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Mathilda Olin landet in Venedig. Aber obwohl sie allein aus dem Flugzeug steigt, allein draußen im Regen auf den Bus wartet, ist sie nicht allein. Jemand ist bei ihr, jemand, der sie nicht loslässt. In der Lagunenstadt hält sie es nicht aus, reist noch in der gleichen Nacht weiter, ratlos, rastlos, nach Rom, dann weiter nach Süden, Neapel, Sizilien - bis sie auf der Vulkaninsel Pantelleria ankommt, auch Schwarze Perle genannt. Was zunächst wie eine Reiseerzählung beginnt, entwickelt sich zur Suche nach einer tragisch verlorenen Liebe. Stimmen anderer Autoren zum Buch: Die Geschichte einer innerlichen und äußerlichen Reise, an deren Ende scheinbar die Gegenwart über die Chimären der Vergangenheit triumphiert. Aber vielleicht ist das Vergangene stärker als die Gegenwart? Wenn die Gegenwart nur ein Produkt der Einbildungskraft ist? Hermann-Josef Schüren
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Seitenzahl: 93
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Vorbemerkung und Danksagung
28. Oktober
28. September, Venedig, Treviso Airport, 22.34 Uhr ...
... Venedig, Santa Lucia ...
... 0.42 Uhr ...
... Rom ...
... Rom II, 30. September, 9.22 Uhr ...
... Neapel ...
... Stromboli ...
... Ginostra ...
... Palermo ...
... 1. Oktober (oder 3.?), Castelmare, 23.07 Uhr ...
... 3. oder 4. Oktober, 1.03 Uhr, immer noch Castelmare ...
... 12:33 Uhr ...
... 3. oder 4. oder 5. Oktober, keine Ahnung, welche Uhrzeit, Trapani, ...
... 8. Oktober, Pantelleria
Mit diesem Buch setzt der Verlag 23 erstmals einen Fuß ins Terrain der Belletristik — bleibt aber mit dem anderen dort, wo wir uns verordnen: in der Ich- und Welterfahrung mit philosophischer Tiefe. Unsere sonst so strengen Regeln der Zeichensetzung (vgl. verlag23.de) sind hier weitgehend, aber nicht vollständig aufgehoben. Insbesondere kennzeichnen wir auch hier, nach bestem Wissen und Gewissen, ›wörtliche Entlehnungen‹ von anderen Literaten oder Poeten (mitunter aber auch von Hinweisschildern oder Medikamenten-Beipackzetteln) so, wie ›hier‹ gezeigt — am Ende des Buches finden sich auch die (literarischen) Quellen, aus denen zitiert oder entlehnt wurde. Die Zuordnung überlassen wir der Leserschaft, und wir sind der Meinung, dass das so auch mehr als genügt.
Ansonsten verträgt diese kurze Geschichte einer ›äußerlichen und innerlichen Reise‹ nicht viel Vorgeplänkel. Nur ein paar Worte des Dankes seien noch angebracht: Die Autorin dankt Willi Achten, Klára Hůrková und Hermann-Josef Schüren für das Lesen und Besprechen des Textes sowie für die Ermutigung zu diesem Buch. Verleger und Autorin danken sich gegenseitig für die sehr offene und konstruktive Zusammenarbeit, und gemeinsam danken wir Klaus Mackoviak für sein gründliches Lektorat, auch wenn sich der Verlag wegen seiner eigensinnigen Zeichensetzungsregeln teilweise darüber hinweggesetzt hat und dafür natürlich auch die volle Verantwortung übernimmt.
Aachen und Weiterstadt, 31. Oktober 2022 Birgit Bodden und Jörg Rachen
Mag auch die Spieglung im Teich Oft uns verschwimmen: Wisse das Bild.
Erst im Doppelreich Werden die Stimmen Ewig und mild.
Rainer Maria Rilke ‹Sonette an Orpheus› aus dem Sonett IX
Heute Nacht hat es den ersten Frost gegeben. Ich sitze in meiner Küche und wenn ich aus dem Fenster schaue, sehe ich die alte Kirsche. Ihre Blätter fallen. Ein stiller Wind, der sie bewegt. Sie fallen, fallen unaufhörlich. Lautlos und gespenstig, als ob es schneite, Kirschblätter schneite. Ganz so wie Schnee die Welt heller macht, wird es auch in meiner Küche heller, ganz leise, fast unmerklich, aber das Licht, das durch die kahler werdende Krone und durch das Fenster fällt, nimmt allmählich zu. Wie im Frühjahr mit der Wucht der Blüte zuerst und dann später mit dem Wachsen der Blätter das Licht schwindet, so kehrt es jetzt innerhalb von einer halben oder einer Stunde zurück. Es hat nicht die Reinheit und Härte wie das Licht von reflektierendem Schnee, es ist ein milchiges, weiches Licht, das in den Raum sickert, von der Fensterbank tropft, über den Boden kriecht und von dorther wie ein Dunst aufsteigt. Dass sich die Kirsche noch einmal so verschwendet, ein letztes Mal in diesem Jahr, mit ihren Blättern die kalte, verblühte Erde bedeckt, kommt mir tröstlich vor. Und auch, dass sie mich mit der Vorahnung des Winters wie mit einer wärmenden Decke zudeckt, an diesem Morgen seine Stille vorwegnimmt, die Zurückgezogenheit, die nicht länger mehr sucht, sondern annimmt.
Jetzt, da ich zurück bin und in meinen Reisenotizen blättere, kommt mir alles ein wenig unwirklich vor. Die Reise, zumeist planlos, zufällig, und doch scheint es, als habe sie genauso ihren Lauf nehmen müssen. Wie wäre ich sonst in den Süden Siziliens gelangt und weiter an jenen entlegenen Teil einer Insel, deren Namen ich zuvor nicht kannte. Oft hatte ich das Gefühl, dass er — oder sollte ich schreiben ‘du'? — bei mir wärest, dass du mir zusähest oder mich begleitetest, obwohl ich zugleich deine Anwesenheit schmerzlich vermisste. Ich lese in dem abgegriffenen Schreibheft, die Aufzeichnungen sind spärlich, ein paar Brocken mit hastiger Hand geschrieben, wie um Brotkrumen zu streuen, an denen ich mich später orientieren könnte. Dabei weiß jeder, dass die Brotkrumen im Wald, noch bevor der Mond aufgeht, längst weggefressen sind und sie als Wegweiser nichts taugen. Deshalb wird man mich nicht festnageln können auf das, was ich sage, nicht glauben, dass alles, an das ich mich erinnere, genauso und nicht anders gewesen ist. Ich zumindest kann es nicht. Dennoch: Ich will ich es aufschreiben, um es wieder und wieder lesen, falls ich beginne zu vergessen. Das Vergessen wird einsetzen. Es ist nur eine Frage der Zeit. Es wird dann vielleicht so sein, als ob ich eine Fotografie betrachte von einer Gegend, in der ich nicht mehr wohne. Und ich werde froh sein, wenigstens diese Fotografie zu besitzen. Das Geschriebene wird allmählich das Gewesene überdecken, es einschränken auf die notierten Sätze und ich werde beginnen, den Buchstaben mehr Glauben zu schenken als dem Erlebten. Es bleibt also ein unsicheres Gebäude auf unsicherem Grund.
Aber so viel steht fest: Ich bin heimgekehrt, bin wieder in meinem Zuhause. Schon als ich ankam, draußen vor der Haustür die Erleichterung: Es stand nur ein Name auf dem Klingelschild zu meiner Wohnung, mein eigener Name: M. O., Mathilda Olin, kein weiterer Name. Es gab ihn also nicht mehr. Und drinnen lag mein Handy auf dem Tisch, ganz wie ich es verlassen hatte, unversehrt und vollständig geladen.
Dass niemand am Flughafen sein würde, um mich abzuholen, war klar. Dass es in Strömen regnen würde, nicht.
Auch nicht, dass der einzige Shuttlebus Richtung Piazzale Roma gerade losgefahren war und der nächste erst in einer knappen Stunde wieder die Strecke machen würde.
Eine Stunde. Was sollte ich eine ganze Stunde lang in diesem Regen? Eine Stunde, das bedeutete Zeit, zu warten, Zeit, Zeit totzuschlagen, Zeit, Fassung zu bewahren, Zeit, herumzuwühlen im Rucksack und den einzigen dicken Pullover herauszufischen, den ich bei mir hatte. Ich kramte den Ausdruck von googlemap hervor, um noch einmal genauer die Straße zu suchen, in der sich das Hotel befand: Il Sole Blu. Ich sollte anrufen, wenn ich gelandet sei, ja sicher, aber mein Handy hing zu Hause am Ladekabel, lag auf dem Küchentisch, das war mir im Zug zum Flughafen aufgefallen, aber da war es zu spät gewesen. Hatte vor ein paar Tagen gemailt, dass mein Flieger gegen 22.15 Uhr landen würde, dass man das Zimmer, für mich reserviert, halten solle. Es gebe nur Doppelzimmer. In Gottes Namen, dann eben ein Doppelzimmer.
Natürlich stand auch niemand mit mir an der Bushaltestelle und wartete wie ich, jemand, den ich zufällig hier treffen, mit dem ich die Reise gemeinsam fortsetzen würde. All das Wünschen und Visualisieren hatte nichts genutzt. Du musst dir das genau vorstellen, hatte es geheißen, welche Jacke er trägt, welche Schuhe, sein Gepäck, bis in die Einzelheiten genau, dann wird er dastehen, ganz bestimmt. Natürlich!
Ich hatte mir wirklich Mühe gegeben, hatte die weichen Rippen der hellen Cordjacke unter meinen Händen spüren können, ganz so wie bei einem unserer Spaziergänge, hatte die ausgebeulten Jeans neben mir stehen sehen, isabellaweiß die ewige Häkelmütze, die Unschuldshaube, die Tarnkappe, an den Füßen Mephistos, ihr Leder nur leicht abgenutzt, sonst wie neu, und die blaue Sporttasche. Hatte sogar die Hände gesehen, wie sie eine Zigarette drehen, nur das Gesicht war mir nicht gelungen.
Es war kalt, ich fror und wanderte unter der Überdachung der Haltestelle hin und her, ich wollte nicht in das Flughafengebäude zurückgehen, denn manchmal halten sich die Busse an keinen Fahrplan und wenn jetzt doch einer käme, wäre das wirklich dumm. Ich vertiefte mich in den schon verknitterten Ausdruck, den Fetzen Stadtplan, achtete darauf, dass keine Regentropfen auf ihn fielen, damit er nicht verwischte. Fiele ein Tropfen darauf, würde die Tinte verschwimmen, bizarre Farbkreise bilden und am Ende löste sich das Bild vollkommen auf. Dabei war ich von zu Hause aufgebrochen, weil ich genug hatte von der Kälte, die Spätsommer-Herbst-Nässe nicht mehr aushalten wollte, weil ich Sonne haben wollte, Licht, endlich Licht! Und dann dieser Kerl in meiner Wohnung, diese dunkle Gestalt!
Dass Venedig wirklich eine gute Wahl war, bezweifelte ich jetzt. Die Stadt ist heikel, immer schon gewesen, auch wenn heute ihr morbider Charme fast wegrenoviert ist. Keine Comtessa stürzt mehr aus irgendwelchen Palastfenstern, aber ihr Geist nistet in verschwiegenen Mauernischen, gespenstig, doppelgesichtig und vieldeutig. Im Café Quadri trifft man immer noch Herren, die mit kleinen, gepflegten Händen ihre Espressotassen an die bleichen Lippen führen, und die Gondeln sind glänzend und schwarz wie damals, als das Kind im roten Mantel durch die Stadt geisterte.
Venedig, ich hatte Sehnsucht nach Morgenluft gehabt, wollte etwas Neues beginnen, wollte mich lösen und hatte doch zugleich die größte Angst, mich dabei gänzlich zu verlieren. Aber so konnte es auch nicht weitergehen. Ich musste aufhören mit diesem elenden Briefeschreiben, Briefe, die immer unbeantwortet blieben, aufhören, mich an dem Gefühl der Verlorenheit zu weiden. Nicht länger mehr einem Hirngespinst nachspüren, das mich zum Tanzen brachte, wie eine Marionette, um am Ende doch wieder in der Ecke zu liegen mit verknäulten Fäden, die nicht mehr zum Spiel taugten. Ich wollte dich mir nicht länger mehr einbilden. Ich spürte, dass dies längst ungesunde Züge angenommen hatte, dass ich mich in eine Welt der Imagination zurückgezogen, die Menschen um mich zunehmend seltsamer wurden und ich mich von ihnen zurückgezogen hatte, aber ich konnte dich nicht aufgeben. Eine Veränderung, eine kleine Reise, hatte ich gedacht, vielleicht Venedig. Und hatte dabei gegen jede Vernunft gehofft, so sehr gehofft, wenn ich mich nur auf den Weg machen würde, wenn ich bloß diese kleine abgeschlossene Welt meiner Wohnung verließe, würde ich dich treffen.
Auch wenn ich angenommen hatte, ich wäre wieder einmal gern in Venedig, jetzt erschien es mir beinahe absonderlich, dass ich mich für diese in Touristenströmen untergehende Stadt entschieden hatte. Zigtausende jeden Tag, überrannt, ausgeweidet, Maske ohne lebendigen Körper, Geisterstadt, wenn abends der Heuschreckenschwarm der Besucher weitergezogen ist. War auch ich jetzt eine Wanderheuschrecke? Eine Nymphe? Aber nein, ich kam ja erst zur Nacht und würde bleiben, wenn die Kreuzfahrer längst wieder auf See, die Gassen leer wären, ganze Viertel ausgestorben. Ganz Venedig ist dann ein leeres Versprechen. Je länger ich mich in diesen Gedanken verlor, desto verschwommener wurde der Reiz dieser Stadt mit ihrem unsicheren, faulenden Grund. Sie erschien mir mit einem Mal fast bedrohlich. Schweiß stand plötzlich auf meiner Stirn. Der Magen sackte mir in die Knie. In Venedig kann man sich so leicht verlieren, ich weiß, überall das spiegelnde Wasser, keine festen Umrisse, Zerrbilder, Splitter, bröckelnde Identitäten. Wenn man in der Nacht allein im Labyrinth von San Polo herumirrt, westlich der Rialtobrücke, abseits der Touristenschleuse, da, wo die Häuser schäbig und die Gassen schmal und kaum beleuchtet sind, wenn mit der Feuchtigkeit und Kälte die Ahnung aus den Kanälen steigt, dass du dich verlaufen hast, dass du dich im Kreise drehst, dann heftet sich immer noch die Angst an die Fersen: Warst du nicht eben schon einmal hier, ist das nicht genau die Brücke, jener schattige Winkel, an dem du soeben abgebogen bist? Aber jetzt gehst du gerade drauf zu, steigst die Stufen hinab.