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Ein Krimi in bester skandinavischer Tradition. Als Rosa aufwacht, liegt ihr Freund blutüberströmt neben ihr. Getötet durch unzählige Messerstiche. Gemeinsam hatten sie am Abend zuvor eine Vernissage in dem kleinen Fischerdorf Kivik an der Ostküste Schonens besucht – doch an alles, was danach geschehen ist, hat sie keinerlei Erinnerung. Niklas Zetterberg und seine Kollegin Emma Steen von der Kripo Malmö zweifeln an der Schuld der Frau. Dann stirbt eine weitere Person, und es wird klar, dass in Kivik ein gefährliches Geheimnis lauert …
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Jesper Lund ist »40 something« und lebt seit einigen Jahren an der deutschen Ostseeküste. Als Unternehmensberater arbeitet er für eines der größten Unternehmen Dänemarks. Er entwickelt Strategien und plant die Zukunft für Unternehmen im gesamten Ostseeraum. Das Schreiben verfolgt ihn seit mehreren Jahrzehnten. Seit 2006 hat er bereits mehr als zwanzig Romane veröffentlicht. »Schwedenlicht« ist nach »Schwedensommer« der zweite Fall mit dem Malmöer Kommissarenpaar Niklas Zetterberg und Emma Steen.
www.jobst-schlennstedt.de
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2023 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: pixabay.com/Marie Sjödin
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer
Lektorat: Hilla Czinczoll
E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-98707-059-4
Originalausgabe
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Es gibt Maler, die die Sonne in einen gelben Fleck verwandeln. Es gibt aber andere, die dank ihrer Kunst und Intelligenz einen gelben Fleck in die Sonne verwandeln können.
Hammerschlag
Vier Jahre zuvor
Die Idee war derart einfach, dass es ihm auch selbst in diesem Moment noch immer unmöglich erschien.
Die unterschwellige Unsicherheit, die er plötzlich verspürte, kam ihm irgendwie absurd vor. Sie hatten sich schließlich penibel vorbereitet, immer wieder alles gedanklich durchgespielt und jede Eventualität mit eingeplant. Keiner von ihnen hatte schon einmal so etwas getan, aber sie fühlten sich trotzdem sicher. Sie hatten bislang nicht geglaubt, dass es schiefgehen könnte. Und auch jetzt, wenn er sich umsah und in die Gesichter der beiden anderen blickte, erkannte er Entschlossenheit und Zuversicht. Keine Spur von Zweifeln. So sollte es sein, waren sie doch nur Statisten, die dafür sorgten, dass alles ganz normal wirkte und niemand überhaupt in Erwägung zog, hier würde ein großer Kunstbetrug stattfinden.
Was sie wohl dachten, wenn sie ihn betrachteten? Vielleicht strahlte er nicht diese innere Ruhe aus, die sie an den Tag legten, aber möglicherweise lag das ganz einfach daran, dass er jünger war als sie. Die beiden waren mit allen Wassern gewaschen, so erschien es ihm zumindest. Und trotzdem war er es, der den Ton angab, der sagte, wie sie vorgehen sollten. Weil schließlich ihm eines Abends die Idee gekommen war. Der Plan, an den er anfangs kaum glauben wollte, an dem er sogar jetzt noch zweifelte.
Sein Blick wanderte weiter durch die Reihen, während vor seinem inneren Auge Bilder der vergangenen Monate vorbeiliefen. Sie waren eine Zweckgemeinschaft. Die meisten von ihnen keine engen Freunde. Menschen, die sich teilweise kaum kannten. Mehr oder weniger stellte jede dieser Personen ein potenzielles Risiko dar. Konnte er ihnen vertrauen? Er hätte es gern allein gemacht oder nur mit der wichtigsten Person an seiner Seite. Aber er hatte sich nicht dagegen wehren können. In Kivik schienen so einige Menschen nur auf den Moment gewartet zu haben, ans große Geld zu gelangen. Völlig egal, auf welche Weise.
Er hatte darauf bestanden, dass sie von Anfang an klar festlegten, wer wie viel vom Kuchen abbekommen sollte. Dass sein Stück dabei am größten sein würde, hatten sie zwar geschluckt, aber er hatte sofort gespürt, dass sie von seinen Vorstellungen alles andere als begeistert waren. Ihre Gemeinschaft stand auf wackeligen Beinen, das wurde ihm in diesem Augenblick erst so richtig bewusst.
Der Mann mit dem Mikrofon ergriff wieder das Wort. Mit seiner tiefen Stimme zog er die Vokale lang, fast wie ein amerikanischer Ringansager, dachte er schmunzelnd. Eindrucksvoll, aber irgendwie auch ein wenig lächerlich angesichts der wenigen Dutzend Anwesenden, die noch dazu in etwas altmodischen Anzügen und mit ernsten Mienen auf die nächste Versteigerung warteten.
Es war so weit, jetzt galt es. Sein Plan stand kurz davor, in die Realität umgesetzt zu werden. Bei dem Gedanken wurde ihm einen Moment regelrecht schwindelig. Würde es ihnen wirklich gelingen, den Preis des Bildes hochzutreiben? Diesen vor Kurzem verstorbenen Künstler, den sie nach sorgfältiger Recherche ausgesucht hatten, auf diese Weise zu pushen?
Dass sie es nicht bei Sotheby’s oder Christie’s, sondern im Auktionsverk in Göteborg versuchten, verstand sich von selbst. Sie hatten es nicht auf die ganz großen Künstler abgesehen, sondern auf diejenigen, die bislang noch unter dem Radar flogen. Sie mussten den Namen des Künstlers groß machen, sodass der Preis für einen echten Arto Kallaste stieg. Und sie besaßen jede Menge Kunstwerke von Kallaste, wenn auch keine echten. Genauer gesagt nicht einmal Fälschungen, sondern in seinem Stil gemalte Bilder. So gut imitiert, dass niemand auf die Idee käme, sie stammten nicht aus seiner Feder. Doch damit Kallastes Kunst überhaupt das Interesse anderer auf sich zog, mussten sie zwingend bei dieser Auktion mitwirken.
Er hob die Hand, um auf das Bild des estnischen Künstlers zu bieten.
Zweihundertfünfzigtausend Kronen. Bei dieser Summe wurde ihm noch schwindeliger. Er beruhigte sich aber schnell wieder. Er tat das Richtige. Schließlich hatten sie wochenlang Erkundigungen angestellt. Über den potenziellen Interessenten und den möglichen Preis, den das Bild erzielen konnte. Ein finnischer Unternehmer, der bereit war, bis zu fünfhunderttausend Kronen auf den Tisch zu legen. Für eine abstrakte Wald- und Seenlandschaft.
Ohne ihn würde der Plan nicht funktionieren.
Sie brauchten jemanden, der ernsthaftes Interesse hatte, dieses Bild zu ersteigern. Dass sie dabei mit verschiedenen Tricks nachgeholfen hatten, würde dieser Mensch niemals erfahren, hoffte er.
Bis zu diesem Betrag würde er ihn also treiben müssen, das hatten sie vorher besprochen. Und falls es weitere Interessenten gab, wäre es ihnen egal, wer den Zuschlag erhielt. Sie würden das Wettbieten genüsslich verfolgen, bis der Hammer dreimal fiel.
Jemand hob die Hand.
Dreihunderttausend Kronen wurden aufgerufen.
Er kannte den Mann mit den dunklen kurzen Haaren nicht. Es handelte sich nicht um den finnischen Unternehmer, da war er sich sicher. Aber meistens schickten solche Leute ohnehin nur Stellvertreter, die über einen Knopf im Ohr mit ihren Auftraggebern verbunden waren und nur als Sprachrohr dienten.
Wieder ließ er seinen Blick schweifen. Außer diesem Mann schien es niemanden im Raum zu geben, der Interesse an dem Bild hatte. Der Hammer fiel zum ersten Mal.
Er hob die Hand.
Vierhunderttausend.
Sein Puls fuhr hoch. Was, wenn er nicht mehr überboten würde? Sie konnten unmöglich so viel Geld für ein Bild auf den Tisch legen, von dem sie sich nur erhofften, dass sie es zu einem guten Preis verkaufen konnten. Es gab keinerlei Garantie.
Er schloss die Augen.
Wieder das dumpfe Pochen des Hammers.
Einmal.
Und ein zweites Mal.
Warum rührte sich dieser Typ mit dem teuren dunklen Anzug und den goldenen Manschettenknöpfen an seinem hellblauen Hemd denn nicht? War ihm das Bild etwa doch nicht mehr wert? Verdammt, so hatte er sich das nicht vorgestellt. Der erste Deal – und gleich ein Desaster, das ihn in den Ruin führte. Alles war vorbei, bevor es richtig begonnen hatte.
Obwohl er die Augen noch immer geschlossen hielt, konnte er den herabrauschenden Hammer förmlich erahnen. Er wollte sich gerade die Ohren zuhalten, als er die Stimme des Auktionators hörte.
»Fünfhunderttausend Kronen sind aufgerufen.«
Er riss die Augen auf und sah sich um. Keiner der anderen verzog eine Miene. Die Spannung im Raum war so groß, dass er Probleme hatte, ruhig sitzen zu bleiben. Dabei musste er jetzt einfach nur noch seine Klappe halten und darauf hoffen, dass die nächsten Schritte ebenfalls nach Plan laufen würden.
Der Hammerschlag dröhnte durch den Raum.
Einmal. Zweimal. Dreimal.
Er atmete tief durch. Das Bild war verkauft. Vollkommen egal, an wen, wichtig war, dass es einen ausreichend hohen Preis gab, um mit Bildern von Arto Kallaste auf dem Markt, auf dem sie aktiv waren, ordentlich Geld zu verdienen.
Die Mienen der anderen entspannten sich, auch wenn noch nichts erreicht war. Erst wenn sie ihren ersten eigenen Kallaste verkauft hatten, würden sie ihren Coup richtig feiern. Aber zumindest anstoßen würden sie heute Abend, wenn sie zurück in Kivik waren. Und aus der zweckgebundenen allmählich eine verschworene Gemeinschaft machen.
Sie würden noch eine Weile hierbleiben, vielleicht sogar bis zur letzten Auktion, um nicht aufzufallen und den Schein zu wahren, dass sie nicht nur wegen Arto Kallaste gekommen waren. Und wenn alles gut verliefe in den kommenden Wochen, würden sie schon bald wieder hier sein und den Wert eines weiteren Künstlers steigern.
Schockstarre
Drei Tage zuvor
Er zitterte. So stark, dass sich seine Finger am Lenkrad versteiften. Nacken und Hals schmerzten vor Anspannung. Er spürte, dass seine Adern auf der Stirn hervortraten. Er war nicht imstande, sich dagegen zu wehren. Es geschah einfach, genau wie damals, als sich sein Leben für immer verändert hatte.
Es war ein warmer Samstagmittag gewesen, den sie wie so oft auf dem kleinen Spielplatz neben der Schule verbracht hatten. Er war auf dem hölzernen Gerüst immer weiter nach oben geklettert und hatte nicht weiter auf seine kleine Schwester geachtet, als sie von der Wippe abgestiegen und Richtung Straße gelaufen war. An diesem Tag war Maja für immer verschwunden.
Er konnte sich jetzt natürlich nicht mehr daran erinnern, denn diesen Augenblick hatte er an einem Ort tief in seinem Unterbewusstsein geparkt und den Schlüssel dorthin noch in dem Moment, als es passiert war, weggeschmissen. Aber seine Eltern und die vielen Psychologen, zu denen man ihn geschickt hatte, hatten all die Jahre kein Blatt vor den Mund genommen und immer und immer wieder mit ihm über den Vorfall gesprochen. So wollten sie erreichen, dass er den Schlüssel wiederfand und die Tür einfach öffnete. Denn er war der einzige Zeuge, nur er konnte etwas beobachtet haben. Vielleicht würde er sich an ein Fahrzeug erinnern, in das Maja gezerrt worden war, hofften sie. Ohne zu ahnen, dass er gar nicht danach suchen wollte. Die Erinnerung an diesen Tag war von ihm höchstpersönlich weggesperrt worden. Und dort, wo er sie abgelegt hatte, war sie gut aufgehoben.
Einen grünen Geländewagen, den hatte er wohl irgendwann erwähnt. Aber mehr falle ihm wirklich nicht ein, hatte er damals gesagt. Das war auch nicht gelogen gewesen. Und ob das mit dem Wagen überhaupt stimmte, dafür konnte er auch nicht seine Hand ins Feuer legen. Der Wagen war ihm ein halbes Jahr nach Majas Verschwinden im Traum erschienen. Ein Traum, der aber nur zum Teil mit dem Vorfall zu tun hatte. Glaubte er jedenfalls, denn wie das mit Träumen eben so war, blieben nur Fetzen übrig, die keinen Sinn ergaben, wenn man aufwachte. Und irgendwie war das Ganze dann zu einem seltsamen Erinnerungsbrei verschmolzen.
Er hatte es aber als ein Zeichen angesehen und seinen Eltern davon erzählt. Natürlich auch, weil sie ihn so sehr bedrängt hatten, sich zu erinnern. Der größte Fehler, den er begehen konnte. Denn die nächsten Wochen hatten sie ihm erst recht keine Ruhe gelassen. Er musste sich Dutzende Bilder und Videos von grünen Geländewagen ansehen, dabei konnte und wollte er sich doch gar nicht erinnern, was damals geschehen war.
Irgendwann hatte er nur noch geschwiegen. Es tat ihm nicht gut, wenn diese Sache immer wieder hochkam. Er hatte sich schon als Jugendlicher eingestehen müssen, dass er allmählich seinen Verstand verlor.
Die ersten beiden Klinikaufenthalte ein paar Jahre später hatten ihm nicht geholfen, ganz im Gegenteil. Die verabreichten Medikamente hatten in seinem Kopf nur noch mehr Brei verursacht. Er hatte eine Zeit lang bedrohlich auf der Kippe gestanden, der Gedanke daran, seiner Schwester einfach dorthin zu folgen, wo sie wahrscheinlich war, war anziehend wie ein starker Magnet gewesen. Aber trotz alledem war er irgendwie halbwegs wieder auf die Beine gekommen.
Seine Eltern dagegen waren zu keiner Zeit eine Stütze gewesen. Majas Verschwinden und die Aussicht, dass sie vielleicht niemals in Erfahrung bringen würden, was ihr zugestoßen war, hatten ihnen so stark zugesetzt, dass ihre Ehe nach ein paar Jahren kaputtgegangen war. Während sein Vater an der Flasche hing und längst die Arbeit verloren hatte, war seine Mutter in krude Verschwörungstheorien abgeglitten. Beide waren verlorene Seelen, am Schicksal ihrer Tochter zerbrochen.
Er versuchte jetzt, seine Atmung zu regulieren und die Erinnerungen an die Vergangenheit beiseitezuschieben. Angestrengt kämpfte er noch immer gegen seinen verkrampften Körper an.
Er schloss die Augen, um sie nach einigen Sekunden wieder zu öffnen. In der vergeblichen Hoffnung, er bilde sich das alles nur ein. Denn das, was er vor sich sah, konnte eigentlich nicht wahr sein. Er kniff sich in die Haut seiner rechten Hand, um sicherzugehen, dass es kein Traum war. Er versuchte, klare Gedanken zu fassen, um auszuschließen, dass seine Psyche verrücktspielte und er sich Dinge einbildete. Aber zweifellos parkte vor diesem Haus der grüne Geländewagen, der ihm damals im Traum erschienen war. Wie aus dem Nichts hatte er ihn plötzlich in Brösarp gesehen und war ihm bis hierher gefolgt.
Sein Kopf schien zu platzen, weil Emotionen in ihm losbrachen, die er seit dem verhängnisvollen Tag vor fast sechzehn Jahren all die Zeit zu unterdrücken versucht hatte. Hinzu kam die Frage, was er nun tun sollte. Denn er war nicht vorbereitet auf diesen Moment. Er hatte keinen Plan. Keine Vorstellung davon, mit wem er es zu tun haben würde.
Überhaupt musste er sich erst einmal aus dieser Schockstarre befreien, in der sich sein Körper befand.
Kopfkino
Oscar Fredriksson fingerte umständlich mit seiner grobschlächtigen Hand in der Dose herum, bis er endlich einen der kleinen Beutel zu fassen bekam. Zufrieden hielt er ihn zwischen Zeigefinger und Daumen seiner rechten Hand und führte ihn unter seine Nase, um einen tiefen Zug zu nehmen. Er roch erdig und malzig. Doch erst im Mund würde der Tabak sein ganzes Aroma entfalten.
Ettan Original – nicht nur der älteste und bekannteste Snus Schwedens und wahrscheinlich der Welt, sondern seiner Meinung nach auch der beste. Nicht zu stark und trotzdem unvergleichbar im Geschmack. Während er den kleinen Beutel zwischen Oberlippe und Zähne schob, atmete er tief durch. Als würde das Nikotin über die Schleimhaut genauso schnell in die Blutbahn gelangen und seine Wirkung entfalten wie ein Schuss. Er kannte den Unterschied nur allzu gut, aber die Abhängigkeit vom Snus war hartnäckiger als alles andere, was er über all die Jahre zu sich genommen hatte. Und das war weiß Gott nicht wenig.
Schon seltsam, dass er sich trotz allem ausgerechnet hier in Kivik niedergelassen hatte. Ganz im Südosten des Landes, wo er doch viel weiter im Norden geboren war und dort in Östersund auch die ersten fünfzehn Jahre seines Lebens verbracht hatte. Skåne im Süden war nicht Schweden, fand er. Für Touristen natürlich schon, aber wer wie er aus Jämtland oder gar Norrbotten stammte, dem war dieser südliche Landstrich nicht rau und einsam genug. Und dennoch kamen mittlerweile auch die Leute von dort, um hier unten ihre Sommerferien zu verbringen.
Er mochte sie alle nicht. Nicht die eigenen Landsleute aus dem Norden und schon gar nicht die ausländischen Touristen, die jedes Jahr in Kivik und ganz Österlen einfielen. Als würde es in Deutschland oder anderswo nicht genauso schöne Orte und Gegenden geben. Solange er lebte, würde er dafür sorgen, dass Kivik nicht zu einer dieser Entdeckungen werden würde, auf die sich Marketingmenschen gern stürzten. Hier sollte alles so bleiben, wie es war. Wenn es nicht längst zu spät war – Investoren oder zumindest Leute, die Profit aus diesem Ort schlagen wollten, waren allgegenwärtig.
Er war nur ein einfacher Mensch. Jemand, der da war, aber den wahrscheinlich niemand vermissen würde, wenn er tot war. Der sich Snus in den Mund schob und trotzdem auch manchmal rauchte. Der gern morgens schon sein erstes Bier trank und abends lieber Wodka. Der sein Geld damit verdiente, ein paar Fische zu angeln und zu verkaufen. Und der manchmal noch ein paar andere Dinge tat, von denen nicht jeder wissen musste.
Fredriksson wusste alles über Kivik. Er kannte jeden hier, und zwar besser, als den Leuten lieb war. So gut, dass sich manch einer sogar vor ihm fürchtete. Denn zu viele Menschen hier hatten nun mal Dreck am Stecken. Nicht so viel wie er – die Sachen, die er mitunter tat, waren längst keine Kavaliersdelikte mehr.
Aber so war das eben. Die Leute hier verpfiffen sich nicht gegenseitig. Egal, ob sie sich mochten oder nicht – und manche hassten sich sogar, wie er wusste –, alle hier hielten zusammen, wenn ein Sturm aufzog. Und der Sturm, der sich am Horizont zusammenbraute, würde sich womöglich zu einem ausgewachsenen Orkan entwickeln. Denn anders ließen sich das Blaulichtgewitter und die ohrenbetäubenden Martinshörner aus der Ortsmitte nicht erklären. Was auch immer in Kivik vorgefallen war, es würde die heile Welt seiner Bewohner nicht nur ins Wanken bringen, sondern sie womöglich für immer zerstören, hatte er das untrügliche Gefühl.
Er spuckte aus und schob den kleinen Beutel noch etwas fester zwischen Oberlippe und Zahnfleisch. Sofort spürte er, dass das Nikotin ihn beruhigte. Das war auch bitter nötig, denn das Adrenalin war vorhin durch seinen Körper geschossen, als er aus der Ferne gesehen hatte, wie die unzähligen Einsatzwagen der Polizei in den Ort gefahren waren. Sein Kopfkino war sofort angesprungen. Schließlich hatte er in den letzten Monaten mehr gesehen, als er eigentlich wissen wollte, so viel, dass er am liebsten einen Schalter in seinem Kopf umgelegt hätte, um das Gesehene wieder zu löschen.
Aber diesen Schalter gab es nicht, und so musste er mit seinen Gedanken und Vermutungen leben. Natürlich würde er mit niemandem darüber reden, so wie es hier in Kivik üblich war. Denn niemand verriet den anderen. Und schon gar nicht an die Polizei. Egal, welche Fragen sie stellen würden, er würde sich an diese eiserne und unausgesprochene Regel halten müssen. Auch wenn es ihm schwerfiel und er sich eigentlich schon längst bei der Polizei hätte melden und dafür sorgen müssen, dass bestimmte Personen aus Kivik zur Rechenschaft gezogen würden. Tief im Innern widerstrebte es ihm, den Mund zu halten, wenn dieses riesige Polizeiaufgebot tatsächlich etwas mit dem zu tun hatte, was er beobachtet hatte.
Aber gut, dann könnte er sein Schweigen zumindest für ihn selbst erträglicher gestalten, fuhr es ihm durch den Kopf. Der Zeitpunkt schien ihm gekommen, auch dieses Wissen so einzusetzen, dass es ihm zugutekam. Er musste ganz einfach nur den Preis bestimmen, den sein Schweigen kostete. Und er musste wissen, wer das größte Interesse daran hatte, dass er schwieg.
Zuvor musste er allerdings sichergehen, dass er richtiglag mit der Vermutung, dass die Lage weiter eskaliert war und heute Morgen offenbar in einem dramatischen Vorfall geendet hatte. Er wusste, was zu tun war. Ein kurzes Gespräch sollte ausreichen, und wenn es glattlief, würde er schon in ein paar Minuten wissen, was geschehen war.
Oscar Fredriksson pulte den Beutel aus seinem Mund hervor und warf ihn ins Hafenbecken. Voller Entschlossenheit spuckte er noch einmal hinterher. Dann wandte er sich um und ging die wenigen Meter hinüber zu dem kleinen Backsteingebäude. Hier würde er mehr erfahren.
Pochen
Sie schwebte in waagerechter Haltung über die Menschen hinweg wie eine Feder. Die Stimmen, das Gelächter und der Klang der aneinanderstoßenden Gläser drangen an ihre Ohren und hinterließen ein Gefühl der Zufriedenheit. Alles war gut, als hätte es die letzten Wochen gar nicht gegeben.
Da unten waren diese ganzen Menschen, von denen sie kaum jemanden leiden konnte. Mit ihren Gin Tonics und Negronis in den Händen. Und den aufgesetzt interessierten Blicken über ihre viel zu weit unten auf der Nase sitzenden Brillen hinweg. Kjell und sie waren niemals Teil von diesem ganzen Theater gewesen, hatten sich immer gefühlt, als stünden sie an der Seitenlinie und sähen ihnen nur zu. Und sie waren sich einig gewesen, dass dies auch so bleiben sollte.
Langsam bewegte sie sich weiter fort. Wie ein Luftschiff, so leise. Kjell lehnte an der Bar und unterhielt sich mit jemandem. Einer Frau, aber sie konnte ihr Gesicht nicht erkennen.
Er lachte. Trank wahrscheinlich zu viel Alkohol, aber das war nach allem, was passiert war, vollkommen verständlich. Und er flirtete!
Konnte das wirklich sein?
Statt einen Blick zu ihr nach oben zu werfen, galt seine Aufmerksamkeit nur dieser Frau mit den dunklen Haaren. Allmählich dämmerte ihr, wer sie war.
Sofort spürte sie, dass ihre Leichtigkeit verschwand. Sie hatte augenblicklich Probleme, ihre Position zu halten. Ob sie einfach direkt auf dem Tresen landen und ihn zur Rede stellen sollte?
Das plötzliche heftige Pochen in ihrem Kopf hielt sie jedoch davon ab. Was zum Teufel geschah hier gerade? Ihr Schädel schien zu explodieren, die Bilder unter ihr verschwommen bis zur Unkenntlichkeit. Es kam ihr beinahe so vor, als würde jemand sie mit einem schweren Gegenstand angreifen. Sie konnte sich nicht mehr halten und fiel.
Im nächsten Moment riss sie die Augen auf. Aber alles um sie herum war auf einmal schwarz. Und sie schwebte nicht mehr, sondern lag. Auf einem Bett. Auf ihrem Bett.
Hektisch tastete sie nach dem Schalter der Nachttischlampe, aber sie hatte Probleme, sich zu orientieren. Und das Hämmern gegen ihre Schädeldecke ließ sie keinen klaren Gedanken mehr fassen.
Sie versuchte, sich zu beruhigen. Verstand allmählich, dass sie nur geträumt hatte. Vom gestrigen Abend, der ihr in diesem Moment viel verschwommener als noch vor ein paar Sekunden erschien. Wie viele Negronis hatte sie bloß getrunken, dass ihr Kopf förmlich zu platzen drohte?
Plötzlich zersplitterte etwas.
Was zum Teufel ging hier vor? Sie malte sich aus, ihr Kopf befände sich in einer Schraubzwinge. Und jemand drehte die Schrauben dieses Folterinstruments so fest, dass die Knochen ihres Schädels barsten.
Die Geräusche wurden immer lauter. Ein nicht auszuhaltender Krach. Licht blendete sie plötzlich. Und Stimmen waren zu hören. Sie schnellte hoch. Und erstarrte sofort.
Männer stürmten ins Haus. Männer in schwarzen Uniformen. Mit schweren Helmen auf den Köpfen und Maschinengewehren im Anschlag. Sie saß einfach regungslos da. Unfähig, das zu tun, was die Männer schrien. Die Arme zu heben und sich zu ergeben. Was wollten sie von ihr? Was geschah hier überhaupt?
Es brauchte Zeit. Denn wie sollte sie das alles begreifen? Wie sollte sie damit klarkommen, dass sich ihr schwer bewaffnete Menschen näherten und ihr befahlen, sitzen zu bleiben und die Arme hochzunehmen? Als wäre sie eine Schwerverbrecherin.
In dem sich mit einem Mal erhellenden Raum sah sie an sich herunter. Überall war Blut. Auf der Bettdecke, auf dem Leinentuch und an ihren Händen. Es war längst nicht überall getrocknet. Zwischen ihren Fingern war es noch feucht. Und es roch. Metallisch, nach Eisen.
Verlor sie allmählich den Verstand? Ihr wurde schwindelig. Vor allem verspürte sie einen Würgereiz, dem sie im nächsten Augenblick nichts mehr entgegenzusetzen hatte. Weil sie nur für den Bruchteil einer Sekunde den Blick nach rechts gewandt hatte.
Zu Kjell.
Er war tot. Daran gab es keinen Zweifel.
Neben ihr lag seine blutüberströmte Leiche, getötet durch unzählige Messerstiche.
Und die Tatwaffe befand sich direkt zwischen ihnen.
Lachs mit Kräuterkruste
Gustaf blickte ihn aus seinen funkelnden grünen Augen an, und längst war Niklas Zetterberg versucht, sich ebenfalls vor ihm aufzubauen und ein für alle Mal die Spielregeln festzulegen. Obwohl er ganz genau wusste, dass es zwecklos war. Gustaf legte es nämlich nur darauf an, sich mit ihm zu messen. Ihn herauszufordern und zu provozieren. Ihn zur Weißglut zu bringen.
Niklas fixierte sein Gegenüber jetzt. Eigentlich war dieser Kater ein schönes Tier. Schwarz bis zu den Krallen, sich anmutig bewegend und durchaus bereit, sich anzuschmiegen. Nur eben nicht an ihn.
Er versuchte, so unauffällig wie nur möglich zu agieren, während er langsam in die Knie ging. Als sie sich schließlich auf Augenhöhe befanden, hatte er das Gefühl, der Kater würde jeden Moment eine giftige Flüssigkeit aus seinen Augen speien. Er konnte sich nicht erinnern, jemals so viel Feindseligkeit bei einem Tier beobachtet zu haben. Gustaf schien wie ein kleines Kind zu sein, das auf einmal versteht, dass das neue Geschwisterchen für immer bleiben wird und es fortan die Aufmerksamkeit der Eltern mit jemandem teilen muss. Bei dem Gedanken an seine eigene Kindheit lächelte er verbittert.
Der Kater machte keinerlei Hehl aus seiner Abneigung gegen ihn.
»Ich sitze am längeren Hebel«, flüsterte Niklas leise. »Wenn du denkst, du könntest dich mit mir anlegen, hast du dich gewaltig geschnitten.« Er fletschte jetzt selbst die Zähne und machte ein Geräusch, das sich anhören sollte wie ein Fauchen oder wenigstens ein Knurren, aber er spürte sofort, dass es erbärmlich klang. Auf jeden Fall nicht wie etwas, wovon sich dieser Kater beeindrucken lassen würde.
Für einen kurzen Moment schüttelte er den Kopf über sich selbst. Was um Himmels willen tat er hier bloß? Doch dann landete vollkommen unvermittelt Gustafs rechte Pfote auf seiner Wange.
Niklas sprang hastig auf und fluchte. Was bildete sich dieser Kater eigentlich ein? Er behandelte ihn wie eine Maus, mit der er seine Spielchen trieb. Dabei gehörte er mittlerweile genauso zum Haushalt wie dieses aggressive und widerspenstige Katzenvieh. Und wenn Emma vielleicht in ein paar Monaten bei ihm einziehen würde, wie sie es bereits besprochen hatten, würde Gustaf sich so etwas nicht noch einmal erlauben dürfen. Andernfalls würde er sein Haus niemals betreten, dafür würde er sorgen.
Niklas wandte sich ab und würdigte seinen Kontrahenten keines Blickes, während er zurück in die Küche ging, wo Emma gerade das Lachsfilet mit der Kräuterkruste aus dem Ofen holte, das er heute Vormittag vorbereitet hatte. Sie lächelte ihn aus dem Augenwinkel an, schien dann aber sofort zu merken, dass er wütend war. Vorsichtig stellte sie das Backblech auf dem Gasherd ab und drehte sich zu Niklas um.
»So kann das nicht weitergehen«, sagte sie schließlich mit ernster Stimme. »Hast du mal in den Spiegel geguckt? Deine Wange ist komplett zerkratzt, du blutest. Ich muss die Wunde reinigen.«
»Was soll ich denn noch machen?«, fragte Niklas und fuhr sich fast schon verzweifelt über seinen kahl geschorenen Kopf. »Gustaf sieht in mir einen Eindringling, einen Feind. Egal, was ich mache, er faucht mich an oder, noch schlimmer, er –«
»Kann es sein, dass es andersherum genauso ist?«, unterbrach Emma ihn. »Seit du das erste Mal meine Wohnung betreten hast, ist Gustaf dir ein Dorn im Auge, das habe ich sofort bemerkt. Und seitdem du hier auch regelmäßig übernachtest, verbringst du mehr Zeit im Clinch mit ihm, als dich um uns zu kümmern. In eurer Abneigung Katzen gegenüber seid ihr, mein Vater und du, euch jedenfalls ziemlich ähnlich. Und ich kann nicht gerade sagen, dass mir diese Seite an dir gefällt.«
»Meine Eltern hatten, als ich Kind war, selbst zwei Katzen. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich mich damals dagegen gewehrt habe, im Gegenteil.«
»Wahrscheinlich, weil du als Kind nicht eifersüchtig auf die Katzen warst«, entgegnete Emma.
»Denkst du ernsthaft, ich habe wegen uns beiden ein Problem mit diesem Tier?«, fragte Niklas ungläubig.
»Das denke ich nicht nur, es ist leider so.« Emma blieb gelassen. »Du kannst froh sein, dass mein bester Kumpel ein Kater ist und nicht ein gut aussehender Blondie mit einer Vorliebe für Wellenreiten und Rockmusik.«
Niklas sah Emma perplex an. So eine Reaktion hatte er nicht erwartet. Augenblicklich fühlte er sich ziemlich peinlich berührt, dass er wegen des Katers derart die Fassung verlor.
Dass es allerdings nicht nur Gustaf war, der seine Nerven momentan strapazierte, wussten beide nur zu gut.
»Du bist also nicht mit mir zusammen, weil ich so außerordentlich attraktiv bin?« Er versuchte, das Ganze ins Humorvolle zu wenden, spürte aber sofort, dass die Situation nur noch unangenehmer für ihn wurde.
»Solange das mit euch beiden nicht besser wird, fällt mir jedenfalls die Vorstellung schwer, dass Gustaf und ich bei dir einziehen«, sagte Emma mit ruhiger Stimme und kümmerte sich wieder um den Lachs, der so gut roch, dass Niklas das Wasser im Mund zusammenlief.
Er ärgerte sich über sein Verhalten. Wie so oft in den vergangenen Wochen spürte er, dass er urlaubsreif war. Noch vier Wochen mussten sie durchhalten, dann würden Emma und er nach Kalifornien fliegen. Weg von Gustaf, dachte Niklas innerlich lächelnd. Verdammt, fuhr es ihm direkt durch den Kopf, konnte er denn an gar nichts anderes mehr denken?
Wie sehr freute er sich auf ihren Roadtrip! Sie hatten alles bis ins kleinste Detail vorbereitet. Drei Wochen lang mit einem Wohnmobil von San Francisco den Highway 1 entlang bis nach Los Angeles, das war der Plan. Dann ins Landesinnere bis nach Las Vegas und an den Grand Canyon. Und wenn die Zeit es zuließ, vielleicht noch in den Yosemite-Park. Für ein paar Wochen raus aus Schweden. Aus Schonen und Malmö, der Stadt, die alles für ihn bedeutete und gleichzeitig auch der Ort war, der ihm beruflich und vor allem privat in den letzten Jahren sehr viel abverlangt hatte.
Der Schatten von Pernille, seiner langjährigen Partnerin, hing über ihm und seiner Beziehung zu Emma wie ein Damoklesschwert. Im letzten Herbst hatte sie sich endlich in eine Klinik in der Nähe von Helsingborg begeben, um ihre schweren Alkoholprobleme behandeln zu lassen. Kurz zuvor war die Situation zwischen Niklas und ihr vollends eskaliert. Sie war ihm eines Morgens auf die Motorhaube gesprungen, als er gerade anfuhr. Wie durch ein Wunder hatte sie sich nicht verletzt und stattdessen ein Taschenmesser gezückt. Wild fuchtelnd war sie damit auf ihn losgegangen, nachdem Niklas aus dem Wagen gehastet war. Es hätte nicht viel gefehlt und sie hätte ihn am Bauch getroffen. Weil sie stark angetrunken gewesen war, hatte sie allerdings das Gleichgewicht verloren und war direkt vor ihm vornüber auf den Asphalt gefallen. Es war der vorläufige traurige Tiefpunkt ihrer psychischen Talfahrt gewesen.
Dass jetzt bereits seit Wochen Ruhe herrschte, obwohl Pernille längst wieder zurück in Malmö war, sorgte bei Niklas allerdings keineswegs für Entspannung. Mit jedem Tag, der verging, ohne dass er etwas von ihr hörte, wuchs seine Sorge, dass sie wie aus dem Nichts wieder vor seinem Haus stehen und ihn anflehen würde, sie hineinzulassen. Oder ihn erneut attackieren würde. Nach allem, was inzwischen passiert war, wollte er sich gar nicht vorstellen, wie die nächste Eskalationsstufe aussehen konnte.
Worüber er jedoch mit niemandem gesprochen hatte, waren die Bilder von Pernille, die ihm regelmäßig erschienen. Es hatte mit beängstigenden Träumen angefangen, aber irgendwann hatte er seine Ex-Partnerin auch bei vollem Bewusstsein vor sich stehen sehen. Egal, ob im Vorgarten, am Küchentisch oder auf dem Beifahrersitz. Sie war ganz plötzlich da und redete sogar mit ihm. Und er antwortete.
Sie sprachen dann ganz normal miteinander, als hätte es all ihre Ausraster nie gegeben. Als wären sie noch immer ein glückliches Paar. Bis sie aus heiterem Himmel plötzlich doch wieder die Fassung verlor und auf ihn losging. In diesen Augenblicken platzte das Bild von ihr vor seinem inneren Auge, und es blieb die bittere Erkenntnis übrig, dass er sie sich nur eingebildet hatte. Zweifellos litt er unter Wahnvorstellungen.
Er hatte gehofft, dass sie irgendwie wieder von selbst verschwinden würden, aber seine Hoffnung war nicht allzu groß gewesen. Im Winter hatte er ernsthaft geglaubt, er würde endgültig den Verstand verlieren. Wie sollte er seinem Job länger nachgehen, wenn er wirklich unter einer Psychose litt? Und wie konnte er die Beziehung mit Emma unter diesen Voraussetzungen noch fortführen?
Seine Verfassung hatte sich schließlich doch wieder gebessert. Je länger er Pernille während ihres Klinikaufenthalts nicht gesehen hatte, desto seltener war sie ihm erschienen. Seine Gedanken waren eine Zeit lang nicht mehr durchgängig von der Angst bestimmt gewesen, dass sie plötzlich auftauchte und ihm das Leben zur Hölle machte. Weder im realen Leben noch in einem dieser verdammten Wahnzustände. Das zu unterscheiden war manchmal ohnehin die größte Herausforderung.
»Kannst du mir mal helfen?«, drang plötzlich Emmas Stimme in sein Ohr.
»Klar.«
»So klar ist das offenbar nicht«, reagierte sie vorwurfsvoll. »Ich habe dich jetzt gerade dreimal fragen müssen, ehe du geantwortet hast. Was ist denn los mit dir?«
»Urlaubsreif«, antwortete Niklas knapp. »Ich kann es kaum noch erwarten, dass unser Trip endlich beginnt.«
»Ich hoffe sehr, dass du dann entspannter bist.«
»Ab dem Augenblick, wenn wir in den Flieger steigen, werde ich –«
Das Klingeln von Emmas Handy, das auf der Arbeitsplatte neben der Kaffeemaschine lag, unterbrach ihn. Er war erleichtert über die Unterbrechung, denn er merkte, wie hilflos seine Versprechungen klangen. »Willst du nicht rangehen?«, fragte er, weil Emma keine Anstalten machte, den Anruf entgegenzunehmen.
»Sehr gerne, wenn du dich dann um den Lachs kümmerst«, antwortete sie genervt.
»Selbstverständlich.« Niklas lächelte, aber Emma verzog keine Miene. Im Grunde verständlich, so fahrig und missgelaunt, wie er sich in den letzten Tagen verhalten hatte.
Er schnappte sich den Pfannenwender und hob das Fischfilet auf einen länglichen Teller, den Emma bereitgestellt hatte, während sie im Hintergrund das Gespräch annahm. Niklas versuchte herauszuhören, wer der Anrufer war und worum es ging, aber sie war sehr kurz angebunden, ihre Antworten bestanden lediglich aus Worten wie »Ja«, »Okay« und »Verstehe«.
Er hatte ein ungutes Gefühl in der Magengegend. So reagierte Emma, wenn jemand eine Hiobsbotschaft überbrachte. Im Laufe der Jahre hatte er ein Gespür dafür entwickelt, wann es ernst wurde. Wann der Augenblick gekommen war, in dem sich eine neue Ermittlung auftat. Weil eine Leiche gefunden worden oder etwas anderes Schlimmes passiert war.
»In Ordnung, machen wir«, sagte Emma schließlich und seufzte schwer. Dann beendete sie das Gespräch und legte das Telefon auf dem Küchentisch ab.
»Klang nicht gut.« Niklas sah sie besorgt an.
»Kann man wohl sagen.« Emma trat an die Arbeitsplatte, zog die Besteckschublade auf und holte zwei Gabeln heraus. »Lass uns den Lachs so schnell wie möglich essen und dann ein paar Sachen zusammenpacken.«
»Das klingt immer schlechter«, sagte Niklas. »Was ist denn los?«
»Wie es aussieht, ein ziemlich brutaler Mord«, antwortete sie. »Die Kollegen aus Simrishamn haben die Leiche eines Mannes gefunden, wohl durch zahlreiche Messerstiche getötet. Eine Frau, wahrscheinlich seine Lebensgefährtin, wurde festgenommen.«
»Und weshalb sollen wir dann dazukommen?«
»Die Frau bestreitet, etwas mit der Sache zu tun zu haben. Ich habe Larsson selten so angespannt reden hören. Er bittet darum, dass wir beide und Reza hinfahren und die Kollegen bei den Ermittlungen unterstützen.«
Jetzt seufzte auch Niklas. Es war Samstagmittag, in einer Woche würde das ganze Land Midsommar feiern, ein durch und durch unpassender Zeitpunkt für solch einen Anruf. Vor allem aber war er überarbeitet und seine Laune seit geraumer Zeit ohnehin schon im Keller. Mit den Gedanken war er längst in Kalifornien – eine womöglich schwierige Mordermittlung, die sogar seinen sonst so gelassenen Chef in Sorge versetzte, war nun wirklich das Allerletzte, was er aktuell gebrauchen konnte. »Wir wollten heute Abend doch ins Kino«, sagte er.
»Daraus dürfte nichts werden. Wir sollten lieber Kulturbeutel und frische Wäsche einpacken, wer weiß, wie lange wir dort bleiben müssen.«
»Wohin geht’s denn überhaupt?«
»Wir fahren nach Kivik.«
Niklas blieb das Stück Lachs, das er gerade im Mund hatte, augenblicklich im Halse stecken. Hatte er wirklich richtig gehört? Sie würden nach Kivik fahren? Nach Österlen ganz im Osten von Schonen, in den Ort, in dem seine Eltern seit vielen Jahren lebten? Vorsichtig schluckte er den Fisch hinunter, dann atmete er tief durch.
Ausgerechnet Kivik.
Ausgerechnet seine Eltern.
Ein weiterer Grund zu hoffen, dass diese Angelegenheit sich so schnell wie möglich aufklärte. Am besten noch im Laufe dieses Tages.
Schwedische Toskana
Niklas war vor zweiundvierzig Jahren in Schonen geboren worden und hier im Süden des Landes aufgewachsen. Er hatte niemals mehr als drei Wochen am Stück an einem anderen Ort verbracht, geschweige denn im Ausland. Ein paarmal waren seine Eltern mit ihm für eine Woche nach Italien verreist, im Winter auch nach Österreich. Und mit Pernille hatte er vor fast zehn Jahren eine Woche in einer Finca auf Mallorca verbracht, auch ein paar Städtetrips nach London, Amsterdam und Hamburg hatten sie unternommen. Aber über eine längere Zeit hatte er Schonen niemals verlassen.
Dieser Landstrich war einfach seine Heimat. Hier fühlte er sich wohl. Und hier kannte er nicht nur die größeren Städte wie Malmö, Helsingborg und Lund wie seine Westentasche, sondern vor allem auch die vielen kleinen Dörfer, umrahmt von weitläufigen Feldern, und die endlosen Küstenabschnitte.
Schonen war anders als der Rest Schwedens. Alles hier war weit weniger schroff als im Norden. Aber auch weniger bewaldet als die Landschaften in der Nähe der großen Seen. Irgendwo hatte er mal gelesen, Schonen ähnele der Toskana. So schmeichelhaft das auch klang, er konnte diesem Vergleich wenig abgewinnen. Schonen war einfach einzigartig. Am ehesten ähnelte die Landschaft rund um den Öresund vielleicht dem Norden Deutschlands.
Die Region Österlen ganz im Osten stach trotzdem noch einmal hervor. Mit ganz viel Phantasie erinnerte sie Niklas tatsächlich ein wenig an die Toskana. Hier war alles etwas sanfter und hügeliger, die Strände noch feiner und die Fischerdörfer noch pittoresker. Das Klima war mild, es gab sogar Weinberge. Und vor allem Apfelplantagen – überall in Österlen wuchsen Äpfel. In Kivik fand mit dem Apfelmarkt das größte Apfelfest Europas statt.