorbestraft … –, dass sie bei seinem nächsten Anruf nicht ans Telefon gegangen war.

Ihre Beziehung zu Brändle war … kompliziert. Sie seufzte.

Vielleicht hatte er eine Erklärung erwartet? Eine Entschuldigung für den Vorfall mit Timo?

Es konnte auch sein, dass er sauer war, weil sie ihr Leben als Privatdetektivin nicht aufgegeben hatte. Er hatte seltsame Vorstellungen von Gefahr, Legalität und Ähnlichem. Wer wusste schon, was im Kopf eines Polizisten vor sich ging?

Paula riss sich gewaltsam von den Gedanken an Brändle los und wandte sich Julias Marketingkonzept zu. Ganz aufmerksam.

Outbranching …

Diversifikation …

Schon nach den ersten Sätzen verschwamm der Text vor ihren Augen. Es war eine Fehleinschätzung gewesen, die bunten Bilder halfen nicht über den Inhalt hinweg. Paula zuckerte ihren Kaffee nach und nahm noch einen großen Schluck.

Da klingelte das Türglöckchen.

»Haben Sie schon etwas herausgefunden?« Die Hirschle stand in einem dunkelroten Rock aus viel zu dickem Stoff, unter den sie trotz der sommerlichen Hitze noch Nylonstrümpfe gezogen hatte, im Raum.

Dankbar für die Unterbrechung nickte Paula ihr zu und legte sowohl Julias Dokumente sowie das Handy zur Seite.

»Was herausgefunden?«

Ungeduldig klopfte die Hirschle mit den Fingerknöcheln auf den Tisch, an dem Paula saß. »Sie wissen genau, wovon ich spreche.«

Glücklicherweise wurde Paula in diesem Augenblick durch Timos Eintreten einer Antwort enthoben. Er schlurfte zum Tisch und ließ sich neben der Hirschle in einen Stuhl fallen. Dann seufzte er. »Diese Hitze macht mich fertig«, sagte er und warf sich zwei Dreadlocks aus der Stirn.

»Vielleicht könntest du deine dicken Pullis gegen was Luftigeres tauschen?« Paula zog die Augenbrauen hoch. Zwar waren Timos blasse dünne Ärmchen nicht der Stoff, von dem Frauen träumten, aber bei diesem Wetter im Stuttgarter Kessel waren nicht nur die Nylonstrümpfe der Hirschle, sondern auch seine Hanfpullover völlig irrsinnig. Die Hitzewelle dauerte nun schon drei Wochen. Nachts kühlte es oft nicht einmal mehr ab, und Paula hatte um vier Uhr morgens trotz weit aufgerissener Fenster in ihrer Stadtwohnung 28 Grad. Diejenigen, die konnten, waren schon längst in die Sommerferien geflohen.

»Was ist denn jetzt mit dem Kirner?«, wollte die Hirschle wissen.

»Der ist auf Sommerfrische«, sagte Paula und vermied es gerade eben so, die Augen zu rollen.

Das Türglöckchen bimmelte erneut, und Julia kam herein. »Hab ganz vergessen … oh.« Sie blieb stehen. »Ist etwas mit dem Nachbarn?«

»Das habe ich doch alles schon erzählt!«, rief die Hirschle ungeduldig.

»Es gibt keine neueren Entwicklungen«, ergänzte Paula. »Keine Einbruchsspuren … es gibt doch keine Einbruchsspuren, oder?«

»Nein.« Unzufrieden schürzte die Hirschle die Lippen. »Deshalb wird sich die Polizei ja auch nicht darum kümmern.«

Paula hielt inne. »Sie waren bei der Polizei?«

»Natürlich war ich bei der Polizei! Irgendjemand muss ja etwas unternehmen! Aber die haben mir das Gleiche gesagt wie Sie gestern.« Anklagend blickte die alte Frau erst Paula, dann Julia und schließlich auch Timo an. »Erwachsener Mann, Urlaub, der wird schon wiederkommen.«

Paula legte den Kopf schräg. »Die Polizei weigert sich also, etwas zu tun«, sagte sie langsam.

Timo und Julia stöhnten gleichzeitig auf.

»Paula!«, rief Julia unglücklich. »Du kannst dein Geschäftskonzept nicht darauf aufbauen, gegen Brändle zu arbeiten!«

»Du kannst dein Geschäftskonzept nicht darauf aufbauen, umsonst zu arbeiten!«, warf Timo ein.

»Ich hab doch gar nicht gesagt, dass ich den Fall übernehme!«, verteidigte Paula sich. Obwohl zumindest Julias Punkt, Brändle eins auszuwischen, sich gar nicht so schlecht anhörte. Ihm gefiel ihr Job als Privatdetektivin nicht, und war das nicht die Höhe? Ihr gefiel sein Job als Kriminaloberkommissar ebenfalls nicht. Aber sie war reif und erwachsen genug, ihm da nicht reinzureden.

Timo rutschte auf seinem Stuhl nach vorn. »Mir ist noch was eingefallen.« Er knabberte auf seiner Unterlippe. »Ich sag’s nur ungern, aber … ich glaub, ich hab ihn neulich vor deiner Haustür gesehen.«

»Kirner?«

Timo nickte.

»Du kennst den doch gar nicht.«

Andererseits ging Timo beinahe täglich in Paulas Wohnung ein und aus, es war möglich, dass er Kirner dabei getroffen hatte.

»Diese Uni-Typen erkennt man doch«, sagte Timo dann. »Altmodische Klamotten, ausgebeulte Jeans und ein Haarschnitt, der nicht einmal mehr ›rausgewachsen‹ zu nennen ist.« Das sagte der Richtige. In Timos Dreadlocks konnten mittlerweile Vögel nisten. »Jedenfalls … hat er sich gestritten.«

»Gestritten?«

»Ziemlich heftig. Mit einem anderen Kerl. Kann sein, dass es sogar handgreiflich geworden ist. Meine Erinnerung ist ein bisschen vernebelt.«

»Eine Schlägerei? Wann genau war das?« Und weshalb um Himmels willen war Timo diese wichtige Information jetzt erst eingefallen? Hing wahrscheinlich mit seinem vernebelten Erinnerungsvermögen zusammen.

Timo zuckte die Achseln. »Neulich halt.«

»Kannst du es wenigstens auf eine Woche eingrenzen?«

Er kratzte sich am Kopf. »Vorletzte? Oder davor?«

Paula sah die Hirschle an.

»Das könnte passen«, bestätigte die Nachbarin.

»Trotzdem …« Paula war noch nicht überzeugt. »Jeder streitet sich mal. Wir streiten uns ja sogar!« Sie zeigte auf Timo, der sie verwirrt anblickte.

»Ich streite mich nicht«, gab er zurück.

Paula wandte sich an die Hirschle. »Natürlich kann ich nur gegen Bezahlung ermitteln.«

»Ich habe Ihnen doch gesagt, der Kirner …«

Paula hielt ihre Hand in die Höhe. »Lassen Sie mich ausreden. Natürlich kann ich nur gegen Bezahlung ermitteln. Aber einmal in die Wohnung sehen und dann entscheiden, ob hier überhaupt ein Fall vorliegt … das kann ich auch ohne Vorschuss.«

»Nimm den Fernseher als Vorauszahlung«, murmelte Timo.

»Wie willst du ›in die Wohnung … sehen‹?«, fragte Julia. Ihre Stimme klang etwas höher als normal.

»Ich werde klingeln. Und wenn er nicht aufmacht, vielleicht mal durchs Schlüsselloch spicken. Keine Sorge, nichts Illegaleres, als Frau Hirschle nicht eh schon getan hat.«

»Ich bitte Sie! Ich habe mir Sorgen gemacht! Das macht man so unter Nachbarn. Und durchs Schlüsselloch kann man ohnehin gar nichts sehen.«

Paula überlegte weiter. »Gibt es ansonsten nicht einen Vermieter, der einen Schlüssel hätte?«

»Wenn du eine Kreditkarte hast, brauchst du den Vermieter nicht«, sagte Timo, um dann leise hinzuzufügen: »Kapitalistenschwein.«

»Ich will nichts von Einbrüchen hören!« Julia hielt sich die Ohren zu.

Einbrüche! Paula wollte doch nicht einbrechen, ganz bestimmt nicht. Ein Einbrecher drang in eine Wohnung ein, um etwas zu stehlen. Paula wollte doch nur nachschauen.

»Wenn die Polizei sich nicht um ihre Bürger kümmert, dann muss ich das eben tun.« Paula Schmidt, die weltbeste Privatdetektivin, nun auch Rächerin der Enterbten und womöglich Verschwundenen.

Julia schüttelte den Kopf, Timo wiegte seinen langsam hin und her. Nur die Hirschle schien voller Tatendrang: »Gehen wir!«

Zu viert drängten sie sich auf dem Absatz vor Kirners Wohnungstür.

Paula klingelte.

Nichts passierte. Sie legte ein Ohr an die Tür, aber es war keine Bewegung im Inneren der Wohnung zu hören. Sie klingelte noch einmal, dann klopfte sie. Laut und anhaltend. So machte es Brändle immer, wenn er sie verhaften wollte, und bisher hatte sie dann doch immer die Tür geöffnet. Allerdings …

»Aufmachen, Polizei!«, rief Paula. Das war immer das durchschlagende Argument gewesen.

Immer noch rührte sich nichts.

»Ich sag’s ja, der ist verschwunden.« Die Hirschle verschränkte die Arme vor der Brust.

»Vielleicht hält er eine verspätete Siesta«, sagte Timo, der sich auf den obersten Treppenabsatz gesetzt hatte und so aussah, als würde er im nächsten Augenblick das Gleiche tun. Für Timo war elf Uhr am Vormittag »früher Morgen«, da konnte man auch mal abends einen Mittagsschlaf halten.

»Was, wenn der wirklich verschwunden ist? Entführt? Oder auf der Flucht?« Julia hielt sich die Hand vor den Mund.

»Hm.« Die Wohnungstür besaß keine Scheibe, durch die man eine Bewegung hätte sehen können. Und auch der Türspion war funktionsfähig eingebaut. Es war unmöglich, etwas im Inneren der Wohnung zu erkennen. Paula drehte sich zur Hirschle um. »Sie hatten gesagt, sein Auto steht vor dem Haus?«

»Ist seit zwei Wochen nicht bewegt worden.«

Gut, wenn er eine weite Reise machte, würde er ohnehin fliegen müssen und hatte ganz sicher die S-Bahn oder ein Taxi zum Flughafen genommen. Oder vielleicht besaß seine Freundin ein größeres Auto. Oder er war mit dem Zug in den Urlaub gefahren, dann brauchte er sein Auto auch nicht.

Dennoch, die Tatsache, dass Timo den lautstarken Streit so kurz vor Kirners Verschwinden beobachtet hatte, gab ihr zu denken. Die Polizei unternahm nichts, da musste man doch eingreifen. Und wenn etwas passiert war, konnte sie der Polizei – oder vielleicht auch Brändle – Untätigkeit unter die Nase reiben.

»Julia, gib mir mal deinen Bibliotheksausweis.« Julia besaß so etwas, im Gegensatz zu ihr selbst oder Timo, der nie einen Schritt in die Stadtbibliothek setzen würde. Er fand, dass sie von außen wie ein Gefängnis aussah und von innen – hatte er gehört – so klinisch weiß war wie ein Chemielabor.

»Das erinnert mich, ich muss noch Bücher zurückbringen«, sagte Julia, während sie in ihrer Tasche kramte. Der Bibliotheksausweis war zwar nicht optimal, aber bevor Paula eine EC-Karte ruinierte …

Schließlich reichte sie Paula das grau-weiße Kärtchen, das in einer durchsichtigen Hülle steckte. Paula hatte gehört, man konnte in der Stadtbibliothek heiraten. Das perfekte Ambiente für Julia.

»Wozu brauchst du … oh.«

»Gefahr im Verzug«, sagte Paula, nachdem sie die Karte zwischen Tür und Rahmen angesetzt hatte. »Habt ihr das nicht auch gehört? Das klang doch wie ›Hilfe‹!« Brändle selbst hatte mit dieser Erklärung einmal eine Scheibe eingeschlagen. Gut, er hatte auch durch diese Scheibe gesehen, wie Paula beinahe erwürgt worden war, dennoch blieb die Tatsache, dass Gefahr im Verzug ein verdammt nützliches Werkzeug im Arsenal einer Privatdetektivin war.

»Das gilt nur für die Polizei.« Julia machte ihrer Vorstellung leider den Garaus.

»Wir sind besorgte Bürger, die sich kümmern, wo die Polizei versagt.« Die Hirschle war ganz und gar auf Paulas Seite.

»Also. Wer hat hier alles jemanden um Hilfe rufen hören?« Paula hob die Hand, die Hirschle ebenfalls, Timo gähnte, und nach etwas Zögern hob schließlich auch Julia ihre Hand. »Wenn dem Mann wirklich etwas zugestoßen ist …«, murmelte sie.