10,99 €
Wer die politischen Debatten in Deutschland verfolgt, der muss den Eindruck bekommen, als sei die deutsche Flüchtlingspolitik nach wie vor von der Willkommenskultur des Jahres 2015 geprägt. Doch anders als Parteien wie die AfD behaupten, war die damalige Offenheit eine historische Ausnahme. Davor und danach versuchte Deutschland sich abzuschotten – auf Kosten der Flüchtlinge und der südeuropäischen Länder. Karl-Heinz Meier-Braun erinnert an die lange Geschichte der Ausländerdebatten in der Bundesrepublik und zeigt, dass Deutschland schon lange ein Einwanderungsland ist, auch wenn viele das nicht wahrhaben wollen. Damals wie heute versucht die deutsche Politik mit aller Macht, den Flüchtlingsstrom zu begrenzen. Dabei nimmt sie vieles in Kauf: schmutzige Deals mit fragwürdigen Regimen und brutalen Milizen, immer mehr tote Flüchtlinge im Mittelmeer und in der Sahara, eine Aufrüstung an den Außengrenzen der EU, menschenunwürdige Zustände in den überfüllten Auffanglagern in Italien und Griechenland, Abschiebungen in Krisenländer sowie eine fortschreitende Aushöhlung des Asylrechts in Deutschland. Eine Reise auf die dunkle Seite unserer Flüchtlingspolitik, die zeigt, wie sehr diese von Doppelmoral geprägt ist.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Karl-Heinz Meier-Braun
SCHWARZBUCH MIGRATION
Die dunkle Seite unserer Flüchtlingspolitik
C.H.BECK
Nach der kurzen Ausnahme des Herbstes 2015 schottet sich Deutschland inzwischen längst wieder ab – auf Kosten der Flüchtlinge und der südeuropäischen Länder. Karl-Heinz Meier-Braun nimmt den Leser mit auf die dunkle Seite dieser Flüchtlingspolitik und hinterfragt die Legende von der «Willkommenskultur». Dabei wird deutlich, wie Deutschland und Europa sich seit Jahrzehnten die Flüchtlinge vom Leib halten und welches menschliche Leid dort herrscht, wo unsere Scheinwerfer nicht hin leuchten.
Anders als Parteien wie die AfD behaupten, war die «Willkommenskultur» des September 2015 eine historische Ausnahme. Davor und danach versuchte Deutschland sich abzuschotten. Karl-Heinz Meier-Braun erinnert an die lange Geschichte der Ausländerdebatten in der Bundesrepublik und zeigt, dass Deutschland schon seit Jahrzehnten ein Einwanderungsland ist, auch wenn viele das nicht wahrhaben wollen. Damals wie heute versucht die deutsche Politik mit aller Macht, die Zuwanderung zu begrenzen. Dabei nimmt sie vieles in Kauf: schmutzige Deals mit fragwürdigen Regimen und brutalen Milizen, immer mehr tote Flüchtlinge im Mittelmeer und in der Sahara, eine Aufrüstung an den Außengrenzen der EU, menschenunwürdige Zustände in den überfüllten Auffanglagern in Italien und Griechenland, Abschiebungen in Krisenländer sowie eine fortschreitende Aushöhlung des Asylrechts in Deutschland. Ein Schwarzbuch zur gegenwärtigen Flüchtlingspolitik, das deutlich macht, wie sehr diese von Doppelmoral geprägt ist.
Karl-Heinz Meier-Braun, langjähriger Leiter der Fachredaktion SWR International beim Südwestrundfunk in Stuttgart und Integrationsbeauftragter des Senders, ist Honorarprofessor für Politikwissenschaft der Universität Tübingen und Mitglied im Rat für Migration (RfM). Bei C.H.Beck liegt von ihm vor: «Die 101 wichtigsten Fragen: Einwanderung und Asyl» (32017).
1. Einleitung
2. Offene Grenzen? Wie sich Deutschland die Flüchtlinge vom Leib hält
Die Schließung der Balkanroute
Asylrechtsverschärfung im Eiltempo
Das überforderte Bundesamt
Drama auf dem Mittelmeer
Das Dublin-Debakel
Konzentrationslager in Libyen?
Die Hölle auf Erden
Das Geschäft mit den «Illegalen»
Die Abschottungspolitik und ihre Kosten
Patentlösungen gibt es nicht
Abkommen mit Unrechtsregimen?
«Besseres Migrationsmanagement» – ein klassischer Euphemismus
Politisch Verfolgte genießen Asylrecht – aber nicht in Europa
3. Alles schon mal dagewesen: eine kleine Geschichte der «Flüchtlingskrisen»
Die «Flüchtlingskrise» von 1979/80
Die Geburt der «Ausländerdebatte»
1992/93: Der «Asylkompromiss»
Die Asyllotterie
Die «Aussiedlerkrise»
Wer wählen kann, hat mehr vom Leben
Die Obergrenze: alter Wein in neuen Schläuchen
Symbolpolitik
Mythen und Legenden
Einwanderungsland Deutschland?
Die Grenze der Belastbarkeit
Realitätsverweigerung
4. Bollwerk Europa: die dunkle Seite der Migrationspolitik
Mare Nostrum
Konzentrische Kreise
Immer Ärger mit der Quote
Ihr haltet uns die Armen vom Leib, wir bezahlen
Die Militarisierung der Migrationspolitik
Brigade 48
5. Worum es eigentlich geht: die globale Ungleichheit und das «Weltflüchtlingsproblem»
Eine Welt in Unordnung
Flüchtlingsabwehrpolitik
Die Kultur des Teilens
Eine Welt in Bewegung
Weltflüchtlingspolitik
Ein Marshallplan für Afrika?
Fluchtursachen beseitigen! Aber wie?
6. Schluss: wie weiter?
7. Veröffentlichungen des Autors (Auswahl)
8. Literaturtipps und Links
Flüchtlinge sind keine anonyme Masse, sondern Menschen wie Doaa aus Syrien. Ihr Schicksal und ihre Flucht über das Mittelmeer hat die UNO-Flüchtlingshilfe dokumentiert. Die 19-Jährige war eine ehrgeizige Schülerin, die vor dem Bürgerkrieg mit ihrer Familie nach Ägypten floh, wo sie ohne Arbeitserlaubnis am Rande der Gesellschaft lebte. Mit ihrem Freund Bassem, der um ihre Hand anhielt, beschloss sie, nach Europa zu fliehen, um dort in Schweden bei Landsleuten eine gemeinsame Zukunft aufzubauen. Bassem übergab sein gesamtes Erspartes – 5000 Dollar – an die Menschenschmuggler, die sie auf ein überfülltes Fischerboot brachten. 500 Menschen waren darauf zusammengepfercht, davon 300 unter Deck.
Nach drei Tagen auf See verlor Doaa den Glauben an eine sichere Ankunft. «Wir werden ertrinken», sagte sie zu Bassem. Ein verrostetes Boot kam am vierten Tag auf sie zu. Die Flüchtlinge weigerten sich, in das neue Gefährt überzuwechseln, die Menschenhändler rammten ein Loch in das Fischerboot und lachten: «Mögen die Fische Euer Fleisch fressen!» Das Boot kenterte innerhalb weniger Minuten. Die 300 Menschen, die unter Deck gefangen waren, hatten keine Chance. Doaa erinnert sich: «Ich hörte, wie Menschen schrien und sah, wie ein Kind vom Propeller in Stücke zerrissen wurde.» Hunderte Leichen schwammen um sie herum. Diejenigen, die überlebt hatten, fanden sich in Gruppen zusammen und beteten. Bassem versorgte seine Verlobte mit einem Rettungsring, weil sie nicht schwimmen konnte. Viele Flüchtlinge verloren in der folgenden Nacht die Kräfte. Doaa schildert, wie Männer ihre Rettungswesten abnahmen und ertranken. Einer von ihnen übergab ihr kurz vor seinem Tod seine neun Monate alte Enkelin Melek. Doaa musste mit ansehen, wie auch Bassem die Kräfte verließen und wie er starb. Trotz ihrer Trauer nahm sie ein weiteres Kind auf. In der Gewissheit, dass sie selbst nicht überleben würde, übergab die Mutter ihr das 18 Monate alte Mädchen, Masa. Nun war Doaa für zwei völlig erschöpfte Kinder verantwortlich, die weinten, vor Hunger und Durst. Sie erzählte ihnen Geschichten und sang für die Mädchen, zwei Tage vergingen. Dann sah Doaa ein Handelsschiff. Zwei Stunden rief sie um Hilfe, bis sie gerettet wurde. Nur 11 von den 500 Flüchtlingen überlebten.
Eine offizielle Untersuchung der Katastrophe hat es nie gegeben. Das Interesse der Medien flaute nach kurzer Zeit ab. Melek starb noch an Bord des Schiffes, das sie gerettet hatte, die kleine Masa überlebte wie durch ein Wunder, nach vier Tagen auf dem Meer, in einem Krankenhaus in Griechenland, wohin sie ein Rettungshubschrauber gebracht hatte. Über Facebook wurde schließlich sogar ein Onkel des kleinen Mädchens gefunden, wie die UNHCR-Pressesprecherin Melissa Fleming berichtete. Doaa hat es inzwischen bis nach Schweden geschafft.
Sobald ein anonymer «Flüchtling» einen Namen, eine Geschichte und ein Gesicht bekommt, fällt es sehr viel schwerer, sein Leid zu ignorieren und sich hartherzig zu zeigen. Es handelt sich um Menschen mit Gefühlen, Hoffnungen und schweren Schicksalen. Das gerät in der aktuellen Debatte leicht in Vergessenheit, wenn in abstrakten Begriffen von «Flüchtlingswellen», «Migrationsströmen» oder gar, auf Seiten der Rechtspopulisten, von «Invasoren» die Rede ist. Was es für die Zuflucht suchenden Menschen ganz konkret bedeutet, wenn sich Europa abschottet, lässt sich hinter solchen Worten gut verbergen. Dann fällt es leichter, das Elend der Flüchtlinge zu verdrängen.
Melissa Fleming, die Doaas Schicksal in einem Buch festgehalten hat, fragt zu Recht, warum die junge Syrerin nicht auf legalem Wege nach Europa kommen durfte und warum sie und viele andere Flüchtlinge solche Tragödien erleiden müssen. Warum gibt es nicht massive Aufnahmeprogramme für syrische Flüchtlinge in Europa? Eine Frage, die sich in der «Flüchtlingskrise» viele stellten. Im Januar 2016 äußerte sich sogar Bundeskanzlerin Angela Merkel in diese Richtung, zu einer Zeit, als Deutschland weltweit für seine offene Flüchtlingspolitik und Willkommenskultur gelobt wurde: «Dass eine EU mit 500 Millionen Menschen nicht eine Million Syrer aufnehmen kann, das leuchtet mir nicht ein. Das wird kein gutes Bild unseres Kontinents abgeben.»
Doch ist Deutschland wirklich so viel besser als der Rest Europas? Fühlen wir uns zu Recht als «Weltmeister der Menschlichkeit»? Tatsächlich gab es die «offenen Grenzen» des Herbstes 2015 nur wenige Wochen und sie waren in Sachen Zuwanderung die absolute Ausnahme in Deutschland. Ihren Ursprung hatte die «Willkommenskultur» in der Zivilgesellschaft, die die Flüchtlinge mit offenen Armen aufnahm. Zehn Prozent der deutschen Bevölkerung haben aktiv geholfen, 30 Prozent gespendet. Eine bisher nie da gewesene Hilfsbereitschaft, die bis heute anhält. Allzu schnell geriet darüber in Vergessenheit, wie sehr die deutsche Migrationspolitik zuvor und unmittelbar danach darauf abzielte, die Grenzen abzuschotten und ihre Sicherung auf andere Staaten abzuwälzen.
Während die deutsche Politik offiziell lange an der «Willkommenskultur» festhielt, und die deutsche Öffentlichkeit den Rest Europas für hartherzig erklärte, begannen schon im Herbst 2015 die Versuche, die Zahl der Flüchtlinge wieder zu reduzieren und die Außengrenzen Europas besser zu sichern: durch fragwürdige Deals mit problematischen Regimen in der Türkei und in Afrika, durch Verlagerung des Problems auf Südeuropa und durch eine aktive Bekämpfung der Fluchtursachen. Zudem erlebte das Land eine zuvor ungeahnte Verschärfung des Asylrechts – was allerdings die rechten Kritiker der Flüchtlingspolitik nicht davon abhielt, weiterhin von unkontrollierter Zuwanderung zu reden.
Der Journalist Johannes Simon stellte im November 2017 in den «Blättern für deutsche und internationale Politik» fest, die ganze deutsche Debatte um die «Flüchtlingskrise» sei von einer «grundlegenden Unehrlichkeit» geprägt. Viele wünschten sich die Abschottung, scheuten sich aber zu benennen, was das konkret heiße. Die Politik verpacke ihre Handlungen in der Flüchtlingsfrage in «euphemistische Watte». Diesen Schleier wegzuziehen und zu zeigen, welche Flüchtlingspolitik Deutschland und Europa tatsächlich verfolgen, ist das Anliegen dieses Buches. Denn sie wird auf dem Rücken der Schwächsten ausgetragen. Nach den harten Debatten der letzten Jahre sind viele nur allzu froh wegschauen zu können. Und die Bundesregierung setzte im Vorfeld der Wahlen – wenn auch vergeblich – alles daran, das Thema aus der Diskussion zu halten. Es gab eine Art unausgesprochenen Konsens: Wenn es wieder gelang, Deutschland die Flüchtlinge vom Leib zu halten, dann wollten viele nicht zu genau wissen, auf welche Weise das erreicht wurde.
Doch das Wegschauen ist ein Luxus, den wir uns nicht leisten können. Die globalen Fluchtbewegungen hören nicht auf, wenn wir uns für die Vogel-Strauß-Politik entscheiden. Und die europäische Abschottungspolitik führt dazu, dass ganz konkreten Menschen unfassbares Leid zugefügt wird, nicht nur, aber vor allem in Libyen. Würde diese Politik auch eine Mehrheit finden, wenn diese Konsequenzen allen plastisch vor Augen stünden? Vielleicht ja, vielleicht auch nicht. Aber zumindest sollten sie allen bewusst sein, die für diese Politik Verantwortung tragen – und das sind in letzter Konsequenz alle Staatsbürger unserer Demokratie.
Fast 40 Jahre lang habe ich mich als Redaktionsleiter und Integrationsbeauftragter des Südwestrundfunks (SWR) bzw. seines Vorläufers, dem Süddeutschen Rundfunk (SDR), als Wissenschaftler und ehrenamtlich Engagierter mit dem Thema Flucht und Migration beschäftigt. Wenn ich heute auf die eigenen Beiträge und Veröffentlichungen schaue, dann muss ich mir an vielen Stellen die Augen reiben. Denn es gibt in der Ausländerpolitik so gut wie nichts, was es nicht schon einmal gegeben hätte. «Gefährlicher Sommer. Italien in Bedrängnis. Zum zweiten Mal seit dem Frühjahr ist das Land von einer Flüchtlingswelle … überrascht worden.» Dieser Zeitungsausschnitt aus dem «SPIEGEL» stammt nicht vom Sommer 2015, vom Höhepunkt der sogenannten Flüchtlingskrise, sondern aus dem Sommer 1991. Damals erreichten über Nacht 15.000 irreguläre Migranten aus Albanien mit ihrem schrottreifen Schiff Vlora den italienischen Hafen Bari. Kurze Zeit später landeten an einem Tag rund 27.000 Albaner in Brindisi, bis heute das größte Ereignis dieser Art in der Geschichte der Flüchtlingszuwanderung im Mittelmeer. An die Bilder von den überfüllten Booten schien sich nach 24 Jahren aber kaum noch jemand zu erinnern, als die «Krise» erneut ausbrach.
Wer sich noch an die Debatten voriger Jahrzehnte erinnern konnte, erlebte ein Déjà-vu. Die Diskussionen wiederholten sich unter dem Motto «Alles schon mal dagewesen». Sogenannte «Asylkrisen» durchlief Deutschland nämlich bereits in den Jahren 1979/80 und 1992/93, selbst in der «Gastarbeiter- und Aussiedlerzeit» befand sich die Republik im Krisenmodus. Aus den Erfahrungen und Fehlern der Vergangenheit wurde nichts gelernt, die Chancen für eine zukunftsorientierte Migrations- und Flüchtlingspolitik – ein Einwanderungsgesetz – mehrmals verschenkt. Die aktuelle «Flüchtlingskrise» ist nicht neu und keine «Krise der Flüchtlinge», sondern eine Krise nicht nur der deutschen, sondern auch der europäischen Migrations- und Flüchtlingspolitik, ja der Europäischen Union. Die EU hat versagt und zugesehen, wie das Mittelmeer zum Massengrab geworden ist.
Erstaunlich ist in der Rückschau eher, wie gut die Integration der inzwischen über 18 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland größtenteils gelungen ist, angesichts der chaotischen und eher schädlichen Politik der letzten Jahrzehnte. Ein ganz erheblicher Teil dieser Eingliederung in unser Land haben die Einwanderinnen und Einwanderer selbst vollbracht, unterstützt von vielen Menschen in Deutschland, außerhalb staatlicher Hilfen oder Fördermaßnahmen, beispielsweise im schulischen Bereich, lange bevor das Schlagwort von der «Willkommenskultur» in Mode kam.
***
Die Idee für dieses Buch kam von Dr. Sebastian Ullrich, Lektor beim C.H.Beck Verlag, mit dem mich eine außergewöhnlich gute Zusammenarbeit verbindet. Ich danke ihm dafür. Prof. Dr. Klaus J. Bade, danke ich für Anregungen, aber auch Kritik. Ihm und dem anderen Altmeister der deutschen Migrationsforschung, Prof. Dr. Dieter Oberndörfer, stellvertretend für alle, die seit den frühen 1980er Jahren Forderungen gestellt und warnende Voraussagen gemacht haben, die nichts an Aktualität verloren haben, widme ich dieses Buch. Es stützt sich im historischen Teil auf zahlreiche Untersuchungen und Veröffentlichungen des Autors, im aktuellen Teil auf eine umfassende Recherche, unter anderem auf die Auswertung umfassender Dokumentationen, Berichte und einer Pressedatenbank. Gewisse Überschneidungen und Wiederholungen dienen der Verdeutlichung und werden deshalb bewusst in Kauf genommen. Was die weiteren Daten und Fakten eingeht, so sei auf mein Buch «Einwanderung und Asyl. Die 101 wichtigsten Fragen», ebenfalls erschienen im C.H.Beck Verlag, verwiesen.
Deutschland zwei Jahre nach der «Öffnung der Grenzen». Das Motto müsste lauten: «Wir haben es wieder einmal geschafft – die Flüchtlinge abzuwehren!» Im Jahr 2017 wurden 186.644 Asylsuchende in Deutschland registriert, deutlich weniger als in den Vorjahren. Ein Jahr zuvor waren es noch rund 280.000 und im Jahr 2015 sogar ca. 890.000 Menschen, die Asyl in Deutschland suchten. Auch 2017 kamen die meisten Flüchtlinge aus diesen Ländern, in denen Gewalt und Menschenrechtsverletzungen herrschen: aus Syrien (47.434), aus dem Irak (21.043), aus Afghanistan (12.346) und aus Eritrea (9524). In der Europäischen Union insgesamt ist die Zahl der Asylanträge stark zurückgegangen und hat sich 2017 gegenüber den letzten Jahren mehr als halbiert. Wenn man maßgebliche Kriterien wie die inhaltlichen Entscheidungen berücksichtigt, beträgt die Erfolgsquote bei den Asylanträgen in Deutschland immer noch rund 44 Prozent. Die Balkanroute ist fast gänzlich geschlossen, das östliche Mittelmeer abgedichtet, und ein «schmutziger Deal» mit der Türkei wurde ebenso geschlossen wie fragwürdige Abkommen mit afrikanischen Staaten oder instabilen Regimen wie in Libyen. Abschreckungsmaßnahmen, immer weiter verschärfte Asylverfahren und beschleunigte Abschiebungen – all das hat dazu geführt, dass die Zahl der Flüchtlinge drastisch zurückgegangen ist und das europäische Abwehrbollwerk bis nach Afrika verlagert wurde.
Die Krise schien vorüber zu sein. Die Bundesregierung und die sie tragenden Parteien (CDU/CSU und SPD) glaubten offenbar, das Thema abhaken zu können. Eine Fehleinschätzung, die sich am Wahltag, dem 24. September 2017, bitter rächen sollte. Mit fast 13 Prozent der Stimmen zog zum ersten Mal im Nachkriegsdeutschland eine rechtsextreme Partei in den Bundestag ein. In Sachsen wurde die AfD sogar stärkste politische Kraft und überflügelte die CDU. Sie konnte mit ihrer Kampagne gegen eine angeblich zu liberale Flüchtlingspolitik punkten, obwohl die Realität längst anders aussieht.
Europa im Jahre 2017: Der Osten ist zwar nicht mit neuen Mauern umgeben, aber mit Zäunen, die diesmal nicht gegen den «Westen» gerichtet sind, sondern zur Abwehr der Flüchtlinge aus dem Süden dienen. Nicht nur haben Deutschland, Österreich, Dänemark und Schweden wieder Grenzkontrollen eingeführt, sie haben auch, wie Österreich, Zäune und Überwachungstechnik nach Mazedonien geliefert, das damit seine Grenze zu Griechenland dichtgemacht hat. Bulgarien hat seine Grenze zur Türkei ebenfalls abgeschottet. Ungarn, wo sich im September 2017 sage und schreibe weniger als 600 Asylbewerber aufhielten, hat seine Grenzen zu Serbien und Kroatien mit Stacheldraht gesichert. Bei vier Grenzübergängen wurden «Transitzonen» eingerichtet. Pro Arbeitstag werden seit Januar 2017 nur maximal zehn Menschen in jede Zone gelassen. Nach Angaben der IOM, der Internationalen Organisation für Migration, müssen Asylbewerber mindestens sechs Monate vor den Eingangstoren auf der serbischen Seite warten, bevor sie die Transitzone betreten dürfen. So lange müssen sie in Camps ausharren. Diejenigen, die versuchen, illegal über die Grenze zu kommen, müssen mit der extremen Brutalität der Grenzbeamten rechnen, von deren Methoden sich sogar die europäische Grenzschutzagentur FRONTEX distanziert hat. Zur Abschreckungspolitik Ungarns gehört weiterhin, dass Flüchtlinge, die als Asylberechtigte anerkannt wurden, höchstens einen Monat lang staatliche Unterstützung bekommen Danach werden sie wieder ihrem Schicksal überlassen.
Um die Balkanroute dauerhaft zu versperren, schloss die EU zudem ein fragwürdiges Abkommen mit der Türkei, das seit dem 4. April 2016 angewendet wird. Asylsuchende, die sich auf dem Boden der Türkei aufgehalten haben und nach Griechenland zu gelangen versuchen, sollen zurückgeschickt werden. Für jeden abgeschobenen Flüchtling soll ein anderer, der sich legal in der Türkei befindet, in der EU aufgenommen werden. Doch ist für diesen Mechanismus eine Obergrenze von 72.000 Flüchtlingen vorgesehen («Eins-zu-eins-Mechanismus»). Dafür wurden der Türkei im Gegenzug zunächst drei Milliarden Euro zugesagt und die Visafreiheit für Reisen in die EU in Aussicht gestellt, woraus aber nichts wurde. Weitere drei Milliarden Euro will die Kommission bis Ende 2018 bereitstellen. Mit dem Geld sollen Flüchtlinge besser versorgt werden, beispielsweise durch Projekte in den Bereichen Gesundheit, Bildung oder Lebensmittelkosten. Durch dieses «Flüchtlingskarussell» stiehlt sich die EU aus der Verantwortung und verlagert das Problem «weit hinten in die Türkei». Was mit den Flüchtlingen passiert, die dorthin zurückgeschoben werden, weiß keiner so genau. Die EU-Kommission verkaufte das Abkommen noch im September 2017 als großen Erfolg. Dabei sieht die Bilanz sehr bescheiden aus, was die Zahlen angeht. Bis September 2017 wurden kaum Flüchtlinge von Griechenland in die Türkei abgeschoben: Gerade einmal 1900 waren es. Die meisten Flüchtlinge harren noch auf den griechischen Inseln aus. Insgesamt nur 8800 syrische Flüchtlinge wurden im Rahmen des «Eins-zu-eins-Mechanismus» auf andere Mitgliedstaaten der EU verteilt. Für dieses Umsiedlungsprogramm kommen Flüchtlinge mit sogenannter guter Bleibeperspektive wie Syrer oder Eritreer und besonders Schutzbedürftige wie Frauen oder Kranke in Frage. Bis zum September 2017 wurden zudem nur 838 Millionen Euro von den versprochenen Geldern an die Türkei ausgezahlt.
Während das Umsiedlungsprogramm rudimentär blieb, entwickelte das Abkommen allerdings schnell eine abschreckende Wirkung. Zudem erschwerte die Türkei – als Gegenleistung – die illegale Ausreise nach Griechenland. Erklärtes Ziel der Vereinbarung ist es nach den Worten des Europäischen Rates, «die irreguläre Migration aus der Türkei in die EU zu beenden». Die Türkei werde «alle erforderlichen Maßnahmen ergreifen, um zu verhindern, dass neue See- oder Landrouten für die illegale Migration von der Türkei in die EU entstehen», heißt es in der Pressemitteilung zum Abkommen. Die Zahlen gingen in der Folge stark zurück. Dies lag allerdings auch daran, dass die Türkei nun an ihren Grenzen zu Syrien eine Mauer errichtete. Auch die anderen Nachbarstaaten haben ihre Grenzen zu Syrien abgeriegelt, so dass die Bürgerkriegsflüchtlinge praktisch im eigenen Land eingeschlossen sind – ein einzigartiger Vorgang in der Flüchtlingsgeschichte. Der Preis für die Abschottung ist allerdings nicht nur ein moralischer. Europa hat sich mit dem Türkei-Abkommen in ein problematisches Abhängigkeitsverhältnis zu dem autoritär regierenden Präsidenten Erdoğan begeben. Als das Europaparlament im November 2016 forderte, die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei vorläufig einzufrieren und das mit «unverhältnismäßigen Repressionen» seit dem gescheiterten Militärputsch im Juli begründete, drohte Erdoğan mit der Grenzöffnung für Flüchtlinge.
Doch nicht nur in der Außenpolitik könnte der Kontrast zur offiziell nie zurückgenommenen «Willkommenskultur» nicht größer sein. Auch im Inneren prägt sie schon lange nicht mehr den Umgang mit Flüchtlingen. In den letzten Jahren wurde die Asylpolitik in so rascher Folge verschärft, dass selbst Fachleute Schwierigkeiten haben, auf dem Laufenden zu bleiben. Kaum dass Änderungen in Kraft waren und oftmals ohne dass überhaupt die Gelegenheit bestanden hätte, bereits geltendes Recht erst einmal konsequent anzuwenden, wurden Rufe nach härteren Regelungen laut, die dann auch prompt in Angriff genommen wurden. So beschloss der Bundestag am 15. Oktober 2015 im Eilverfahren – gängige, fast schon «normale» Praxis in diesem Bereich seit Jahrzehnten – das sogenannte Asylpaket I, das schon am Tag darauf den Bundesrat passierte und wenige Tage später in Kraft trat.
Durch das sogenannte Asylpaket II wurde das Asylrecht dann im Marz 2016 erneut verschärft. Im Zusammenhang mit der Diskussion um die Kölner Silvesternacht wurden zudem Ausweisungen erleichtert. Im Juli 2017 folgte das «Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht», weil Abschiebungen die Diskussion bestimmten. Doch schon 2015 hatte die Zahl der Abschiebungen doppelt so hoch gelegen wie im Vorjahr. Die Zahl derjenigen, die ohne Zwang ausreisten, war sogar dreimal so hoch wie 2014, wobei die faktische Zahl noch größer ist, weil die amtliche Statistik nur solche «freiwilligen Fälle» erfasst, bei denen Geld für die Rückkehr gezahlt wurde. Rund 27.000 Flüchtlinge wurden abgeschoben, 54.000 reisten freiwillig aus. Trotzdem wird der Wählerschaft suggeriert, es gebe zu wenig Abschiebungen und man müsse die Bestimmungen immer weiter verschärfen. Heribert Prantl geißelte die Änderungen des Asylrechts mit den Worten «das Schärfste und Schäbigste, was einem deutschen Ministerium seit Langem eingefallen ist». Maximilian Popp vom «SPIEGEL» kritisierte: «Das Gesetz zum Bleiberecht ist für den Mob geschrieben.»