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Im Kopf der Täterin: Psychologische Abgründe im schwedischen Kriminalroman „Schwarze Schmetterlinge“ von Anna Jansson – jetzt als eBook bei dotbooks. Ist der Tod das Beste, was einem Menschen widerfahren kann? Seit ihrer Kindheit ist Pyret fasziniert vom Feuer: Wie es in der Dunkelheit strahlt, wie es lodert, wie es diejenigen straft, die Schuld auf sich geladen haben … Rätselhafte Brände versetzen die schwedische Stadt Örebro in Angst und Schrecken. Wer ist der Feuerteufel – und was hat es mit den Tarotkarten auf sich, die im Zusammenhang mit den Anschlägen auftauchen? Inspektor Per Arvidsson sucht unter Hochdruck nach weiteren Hinweisen. Besteht eine Verbindung zum Mord an einer Frau im weit entfernten Kronköping, deren Kleider verbrannt wurden? Per zögert, dieser Spur zu folgen: Die dort ermittelnde Kommissarin ist Maria Wern, die er mehr als jede andere Frau geliebt hat – und vor der er davongelaufen ist … Fesselnde Lektüre für anspruchsvolle Leser: „Ein psychologisch gekonnt erzählter Krimi, made in Skandinavien.“ Hallo-Buch.de Jetzt als eBook kaufen und genießen: „Schwarze Schmetterlinge“ von Anna Jansson ist der vierte Teil ihrer schwedischen Spannungsreihe um Maria Wern, die alle Fans von Johanna Mo und Camilla Läckberg begeistern wird. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
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Seitenzahl: 478
Über dieses Buch:
Ist der Tod das Beste, was einem Menschen widerfahren kann? Seit ihrer Kindheit ist Pyret fasziniert vom Feuer: Wie es in der Dunkelheit strahlt, wie es lodert, wie es diejenigen straft, die Schuld auf sich geladen haben …
Rätselhafte Brände versetzen die schwedische Stadt Örebro in Angst und Schrecken. Wer ist der Feuerteufel – und was hat es mit den Tarotkarten auf sich, die im Zusammenhang mit den Anschlägen auftauchen? Inspektor Per Arvidsson sucht unter Hochdruck nach weiteren Hinweisen. Besteht eine Verbindung zum Mord an einer Frau im weit entfernten Kronköping, deren Kleider verbrannt wurden? Per zögert, dieser Spur zu folgen: Die dort ermittelnde Kommissarin ist Anna Wern, die er mehr als jede andere Frau geliebt hat – und vor der er davongelaufen ist …
Fesselnde Lektüre für anspruchsvolle Leser: »Ein psychologisch gekonnt erzählter Krimi, made in Skandinavien.« Hallo-Buch.de
Über die Autorin:
Anna Jansson, geboren 1958 auf Gotland, ist gelernte Krankenschwester und begann 1997, Kriminalromane, Sach- und Kinderbücher zu schreiben. Zahlreiche ihrer Krimis um die Kommissarin Maria Wern wurden verfilmt und in Deutschland unter dem Serientitel »Maria Wern, Kripo Gotland« ausgestrahlt. Anna Jansson lebt mit ihrer Familie in Örebo.
Bei dotbooks ermittelt Maria Wern in folgenden Kriminalromanen: »Und die Götter schweigen« »Totenwache« »Tod im Jungfernturm« »Schwarze Schmetterlinge« »Das Geheimnis der toten Vögel«
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eBook-Neuausgabe Dezember 2018
Die schwedische Originalausgabe erschien 2005 unter dem Titel »Svart fjäril« bei Bokförlaget Prisma, Stockholm.
Copyright © der Originalausgabe 2005 Anna Janson
Copyright © der deutsche Erstausgabe 2008 Piper Verlag GmbH, München
Copyright © der Neuausgabe 2017 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design, München, unter Verwendung eines Bildmotives von shutterstock/Anna Morgan und shutterstock/Schankz
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ts)
ISBN 978-3-96148-147-7
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Anna Jansson
Schwarze Schmetterlinge
Ein Fall für Maria Wern – Band 4
Aus dem Schwedischen von Susanne Dahmann
dotbooks.
Ich traf eine Schwester in der Nacht, ihre Augen glänzten wie von Tränen. Durch den Schmutz, das Gejohle und das Lachen schritten wir gemeinsam in die Dämmerung.
Es war wohl ein Traum nur, ein Gedicht, das mich streifte –ich vergaß es fast sogleich, erinnere mich nur mehr seiner Melodie.
Aus der Gedichtsammlung »Mit vielen bunten Lichtern« von Nils Ferlin
Der Spätsommer lag wie ein wehmütiger Schatten über dem Fischerdorf der Kindheit. Die wachsamen Halme des Schilfröhrichts fingen das Geflüster des Meeres auf. Die uralten Steine in der Mauer, die die kleine Steinkirche umgab, murmelten leise von einer längst vergangenen Zeit. Von der Zeit, bevor der Mensch auf die Erde trat und als das Weltall noch eine Einheit war. Vor dem Urknall, der Explosion, als das ganze Wissen und die ganze Weisheit in alle Winde verstreut wurden.
Fast dreißig Jahre waren vergangen, und doch war nichts vergessen oder vergeben. Die Erde, das Meer, die Luft und das Feuer waren ihre ewigen Zeugen. Die Realität und die veränderlichen Erinnerungsbilder der Phantasie – sie bildeten die Wahrheit, die ihr weiteres Leben formen und lenken würde. Umgeben von den Düften der Kindheit wurde aus der erwachsenen Frau wieder ein mageres sechsjähriges Mädchen.
Pyret zog den Reißverschluss ihrer Jacke hoch. Lauschte dem Wind, während sie eine Möwe beobachtete, die auf die glühende Sonne zuflog, ohne sich die Flügel zu versengen. Vielleicht war sie besonders geschickt und traute sich, mit dem Feuer zu spielen. Genau wie Ikarus mit seinen Wachsflügeln. Die zerrissene Stofftasche mit dem Bild von Ikarus hatte Mama auf Kreta gekauft. Pyret hatte sie mit fünf Reißzwecken über ihrem Bett befestigt, zwischen den Zeitungsausschnitten.
Die sanfte Kuhle im Sand schützte sie vor dem kalten Wind, der vom Meer heraufzog. Die Geschichte, der sie lauschte, handelte von der Prinzessin, die sich selbst in Stein verwandeln konnte. Eine unsichtbare Königstochter. Verborgen zwischen Tausenden von Steinen am Meeresstrand. Sie war zu Stein geworden, um keine Schmerzen zu empfinden, wenn Menschenfüße über ihre graue Haut trampelten. Im Sommer war sie heiß von der Sonne, im Winter weiß vom Frost. Der weiche Kern in ihrem Inneren jedoch war unerreichbar. Die Strandastern steckten ihre Köpfe zusammen und wisperten von dem König, der kommen würde, um sein Kind zu suchen. Sie erzählten sich, wie er auf der Suche nach der Prinzessin sei, die seinerzeit von den bösen Trollen gegen einen schmutzigen Wechselbalg namens Pyret ausgetauscht worden war.
Mama saß auf der karierten Decke und summte vor sich hin. Der kleine Bruder schlief, in eine Decke eingehüllt, auf dem Rücken. Der Schnuller war ihm aus dem Mund geglitten, und er schnarchte ein wenig. Mama berührte mit ihrem Zeigefinger seine Wange, und tief unten in Pyrets Bauch erwachte das Monster mit seiner schuppigen Haut. Es drehte sich einmal um sich selbst, eher es wieder Ruhe gab. Sie hatte diesen Schreihals noch nie leiden mögen. Er war die reinste Plage. Wenn er kackte, dann quoll ihm eine widerliche hellgrüne Soße aus der Hose. Dann schrie er, sodass sein Gesicht ganz rot und schrumpelig wurde. Todsicher war auch er ein Wechselbalg, ein Trollkind. Oder aber ein Außerirdischer.
Weiter unten am Wasser war der Sand feucht und leicht zu formen. Jemand hatte dort einen Eimer vergessen. Ohne Mama aus dem Blick zu verlieren, füllte sie ihn mit Sand und häufte drei Eimer voll zu einem Turm auf, den sie mit einer Mauer umgab. Dann grub sie einen Wallgraben, der nach und nach mit Salzwasser gefüllt wurde.
Mama saß auf der Decke, wo sie auch hingehörte. Wenn man sie nicht im Blick behielt, konnte sie leicht verschwinden. Wenn man sie nicht beaufsichtigte, würde womöglich auch sie gegen eine Trollmutter ausgewechselt werden.
»Willst du einen Keks?« Mamas Stimme kam aus dem einen Mundwinkel, auf der anderen Seite wippte der Zigarettenstummel. Die Glut hinterließ einen langen Aschepfeiler, der auf den geblümten Rock und den fusseligen Acrylpullover fiel. Mama streckte Pyret die Kekspackung hin. »Du kannst alle haben, die noch drin sind.
Pyret quetschte sich die Kekse in den Mund, alle drei auf einmal.
»Guck mal, Mama, ich habe einen riesigen Sandturm gebaut. Mit Muschelfenstern. Im Turm sitzt eine Prinzessin. Der König sucht nach ihr, aber er kann sie nicht sehen, denn für ihn ist sie unsichtbar. Auf seinen Augen liegt ein böser Zauber. Aber eines Tages, wenn der Zauber gebrochen ist, wird er wieder sehen können. Dann kommt er und holt sie. Guck mal, Mama! Da hinten ist er.«
»Jetzt nicht. Ich kann nicht. Lass mich in Ruhe.« Mama legte sich in einem schützenden Halbkreis um den kleinen Bruder, und das Monster in Pyrets Bauch jaulte vor Wut auf. Ihre Hände füllten sich ganz von selbst mit Sand. Eine Handvoll nach der anderen warf sie auf Mamas geblümten Rock. Auch die kleine Kröte in der dicken rotkarierten Decke kriegte ihren Teil des Sandsturms ab, und zwar mitten ins Gesicht.
»Hör auf! Du weckst ihn ja.« Mamas feste Hand packte Pyrets Haare und zog daran, bis die Tränen kamen. »Mach das nicht noch einmal, verstanden?
»Dumme Mama! Das war doch gar nicht ich«, flüsterte sie leise vor sich hin und vergrub das Gesicht in der Armbeuge, zog sich ins Steinzimmer zurück, in ihr Inneres, das für andere unzugänglich war. Unbeweglich saß sie da und starrte dann mit ihren wütenden Augen auf die beiden. Starrte auf den stummen Strickjackenrücken, der sie aussperrte. Der Blick wurde zu spitzen Nadeln, die sich in Mamas Rücken bohrten. So saß sie lange da, während die Abendsonne ins Meer sank und die Wiesenblumen auf Mamas Rock mit warmen, sanften Farben bemalte.
Sie bemerkte den Schatten, der über sie fiel, erst gar nicht. Stück für Stück, ohne Vorwarnung wurde die Haut auf Mamas nackten Beinen grau, und die Karos auf der Decke dunkel. Wenn es die Schritte eines Sterblichen gewesen wären, dann hätte man sie hören müssen. Das Schilf hätte gerauscht und sie gewarnt. Die Möwen hätten geschrien.
Mama richtete sich auf, aber in ihrem Gesicht war kein Licht mehr. Pyret folgte ihrem erschrockenen Blick von den großen Füßen des Wesens, den Beinen, der Lederjacke bis hoch zu der Stelle, wo das Gesicht hätte sein müssen. Ein schwarzer Schatten, von glühender Sonne umgeben, und eine Stimme wie aus der Unterwelt. »Kommst du mit? Wir haben was besorgt.«
»Weiß nicht.« Mamas Zeigefinger strich wieder über die Wange des kleinen Bruders. »Pyret, kannst du mal kurz auf ihn aufpassen? Ich bin gleich zurück. Wenn es zu kalt wird, geht ihr einfach nach Hause, ja? Aber trag ihn vorsichtig. Und pass auf, wenn ihr über die Straße geht! Hörst du? Hörst du, was ich sage?« Pyret wich vor dem Atem zurück und vor den Augen, die ihr so nah kamen, ihren eigenen Blick einfingen und festhielten. »Ich bin gleich zurück. Bleib hier.« Pyret stand auf und klammerte sich an Mamas Bein fest. »Nein, du darfst nicht mitkommen. Du bleibst hier. Wenn du hinter mir herkommst, kriegst du Schläge.«
Mamas Hände waren jetzt böse. Sie gruben sich in ihre Schulter und schubsten Pyret weit von sich. Pyret fiel auf den Rücken und starrte in den Himmel. Sie stürzte in einen Strudel, ins Meer, wo es keine Gedanken gibt, nur Wellen der Übelkeit und der Dunkelheit. Sie spürte den Geschmack des Salzwassers auf ihrer Zunge. Der kleine Bruder schrie. Zwang sie aus der Tiefe herauf.
Pyret erhob sich mit steifen Bewegungen und drückte den Schnuller in seinen Mund. Eigentlich hätte er Schläge verdient.
Sie verschwanden im Fichtenwäldchen, drei Schattengesichter und Mama. Die Bösen Grauen hatten sie in ihre Gewalt gebracht, um sie auszuwechseln. Das war schon öfter passiert. Wenn Mama wieder nach Hause kam, dann würde der Körper dieselbe Hülle wie vorher haben, aber er würde hin- und herschwanken und auf dem Boden herumkriechen. Die Beine, die den Körper aufrecht halten sollten, die Augen, die sehen sollten, der Mund, der reden sollte – all das hatten die Wesen mitgenommen. Damit sie nicht wie ein Zelt ohne Stangen zusammenfiel, füllten die Bösen sie immer mit Klebstoff aus – deshalb musste sie sich auch übergeben.
Pyret warf einen Blick auf den kleinen Bruder. Er lag da und sah in den Himmel hinauf, wo die Wolken zusammenstießen und zu immer größeren weißen Wattebäuschen wurden und neue Figuren bildeten: einen Löwen, der sich in eine Hexe verwandelte, eine zusammengerollte Katze oder eine Zimtschnecke. Dann kam ein Bagger, der Zuckerwatte aß. Pyret war so hungrig, dass ihr der Bauch wehtat.
»Mama, geh nicht weg!« Auf nackten Füßen rannte sie den Weg über die Düne zum Wäldchen. »Geh nicht weg, sonst sterbe ich! Ich will nicht allein sein!« Nadeln und trockene Äste stachen ihr in die Fußsohlen. Eine Ameise saugte sich auf ihrem Fuß fest und weigerte sich, loszulassen, ehe sie nicht stehen blieb und sie mit dem Finger wegschnippte. »Mama, warte auf mich!«
Pyret blieb stehen und horchte. Eine Mücke summte direkt neben ihrem Ohr, ein Eichhörnchen sauste vor ihr den Stamm hinauf, dass die Rinde laut raschelte, und machte einen gewagten Satz zum nächsten Baum hinüber. Unten am Strand schrie wie besessen ihr Bruder, der Außerirdische. Sollte er doch da liegen und brüllen. Der kapierte sowieso nichts.
Unter dem graugrünen Dach der Fichten war es dunkel und kalt. Die Füße konnten nicht stillstehen, wenn überall Ameisen herumkrochen. Plötzlich hörte sie das Geräusch. Es kam stoßweise, in regelmäßigen Abständen, und klang wie ein Schwein, das sich auf dem Boden herumsuhlte. Im Moos fiel es ihr leichter, sich lautlos anzuschleichen, als auf dem Weg. Die Geräusche wurden immer lauter. Hinter einem Gestrüpp von wilden Himbeeren kauernd sah sie ein Hinterteil, das sich auf und ab bewegte. Mamas geblümter Rock, ein Lappen nur, ganz unten in einem Berg von Armen und Beinen. Die Wesen standen rechts und links von dem Paar auf der Erde. Jetzt konnte sie ihre Gesichter sehen, wie grinsende Wölfe.
»Na, willst du noch was zu trinken?« Ein kurzer Blick auf Mamas Gesicht. Sie hielten sie fest. Sie taten ihr weh. Mama wimmerte. Pyrets Körper spannte sich an und ging in die Verteidigungshaltung. Wenn sie ein Riese wäre, hätte sie alle wie Käfer zertreten und zu einem blutigen Brei gequetscht. Aber sie war nur ein kleines Mädchen mit ungewöhnlich mageren Armen. Der Zorn, der durch ihren Körper rauschte, verwandelte sich in Tränen. Sie hätte schreien, treten und sie beißen mögen, sie blutig kratzen. Aber sie hatte den Mut nicht. Nur das Weinen war da und die Verachtung, die in ihr brannte, weil sie es nicht wagte, weil sie es nicht schaffte, den Menschen zu verteidigen, den sie am meisten liebte. Mama, ihre geliebte Mama, lag da auf der Erde. Ihr Blick war verschwommen und verriet, dass sie nicht länger in ihrem Körper war. Pyret weinte laut.
Eines der Schattengesichter entdeckte das Mädchen, das hinter dem Himbeergestrüpp kauerte. »Komm her, Mädel, dann zeigen wir dir was.«
In der Woche zuvor, als sie in der Vorschule über Haustiere sprechen sollten, hatte Pyret eine winzig kleine Krabbe dabeigehabt. Sie war geschält und ein wenig ausgeblichen. Die Krabbe hatte einsam in einer Pfütze von Erbrochenem gelegen, bis Pyret sie vom Fußboden aufgehoben hatte. In Toilettenpapier eingewickelt, war die seltsame Krabbe von Hand zu Hand gewandert, als sie im Stuhlkreis saßen. Die Erzieherin hatte gesagt, dass man Gegenstände von zu Hause mitbringen dürfe, um sie der Gruppe zu zeigen und etwas darüber zu erzählen. »Die Krabbe ist noch ganz, obwohl meine Mama sie rausgewürgt hat.« Das hatte Pyret nicht ohne Stolz gesagt.
Genauso verhielt es sich mit den Pfifferlingen, die jetzt gerade in einer Pfütze auf dem Fußboden lagen. Die waren erstaunlich ganz dafür, dass sie schon im Bauch gewesen waren, stellte Pyret fest. Von Brot und Kartoffeln blieb immer nur Brei, aber die Pfifferlinge schafften es völlig ganz wieder heraus. Vier der Pilze trugen sogar noch ihren Hut.
Pyret kroch zu Mama ins Bett und fand das Feuerzeug, das ihr aus der Hand gefallen war. Es war klebrig und blau, und Pyret brauchte ein wenig Zeit und Übung, um eine Flamme zu erzeugen. Man musste einen starken und schnellen Daumen haben. Pyret konzentrierte sich. Die kleine gelbe Zunge verrußte den Bettpfosten. Man konnte damit Figuren malen. Eine Schlange, die sich zur Bettdecke herunterließ, Sterne und ein Z wie in Zorro. Das Feuer roch warm und gemütlich, fast wie zu Weihnachten.
Mama wälzte sich herum und richtete sich auf. Sie tappte in das Erbrochene und stolperte zum Korb hinüber, in dem der kleine Bruder lag. Der zerknitterte Rock klebte an den Oberschenkeln, als sie sich herabbeugte und ihm über den flaumigen Kopf strich. Meine Mama, nur meine Mama! Rühr ihn nicht an, deine Hände dürfen ihn nicht anrühren, die gehören nur mir! Pyret versuchte, sich zwischen sie zu drängen.
»Lass mich in Ruhe, ich kann nicht.«
»Mama, ich bin hungrig.«
»Lass mich los! Es geht mir schlecht, verdammt noch mal. Das siehst du doch!« Sie kroch wieder ins Bett und schluchzte laut, während Pyret ihr mit der Hand über die schweißnasse Stirn strich. Mama würgte und weinte im Schlaf.
In der Dunkelheit war die kleine Feuerzunge deutlicher zu sehen. Pyret zündete die Kerze an, die in der Weinflasche auf dem Küchentisch stand, und hob sie mit beiden Händen hoch. Wie eine Lucia schritt sie mit dem Kerzenständer auf dem Kopf durch den Raum. Sie war die Lichterkönigin – die Herrscherin über das Feuer.
Die Uhr über dem Küchentisch tickte. Als die Flamme näher kam, konnte man sehen, dass auf den Zeigern Staub lag. Auf dem unteren Rand lag eine tote Fliege. Das Feuer musste nur kurz an sie rühren, schon war sie nicht mehr als eine kleine goldgraue Flamme.
Im dreiteiligen Badezimmerspiegel konnte sie sehen, wie sich das Licht vervielfachte. Wenn sie sich an der richtigen Stelle befand, konnte sie acht Lichter und sieben identische Gesichter sehen. Ihre Augen glänzten, und in den Pupillen blitzten kleine gelbe Messer aus Feuer auf. Die acht Kinder trugen das Licht in ihren Händen und stellten sich mitten ins Zimmer.
Später wusste sie nicht, welches von ihnen angefangen hatte, und als sie der Polizei und der Frau von der Zeitung erzählen sollte, was passiert war, wusste sie es auch nicht. Eines der Spiegelkinder ließ das Feuer an der Gardine lecken. Die Flamme sog die ganze schmutzige Tüllgardine auf einmal in sich hinein, so hungrig war sie. Die getrockneten Butterblumen, die in einem blassen Strauß an der Wand hingen, wurden zu einer Feuerquaste. Sie sprühten und knisterten, ehe sie verkohlt zu Boden fielen. Knusper, knusper Knäuschen, wer knuspert an meinem Häuschen?
Der Zeitungsstapel auf dem Hocker neben dem Klo fing Feuer. Eines der acht Kerzenträgerkinder kitzelte den kleinen Bruder so lange unter den Fußsohlen, bis er schrie und Rauch aus der Bettdecke kam. Das geschah ihm nur recht. Das kleine Dreckstück hatte schließlich alles kaputt gemacht. Hatte ihr Mamas liebe Hände weggenommen. Mamas Schoß mit den Umarmungen und den lachenden Augen und den Küssen. Wenn man das Feuer an den unteren Rand der Decke hielt, schmolz sie wie Eis im Sonnenschein.
Das Feuer hinterließ einen schwarzen Schatten, wenn es durchs Zimmer kroch. Jetzt kam es auf das Bett zu, auf dem Mama lag. Der kleine Bruder schrie hysterisch. Im Kühlschrank gab es den leckeren Raclette-Käse, von dem man mit einer dünnen Schnur Scheiben abschneiden konnte. Den durfte man nicht anrühren, denn er war für den Fall gedacht, dass die Frau vom Jugendamt kam. Dann wurde der Fußboden gewischt, und auf die Betten wurden die Tagesdecken gelegt, und Pyrets Haare wurden zu zwei harten Zöpfen geflochten.
Die Kerzenträger waren der Meinung, dass man den Käse durchaus essen dürfe, aber Pyret zögerte. So viele Ja-Sager gegen Pyrets mickriges kleines Nein. Sie beschlossen gemeinsam, dass sie den Käse essen durfte. Pyret schielte zu Mama hinüber. Sie schlief mit offenem Mund. Ein schmutziger Fuß bewegte sich außerhalb der Decke.
Der Käse war genau das, was der Bauch brauchte, um glücklich zu sein. So gut, so unglaublich gut, dass Pyret ganz schwindelig wurde und wild und warm. Wenn der Schreihals nur mal Ruhe geben könnte, damit er Mama nicht aufweckte! Wenn der so weitermachte, dann konnte er nicht länger im Haus bleiben.
Die Decke glühte. Pyret versuchte, den Bruder auf den Arm zu nehmen, und verbrannte sich die Finger. Mit einem Mal war es ungeheuer heiß im Zimmer. Die Gardine war aufs Sofa gefallen. Die Polster brannten. Pyret zupfte Mama die Decke ab und wickelte sie um den kleinen Körper, während sie schreiend mit ihm zur Tür rannte. Die Hitze floss durch die Luft. Der Rauch brannte in den Augen. Die Nase lief.
»Mama, wach auf!« Es schmeckte nach Rauch im Mund. Der erstickende Rauch war überall. »Mama, wach auf! Du musst aufwachen!«
Am Tag danach war ein Bild in der Zeitung. Ein großes Bild auf der ersten Seite mit Pyret, die ihren kleinen Bruder im Arm hielt. Im Hintergrund glühte immer noch das Skelett von dem, was einmal ihr Zuhause gewesen war, ein baufälliger Hof. Die Erzieherin hatte gesagt, sie sei eine Heldin. Wie Zorro, nur eben ein Mädchen. Sie hatte allen Kindern in der Gruppe die Zeitung gezeigt.
Mama hatte sie umarmt und geküsst und gesagt, dass sie stolz sei, so eine tapfere Tochter zu haben. Worte wie »Danke«, »Mein Liebling«, »Geliebtes Kind« taten ihr so gut. Ihr wurde ganz warm im Bauch davon. Und als sie erzählte, dass sie den Käse gegessen hatte, den feinen Käse, der die Frau mit dem ernsten Gesicht etwas weniger gefährlich machen sollte, da war Mama ihr so fest durch das offene Haar gefahren, dass sie mit den Fingern in den verfilzten Zotteln hängen geblieben war.
»Das macht doch nichts.«
Aber wie das Feuer entstanden war, das konnte sie nicht erzählen, obwohl sie wieder und wieder gefragt wurde. Nicht der Polizei und auch nicht der netten Frau von der Zeitung. Nicht alle Menschen können die Kerzenträger sehen und wissen, welche Spiele sie spielen. Man muss vorsichtig sein und darf sie nicht beim Namen nennen. Sonst kommen sie, wenn man schläft, und schleichen sich in den Traum hinein und machen ihn zur Wirklichkeit. Und dann ist man allein mit ihnen.
»Sie hat mich angelächelt, hast du das gesehen, Per?« Folke Arvidsson nahm die Serviette und wischte seiner Frau sorgfältig das Kinn ab, ehe er einen weiteren Löffel Erdbeercreme zu ihrem verständnislosen Mund führte und ihr über die Wange strich. Sie wandte ihr Gesicht der zärtlichen Berührung entgegen und machte ein schmatzendes Geräusch.
»Sie hatte eben beim Lächeln dasselbe listige Blitzen in den Augen wie damals, als ich sie gefragt habe, ob sie meine Brille gesehen hat, und ich sie auf der Stirn trug.«
Kriminalinspektor Per Arvidsson betrachtete seine Mutter mit einem wachsenden Gefühl der Verzweiflung. Er suchte in ihrem ausdruckslosen Gesicht nach einer kleinen Veränderung, nach einem Schimmer des Wiedererkennens unter den halb geschlossenen Augenlidern, doch da war nichts. Sie war so dünn geworden, seit er sie zuletzt gesehen hatte. Wahrscheinlich hatte er sich, während er im Kosovo war, andere und weniger eindringliche Bilder von ihrem Gesundheitszustand gemacht. Aber sie war doch leichter und der Rücken gebeugter, als er es in Erinnerung gehabt hatte.
Es waren fast sechs Monate seither vergangen, und das Leben veränderte sich unaufhörlich. Britt lag wie ein aus dem Nest geworfenes Vögelchen da, zusammengekauert, die Knie in Embryonalstellung unter dem Kinn. Der Körper füllte nur den oberen Teil des Krankenhausbetts aus. Bei der Umarmung zur Begrüßung hatte ihr Blick gezuckt, als wäre er ein Fremder gewesen.
Das war hart für ihn. Aber der Gedanke, dass sie den Körper, der sie so bitter im Stich gelassen hatte, bereits verlassen hatte, dass sie sich jetzt an einem anderen und besseren Ort befand, dieser Gedanke war noch unerträglicher.
»Britt findet, dass dieses Hemd nicht zum Jackett passt, aber ich hatte kein anderes, das sauber war. Wir haben jeden Tag über dich gesprochen, Mama und ich, und ich habe ihr deine Briefe vorgelesen. Es ist gut, dass du so fleißig geschrieben hast. So konnten wir deine Erlebnisse im Kosovo mitverfolgen. Weißt du, ich erinnere mich noch gut daran, wie ich im Zweiten Weltkrieg an der norwegischen Grenze im Einsatz war. In deinen Ohren klingt das im Vergleich zum Kosovo wahrscheinlich ziemlich harmlos. Aber damals habe ich zum ersten Mal begriffen, dass das Leben endlich und unvorhersehbar ist. Mein Kamerad hat einen Querschläger abbekommen. Im einen Moment hatten wir noch zusammen Wache geschoben, im nächsten war er nicht mehr da. Hätte auch mich erwischen können. Wir leben gern in der Illusion, dass wir alles unter Kontrolle haben. Du hast mich vorhin gefragt, ob ich mich für ein Leben mit Britt entschieden hätte, wenn ich vorher von der Krankheit gewusst hätte. Das hast du zwar nicht so formuliert, aber das wolltest du doch wissen, oder?«
»Mag sein. Wie kann man sich überhaupt auf einen anderen Menschen verlassen? Woher weiß man, dass der andere einen nicht betrügen wird? Man investiert eine ganze Menge, wenn man sich dafür entscheidet, mit jemandem zusammenzuleben.«
»Man stirbt nicht daran, betrogen zu werden. Im besten Fall lernt man, seine Erwartungen anderen Menschen gegenüber etwas hinunterzuschrauben. Weißt du, Junge, als alter Schwedischlehrer gebe ich vielleicht mehr acht auf die Wortwahl als andere Menschen. Es ist bemerkenswert, wie sich Begriffe aus der Wirtschaftssprache in die Sprache für unsere Gefühle geschlichen haben. Wir investieren in Beziehungen, kalkulieren die Risiken, wenn wir ein Angebot machen und für unseren Einsatz belohnt werden. Ja, ich hätte mich dafür entschieden, mein Leben mit deiner Mutter zu verbringen, auch wenn ich von ihrer Krankheit gewusst hätte. Aber zum Glück ist das Leben so seltsam gut und barmherzig eingerichtet, dass man im Voraus nicht weiß, was die Zukunft bringen wird.«
Folke holte Luft und fuhr mit leiser Stimme fort: »Fällt es dir schwer, jemanden zu finden, mit dem du dein Leben verbringen könntest, Per? Mama und ich haben manchmal darüber gesprochen. Wir wollen uns nicht in dein Leben einmischen, aber wir denken schon darüber nach, wie es damit eigentlich steht.« Nach einer Weile prüfenden Schweigens, in der er seinen Blick schweifen ließ, um seinem Sohn die Situation weniger unangenehm zu machen, fügte er hinzu: »Und auch wenn es ein männlicher Partner sein sollte, kannst du ihn gern mit nach Hause bringen und uns vorstellen.« Und dann in etwas gehetztem Ton: »Verstehst du nicht, dass wir uns Gedanken machen?«
Per Arvidsson holte tief Luft, stellte sich ans Fenster und spürte den Blick seines Vaters im Nacken. Wie empfindsam er für diesen Blick war. Er hörte Schritte und spürte die Hand des Vaters auf seiner Schulter. Wohl hatte er erwartet, dass die Sache irgendwann zur Sprache kommen würde, aber mehr als Andeutung, über die man mit einem Scherz hinweggehen könnte, und nicht als direkte Frage, die er beantworten musste. Er wandte sich um und sah seinem Vater ins Gesicht.
»Sie heißt Maria, Maria Wern. Sie ist Kriminalinspektorin, verheiratet und hat zwei Kinder. So, nun weißt du es. Ich lasse mich nur auf die unmöglichen Sachen ein. So war es schon immer, wenn ich jemanden wirklich mochte, mit Anneli, Pia und Eva ganz genauso. Ja, Eva mit den langen blonden Haaren, die mit meinem Cousin liiert war. Das hast du dir vielleicht schon zusammengereimt. Ich habe in Kronviken gekündigt. Ich habe es nicht mehr ausgehalten, in Marias Nähe zu sein. Nicht, wenn es so ist, wie es ist.«
»Und wenn sie alles für dich verlassen würde, Per? Wenn sie jetzt hier stünde, mit Sack und Pack, mit ihren Kindern – was würdest du dann tun? Würdest du dich darauf einlassen?« Die Frage kam in einem einzigen Atemzug, als wäre Folke schon lange mit ihr schwanger gegangen, ohne sie aussprechen zu können.
Per ließ seinen Blick über den Fluss, die kobaltblaue Wölbung des Himmels und die farbensprühenden Ahornbäume gleiten. Er suchte die Antwort hinter den verschlossenen Augenlidern. Wenn Maria jetzt hier stünde und das Leben eine neue und unsichere Wendung nehmen würde? »Ich denke, ich würde es mit der Angst zu tun kriegen.«
»Glaube ich auch.« Die Anspannung, die den Körper des alten Mannes beherrscht hatte, ließ ein wenig nach. »Ich muss dir etwas erzählen, Per. Etwas, das ich dir schon längst hätte sagen sollen. Lass uns einen Spaziergang am Fluss machen. Da draußen kann man leichter atmen. Und klarer denken und freier reden.«
Folke küsste seine Frau auf die Stirn, ehe er seinen Mantel vom Besuchersessel nahm. Sie sabberte, und ein Tropfen zähen Speichels hing ihr vom Kinn, ehe er auf die Decke fiel. Per schloss die Augen. Er wollte das nicht sehen.
Wenig später gingen sie unter den gelb gefärbten Laubbäumen am Fluss entlang.
»Der Herbst ist dieses Jahr früh dran. Ich mag die satten Farben«, meinte Folke Arvidsson. »Unter einem klaren blauen Himmel durch das Laub zu stapfen, am frühen Morgen der Elfenreigen über den Wiesen, wenn die Sonne noch groß und rot ist und den Boden erwärmt. Ich mag den Anblick der ätherischen Engelwesen, wie sie aus der Unterwelt aufsteigen. Wie sinnlich sie ihre Schleier im Tanz bewegen. Man kann ihre Gesichter erahnen, jung und gleichzeitig uralt. Das weiße, wallende Haar. Kleine, durchsichtige Füße, ständig in Bewegung, und die schwebenden Röcke. Das setzt bei einem alten Mann die Phantasie in Gang. Das ist schön. Ich hoffe, dass sie einen Schleiertanz für mich tanzen, wenn ich unter die Erde gebracht werde.«
»Aber so weit ist es ja wohl noch nicht.«
»Nein, vielleicht noch nicht ganz. Der Herbst war für mich immer der Anfang von etwas Neuem, der Beginn eines neuen Schuljahrs, ein unbeschriebenes Blatt, frisch gespitzte Stifte und neue Schüler, ein neuer Stundenplan. Sollen wir uns da hinten auf die Bank setzen?«
Folke Arvidsson bog vom Kiesweg ab und lenkte seine Schritte über die Wiese.
»Du willst also umziehen, Per. Hast du schon überlegt, wohin?« Er wischte ein paar nasse Ahornblätter von der Bank und setzte sich, während er lächelnd einem kleinen Jungen nachschaute. Der Kleine hielt einen älteren Mann an der Hand und trug ein Rindenschiffchen in der anderen Hand. Gemeinsam befestigten sie als Segel ein dunkelrotes Ahornblatt am Mast. Dann balancierte der Kleine auf die Steine hinaus, um das Schiff ins offene Wasser zu legen. Mit seiner kleinen Hand wischte er die Blätter im Wasser beiseite, damit die Fahrrinne offen war. Als das Rindenschiffchen in Richtung Schleuse davonglitt, lachte er. Hand in Hand liefen die beiden am Fluss entlang, bis sie das Rindenschiffchen mit seinem roten Segel aus dem Blick verloren.
»Nein, ich muss mal sehen, wo ich lande. Ich habe mich auf ein paar Stellen im Süden des Landes beworben.« Per Arvidsson betrachtete seinen Vater und fragte sich, ob er überhaupt zuhörte. Er schien völlig von der Wasserung des Rindenschiffchens eingenommen. Ein wehmütiges Lächeln. Ein verträumter Blick. Die Sehnsucht nach Enkeln, die offenbar nicht kommen wollten? Per merkte, wie er langsam wütend wurde. Ich werde nicht die erstbeste Frau schwängern, nur weil du deine Gene verbreitet sehen willst. So einfach ist das nicht. Hör auf, so blöd zu grinsen, Papa, und komm zur Sache.
»Du wolltest mir etwas erzählen.«
Folke zuckte zusammen und kehrte aus seinem Tagtraum zurück. »Ein süßer kleiner Junge, fast so wie du, als du klein warst. Frech und mit verstrubbelten Haaren. Es hat sich gut angefühlt, so eine kleine Jungenhand zu halten. Zu spüren, dass einem jemand rückhaltlos vertraut. Es ist schon etwas Besonderes mit Kindern.«
»Du wolltest mir etwas erzählen. Ich hatte das Gefühl, dass es wichtig sei.« Per Arvidsson merkte, dass sein Ton schärfer wurde, als er beabsichtigt hatte, und beeilte sich, das wieder zu glätten. »Ich höre jetzt gern zu.«
»Ich hätte schon viel früher mit dir reden sollen. Wenn ich Britt nicht in einer schwachen Stunde versprochen hätte, Stillschweigen zu bewahren, dann hätte ich schon früher mit dir gesprochen. Ich habe viel hin und her überlegt, aber ich denke, dass sie nicht das Recht hat, mich an ein solches Versprechen zu binden. Nicht ein Leben lang. Nicht wenn sich die Voraussetzungen im Lauf der Zeit verändert haben. Ich denke, du hast das Recht, jetzt die Wahrheit zu erfahren.«
»Ich höre.«
»Ich hoffe, du kannst mir verzeihen.« Der alte Mann hielt kurz inne, um Mut zu sammeln, und legte seine schmalen Hände auf die Schultern des Sohnes. »Du bist ein Adoptivkind, Per. Und du hast eine Schwester. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich nicht einmal weiß, wie sie heißt. Aber ich habe den Namen von eurer Mutter. Falls du Kontakt zu deiner Schwester aufnehmen willst, könnten wir gemeinsam versuchen herauszufinden, wo sie ist. Ich habe eine Telefonnummer. Mir ist klar, dass das jetzt ziemlich plötzlich kommt. Aber schon bald werden Britt und ich nicht mehr da sein, ich habe mir gedacht, es wäre gut für dich, wenn es noch jemanden gibt.«
»Wie meinst du das? Ich habe eine Schwester?«
»Sie wohnt in Örebro. Sie hat sich am Telefon nicht mit Namen gemeldet, sondern hat sich nur als Helens Tochter vorgestellt. Helen war deine Mutter. Sie lebt allerdings nicht mehr. Deine Schwester hat mich von ihrem Tod in Kenntnis gesetzt. Helen ist vorige Woche nach langer Krankheit in der Universitätsklinik gestorben.«
»Moment mal, ich komme nicht ganz mit.«
»Britt und ich haben dich adoptiert. Eine andere Familie hat deine Schwester aufgenommen. Deine Mutter war alleinerziehend. Sie war allerdings nicht ganz gesund. Den größten Teil ihres Erwachsenenlebens hat sie im Krankenhaus verbracht. Britt meinte, dass es nicht gut für dich sei, sie zu treffen. Als du älter warst, gab es dann nie einen passenden Moment, um dir von deiner Herkunft zu erzählen. Du warst so beschäftigt. Während deines Studiums wollten wir dich nicht stören, auch nicht damals, als du gerade in Kronviken angefangen hattest. Und dann bist du in den Kosovo gefahren.
»Wie ist sie gestorben?« Per wurde plötzlich bewusst, dass er das trockene Brotstück, das er in der Hand gehalten hatte, um die Enten damit zu füttern, zerkrümelt und so fest gehalten hatte, dass es als weißes Pulver auf der dunklen Jeans verteilt war.
»Ich weiß nicht. Ich habe deine Schwester nicht mehr fragen können. Du kamst gerade in die Küche, und da habe ich das Gespräch mit ihr beendet. Das war feige von mir, das gebe ich zu. Ich habe mich mit den Jahren so daran gewöhnt, die Wahrheit zu verbergen, dass es ganz automatisch geschah. Und als ich sie wieder anrufen wollte, wurde mir klar, dass ich ihre Telefonnummer nicht habe, sondern nur die von Helen. Es tut mir leid. Ich kann es gut verstehen, wenn du findest, dass wir falsch gehandelt haben. Du hättest die Möglichkeit haben sollen, selbst zu entscheiden, ob du deine Mutter kennenlernen willst oder nicht.«
»Ja, aber Mama wollte, dass ihr schweigt. Sollte ich nicht einmal erfahren, dass ich adoptiert bin? Dass ich eine Schwester habe?« Per trat einen Schritt zurück.
»Wir konnten keine eigenen Kinder bekommen. Es war medizinisch gesehen völlig ausgeschlossen, doch wir sehnten uns so danach. Wir haben dich mindestens so geliebt, wie biologische Eltern es getan hätten. Ich glaube nicht, dass jemand anders dich mehr hätte lieben können, als wir es tun. Kannst du uns unsere Selbstsucht verzeihen? Mama und ich dachten, es wäre das Beste für dich.«
Auf der Zugfahrt nach Örebro hatte Per Arvidsson nicht die Zeit zum Nachdenken und Planen gehabt, die er sich erhofft hatte, als er in Kronviken eingestiegen war. Seine Schwester würde ihn am Bahnhof abholen. Er hatte keine Ahnung, wie sie aussah. Es gab einen Namen, Pernilla Gunnarsson, und eine zögernde Stimme am Telefon. Der Rest war bis auf Weiteres seiner Phantasie überlassen. Falls er eine Art Freundschaft zu ihr empfinden würde, dann würde er vielleicht die Stelle in Örebro annehmen, die man ihm angeboten hatte. Warum nicht? Alles war besser, als in Kronviken zu bleiben und zuzusehen, wie Maria Wern darum kämpfte, eine Ehe aufrechtzuerhalten, die aus Strohhalmen gebaut war.
Der große, eigensinnige Arvidsson hatte versucht zu blasen und zu pusten, aber die Beziehung schien doch fester zu sein, als er vermutet hätte. Nach dem Gespräch mit Folke hatte er sich ein Herz gefasst und Maria am Abend vor der Abreise zum Essen eingeladen. Er hatte die Lage gepeilt, um dann, noch ehe sie ihm antworten konnte, den Ernst, den er in sich trug, lachend abzutun. Er hatte kurz seine Sehnsucht und seine Einsamkeit gestreift, es dann aber bei Doppeldeutigkeiten belassen. Sie hatte ihre Hand nicht weggezogen, als er sie berührte und dann in seiner behielt. Er hatte sie beim Abschied viel zu lange umarmt, ihre Stirn und ihre Wange geküsst. Aber die eine Frage wurde nie wirklich gestellt. Wenn er genauer darüber nachdachte, dann war es jedes Mal so gewesen. Das letzte erlösende Wort wurde nie ausgesprochen. Wenn es brenzlig wurde, hatte er sich immer entzogen.
Und jetzt war er schon wieder auf der Flucht. Auf dem Weg nach Örebro. Hier in der Anonymität des Zuges hatte er mit etwas Zeit für sich selbst gerechnet. Mit einer Frist, in der er die wichtigen Fragen über Helen und den Vater, den er nur als einen Schatten ohne Namen erahnte, formulieren konnte. Doch es kam nicht dazu. Um ihn herum lösten sich ebenso laut geführte wie belanglose Handygespräche ab, und Per fiel es immer schwerer, sich auf das Treffen zu konzentrieren.
Er lehnte den Kopf ans Fenster. Natürlich war er angespannt. Seine Handflächen waren feucht. Er trocknete sie an der Hose ab. Das Hemd klebte ihm kalt unter den Achseln, als er sich anders hinsetzte. Vorsichtig öffnete er das Papier von dem Blumenstrauß ein wenig, um sicherlich zum fünften Mal zu kontrollieren, ob die Rosen auch nicht die Köpfe hängen ließen. Wie verhält man sich, wenn man nach dreißig Jahren zum ersten Mal seine Schwester trifft? Gibt man sich die Hand? Umarmt man sich? Das wäre vielleicht ein bisschen peinlich. Und was macht man, wenn man keine Gemeinsamkeiten findet?
Schon ein komisches Gefühl, seine eigene Schwester zu treffen, ohne auch nur das Geringste von ihrem Leben zu wissen. Vielleicht ist sie Single wie ich, dachte Per, ein wenig wunderlich und sehr einsam. Vermutlich rothaarig. Vielleicht wird sie mich nicht mögen, dachte er. Möglicherweise sind wir zu unterschiedlich. Oder zu ähnlich? Wenn sie genauso schweigsam ist wie ich, dann könnte es schwierig werden.
Als der Zug in Uppsala hielt, konnte er nicht umhin, die Frau zu bemerken, die am Zug entlanglief. Sie trug eine blaue gehäkelte Mütze, die beim Laufen auf und ab wippte. Ein bunter, langer Mantel flatterte ihr um die Beine. Mit unverminderter Geschwindigkeit und einem Gepäck, als wolle sie in der Arktis überwintern, stürmte sie durch den Waggon und fiel in den Sitz Arvidsson gegenüber. Das helle Haar hing ihr in Strähnen unter der Blaubeermütze hervor, und die Wimperntusche war verlaufen. Laut keuchend arbeitete sie sich aus dem nassen Mantel. Eine Mischung aus Parfüm und Körpergeruch dampfte ihm in einer Wolke ins Gesicht. Ihre eindrucksvolle Oberweite hob und senkte sich mit ihren Atemzügen. Er konnte nicht umhin zu bemerken, dass sie keinen BH trug. Er versuchte, nicht hinzustarren. Unter dem dünnen, lachsrosafarbenen T-Shirt zeichneten sich eigensinnig und naseweis die Brustwarzen ab. Er versuchte, seinen Blick auf etwas anderes zu fixieren.
»Fahren Sie noch weit?«, erkundigte sie sich. »Ich dachte mir, vielleicht könnten wir die Plätze tauschen, mir wird vorn Rückwärtsfahren nämlich schlecht. Wenn es Ihnen nichts ausmacht? Aber vielleicht wird Ihnen ja auch schlecht im X2000. Dann müssen wir natürlich nicht tauschen. Nicht wenn Ihnen schlecht wird, meine ich.
Arvidsson stand wortlos auf, setzte sich auf den gegenüberliegenden Sitz und starrte wieder in die Scheibe. Er konnte sehen, dass sie ihn unausgesetzt beobachtete. Er war irritiert. Wie zum Teufel sollte er sich auf das Treffen mit Pernilla vorbereiten, wenn diese Person ihn die ganze Zeit anstarrte?
»Wohin fahren Sie denn?«, fragte sie.
»Nach Örebro.«
»Um Ihre Liebste zu treffen?«
»Warum glauben Sie das?« Er bereute sofort, ihr eine Frage gestellt zu haben.
»Sie haben Blumen dabei.«
»Ich muss auf eine Beerdigung«, entfuhr es ihm. Das war aus der Luft gegriffen, eigentlich gar keine schlechte Idee. Wenn die Frau einigermaßen normal funktionierte, dann müsste sie ihn jetzt in Ruhe lassen. Arvidsson versuchte, seiner Miene all den Ernst zu verleihen, den der traurige Anlass erforderte, und wandte sich in der vergeblichen Hoffnung auf etwas Privatleben wieder zum Fenster.
»Ich war vorige Woche auch auf einer Beerdigung. Mamas Tante. Hatte eine Gehirnblutung und ist dann Knall auf Fall gestorben, beim Fensterputzen. Sie ist direkt auf ein geparktes Auto gefallen. Einen Fiat.« Die Blaubeermütze wartete auf eine mitfühlende Reaktion von seiner Seite, und als die auf sich warten ließ, fuhr sie unbeirrt fort. »Ich glaube, es ist gut, wenn es auf Beerdigungen nicht zu steif zugeht. Der Pfarrer darf ruhig ein wenig scherzen, finde ich. So traurig ist das Ganze doch gar nicht. Man verlässt die Erde, wenn man seinen Auftrag erfüllt hat, um woanders wiedergeboren zu werden, wo man einen anderen Auftrag zu erfüllen hat. Ich habe übrigens gerade einen Kurs über mediale Entwicklung gemacht.« Sie fuhr mit der Hand über ihre lange Kette aus helllila Steinen und ließ ihren Blick ein wenig in die Ferne schweifen.
In der Fensterscheibe konnte er sehen, wie sie anfing, ihre Ohrläppchen zu massieren, sodass ihre Ohrringe klirrten. Er sagte auch jetzt nichts. Er wollte nicht in ein Gespräch verwickelt werden. Ein ungezügelter Wutausbruch würde nach Ansicht dieser Frau sicher zu einem schlechten Karma in einem zukünftigen Leben führen.
»Das hier ist gut gegen Übelkeit. Versuchen Sie es mal, es hilft wirklich.« Die Blaubeermütze ging dazu über, direkt vor seiner Nase ihre Handgelenke zu massieren. »Was für ein Sternzeichen sind Sie? Nein, lassen Sie mich raten. Ich glaube, Sie sind ein komplizierter Mensch ohne deutliches astrologisches Profil. Sie sind Jungfrau, oder? Das spüre ich hier«, sagte sie und legte die Hand auf ihre Brust. »Ich glaube, Sie sind Jungfrau, aber Ihr Mond steht im Löwen. Irgendetwas sagt mir, dass Sie ein sehr ehrlicher Mensch sind. Es fällt Ihnen schwer zu lügen, Sie müssen einfach die Wahrheit sagen. Bin ich auf dem richtigen Weg? Wir sind auf der Erde, um uns weiterzuentwickeln. Ich spüre aber, dass unsere Energien momentan nicht richtig korrespondieren. Sie haben eine Menge negativer Energie gesammelt. Ich könnte Ihnen helfen, sich zu entspannen. Wenn Sie sich mal so hinsetzen und die Finger zusammenführen und aneinanderdrücken ...«
»Ich hätte gern meine Ruhe. Ich muss mich auf ein wichtiges Treffen vorbereiten.«
»Das habe ich doch gleich gemerkt! Es fällt Ihnen schwer, im Hier und Jetzt zu leben. Das liegt vielleicht an früheren Bindungen mit negativem Karma. Sie müssen wissen, es gibt keinen Zufall. Alles ist vorherbestimmt. Es sollte so sein, dass wir uns heute hier im Zug treffen. Man trifft auf jemanden, und das Leben erhält eine andere Wendung. Vor ein paar Monaten bin ich einem Medium begegnet. Und seitdem hat sich mein Leben komplett verändert. Wissen Sie, wie schwer es ist, einen Job zu kriegen? Man hangelt sich so durch mit Putzen und Aushilfsjobs in der Altenpflege, man geht eine Weile stempeln, macht einen Kurs in Selbstfindung, geht weiter stempeln und dann wieder putzen. Aber jetzt ist alles anders.« Die Blaubeermütze sah ihn mit dem erwartungsvollen Blick eines Kindes an, aber die Reaktion blieb aus.
»Ich habe mir Tarotkarten gekauft. Erst mal habe ich ein paar Abende darauf verwandt, die Bedeutung der Karten zu lernen. In der Schachtel war so ein Blatt, auf dem jede Karte erklärt wurde. Dann habe ich mich bei so einem Telefonservice angemeldet: Kartenlegen am Telefon. Wissen Sie, so eine kostenpflichtige Nummer. Ich arbeite immer vier Stunden und kann ein Fünftel von dem Geld, das der Kunde bezahlt, behalten. Was soll man auch machen, wenn man arbeitslos ist? Man muss schließlich Verantwortung für seine Situation übernehmen und ein wenig Kreativität beweisen. Wohin wollen Sie?«
»Aufs Klo.«
»Ich heiße Bella. Ich kann Ihnen in Örebro alles zeigen, wenn Sie wollen.«
»Ich komm schon klar.« Arvidsson nahm seine Sporttasche und ging in Richtung Restaurantwagen. Er wollte einfach nur seine Ruhe. Die Nerven. Jetzt war es nur noch eine knappe Stunde, bis er seine Schwester treffen würde.
Nach einem Kaffee und einem Sandwich mit Fleischbällchen und Rote-Bete-Salat suchte er sich einen neuen Platz neben einer älteren Dame, die tief in einen Roman versunken war. Er lehnte sich zurück und schloss die Augen.
»In Örebro hält unser Zug zweimal. Zunächst Örebro Hauptbahnhof und dann Örebro Süd.« Der Lautsprecher knisterte. Arvidsson dachte fieberhaft nach. Was hatte Pernilla gesagt, Örebro Hauptbahnhof oder Süd? Vor dem Zugfenster breitete sich die Stadt im Licht der Straßenlaternen aus, mit ihren Wohnvierteln, dem pilzähnlichen Wasserturm und einer Friedhofsmauer mit überbordenden Graffiti. Der Zug verlangsamte die Fahrt. Jetzt musste er sich entscheiden. Das Wahrscheinlichste war wohl, dass sie sich am Hauptbahnhof treffen würden.
Arvidsson nahm seine Lederjacke vom Haken, griff sich seine Tasche und trat in den Gang. Er wartete, bis die Blaubeermütze draußen vorbeigegangen war, und stieg dann aus. Es regnete leicht. Er hoffte, dass Pernilla ihn nicht auf dem Bahnsteig abholen würde, und folgte der Menge. Hielt nach jemandem Ausschau, der genauso wie er in der Menge von Gesichtern nach etwas Bekanntem suchte.
Im Bahnhofsgebäude blieb er unschlüssig stehen. An einem Tisch in der linken hinteren Ecke vegetierten die Saufkumpane der Stadt vor sich hin und teilten sich in brüderlicher Gerechtigkeit eine Limo und eine Flasche Absolut Vodka. Drei halbwüchsige Mädchen spielten Karten, und eine ältere Dame in zerrissenem Rock und verfilzter Strickjacke stand mit dem Gesicht zur Wand und redete mit etwas oder jemandem in ihrer zerschlissenen, braun karierten Tasche.
Während er auf die Begegnung mit Pernilla wartete, packte er die Rosen aus und stopfte das Papier in einen übervollen Abfalleimer. Sieben rote Rosen. Er warf einen Blick auf die Uhr. Der Zug war acht Minuten verspätet gewesen. Jetzt müsste sie eigentlich da sein. Vielleicht hatten sie sich doch auf dem Bahnsteig verpasst. Er spürte, wie ihm die Anspannung in die Beine kroch und dann durch den ganzen Körper bis in die Finger und Haarspitzen.
Es hatte aufgehört zu regnen, und er ging zum Gleis zurück. Die Luft war kühl. Er sah draußen an der Bushaltestelle eine Frau mit schulterlangem Haar und weißem Mantel stehen. Neben ihr befand sich ein schwarzer BMW. Hin und wieder drehte sie den Kopf, als würde sie nach jemandem Ausschau halten. Dann wandte sie sich an ein älteres Paar, das gerade vorbeikam. Die beiden zeigten auf den Bahnhof oder vielleicht auch direkt auf ihn. Er war unsicher. Sie lächelte ihn vorsichtig an. Kam zögernd auf ihn zu. Die hochhackigen Stiefel klapperten auf dem Asphalt.
Arvidsson spürte, wie es in seinem Kopf zu rauschen begann. Sie hatte etwas Bekanntes an sich, als hätten sie sich vor langer, langer Zeit schon einmal gesehen. Wie eine Passage aus einem Traum oder einem Schwarzweißfilm, in dem die Liebenden mit ausgebreiteten Armen in Zeitlupe aufeinander zulaufen. Es dauerte eine Weile, bis ihm klar wurde, woran es lag: Sie sah aus wie das Mädchen auf dem roten Rosinenpaket der Firma Sun-Maid. Ein blasses Gesicht, schwarzes, gewelltes Haar unter einer großen roten Mütze und ein roter, lächelnder Mund.
Meine Schwester? War da irgendeine Ähnlichkeit? Die Augen? Die Nase? Der Mund? Sie sah freundlich aus, und sie war eher klein, reichte ihm kaum bis zur Schulter. Als sie direkt vor ihm stand, fiel ihm nichts ein, was er sagen könnte. Die Worte, die er vorbereitet hatte, passten überhaupt nicht zu der Erscheinung, die vor ihm stand. Ihre Augen, die das blasse Gesicht ganz dominierten, waren grün und voller kleiner gelber Sprenkel. Auf der Oberlippe konnte er eine kleine Narbe erahnen. Dann fasste er sich und reichte ihr die Rosen. Sie sah ihn verständnislos an. Dann lächelte sie vorsichtig und berührte den Strauß.
»Sind die für mich?«
»Ja.« Es kam ihm nicht in den Sinn, einen einzigen der Sätze zu sagen, die er während der unruhigen Stunden im Zug eingeübt hatte.
»Aber du kennst mich doch gar nicht.« Sie nahm die Rosen in Empfang, roch an ihnen und kicherte wie ein Schulmädchen. »Noch nicht. Aber das können wir doch ändern.«
»Willst du das?« Sie lachte ein wunderbar klirrendes Lachen, und Arvidsson fühlte sich schwindelig und benebelt, froh und gerührt zugleich.
»Deshalb bin ich schließlich hergekommen. Ist das dein Auto?«
»Ich hab es mir geliehen. Wohin willst du fahren?«
»Am besten zu dir, oder?« Als sie da so warm und lebendig vor ihm stand, kam ihm dieser Vorschlag so natürlich vor. Kann man seine Schwester auf den ersten Blick lieben? Sie lächelte immer noch, während sie die Beifahrertür öffnete. Eine Geste – willkommen in meinem Leben. Es war ein großer Moment. Sie ging zur Fahrerseite hinüber, und er wollte sich gerade ins Auto setzen.
»Per Arvidsson?« Eine andere Stimme von hinten. Er drehte sich langsam um und blickte in ein mageres und sehr erwartungsvolles Gesicht. »Pernilla Gunnarsson.« Eine fremde Frau drückte ihm fest die Hand. »Du bist doch Per, oder?« Sie legte ihre Hände auf seine Schultern und betrachtete ihn ungeniert von oben bis unten.
»Ja.« Etwas einfältig starrte Per seine neugefundene Schwester an, die ihn mittlerweile losgelassen hatte und einen Schritt zurückgetreten war. Sie war schmal, hatte einen etwas krummen Rücken und war fast genauso groß wie er selbst. Das rote Haar war sehr kurz geschnitten. In ihrem viel zu großen grau gestreiften Kostüm sah sie aus wie eine Schülerin bei der Abschlussprüfung, die sich Kleider von einer etwas umfangreicheren Verwandten geliehen hatte.
»Pernilla?«
»Ich habe am Südbahnhof auf dich gewartet. Und dann habe ich mir gedacht, dass du vielleicht nicht gehört hast, was ich gesagt habe. Mein Auto steht da hinten.« Sie zeigte auf einen Van mit aufgemaltem Motiv, der unter einer Straßenlaterne geparkt war. »Komm doch mit zu mir nach Hause, dann können wir eine Kleinigkeit essen.« Arvidsson nickte abwesend, während er seiner Sun Maid, der Königin der blauen Trauben, nachschaute, die mit dem Blumenstrauß winkte und sich ins Auto setzte. Wenig später war sie verschwunden. Eine Fata Morgana. Wie heißt du? Die Frage, die nie gestellt wurde. Im Nachhinein kam ihm das Treffen sehr unwirklich vor.
»Kanntest du die Frau am Bahnhof?«, fragte Pernilla im Auto.
»Nein.«
»Sehr charmant, jemandem rote Rosen zu schenken, den man gar nicht kennt. Ich fand, es sah total rührend aus. Fast wie in einem Reklamefilm. Unerwarteter Besuch, du weißt schon.«
»Ich wusste ja nicht, wie du aussiehst. Das war wie ein Blind Date. Die Rosen waren für dich, ich habe mich eben geirrt. Sie stand da und wartete auf jemand anders. Ich werde dir wohl einen neuen Strauß kaufen müssen.«
»Sag nicht so was. Der gute alte Freud würde sicher meinen, dass du nur deinen unterbewussten Trieben gefolgt bist. Ich würde nicht Nein sagen, wenn mir ein unbekannter Mann überraschend Rosen schenken würde. Ich wäre glücklich und würde mir einreden, dass ich sie verdiene.«
Arvidsson spürte, wie seine Wangen heiß wurden. Was hatte er eigentlich zu der Erscheinung gesagt? Wohin willst du fahren?, hatte sie gefragt. Am besten zu dir. Wie hatte er nur etwas so Dummes sagen können? Sie musste ihn für aufdringlich halten. Wenn er nur das Band zurückspulen und alles löschen könnte. Wie unnötig und idiotisch. Wenn er nur einen kleinen Moment länger gewartet hätte, dann müsste er sich jetzt nicht in Grund und Boden schämen. So ging er noch eine Weile mit sich ins Gericht, bis Pernillas Stimme ihn aus den Gedanken riss.
»Habe ich dich überhaupt schon willkommen geheißen?« Ihre Hand strich über seinen Arm. »Ich habe immer gewusst, dass es dich gibt. Habe dich vermisst und mir viele Fragen gestellt. Jetzt hast du eine große Schwester. Ich werde mich um dich kümmern. Du und ich gegen den Rest der Welt. Ich kann kaum glauben, dass du wirklich hier bist.«
Sie sprachen eine Weile über das Leben. Die großen Ereignisse, die nur die äußere Schale für die wesentlichen Erinnerungen bilden, wurden schnell abgehandelt. Pernilla war es, die zuerst die Sprache auf ihre gemeinsame Kindheit brachte.
»Weißt du, ich weiß noch so gut, wie die vom Jugendamt kamen und uns holten. Wir waren bei Tante Aina, einer Nachbarin, die auf der anderen Seite des Hofs wohnte. Die hatte so wenig Haar, dass sie es mit einer einzigen Haarnadel im Nacken feststecken konnte, und außerdem roch sie nach Schweiß und ranzigem Fett. Sie hatte eine altersschwache Katze, die unter der Spüle schlief. Wir saßen auf ihrem Küchensofa mit dem rot karierten, verschlissenen Bezug. An der Armlehne auf meiner Seite war ein Loch. Ich habe den Stofffetzen hochgehoben, den sie darübergelegt hatte, um den Riss zu verbergen, und habe daran gezupft, sodass das Loch immer größer wurde. Wir kriegten viel zu süßen Saft, so einen zum Verdünnen. Aber ich habe mich nicht getraut, es zu sagen. Du konntest dein Glas noch nicht selbst halten, deshalb musste ich dir helfen. Es schneite. Wir versuchten, auf die Flocken zu zeigen, ehe sie an der Fensterscheibe zerschmolzen. Deine Hände haben klebrige Abdrücke hinterlassen, aber Aina hat dich dafür nicht auf die Finger geklopft, diesmal nicht. Irgendwann kam eine Frau mit grünem Mantel herein. Sie lächelte so komisch, und wir kriegten Süßigkeiten. Jeder eine Rolle Drops, die einen kleinen harten Bonbonkern hatten. Ich habe einen aus deiner Rolle genommen, um den harten Kern rauszumachen, bevor ich ihn dir geben wollte, damit er dir nicht im Hals stecken bleiben würde. Die Frau hat gedacht, ich wollte ihn dir klauen. Deshalb hat sie mir zur Strafe meine Süßigkeiten weggenommen. Ich konnte gar nichts sagen. Sie hätte mir doch nicht geglaubt. Seltsam, wie tief so kleine Ungerechtigkeiten sitzen. Du warst fast zwei Jahre alt. Kannst du dich an etwas erinnern?«
»Nein. Ich glaube nicht. Ich habe immer gedacht, dass Folke und Britt meine Eltern seien. Wenn man Ähnlichkeiten sucht, dann findet man sie auch. Es dauert eine Weile zu begreifen, dass das nicht mehr so ist.«
»Kannst du ihnen verzeihen?« Pernilla suchte seinen Blick, und er musste sie anschauen, obwohl er noch keine Antwort auf ihre Frage hatte. »Es fiel Folke nicht leicht, es mir zu erzählen, nach so einer langen Zeit des Schweigens. Und für mich war es auch nicht einfach, das anhören und akzeptieren zu müssen. Ich glaube, ich muss das erst mal alles verstehen. Britt wollte mich schützen. Sie dachte, es wäre schlecht für mich, wenn ich meine biologische Mutter kennenlernen würde. Ich habe noch nicht richtig rausgekriegt, warum.«
»Das alles ist ziemlich viel auf einmal für dich.«
Auf der Karlslundsgatan überholte Pernilla einen Sattelschlepper und bremste so heftig beim Einscheren, dass Per sich mit den Händen am Armaturenbrett abstützen musste. Die Scheinwerfer des Sattelschleppers näherten sich von hinten mit beunruhigender Schnelligkeit.
»Shit!«, rief Pernilla. Am Straßenrand war ein Polizist in Uniform mit Laserpistole zu erkennen. »Hoffentlich bin ich auf dem Bild gut getroffen. Mein Mann sagt immer, ich sei fotogen.«
Arvidsson verspürte eine kleine Enttäuschung. Jetzt hatte er endlich seine Schwester gefunden, ein erstes Gefühl der Verständigung empfunden, und schon musste er sie mit einem Ehemann teilen, von dessen Existenz sie ihm noch nichts erzählt hatte.
»Was macht er denn beruflich?« Unter all den Fragen, die in Pers Kopf herumschwirrten, hatte diese eine sehr niedrige Priorität, aber er stellte sie aus reiner Höflichkeit.
»Svenne fährt Taxi. Heute ist sein Team bei uns zu Hause zum Saunaabend. Er rechnet fest darauf, dass du mitmachst und ein paar Bier mit ihnen kippst.«
»Ich bin gekommen, um dich kennenzulernen.« Das Gefühl der Hilflosigkeit verlieh der Stimme eine gewisse Schärfe. Er hoffte, dass sie das nicht falsch auffassen würde.
»Es ist sowieso noch was dazwischengekommen.« Pernilla sah ihn an, schüttelte den Kopf und sog durch den einen Mundwinkel Luft ein, als bräuchte sie zusätzlichen Sauerstoff für das, was gesagt werden musste. »Ich arbeite als Tagungsbetreuerin im Conventum. Meine Kollegin ist krank geworden. Sie hat mich vor zwei Stunden angerufen, und ich muss ihre Tagung übernehmen. Ein wichtiger Kunde. Ich habe alles versucht, um freizubekommen, und es sah ganz so aus, als würde es klappen, aber jetzt wird leider nichts daraus. Svenne kümmert sich um dich, bis ich wieder nach Hause komme. Ich habe dir im Gästezimmer im oberen Stock ein Bett gemacht.«
Als sie an einigen Ställen vorbeigefahren waren und eine Gruppe von Reitern über die Straße gelassen hatten, parkte Pernilla schließlich an einem alten Lagerhaus. Per holte seine Tasche aus dem Kofferraum, und sie gingen zusammen den Kiesweg entlang auf das Hauptgebäude zu.
»Wohnst du hier auf dem Herrensitz von Karlslund?«
»Wir haben nur den Südflügel gemietet. Der ist komplett neu renoviert. Die schönen alten Kachelöfen, die Holzfußböden und die schiefen Türrahmen sind noch erhalten. Früher war das die Wohnung des Buchhalters. Im Nordflügel ist Rosengrens Skafferi, ein Kräuterladen. Wenn die Marmelade kochen, duftet es auf dem ganzen Gelände. Die Kräuter, die sie verkaufen, werden hier angebaut.«
Und so fand sich Per Arvidsson wenig später mit sieben fremden nackten Männern in der Sauna wieder. Eine einzigartige Möglichkeit, Insiderinformationen über Taxifahrer einzuheimsen, technische Lösungen komplizierter Autoreparaturen zu erlernen und seinen Vorrat an Geschichten aufzustocken. Svenne, der einen Thorshammer um den Hals trug, saß auf der oberen Bank. Er schüttete noch eine Kelle Wasser auf. Jetzt brannte es richtig in den Lungen.
Per wartete noch drei Männer ab, dann stand er auf und ging ebenfalls hinaus. Svenne war der Letzte. Per spürte intuitiv, dass es nicht angesagt war, hier die Hierarchien durcheinanderzubringen.
»Jetzt kühlen wir uns ab. Nein, nicht mit der Dusche.« Svenne legte seine große Hand um Pers Nacken und schob ihn in die andere Richtung. »Das ist nur was für Weicheier. Hier draußen kühlen wir uns im feuchten Schoß von Mutter Natur ab.« Fünf nackte zitternde Männer auf einem Steg zeigten, was von ihm erwartet wurde: einmal in das oktoberkalte Wasser des Svartån einzutauchen. Svenne warf sich hinein und schnaubte wie ein Seeungeheuer. Arvidsson lag ganz still da und ließ sich ein Stück mit der Strömung treiben.
Als sie sich wieder angezogen hatten, ging es zum Grillplatz am Wasserfall. Svenne zeigte auf eine kleine Insel im Fluss.
»Hier sitzt in der Dämmerung der Nix und lockt die Weiber in Scharen zu sich. Er spielt so wehmütig und herzzerreißend, dass sie nicht widerstehen können. An der alten Brücke da hinten an der Straße kann man die Spuren sehen, die die Fingernägel der Frauen hinterlassen haben, wenn sie sich noch bis zum Letzten wehren wollten. Ich sag dir, sogar im Stahl der neuen Brücke gibt es solche Kratzspuren.«