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Die beiden renommierten Autoren, ausgewiesene Experten auf dem Gebiet, blicken zurück auf Jahrzehnte der Migration, die Menschen unterschiedlichster Herkunft und Kulturen seit dem 19. Jahrhundert besonders in den Südwesten Deutschlands gebracht hat. Ob freiwillig oder unfreiwillig hierher verpflanzt, hatten und haben die Einwanderer oft mit ähnlichen Schwierigkeiten zu kämpfen. Aber sie bringen nicht nur ihre eigene Geschichte und ihre Probleme mit, sie bereichern und verändern auch das Land, in das sie kommen.
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Seitenzahl: 215
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KARL-HEINZ MEIER-BRAUNREINHOLD WEBER
Das EinwanderungslandBaden-Württemberg
NEUE HEIMAT IN BADEN-WÜRTTEMBERG
FLUCHT, VERTREIBUNG UND ASYL
Aktuelle Erfahrungen mit Flucht
Asylgrundrecht und Kalter Krieg
1979/80: Erster Streit über die Asylpolitik
1991/92: Erneute Asyldebatte und »Asylkompromiss«
Vietnamesische Boatpeople – eine erfolgreiche Integrationsgeschichte?
Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem zerfallenden Jugoslawien
Jüdische Kontingentflüchtlinge
Deutschstämmige Flüchtlinge und Vertriebene nach 1945
Spätaussiedler – lange Zeit die stärkste Einwanderergruppe
Glaubensflüchtlinge früherer Zeit
Sinti und Roma
ARBEITSMIGRATION
Transalpini – Vorgänger der italienischen »Gastarbeiter«
Die Geschichte der »Gastarbeiter«
Ausländerpolitik – vom Rotationsprinzip zur Integration
ERFOLGE UND PROBLEME DER INTEGRATION
Bedeutung der Ausländerzahlen
Deutsche mit ausländischen Wurzeln
Zuwanderer stärken die Wirtschaft
Kinder und Jugendliche brauchen Bildung
Arbeitschancen und Armutsrisiko
Mangel an Fachkräften
Deutlicher Bedarf an Nachwuchs
Aufgabe für die Politik
Probe für die Gesellschaft und ihre Werte
Begegnung und Miteinander
DANK
LITERATURTIPPS
»Menschenreichtum ist nie eine Last.« Diese Worte stammen von Reinhold Maier, dem ersten Ministerpräsidenten des Landes Baden-Württemberg. Ausgesprochen wurden sie im Jahr 1946, als Deutschland in der Folge eines verbrecherischen Krieges in Trümmern lag und Millionen von Flüchtlingen und Vertriebenen aufnehmen musste. Die Worte sind nicht nur höchst aktuell, sondern sie belegen auch: Migration ist der Normalfall in der Geschichte Deutschlands und vor allem auch Baden-Württembergs.
Wie in einem Brennglas bündeln sich im deutschen Südwesten die unterschiedlichen Zuwanderungsbewegungen der jüngeren Geschichte. Nach den »Heimatvertriebenen«, wie sich die großenteils deutschsprachigen Zwangsauswanderer aus den deutschen Ostgebieten sowie aus Ostmittel-, Ost- und Südeuropa nannten, kamen wenige Jahre später die »Gastarbeiter« genannten Arbeitsmigranten aus den überwiegend südeuropäischen Anwerbestaaten. Baden-Württemberg hatte im Vergleich der deutschen Länder überdurchschnittlich viele Heimatvertriebene aufgenommen; in manchen Landkreisen lag ihr Anteil an der Bevölkerung bei fast dreißig Prozent. Bei den »Gastarbeitern« und ihren Familien waren es besonders viele, weil die boomende südwestdeutsche Nachkriegswirtschaft im so genannten »Wirtschaftswunder« eine enorm hohe Nachfrage nach Arbeitskräften zu verzeichnen hatte. Im Südwesten kamen sogar die allerersten »Gastarbeiter« an. Diese frühen Jahre der Ausländerbeschäftigung werden hier beleuchtet, mit Dokumenten, die teilweise noch nie veröffentlicht wurden und die den schwierigen Beginn der Ausländerbeschäftigung in der Nachkriegszeit plastisch werden lassen.
Innerhalb weniger Jahre hat Baden-Württemberg Millionen von Menschen eine neue Heimat gegeben. Viele der Arbeitsmigranten sind geblieben und haben sich still und leise integriert, gearbeitet, Steuern und Sozialabgaben bezahlt, am wachsenden Wohlstand der jungen Bundesrepublik teilgehabt und ihre Kinder großgezogen. Viele sind auch nach einigen Jahren wieder in ihre alte Heimat zurückgekehrt. In der Geschichtsschreibung und in der kollektiven Erinnerungskultur des Landes spielen sie in aller Regel keine Rolle. Ganz im Gegenteil. Über viele Jahrzehnte hinweg hat Deutschland geleugnet, das zu sein, was es de facto schon längst war: ein Einwanderungsland.
Dabei war die Arbeitsmigration nach 1945 keine Neuerung. Die Menschen im Südwesten verfügten bereits über eine reiche kollektive Erfahrung mit historischen Wanderungsbewegungen. Bis zur verspätet einsetzenden Industrialisierung im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts war der deutsche Südwesten ein Auswanderungsland gewesen. Millionen von Menschen hatten aus politischen oder religiösen Gründen, vor allem aber aus der schieren wirtschaftlichen Not heraus ihre Heimat verlassen müssen und waren entweder über den »trockenen Weg« gen Osten ausgewandert, oder sie hatten sich für die »nasse Auswanderung« über den Atlantik besonders in die Vereinigten Staaten von Amerika entschieden. Mit der Industrialisierung kehrten viele davon wieder nach Deutschland zurück, aber vor allem kamen nun Arbeitsmigranten aus vielen europäischen Ländern nach Deutschland, um in der boomenden Wirtschaft oder beim infrastrukturellen Ausbau des Landes mitzuhelfen, das auf dem Weg zu einem modernen Industriestaat war.
Aber es hatte zuvor schon die Zuwanderung von unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen gegeben, die den Südwesten nachhaltig verändert haben, beispielsweise die aus religiösen Gründen verfolgten »Exulanten«, Hugenotten oder Waldenser. Wer heute im Land seinen Stammbaum erforscht, der sieht in den allermeisten Fällen, dass er selbst familiäre Wurzeln in der vermeintlichen Fremde und damit eine Migrationsgeschichte hat. Selbst der Dichterfürst Goethe hatte mütterlicherseits orientalische Vorfahren, und einer seiner Ahnen, dessen Spuren in Brackenheim nachweisbar sind, war wohl der erste Türke in Deutschland, der als »Beutetürke« während der Kreuzzüge verschleppt und christlich getauft worden war.
In der jüngeren Zeitgeschichte hat sich Baden-Württemberg für Flucht und Asyl immer als wichtiges Aufnahmeland erwiesen. Der Grundgesetzartikel 16, der lange Jahre nach der Verabschiedung des Grundgesetzes kaum eine Rolle in der öffentlichen Wahrnehmung spielte, rückte Ende der 1970er Jahre in das Bewusstsein der Öffentlichkeit, als erstmals viele Menschen aus der so genannten »Dritten Welt« und aus Staaten mit autoritären Regimen in Deutschland Zuflucht suchten. Zum ersten Mal war nun in der Spirale der politischen und medialen Dramatisierung von einer »Asylantenflut« die Rede. Wie sich die Zeiten doch gleichen, könnte man im Rückblick auf die Jahre seit 2015 sagen! Oder: Wir haben das damals geschafft – und werden es auch dieses Mal wieder schaffen! Immer wieder wird dabei auch deutlich, dass diese Fluchtbewegungen nur im Rahmen der globalen Migrationsprobleme zu verstehen sind.
Erfahrungen hatte die deutsche Gesellschaft schon mit Menschen, die vor Krieg, Zerstörung und Vertreibung im Rahmen der Genfer Flüchtlingskonvention Schutz suchen. Bereits in den 1970er Jahren hatte auch Baden-Württemberg viele der vietnamesischen Bootsflüchtlinge aufgenommen. Zu Beginn der 1990er Jahre folgten die Menschen, die vor den grausamen Kriegen im zerfallenden Vielvölkerstaat Jugoslawien nach Deutschland flohen. Parallel dazu suchten Millionen von deutschstämmigen Spätaussiedlern nach dem Fall des Eisernen Vorhangs eine bessere Zukunft bei uns. Die Zuwanderungszahlen in diesen ersten Jahren der Neunziger waren so hoch wie kaum jemals zuvor – und wie so oft waren es vor allem ehrenamtlich engagierte Menschen, die einen ganz wesentlichen Beitrag bei der Aufnahme und Integration der Zuwanderer geleistet haben.
Zahlreiche weitere Bevölkerungsgruppen finden in diesem Buch Erwähnung, die dazu beigetragen haben, dass Baden-Württemberg heute ein Land ist, das von kultureller Vielfalt geprägt ist – und das massiv davon profitiert. Allein in Stuttgart werden heute über 120 verschiedene Sprachen von Menschen aus rund 180 Nationen gesprochen, die hier friedlich zusammenleben. In den allermeisten Städten des Landes sieht diese Bilanz in Sachen »Multikulti« nicht anders aus. Mit 15,1 Prozent ist der Anteil der ausländischen Bevölkerung in Baden-Württemberg doppelt so hoch wie in der Europäischen Union. Nach Luxemburg und Zypern liegt der Südwesten damit auf Platz drei in der EU. Einen Migrationshintergrund hat fast ein Drittel (31 Prozent) der in Baden-Württemberg lebenden Bevölkerung.
Die so genannte »Flüchtlingskrise« der Jahre seit 2015, die ja keine Krise der flüchtenden Menschen, sondern der europäischen und globalen Migrationspolitik war und ist, hat vieles von dem, was an Positivem zum Thema Integration in Deutschland und Baden-Württemberg zu vermelden ist, in den Hintergrund gedrängt. In den medialen Schatten der Aufmerksamkeit sind aber auch offene Fragen gerückt und Probleme, die das Land in Sachen Integration zukünftig noch zu lösen hat, nicht zuletzt im Bereich der Menschen aus Zuwandererfamilien, die nun bereits in der vierten oder gar fünften Generation hier leben. Damit verbunden sind Fragen zu einem aktuell aufkeimenden Alltagsrassismus oder die selbstkritische Frage an unsere deutsche Gesellschaft, wie wir in der Zukunft ein »neues Wir« in einem Land gestalten wollen, in dem ein wachsender Teil der Bevölkerung seine familiären Wurzeln im Ausland hat. Nicht zuletzt geht es aber auch um die Zukunftsfähigkeit Deutschlands im Zeichen von demografischem Wandel, Fachkräftemangel und anderen Herausforderungen. Diesen zentralen Fragen für das Zusammenleben und den Wohlstand in Deutschland und Baden-Württemberg geht dieses Buch in seinem letzten Teil nach. Insgesamt versteht es sich auch als ein Beitrag zur Erinnerungskultur in unserer Einwanderungsgesellschaft. Gleichzeitig füllt es eine Lücke in der landesgeschichtlichen Literatur. Es beginnt jedoch – nicht zuletzt aus aktuellem Anlass – mit dem Themenkreis Flucht und Asyl.
Beschleunigung der Asylverfahren, Sofortprogramme im Eilverfahren, Bekämpfung der Schlepperbanden, Abschreckungsmaßnahmen – diese Begriffe geistern durch Politik und Medien. Der baden-württembergische Innenminister fordert »wirksame Maßnahmen zur Eindämmung des Zustroms unechter Asylbewerber«. Bayerns Ministerpräsident wirft der Bundesregierung vor, sie weigere sich, durch eine Änderung des Ausländerrechts den Bundesländern die Möglichkeit zu eröffnen, »mit dem Heer der Scheinasylanten fertigzuwerden«. Der Ministerpräsident spricht von »kommerzialisierten Reisegruppen«, die »mit Jumbos und Omnibussen« aus Pakistan und anderen Ländern unter Missbrauch des Asylrechts über die Grenze kämen. Und weiter wörtlich:
»Wir können in Bayern nicht sagen: ›Kommt alle zu uns, die ihr mühselig und beladen seid, aus allen Ländern der Erde.‹ Dann würde man hier bald die Einwohnerzahl von China haben.«
Die Stuttgarter Ausländerbehörde muss für eine Woche schließen, um dem Andrang der Asylsuchenden nachkommen zu können. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion legt den »Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Beschleunigung des Asylverfahrens« vor. Städte und Gemeinden beklagen sich. Der Stuttgarter Oberbürgermeister schlägt Alarm: Das Hauptproblem bestehe darin, dass keine Unterkünfte zur Verfügung stünden. Gemeinden müssen Notlager einrichten. Der Oberbürgermeister von Leinfelden-Echterdingen setzt der Landesregierung die Pistole auf die Brust: Bis 14 Uhr, so sein Ultimatum, solle sie Unterkünfte für Flüchtlinge bereitstellen, sonst werde die Stadt die Regierung über das Verwaltungsgericht zwingen, ihrer »gesetzlichen Verpflichtung« nachzukommen und Asylsuchende in Gemeinden des Landes unterzubringen. Auf diesen massiven Protest hin richtet die Landesregierung schnell Unterkünfte ein. Am selben Tag kritisiert der Landesinnenminister in scharfem Ton den Bundesgrenzschutz und den Bundesinnenminister. Er wirft ihnen vor, Flüchtlinge mit »zum Teil gefälschten Pässen ohne weitere Nachprüfung einreisen« zu lassen, was das Bundesinnenministerium natürlich zurückweist.
Diese Aussagen und Momentaufnahmen stammen nicht etwa aus den Jahren 2015 oder 2016, als die Fluchtbewegungen nach Deutschland und Baden-Württemberg auf dem Höhepunkt waren, sondern aus der Zeit vor rund vierzig Jahren, als 1979/80 die Zahl der Asylbewerber einen ersten historischen Höchststand erreichte. Waren die Flüchtlinge zuvor vor allem aus dem Ostblock gekommen und meist mit offenen Armen aufgenommen worden, kamen sie nun aus der so genannten »Dritten Welt«. Zum ersten Mal erlebte die Bundesrepublik eine massive Debatte über »Asylmissbrauch« und »Scheinasylanten«.
Wie kaum ein anderes Thema in der jüngeren Vergangenheit haben die Fluchtbewegungen erneut in den Jahren 2015/16 die bundesdeutsche und europäische Politik und Bevölkerung bewegt. Der berühmt gewordene Satz von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) – »Wir schaffen das!« – hat auf geradezu pathologische Art und Weise zu Diskussionen und Zuspitzungen geführt, die in ihrer Vehemenz nicht zuletzt auch die politische Kultur Deutschlands beeinflusst haben.
Einerseits also die negativen Seiten der fluchtbedingten Zuwanderung: Regierungskrisen, das Erstarken rechtspopulistischer und rechtsextremer Gruppierungen, Fremdenfeindlichkeit mit einem damit verbundenen drastischen Anstieg von rassistischen Straf- und Gewalttaten, ein Erstarken des Antisemitismus, ein Europa, das sich gegenüber den globalen Wanderungsbewegungen noch stärker abschottet und gleichzeitig in sich gespalten ist, nicht zuletzt Tausende von Hilfesuchenden, die in den letzten Jahren ertrunken sind und das Mittelmeer zu einem Massengrab werden ließen.
Andererseits: Hätte die Kanzlerin in diesem September 2015 angesichts der großen Zahl der Schutzsuchenden, die zwar nicht unvorhersehbar war, aber doch unvermittelt kam, sagen sollen, dass »wir« das nicht schaffen? Hätte sie die Grenzen tatsächlich schließen sollen mit allen Konsequenzen einer eventuell gewaltsamen Abwehr der Schutzsuchenden oder einer humanitären Katastrophe in Ungarn beziehungsweise auf dem Balkan? Nicht zuletzt ging es in dieser besonderen Situation ja auch darum, Hundertausende ehrenamtliche Helfer und Mitarbeiter der öffentlichen Verwaltungen zu motivieren sowie die deutsche Bevölkerung auf die anstehenden Herausforderungen vorzubereiten.
Eines der vielen völlig überfüllten Boote, mit denen Migranten versuchen, über das Mittelmeer nach Europa zu flüchten, aufgenommen im Juni 2017.
Sicherlich, es sind Fehler gemacht worden. So hatten Experten schon Jahre zuvor darauf hingewiesen, dass das Nürnberger Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), wo die Schutzsuchenden registriert werden und ihr Verfahren bearbeitet wird, personell massiv unterbesetzt sei. Hier wurde sicherlich viel zu spät reagiert. Auch hat es die Politik versäumt, die Bevölkerung über die globalen Wanderungsbewegungen aufzuklären und darauf einzustimmen, dass wir immer mit Flüchtlingen rechnen müssen, solange es Krieg, Bürgerkriege oder massive Menschenrechtsverletzungen in vielen Ländern der Welt geben wird. Aber anders als immer wieder zu hören war, war dieser Staat niemals in einer Krise. Er hat immer funktioniert, wenn auch mit Verzögerung angesichts der Größe der Herausforderung. Auch das Gerede von einer »neuen Völkerwanderung« ist historisch genauso wenig haltbar wie die Rede von einer »Flüchtlingskrise«, einer Bedrohung der Außengrenzen oder gar der nationalen Souveränität Deutschlands. Was Deutschland erlebt hat, ist keine »Flüchtlingskrise«, sondern eine Krise der Flüchtlingspolitik – vor allem auf europäischer Ebene. Erwähnt sei hier nur die hartleibige Weigerung der östlichen EU-Länder, überhaupt Flüchtende aufzunehmen. Oder denken wir an Großbritannien, das nur wenige Tausend syrische Flüchtlinge aufgenommen hat. Europäische Solidarität geht anders!
Auch wenn die Folgen der Jahre 2015/16 noch lange nicht bewältigt sind, so bleibt doch im Rückblick festzuhalten, dass in Deutschland seit 2015 Großartiges geleistet wurde. Viel spricht dafür, dass Zeithistoriker schon in wenigen Jahren Kanzlerin Angela Merkel und den Deutschen eine große Geste der Humanität bescheinigen werden. Und immer wieder gilt es, sich vor Augen zu halten, dass seit 2015 rund 55 Prozent der Bevölkerung ab 16 Jahren Flüchtlinge in Deutschland unterstützt haben, so eine Studie des Instituts für Demoskopie Allensbach. Im Jahr 2018 waren es demnach noch rund elf Prozent der Bevölkerung, die in Form von Sprachunterricht, Begleitung bei Arztbesuchen oder mit Patenschaften aktive Flüchtlingshilfe leisteten. Viele der Ehrenamtlichen haben sich dabei bis zur körperlichen Erschöpfung engagiert, und etwa ein Drittel der Deutschen hat mit Sachspenden einen immensen Beitrag zu einer aktiven Willkommenskultur geleistet. Sozialwissenschaftler sprechen angesichts dieser bemerkenswerten Zahlen von der größten sozialen Bewegung der Bundesrepublik. Nicht in Vergessenheit geraten sollte aber auch, dass ab 2015 die Asylpolitik weiter verschärft und Grenzkontrollen eingeführt wurden. Insgesamt hat sich Europa nach der »Flüchtlingskrise« erfolgreich abgeschottet.
Weitere politische Aspekte kommen hinzu: Die angebliche »Flüchtlingskrise« hat die Diskussion über Migration und Integration ganz oben auf die Agenda der Politik katapultiert. Wenn diese Auseinandersetzung fair und konstruktiv geführt wird, kann sie Deutschland in der lange Zeit mit politischen Scheuklappen geführten Debatte über seinen Charakter als Einwanderungsland durchaus voranbringen. Durch die Flüchtlingsdiskussion wurde einige Jahre lang das Fachkräftezuwanderungsgesetz eher verhindert, auch wenn es nur am Rande die Belange der Schutzsuchenden betrifft. Ähnlich wie die Integrationsdebatte ist auch die Auseinandersetzung mit dem Rechtspopulismus im Kern nichts anderes als eine Selbstvergewisserung der Deutschen über ihre eigene Identität. Sie ist mit den Fragen verbunden, wie offen unsere Gesellschaft sein soll und ob wir unsere Rechte und Grundwerte aktiv schützen und verteidigen wollen. Das gilt ebenfalls für die Europäische Union. Der Brexit und die Tatsache, dass einige europäische Staaten in teils unmittelbarer Nachbarschaft zu Deutschland inzwischen von Rechtspopulisten regiert werden, zwingen uns dazu, neu darüber nachzudenken, welche Europäische Union wir eigentlich wollen.
Vielleicht sind all diese Krisen also Warn- und Weckrufe, ein heilsamer Schock gewissermaßen, den die liberalen und offenen Gesellschaften Europas bewältigen müssen, um letztendlich gestärkt daraus hervorzugehen. Manche Umfrageergebnisse deuten darauf hin, etwa wenn vor allem jungen Menschen bescheinigt wird, dass das Zusammenleben mit Menschen aller Nationen für sie längst schon zur Normalität geworden ist, oder wenn Umfragen belegen, dass die Zustimmung zur Europäischen Union in Deutschland derzeit so hoch ist wie seit Jahrzehnten nicht mehr.
Dabei muss immer wieder bewusst gemacht werden, dass das, was wir als »Flüchtlingskrise« wahrnehmen, gar nicht in Europa stattfindet. Weltweit sind immer mehr Menschen auf der Flucht, derzeit fast 71 Millionen. Statistisch gesehen wird alle zwei Sekunden irgendwo auf der Welt ein Mensch zur Flucht gezwungen – aus ganz unterschiedlichen politischen, ökonomischen oder umweltbedingten Gründen, an denen wir alle nicht gänzlich unschuldig sind. Etwa zwanzig Millionen davon haben ihr Land verlassen, die meisten aber bleiben in der Region ihrer Heimat, in der Hoffnung, möglichst bald wieder zurückkehren zu können. Nur der kleinste Teil macht sich (erfolgreich) auf den Weg nach Europa. Die vielbeschworene »Flüchtlingskrise« findet also nicht in Europa, in Deutschland, Österreich oder Italien statt, sondern vielmehr in Entwicklungsländern wie dem Libanon, Pakistan, Bangladesch, Jordanien oder Uganda – oder aber in der Türkei, mit der sich die Bundesrepublik auf einen fragwürdigen Flüchtlingsdeal eingelassen hat. Diese Tatsachen verdeutlichen, dass es sich um ein globales Problem ersten Ranges handelt, das uns in den nächsten Jahrzehnten massiv beschäftigen wird und auf das wir reagieren müssen – nicht zuletzt mit einer angemessenen Entwicklungspolitik, die in eine gemeinsame europäische Migrationspolitik eingebettet ist und Fluchtursachen auch tatsächlich beseitigt.
Flüchtlinge sind Boten des Unglücks. So hat es Bertolt Brecht in seinem Gedicht »Landschaft des Exils« beschrieben, als er selbst »auf dem letzten Boot« in den 1930er Jahren aus Nazi-Deutschland fliehen musste. In ihrer großen Zahl führen die Flüchtenden den Alteingesessenen tagtäglich und drastisch das Elend und die Krisen dieser Welt vor Augen. Oftmals kommen die Schutzsuchenden an und haben alles verloren, was ihnen lieb und teuer war: Familie, Freunde, Heimat und Besitz. Auf Grund ihres massenhaften Schicksals wird bei uns Migration oft mit Bildern des Katastrophalen verbunden. Dabei geht es um die mediale Deutungshoheit und darum, Dammbruch und damit Kontrollverlust zu suggerieren. In Wahrheit aber geht es um Menschen und ihre Würde, die wie unsere eigene unantastbar ist. Auch der sprachliche Umgang mit Migration ist wichtig, denn solche Metaphern der Flut und der Wellen zielen auf die Entmenschlichung des Individuums, das in einer vermeintlich bedrohlichen Masse nicht mehr wahrgenommen werden soll – und diese Masse erscheint dann als Naturkatastrophe. Dabei wissen wir nicht zuletzt aus der Geschichte, dass es immer wieder existenzielle Not ist, aus der heraus Menschen ihre Heimat und ihr vertrautes Umfeld verlassen – und dass nur ein Teil der Wanderungsbewegungen staatlich geordnet und sicher verläuft. Wenn Menschen in Not sind, suchen sie sich einen Weg, auch jenseits staatlicher Migrationsregelungen. Es lohnt sich dabei, exemplarisch für Deutschland auf den Südwesten zu blicken, Schlaglichter auf die jüngsten Entwicklungen und auf die vielfältige Geschichte von Flucht und Asyl zu werfen. Dabei zeigt sich, dass Migration nicht die Ausnahmesituation, sondern der Normalfall ist.
Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) und Integrationsministerin Bilkay Öney (SPD) besuchen im Juli 2015 die Flüchtlingsnotunterkunft Patrick-Henry-Village in Heidelberg.
Über die gesamten 2000er Jahre hinweg lagen die Zahlen der Asylbewerber in Baden-Württemberg bei maximal rund 5000 pro Jahr, meist sogar deutlich darunter. Vor allem durch den Krieg in Syrien stieg die Zahl der Asylsuchenden bereits seit 2013 deutlich an und erreichte schließlich 2015 einen Rekordwert, als Baden-Württemberg rund 185 000 Menschen aufnahm, von denen knapp 98 000 einen Antrag auf Asyl stellten. Bereits im Folgejahr 2016 ging die Zahl auf 56 000 aufgenommene Flüchtlinge zurück (ca. 33 000 Asylanträge), 2017 waren es noch 16 000 Asylbewerber. Thomas Strobl (CDU), stellvertretender Ministerpräsident und Innenminister, konnte im Januar 2019 schließlich mitteilen, dass die Zahl der Flüchtlinge mit rund 11 000 im Jahr 2018 im dritten Jahr in Folge nach unten gegangen war. Kamen 2015 noch über 500 Schutzsuchende pro Tag im Land an, waren es 2017 nur noch 44.
Die erste Anlaufstelle für Flüchtende, die in Baden-Württemberg ankommen, ist das Ankunftszentrum in Heidelberg, zu dem die Erstaufnahmeeinrichtung in der ehemaligen US-Wohnsiedlung Patrick-Henry-Village im Herbst 2015 umgebaut wurde. Hier werden Asylsuchende registriert, medizinisch untersucht und können einen Asylantrag stellen. Heidelberg wurde so zum Drehkreuz für Geflüchtete im Südwesten, die von hier auf die Landeserstaufnahmeeinrichtungen (LEA, Mitte 2019 in Karlsruhe, Ellwangen, Sigmaringen und Freiburg) oder im Rahmen der so genannten Anschlussunterbringung auf die Kommunen und Landkreise verteilt werden. Menschen aus einem so genannten sicheren Herkunftsland werden von hier aus abgeschoben.
Für das Land, besonders aber für die Kommunen war und ist die Aufnahme und Integration der Geflüchteten eine große Herausforderung. Dabei bewerten südwestdeutsche Kommunalpolitiker das brisante Thema recht unterschiedlich. Dem grünen Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer, der immer wieder darauf hinweist, dass man »nicht alle aufnehmen« könne, widerspricht der 2018 aus dem Amt geschiedene Oberbürgermeister von Villingen-Schwenningen, Rupert Kubon (SPD), vehement. Er wendet sich dagegen, das »Flüchtlingsthema« zu dramatisieren:
»Wir haben im Verhältnis zu unserer Größe gerade mal ein paar Menschen aufgenommen. Wenn Sie das mit der Situation in Jordanien, im Libanon, in der Türkei vergleichen, ist das bei dem Potenzial, das wir hier haben, nicht viel. Ich muss das so hart sagen: Jede Behauptung, wir hätten eine Flüchtlingskrise, ist eine Lüge.«
Kubon plädiert dafür, Migration zu einem »normalen Thema« zu machen. Mit diesen Aussagen sah er sich jedoch auch in seiner Stadt fremdenfeindlichen Demonstrationen ausgesetzt. Doch selbst die Ermordung einer Studentin in Freiburg durch einen Flüchtling hat zwar das Land erschüttert, aber keine generelle Fremdenfeindlichkeit aufkommen lassen. Nach einer bundesweiten Untersuchung der Universität Bielefeld von Anfang 2019 sind die Einstellungen in der Bevölkerung in den letzten zwei Jahren nicht stärker ablehnend geworden, sondern haben sich sogar verbessert. So findet die gesellschaftliche Willkommenskultur sogar wieder mehr Zuspruch. Besonders auch durch die Hilfsbereitschaft der Zivilgesellschaft wurde die Herausforderung im Großen und Ganzen bewältigt. Hier konnte man auf das Engagement vieler Helferinnen und Helfer bauen, die schon seit der »Gastarbeiterzeit« ehrenamtlich tätig waren. Auch die Volkshochschulen waren von Anfang an Pioniere, etwa beim Deutschlernen für Einwanderer. Kirchen, Wohlfahrtsverbände wie die Arbeiterwohlfahrt sowie viele Ehrenamtliche haben sich um die Flüchtlinge gekümmert und tun dies immer noch, auch wenn sie längst schon bis an den Rand ihrer Leistungsfähigkeit gegangen sind und sich bisweilen mehr Unterstützung von der Politik wünschen.
Am 16. Januar 2019 veröffentlichte die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) eine Studie zur wirtschaftlichen und sozialen Integration von Zuwanderern in der Europäischen Union. Bei der Auswertung für Deutschland sieht die OECD deutliche Fortschritte bei der Integration von Zuwanderern, die Herausforderungen bleiben aber bestehen. Nach der Studie sind heute in Deutschland mehr Menschen der Meinung, dass das Land von Migration profitiert, als noch zu Beginn des Jahrhunderts. Eine Untersuchung der Friedrich-Ebert-Stiftung vom März 2019 widerspricht der weit verbreiteten Meinung, wonach die Gesellschaft in zwei unversöhnliche Gruppen von vehementen Befürwortern und Gegnern der Einwanderung gespalten sei. Diese Pole, so die Stiftung, machen jeweils nur ein Viertel der Befragten aus. Rund die Hälfte der Deutschen gehört demnach zu einer breiten »beweglichen Mitte« und hat differenzierte Einstellungen. Sie ist mehrheitlich offen für die Aufnahme von Geflüchteten, sie sieht aber auch die Herausforderungen, die der Zuzug dieser Menschen mit sich bringt. Nach der Studie findet es die große Mehrheit der Deutschen richtig, Menschen aufzunehmen, die vor Krieg und Verfolgung fliehen müssen. Gut 70 Prozent sind der Ansicht, Deutschland solle in Zukunft genauso viele Flüchtlinge wie jetzt oder sogar noch mehr aufnehmen. Für Menschen, die »aus wirtschaftlichen Gründen und vor Armut« nach Deutschland fliehen, zeigt die Mehrheit dagegen nur eine geringe Akzeptanz. Die meisten Befragten haben nichts dagegen, dass Flüchtlinge in ihrer Nachbarschaft untergebracht werden. 80 Prozent der Befragten sind auch dafür, dass diejenigen, die sich hier gut integriert haben und einer Arbeit nachgehen, bleiben dürfen, sogar wenn sie eigentlich ausreisepflichtig sind. Die größten Sorgen bereiten den Bürgern nach dieser Studie hingegen der Rechtsextremismus und die Spaltung der Gesellschaft.
Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) und das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) bestätigten darüber hinaus 2019 in einer größeren Untersuchung, dass die Integration von Geflüchteten vorankommt. Ein Drittel der Flüchtlinge im Erwerbsalter hat inzwischen Arbeit. Im November 2018 waren rund 380 000 Menschen aus den Hauptherkunftsländern der Asylsuchenden Afghanistan, Eritrea, Irak, Iran, Nigeria, Pakistan, Somalia und Syrien in Deutschland sozialversicherungspflichtig beschäftigt – fast 40 Prozent mehr als im Jahr zuvor. Nach Angaben des Instituts der Deutschen Wirtschaft üben zwar viele Flüchtlinge nur Helfertätigkeiten aus. Ende Juni 2018 betrug ihr Anteil an allen beschäftigten Flüchtlingen knapp 50 Prozent. Immer häufiger sind sie aber auch auf den höheren Qualifikationsstufen vertreten. So ist zum Beispiel die Zahl der als Fachkraft beschäftigten Flüchtlinge von Juni 2017 bis Juni 2018 um fast 54 Prozent gestiegen. Auch die Sprachkenntnisse haben sich verbessert.
Eines der Großprojekte des Landes Baden-Württemberg war der »Pakt für Integration«, den die Landesregierung mit den Kommunen geschlossen hat. Dabei stellte das Land den Kommunen in den Jahren 2017 bis 2018 insgesamt 320 Millionen Euro zur Verfügung. Mit dem Geld sollen unter anderem so genannte »Integrationsmanager« gefördert werden, die eine flächendeckende und individuelle Sozialberatung für Geflüchtete in der Anschlussunterbringung gewährleisten sollen. Die Landesregierung setzt sich für die interkulturelle Öffnung der Verwaltung ein oder hat zum Beispiel auch einen Integrationspreis gestiftet. Fünf Jahre nachdem das Landesanerkennungsgesetz in Baden-Württemberg in Kraft getreten ist, zog Sozial- und Integrationsminister Manne Lucha (Grüne) im Januar 2019 eine positive Bilanz. Bei neun von zehn Anträgen auf Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse öffne sich die Tür zur Arbeit als Fachkraft. Syrien liegt dabei an erster Stelle der Ausbildungsstaaten.
Aber auch die Wirtschaft engagiert sich. Viele Unternehmen sind bereit, Flüchtlinge einzustellen, erheben aber auch Forderungen. Insbesondere erwarten zahlreiche Unternehmer, dass beispielsweise abgelehnte Asylbewerber in Deutschland bleiben dürfen, wenn sie gut integriert sind und einen festen Job oder eine Ausbildung haben. So setzt sich zum Beispiel eine breit aufgestellte Unternehmensinitiative in Baden-Württemberg für ein dauerhaftes Bleiberecht gut integrierter Flüchtlinge ein. Mitbegründer dieser Initiative ist Gottfried Härle, Inhaber einer Traditionsbrauerei in Leutkirch, denn auch in Oberschwaben und im Allgäu herrscht praktisch Vollbeschäftigung, so dass keine Arbeitskräfte zu finden sind und man für die jungen Flüchtlinge dankbar ist. So es ist gerade die Wirtschaft, unterstützt vom baden-württembergischen Wirtschaftsministerium, die Druck macht für ein modernes Einwanderungsgesetz, um dem Arbeitskräftemangel zu begegnen. Die Hoffnung auf einen »Spurwechsel«, also darauf, dass gut integrierte Flüchtlinge als Arbeitsmigranten behandelt werden und einen entsprechenden Aufenthaltsstatus bekommen, hat sich jedoch vorerst zerschlagen.
Beim Umgang mit der so genannten »Flüchtlingskrise« drängt sich immer wieder der Eindruck auf, als hätten Deutschland und Baden-Württemberg keinerlei historische Erfahrungen mit ähnlichen Fluchtbewegungen gemacht. Erstaunlich ist dabei immer wieder, wie wenig auf dieses kollektive gesellschaftliche Wissen zurückgegriffen wird und wie wenig auch in der öffentlichen Darstellung von Seiten der Politik und der Medien darauf hingewiesen wird, dass man ähnliche Situationen schon einmal gemeistert hat.
Als 1949 die Väter und Mütter des Grundgesetzes mit dem einfachen und prägnanten Satz »Politisch Verfolgte genießen Asylrecht« in Artikel 16 das Grundrecht auf Asyl festschrieben, handelten sie in erster Linie vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus und den Millionen von Menschen, die aus Deutschland hatten flüchten müssen. Außerdem war wenige Monate zuvor im Dezember 1948 die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verkündet worden, in deren Artikel 14 das Asylrecht verankert ist. Einer der vehementesten Verfechter dieses Grundrechts auf Asyl war Carlo Schmid, einer der führenden Köpfe der südwestdeutschen Sozialdemokratie. In einer Sitzung des Parlamentarischen Rates verteidigte er seinen Ansatz gegen die Kritiker des offenen Asylrechts: