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Das beschauliche Altaussee im Salzkammergut. In Berenike Roithers neu eröffnetem Teesalon trifft man sich zur Lesung des skandalumwitterten Autors Sieghard Lahn. Doch ein Besucher steht zur Pause nicht mehr auf und schnell ist klar: Der Journalist Robert Rabenstein wurde ermordet. Kein guter Auftakt für Berenikes beruflichen Neuanfang. Aber als Frau der Tat beschließt sie, selbst Licht ins Dunkel zu bringen - auch wenn sie sich dazu im fernen Wien der eigenen Vergangenheit stellen muss ...
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Seitenzahl: 380
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Anni Bürkl
Schwarztee
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Susanne Tachlinski; Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung / Korrekturen: Susanne Tachlinski / Doreen Fröhlich
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
Das erste Glas Tee ist bitter wie das Leben,
das zweite süß wie die Liebe
und das dritte sanft wie der Tod.
Ein Mann wohnt im Haus und spielt mit den Schlangen der schreibt
der schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland dein goldenes Haar Margarete
Dein aschenes Haar Sulamith wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng
Alles, was zur Lesung fehlte, war der Dichter. Berenike gestand sich ein, dass das kläglich war. Mochte der Rest noch so perfekt sein, die Speisen in ihrem Salon vorzüglich und der Tee unwiderstehlich. Die böse Vorahnung ergriff wieder Besitz von ihr. Bis jetzt hatte sie das Gefühl auf ihre Nervosität geschoben. Und auf das Gewitter, das den ganzen Tag herumgezogen und dann doch nicht über Altaussee niedergegangen war. Erst vor Kurzem hatte sie ihren Salon für Tee und Literatur hier eröffnet, heute veranstaltete sie die erste Lesung. Attention now!
Das Lokal war voll. Ausseer in Tracht, Touristen in Freizeitklamotten. Knallrote Parkas in Kombination mit hellbeigen Kniehosen mussten der letzte Schrei sein. Berenikes rosa Kimono aus Japan stach dagegen total hervor. Die Seide raschelte bei jedem Schritt, eine sprichwörtliche Reise in die Ferne.
Rasch kontrollierte Berenike im Waschraum ihr Aussehen. Sie hatte den kleinen Raum in einen orientalischen Traum verwandelt, dunkelblau gestrichene Wände mit goldenen Sprengseln, leichter Opiumgeruch aus einer Duftschale.
Sinnierend betrachtete sie sich im Spiegel. Ihr linkes Auge wirkte schiefer als sonst. Der kleine Makel fiel nur auf, wenn sie angespannt war. ›Du bist zur Schamanin geboren‹, hatte ihr einmal ein geheimnisvoller Inder auf einer Reise versichert. Doch was sollte sie im Europa des 21.Jahrhunderts mit etwas anfangen, wovon sie nicht die geringste Ahnung hatte? So hatte sich Berenike für ihre rationale Seite entschieden. Business, Geld, guter Sex. Bis vor einiger Zeit alles zusammengebrochen war. Aber daran wollte sie jetzt nicht denken.
»Om«, sie schloss für einen Moment die Augen. »Om«, wiederholte sie das universelle Mantra. Sie blinzelte mit einem Auge. Damn it, sie war noch immer nicht relaxed. Da konnte man nichts machen. Sie zwinkerte ihrem Spiegelbild zu, zupfte an ihren asymmetrisch kurz geschnittenen schwarzen Haaren und ging hinaus.
Draußen inspizierte sie ein letztes Mal das Buffet, kleine Häppchen aus Avocados lockten neben Gurkenscheiben auf Butterbrot, natürlich alles biologisch. Ihre Mitarbeiterin Ragnhild kam und stellte Teekannen bereit; die Gäste konnten sich hier selbst bedienen. Ragnhild war ebenfalls in einen Kimono gewandet. Berenike hob den Deckel von einem blauen Keramikkännchen und schnupperte. Der zitronige Duft des Verbenentees wirkte angenehm in der Hitze. Zu einer Premiere wie heute Abend gehörte eigentlich das Prickeln von Champagner. Tee wirkte plötzlich so banal. Kein Alkohol, kein Begehren, sie hatte den Ausschweifungen aus gutem Grund abgeschworen. Zum ersten Mal fragte sie sich nun, ob jene Leere, die der Buddhismus als höchstes Glück pries, wirklich erstrebenswert war. Sogar den Wirt vom ›Grünen Kakadu‹ hatte sie unter den Besuchern ausgemacht, Max hieß er. Er schob sich an sie heran und hauchte mit heißem Atem in ihr Ohr: »Schön, dich zu sehen!« Ohne dass er sie berührt hätte, konnte sie seine Präsenz durch den Stoff hindurch spüren. Sie ließ die Erregung einen Moment auf sich wirken. Im Luftzug stellten sich die Spitzen ihrer Brüste unter dem Stoff auf, ein wohliger Schauer durchlief ihren Körper.
Schräg schien die Sonne durch das offene Fenster auf die hohen Bücherregale. Berenike hatte sich für schwarze moderne Möbel entschieden, um sich vom rustikalen Ambiente anderer Lokale abzuheben. Die Kirchenglocken läuteten zum Abend. Es klang, als hätten sie ebenfalls Mühe, sich bei der Hitze zu bewegen. Berenike spürte, wie ihre Haut unter der Seide glühte, so warm war es im Raum.
Langsam machte sich Unruhe unter den Gästen breit. Sie sah auf die Uhr. Schon zehn Minuten nach der geplanten Zeit für den Beginn. Die Besucher, die bereits eine halbe Stunde im Salon saßen, standen wieder auf. Sie zupften ein Buch aus dem obersten Regal, legten es woanders ab. Dann blätterten sie kurz in einem anderen Bändchen, nur um auch dieses irgendwo zurückzulassen, wo es nicht hingehörte. Aber das war alles kein Problem. Berenike versuchte, sich auf ihren Atem zu konzentrieren. Das beruhigte.
»Wann gehts los?« Die Stimme hörte sich glatt und männlich an wie das frisch rasierte, braun gebrannte Gesicht. Ein junger Kerl im blauen Hemd stand vor ihr, seine Augen blitzten unruhig umher.
»Gleich«, Berenike krampfte ihre Hand um das Handy. Das war Murphys Law. Alles geht schief, was nur schiefgehen kann. Bitte nicht!, sie schickte ein stummes Stoßgebet an wen auch immer.
»Danke.« Der Besucher zog eine Packung Marlboro aus der Brusttasche, das gab leider Punkteabzug. Sie deutete zur Tür. »Bitte rauchen Sie draußen. Danke.« Ein irritierter Blick traf sie. Ihre Atemübung hatte sie sowieso unterbrechen müssen, da machte es auch nichts, dass sich der feine Pinkel seine Zigarette in der Tür anheizte.
Berenike griff nach einer der Erdbeeren, die in silbernen Körbchen herumgereicht wurden. Während ihre Zunge das rote Fruchtfleisch zerdrückte und sich der süßliche Saft in ihrer Mundhöhle verteilte, ging sie vor die Tür, um zu telefonieren. Sie wählte eine Nummer und presste das winzige Handy ans Ohr. Sie hörte es läuten, dann Motorradlärm.
»Frau Roither? Heil!« Wie so oft zuckte Berenike bei dem politisch belasteten Grußwort zusammen. Doch in manchen Gegenden war es völlig harmlos und gängig, so vielleicht auch hier. Sie als Neo-Ausseerin wusste das nicht genau, also verkniff sie sich einen Kommentar. Eine Maschin’ à la Marlon Brando war vor ihr zum Stehen gekommen. Der Fahrer trug eine schwarze Motorradjacke zur traditionellen Ausseer Lederhose. Er hielt ihr seine Hand zum Gruß hin, eine riesige Pranke. Sieghard Lahn himself, breitbeinig, erdverwachsen und 40 Minuten zu spät.
Sie sah auf. Und erstarrte. Diese Augen! Starr, herablassend. Sahen sie, und sahen sie irgendwie nicht. Erinnerten an…, nicht daran denken.
Oooom!
»Darf ich Sie in meinen Salon…«
Lahn bewegte sich bereits zielsicher an ihr vorbei in Richtung Podium. Sein linkes Bein war unwesentlich kürzer als das rechte, aber das verstärkte seine Attraktivität nur noch. Seine Schritte stanzten Töne aus dem Boden. Berenike spürte, wie ihre nackten Schenkel unter dem Gewand beim Gehen aneinanderrieben.
»Heil Euch!«, rief Lahn in die Menge. Seine große, schwere Gestalt füllte den Raum. In Berenike löste er das Gefühl aus, plötzlich nur noch halb so groß zu sein wie sonst, obwohl sie mit ihren 1,78 Metern nicht gerade klein war. Er setzte sich.
»Ein Getränk, Herr Lahn?« Sie trat neben ihn, nahm seinen Körpergeruch wahr, den Motorradgeruch. »Vielleicht ein alkoholfreies Biobier?«
Alkoholfrei, wie unpassend. Er winkte ab, griff nach dem Wasserglas. Lahns halblange Locken waren dramatisch gerauft, brünett, sie konnten auch als blond durchgehen. Groß, üppig war seine Figur. Kein bisschen fett. Eher kraftstrotzend. Muskeln an Armen und Beinen. Seine 40 Jahre sah man ihm kaum an.
»Er ist in den Metropolen der literarischen Welt zu Hause, in seiner Heimat allerdings tritt er viel zu selten auf. Begrüßen Sie mit mir«, im Raum klirrte Geschirr, ausgerechnet jetzt!, »den bekannten Dichter Sieghard Lahn.« Der Autor nickte ungeduldig, setzte mehrmals zum Sprechen an. »Sieghard Lahn wird heute aus seinem neuen Büchlein lesen. Bitte, Herr Lahn, Sie haben das Wort!«
Lahns Brustkorb füllte sich mit Atem. Etwas Schwarzes auf der Haut seines Armes, es sah aus wie ein tätowiertes Kreuz, oder vielleicht war es eine Narbe. An seiner Hand blitzte es silbern auf– Schmuck oder– nein! Einer wie Lahn würde doch nicht…? Sie konnte nicht glauben, dass er wirklich einen Schlagring besaß. Sie musste sich geirrt haben, eine Sinnestäuschung, jawohl.
»Gevatter Großvater!«, donnerte die Dichterstimme durch den Raum.
Radikal-spirituelle Poesie mit historischem Tiefgang, so hatte Lahn sein Werk bei der Vorbesprechung angepriesen. In seinen Worten mischten sich Sehnsucht mit Zorn, Achtung mit Aufbegehren. Auf die Huldigung des Ahnen folgten ›leuchtende Linien ins Heute‹. Entsetzen und Erwachen schlugen in einer Woge zusammen, gaben ihm Auftrieb zu weiteren Attacken. Wie bewusst er sich seines Körpers war. Lahn zog das Publikum an, Freunde und Feinde standen sich leidenschaftlich gegenüber. In den Zeitungsartikeln war von hymnischer Begeisterung bis zu vernichtender Abscheu alles vertreten. Auf jeden Fall bedeutete sein Auftritt einen Gewinn für das Lokal. Hoffentlich hatten sie genügend Brötchen vorbereitet.
Endlich war Pause. Die Menschen drängten durch den angrenzenden Teesalon zur Eingangstür, um ins Freie zu strömen. Lahn ordnete seine Unterlagen. Eine ältere Frau sprach ihn an, er nickte, sie wandte sich ab.
Berenike servierte im Garten unter der alten Linde. »Wo ist nur der Meister?«, hörte sie jemanden fragen. Der Dichter mischte sich nicht unters Publikum, aber das war normal. Überall engagierte Gesichter, Diskussionen. Nur mit dem Verbenentee stimmte irgendetwas nicht. Das Getränk schmeckte niemandem mehr, obwohl seine entspannende Wirkung sonst beliebt war. Berenike schüttete den Inhalt der Kanne ins Klo. Verdrängte ihr Unwohlsein. Wischte sich den Schweiß von der Stirn und bediente weiter im Freien.
Als alle versorgt waren, ging sie hinein, um zu lüften. Ein einziger Mann war sitzen geblieben. Vor ihm lag ein Löffel auf dem Boden. Berenike öffnete ein Fenster, Gelächter drang herein.
»Draußen gibt es…« ›Erfrischungsgetränke‹, wollte sie sagen. Etwas ließ sie innehalten. Der eigenartige Geruch vielleicht. Sie räusperte sich. Der Mann bewegte sich nicht. Plötzlich war ihr kalt unter dem Kimono. Murphys Law, dachte sie wieder, während ihr das graue Sakko des Mannes auffiel, es wirkte zu warm für den Abend. Etwas setzte sich wie ein böser Geist auf ihre Brust. Sie blickte ins Gesicht des Herrn, das so grau wie sein Anzug wirkte. Als ihr aufging, wovon sie hier Zeugin wurde, kreischte sie auf und hielt sich gleich darauf erschrocken den Mund zu.
»Der Rabenstein!«, hörte sie jemanden hinter sich stammeln. Dem Mann musste schlecht geworden sein. Ein Herzinfarkt, aber dafür sah er zu jung aus. Sie musste die Rettung anrufen, schnell!
Immer mehr Menschen strömten zurück in den Salon. Berenike wollte sie aufhalten. Rannte gegen die Menge an. Sinnlos. »Rabenstein? Was für ein Rabenstein?«
Sessel wurden umgeworfen. »Rabenstein, meinen Sie den Journalisten? Der sich für das Haus vom Huber Gerd interessiert hat?«
»Ja ja, Rabenstein heißt er. Sonst weiß man wenig über ihn.«
Alle glotzten, drängten andere weg, um selbst etwas zu sehen.
»Der ist doch zu jung, um…«
»Ja, aber bei dem Lebenswandel!«
Keine Frage, der Mittvierziger war tot. Womöglich hatte er noch gelebt, als Berenike ihn entdeckt hatte. Sie kämpfte sich zu dem Mann durch, tippte ihm auf die Schulter. Nichts. Sein Gesicht glänzte vom Schweiß. In seinem Mundwinkel glitzerte Speichel. Die dunkle Aura konnte wohl nur sie spüren. Und seine Hände, sie sahen irgendwie seltsam aus. Niemand schien Berenike zu beachten, als sie hinausrannte. Der Kimonostoff schleifte hinter ihr her. Wurde schmutzig. Aber das war jetzt egal.
Polizei, herumrennende Gäste. Kopflos wie aufgescheuchte Hühner. Teeschalen wurden hektisch abgestellt. Scherbenklirren, aber niemand achtete darauf. Dazu die Wiederbelebungsversuche des Arztes, den irgendwer aus dem nahen Kurhaus geholt haben musste. Der ältere Doktor flüsterte: »Jössas, der Rabenstein!« Murmelte etwas von Journalisten, die nicht aufpassten.
»Unangenehme Person«, mischte sich ein Gast ein.
»Fragt zu viel«, stimmte ein anderer zu.
Jetzt ging das Gezischel wieder los. »Seine Aufdeckungen, musste das sein, nach so langer Zeit?… Alles zieht er in den Dreck, nichts ist ihm heilig.… Und jetzt ist er tot, der Rabenstein.«
Berenike vernahm ein Lachen, wie unpassend. »Selbst schuld, so unbeliebt, wie der sich gemacht hat!«
Mit so einem schlechten Qi wollte Berenike nicht in Berührung kommen. Die vielen Menschen mit ihrer Ausstrahlung verwirrten sie zutiefst. Wo war überhaupt Ragnhild?
Die Polizisten schienen ihre Arbeit beendet zu haben. Der Arzt stand bei den Uniformierten. Einer zündete sich eine Zigarette an. ›Nicht!‹, wollte Berenike rufen. Aber dann fiel ihr Blick auf den Toten. Den Toten, dessen Finger so unnatürlich aussahen, wie ausgerenkt.
»Ist es Mord?« Die Worte verhakten sich in Berenikes Mund, kamen endlich doch heraus.
»Mord? Das wird sich…«
»Aber die Finger!«
»Was?«
»Die Finger des Toten. Sie sehen seltsam aus.«
»Ja?« Der Arzt, selbst grau im Gesicht, wechselte einen Blick mit den Polizisten, musterte Berenike. Man hielt sie für verrückt, sie kannte das. Der Doktor trat näher an den Toten heran. »Sie haben recht. Gequetscht, würde ich sagen, einige Knochen gebrochen. Ist mir noch nicht«, Blick aufs Handgelenk, »noch nicht untergekommen, nein. Man muss ihn obduzieren lassen.« Einen Moment war nur Seufzen im Raum zu hören. Bevor es richtig losging. Aus welcher Tasse der Tote getrunken hatte, wurde gefragt. Es ließ sich nicht rekonstruieren, ob sie zerbrochen war. Die Beamten von der Tatortgruppe nahmen alles mit, was in Rabensteins Nähe stand. Blitzlicht, das war wohl der Polizeifotograf. Jemand hatte Rabensteins Umrisse mit Kreide markiert, seinen Arm auf dem Tisch. Nummerntafeln standen überall herum.
»Und Sie sind…?«
»Berenike Roither, mir gehört das Lokal.«
Der Polizist ließ sich ihren Ausweis zeigen. »Wo wohnen S’ denn?«
Zwei Männer traten von draußen herein. Die Sargträger. Sie hoben den Toten auf. Rabensteins Arme baumelten herab, als gehörten sie nicht zu ihm. Er war auch kein Mensch mehr, kein atmender, lebendiger.
Ein plötzlicher Juckreiz befiel Berenike unter dem Kimono, ihr war viel zu heiß. Erst später fiel ihr auf, dass sie in dem Durcheinander Sieghard Lahn aus den Augen verloren hatte. Sein Motorrad war verschwunden. Nur eine Broschüre lag am Boden vor dem Lesepult. Auf dem Titel prangte sein Name. In blutroten Buchstaben.
Sie erwachte von einem Schrei. Der Laut steckte ihr rau und schmerzhaft in der Kehle. Sie öffnete die Augen. Ihr Herz klopfte. Der Mund, noch immer geöffnet. Berenike blinzelte. Sonnenschein. Katzenhaarekitzeln.
Tot.
Er war endlich tot.
Bestraft. Für alles.
Die Bilder der Nacht tummelten sich auf ihrer Netzhaut. Helle kurze Haare, wie sie sich in schwarze Locken verwandelten, die dunkle Wangen umrahmten. Todeswangen. Gesichtszüge schoben sich ineinander, schnürten ihr die Luft ab, die Lebensluft. Sie hatten den Tod verdient. Alle.
Dem Blonden hatte sie den Tod gewünscht. Blond, immer dieses Blond. An seiner Stelle war der Dunkle gestorben. Sein Grinsen– wie das Grinsen jenes anderen Mannes. Nein, sie wollte seinen Namen nicht aussprechen.
Die Sonne zauberte Funken in die Luft, verwandelte Staub in Gold. Berenike berührte kurz die nackte Haut ihres Bauches unter der Decke. Sie blinzelte zum Wecker– 12Uhr, das konnte nicht stimmen. Er musste stehen geblieben sein. Sie streckte sich, rieb sich den Schlaf aus den Augenwinkeln. Wollte den Traum wegwischen. Für einen Moment hatte sie geglaubt, in ihrem alten Leben gelandet zu sein. Schlimmer noch, es nie hinter sich gelassen zu haben. Im Traum hatte Berenike wieder als erfolgsverwöhnte Eventmanagerin gearbeitet. Ein Kunde war tot umgefallen, mitten im Meeting. Hatte mit den Händen gewedelt, als würde er ihr zuwinken. Nicht, dass er ihr leidgetan hätte, nicht einmal im Traum. Aber…
Schluss jetzt mit dem depressiven Zeug. Mit einem Schwung warf sie die Decke von sich und wollte nach den Hausschuhen fischen. Ein Pfotenhieb war die Antwort.
»Welcher Tiger pennt heute auf meinen Patschen?« Ein Blick unters Bett bestätigte den Verdacht: Marlowe, der kampflustigste Kater. Die beiden anderen, Spade und Dr.Watson, waren sicher noch am Schlummern. Berenike war als geborene Städterin froh, wenn die Miezen ihre Nächte im Haus verbrachten. Sie konnten hinter ihrem Kuschelfell den Übeltäter nicht ganz verbergen. Marlowes wachsame grüne Augen zwinkerten. Eine Vernehmungstaktik musste her.
»Na, Süßer, machen wir ein Geschäft?«
Ein weiterer Pfotenhieb war die Folge, diesmal mit mehr Kralleneinsatz.
»Ohne Hausschuhe kann ich auch nicht in der Küche nach deinen Leckerlis suchen.« Sie lachte, musste husten. Es gab nichts zu lachen, erst recht nicht seit dem gestrigen Vorfall.
Von all dem ahnte der rot-weiße Garfield-Verschnitt nichts. Marlowe war ein erfahrener Taktierer. Sie zog die Filzpantoffeln langsam unter dem Tierkörper hervor. Die Katze lief mit vorwurfsvollem Blick davon, setzte sich in einen Sonnenfleck und putzte sich das Fell. Von draußen war das Starten eines Traktors zu hören. »Immer fleißig, gell?« Eine tiefe Männerstimme. Kinderlachen, Vogelstimmen.
Der alte Holzboden knarrte, als hätten die Bretter eine Aussage zu machen, während Berenike aufstand und das Handy einschaltete. Na eben, erst acht vorbei. Im Vorzimmer stieß sie mit dem Fuß gegen irgendein Zeug. Sie erstarrte. Sah sich um, ohne sich zu rühren. Es roch ein wenig komisch, sie atmete flach. Wer weiß, was das wieder war! Sie gewöhnte sich nur langsam an das Landleben. Ein Neuanfang im Alter von 36 Jahren war eben nicht leicht. Das Räucherzeug von letzter Nacht war vor der Kommode liegen geblieben, vielleicht hatten die Katzen damit gespielt. Sie musste sich später darum kümmern. Missetäter identifiziert, über das Urteil musste sie noch nachdenken.
Sie nahm die Butter aus dem Eiskasten und ging ins Bad. Die ätherischen Öle des Duschbads beruhigten Muskeln und Geist. Durch das Wasserpritscheln vernahm sie das Läuten des Telefons. Wahrscheinlich die Polizei. Seis drum, sie hatte aus gutem Grund einen Anrufbeantworter. Noch im Bademantel bereitete sie schwarzen Tee zu, eine Mischung mit dem passenden Namen ›Old English Breakfast‹. Dazu Brot, Butter und hausgemachte Marillenmarmelade von einer Bäuerin in der Nähe. Sie hatte ihre fixen Rituale. Duschen, Teetrinken, Meditation für den Erfolg des Tages. Tee, Cha,čaj– wer hätte früher gedacht, dass sie sich zur Teeliebhaberin entwickeln würde! Ohne literweise Kaffee hatte sie den Tag nicht zu überstehen geglaubt. Hatte jeden müde belächelt, der Dinge von sich gab wie ›Wenn du es eilig hast, gehe langsam‹. Wie sich die Zeiten ändern. Teetrinken war zur Philosophie ihres Lebens geworden. Tee trinken und den Lärm der Welt vergessen.
Während sie wartete, dass das Wasser kochte, drückte sie die Abspieltaste des Anrufbeantworters. »Hallo Berenike«, krächzte die Stimme ihrer Mutter, der Anruf war von gestern. Sie musste später zurückrufen. Danach ein Krachen und Klicken, gefolgt von einem Stöhnen. Aufgelegt. Ging das von vorne los? Sie musste diesem Menschen endgültig den Wind aus den Segeln nehmen.
Kater Marlowe beschattete einstweilen die Butter. Berenike setzte sich und bot ihm ein Stück davon an. Huldvoll schleckte eine raue rosa Zunge das Fett von ihrem Finger.
»Na, Marlowe? Was machen wir mit diesem Fall?« Der Kater enthielt sich der Aussage.
Nach dem Frühstück war es Zeit, ins Lokal zu fahren. Sie legte Wert darauf, pünktlich aufzusperren, die Gäste sollten sich trotz allem auf sie verlassen können. Auf dem Holzbalkon stellte sie sich für einen Moment breitbeinig hin, ließ ihren Atem fließen. Auch und gerade an einem Morgen wie diesem. Die klare Luft war gut, aber kühl. Die Sonne schien, als könnte ihr nie ein Regenschauer dazwischenkommen. In Gedanken versunken sah Berenike zu König Dachstein. Schneefinger bis weit ins Tal. Obwohl bereits Mai war, hatte es kürzlich einen Kälteeinbruch gegeben. Das alpine Klima zeigte sich im Salzkammergut gern launenhaft, das hatte sie lernen müssen. Nach kurzem Überlegen entschied sich Berenike für ihre Hose mit den gelben Sonnenblumen. Sie wickelte sich ihren roten Baumwollschal um den Hals, bevor sie in die Lederjacke schlüpfte. Gelb fördert die Konzentration, Rot die Kreativität– beides würde ihr bei den Recherchen zu den Ereignissen von letzter Nacht helfen. Sie hatte nicht vor, stumm alles hinzunehmen, diesen Fehler würde sie kein zweites Mal machen. Der Polizei war nicht zu trauen, nicht mehr.
Sie schnappte Geldbörse und Handy. Ein Anruf in Abwesenheit, sie tippte auf die Tasten. Nummer unbekannt. Ein Schauer wanderte ihr Rückgrat hinauf, kräuselte ihren Scheitel.
Müde und aufgeregt zugleich verließ Berenike die Wohnung im ersten Stock des alten Hauses und tappte die Holzstiege hinunter. Sie fuhr sich mit den Fingern durch die Haare. Für Styling war wie so oft keine Zeit geblieben. Die Hausbesitzerin kam aus ihrer Küche geschossen. Ein Geruch nach kochender, womöglich überkochender Milch waberte um sie herum. Über ihrem alten Dirndl trug Frau Gasperl eine blaue Arbeitsschürze. Berenike hatte mehrmals ihren Blick erhascht, wie sie ihre Mieterin kritisch beäugte. Die ältere Frau hatte wohl noch nie mit Feng-Shui und dergleichen zu tun gehabt.
›Bisher war mit dem Haus immer alles in bester Ordnung‹, hatte Frau Gasperl angemerkt, als ein asiatischer Fachmann Berenikes neue Wohnung inspiziert hatte. Es war schwer genug gewesen, einen Spezialisten wie ihn ausfindig zu machen, da wollte sie sich ihre Pläne nicht durch Frau Gasperl zunichtemachen lassen. Später hatte sie mit der älteren Dame um eine Buddhastatue gerungen, die Berenike in einer Nische der Treppe aufgestellt hatte. Schließlich sei das hier ein katholisches Haus, hatte die Vermieterin betont. Sie hatten sich auf einen Kompromiss geeinigt: Die Statue kam neben Berenikes Wohnungstür, wo niemand außer ihr und ihren Gästen sie sehen konnte.
»Frau Roither!« Die ältere Frau war beim Sie geblieben, obwohl das in dieser Gegend kaum üblich war. Nur Fremden gegenüber, Sommergästen, deren Aufenthalt nur von kurzer Dauer war, verwendete man die unpersönliche Anrede. Die Einheimischen duzten sich traditionell. Die Vermieterin hatte offenbar noch nicht entschieden, zu welcher Rubrik Berenike gehörte.
»Ich hab gehört, was letzte Nacht in Ihrem Lokal passiert ist! Das muss ja furchtbar sein!« Frau Gasperl hielt sich die Hand vor den Mund, den plötzlich aufgerissenen.
»Ja, das ist– einfach ist es nicht…« Das gestrige Geschehen explodierte wie heiße Sterne in Berenikes Kopf.
»Sie sehen blass aus! Wollen Sie sich einen Moment zu mir setzen?«
»Ich muss arbeiten, Frau Gasperl.« Wie albern sie sich gestern aufgeführt hatte, während die Polizisten mit ihren großen, rauen Händen nach zerbrechlichen Tassen und Kannen gegriffen hatten. Das Geschirr war ihr Kapital, gekauft von jenem dreckigen Geld, das dennoch kein Preis war, kein Preis für…
»Aber ich hätte gerade frischen Kuchen.«
»Danke.« Berenike bemühte sich um ein Lächeln, es schmerzte in den Kieferknochen.
»Ist es wahr, dass…«
»Frau Gasperl, es tut mir leid.« Sie versuchte, sich an der anderen vorbeizudrängen.
»Dass die Finger des Toten…«
»Die Finger, ja…« Berenikes Hände waren die ganze Nacht gegen Dinge geflogen, alles Mögliche war zu Bruch gegangen. Immer wieder hatte sie wie unter Zwang ihre eigenen Hände betrachtet, Hände mit intakten Fingergliedern.
»Schrecklich. So ein Ende. Wer macht so was?«
»Ich muss wirklich los.«
»Natürlich.« Jetzt gab Frau Gasperl die Tür frei. »Sie sind jung, da hat man viel zu tun, jetzt erst recht…« Die ältere Frau biss sich erschrocken auf die Unterlippe. »Ich wünsch Ihnen wirklich nichts Schlechtes!«
»Schon gut.«
Frau Gasperl winkte. Berenike dachte an die Hände des toten Journalisten. Diese Hände, die nie wieder etwas schreiben würden. Finger, die über keine Tasten mehr fliegen würden. Warum die Finger? Und wer…?
Bevor sich das Bild auf ihren Magen übertragen konnte, zog Berenike die Haustür mit dem grün-weißen Fischgrätmuster hinter sich zu. Die Wohnung in dem Holzhaus mit seinem gemauerten Sockel war ein seltener Glücksgriff. Lieber hätte Berenike ein Häuschen für sich allein gehabt, wo ihr niemand nachspionierte. Doch das war ausgeschlossen. Selbst die meisten Wohnungen waren ausschließlich im Eigentum zu vergeben und damit unerschwinglich.
Sie zog den Zippverschluss ihrer Jacke bis oben hin zu. Sie würde hart arbeiten, dann würde es schon aufwärtsgehen, auch finanziell. Sie liebte Altaussee, ihren Salon und die Menschen hier. Auch wenn das tägliche Leben nicht so einfach war, wie sie es sich als Besucherin erträumt hatte. Sie beobachtete Kater Marlowe, wie er ihr vom Balkon aus nachspionierte. Die Miezen hatten über ein Katzentürchen und eine Treppe direkten Zugang zur Wohnung. Dem wenigstens hatte Frau Gasperl gleich zugestimmt, tierlieb, wie sie war. Berenikes Katzen konnten das Türchen mit einem Sender am Halsband öffnen. Seither musste man sich nachts nicht mehr über fremde Katzen im Haus halb zu Tode erschrecken. Die üppigen Balkonblumen tropften noch vom Regen der letzten Nacht, die feuchte Straße glänzte in der Sonne.
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