Schwedensommer - Jesper Lund - E-Book

Schwedensommer E-Book

Jesper Lund

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Beschreibung

Südschweden von seiner mörderischen Seite. An einem Spätsommermorgen wird ein Toter nahe der Öresundbrücke an der Küste Malmös gefunden. Der landesweit bekannte Reeder war einer der reichsten Männer Schwedens. Kriminalkommissar Niklas Zetterberg und seine Kollegin Emma Steen finden schnell heraus, dass der Unternehmer von einer Aktivistengruppe bedroht wurde. Doch sie stochern im Nebel – bis die Ergebnisse aus der Rechtsmedizin eintreffen: ein Schock für die Beamten. Langsam dämmert dem Team die Tragweite des Falles …

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Jesper Lund ist »40 something« und lebt seit einigen Jahren an der deutschen Ostseeküste. Als Berater arbeitet er für eines der größten Unternehmen Dänemarks. Er entwickelt Strategien und plant die Zukunft von Häfen im Nord- und Ostseeraum. Als Ausgleich dazu schreibt er Kriminalgeschichten. Seit 2006 hat er bereits mehr als zwanzig Romane veröffentlicht.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2021 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: istockphoto.com/Martin Wahlborg

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer

Lektorat: Hilla Czinczoll

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-726-2

Originalausgabe

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Das Leben ist im Prinzip eine Tragödie und keine Komödie.

Fünfhunderttausend Kronen

Sechs Jahre zuvor

Als er den ersten Blitz wahrnahm, ging er panisch vor Schreck in die Knie. Weitere folgten binnen wenigen Sekunden. Sie rasten wie Geschosse an ihm vorbei. Er krümmte sich am Boden und versuchte sich in Sicherheit zu bringen. Aber er musste vorsichtig sein, denn zur anderen Seite sah er in einen tiefen schwarzen Abgrund hinunter.

Schlimmer noch als die furchteinflößenden Blitze war allerdings das alles durchdringende Dröhnen. Es wurde immer lauter und würde ihn überrollen, wenn er nichts dagegen unternahm.

Er drehte sich zu allen Seiten, hielt sich vergeblich die Ohren zu. Die Geräusche kamen immer näher. Waren jetzt nur noch Zentimeter entfernt.

Sein Kopf drohte zu zerplatzen. Was auch immer es war, es würde ihn töten. Daran hatte er keinen Zweifel mehr. Jetzt hörte er sich selbst laut schreien. Als hätte das Bewusstsein seinen Körper längst verlassen. Wie ein grauenhafter Ruf um Hilfe, die nicht kommen würde.

Verzweifelt presste er beide Hände gegen seine Schädeldecke. So stark, dass der Schmerz für einen kurzen Augenblick nachließ. Aber dann kam er zurück. Mit voller Wucht. Bis sein Kopf schließlich explodierte.

Als die Welt um ihn herum eine ganze Weile später allmählich wieder klarer wurde, hatten die Schmerzen tatsächlich etwas nachgelassen. Das dumpfe Dröhnen war zwar noch immer in der Ferne zu hören, aber es fühlte sich nicht mehr ganz so bedrohlich an. Und erstaunlicherweise schien er noch am Leben zu sein.

Stück für Stück kämpften sich die Erinnerungen an die vergangenen Stunden zurück an die Oberfläche. An die letzten Tage und Wochen. An all die Jahre seines Verfalls. Und an das, was sie ihm damals angetan hatten.

Fünfhunderttausend Kronen.

Diesen Betrag würde er niemals vergessen. Er sollte auf seinem Grabstein stehen, dachte er. Wie ein Mahnmal.

Er musste lächeln. Ein bitteres Lächeln.

Das war alles gewesen. Und er hatte sich darauf eingelassen. Oder besser gesagt, darauf einlassen müssen. Weil sie ihm gedroht hatten. Weil sie einfach vor nichts zurückgescheut hatten.

In den letzten zweiundsiebzig Stunden hatte er die letzten fünfzigtausend Kronen, die er jahrelang in einer kleinen Schachtel in seinem Toilettenkasten aufbewahrt hatte, auf den Kopf gehauen. Für Glücksspiel, Alkohol, Drogen und Schmerztabletten. So viel Wodka, dass er sich an weite Teile der letzten Tage niemals mehr erinnern würde. So viel hartes Zeug, dass er geglaubt hatte, er müsse sterben. Weil er es gewollt hatte. Da waren diese Schmerzen gewesen. Das Dröhnen in seinem Kopf. Die Angst, jeden Moment endgültig in den Abgrund gerissen zu werden.

Es fiel ihm schwer, wieder auf die Beine zu kommen. Um ihn herum war es dunkel. Aus dem Augenwinkel erkannte er einzelne Lichter, die an ihm vorbeiflogen.

Er lebte. Daran bestand kein Zweifel. Er hatte den Kampf mit dem Tod gewonnen. Obwohl »gewonnen« wohl das falsche Wort war. Denn wofür Sieg oder Niederlage standen, wusste er schon lange nicht mehr. Leben oder Tod, es war ihm egal. Er hatte den Tod nicht nur in Kauf genommen, er hatte ihn herausgefordert.

Vorsichtig drehte er sich um. Seine Augen gewöhnten sich nur langsam an die Dunkelheit. Als er schließlich jedoch verstand, wo er sich befand, huschte für einen Moment sogar ein Lächeln über seine Lippen. Die Blitze und das Dröhnen waren noch immer da. Es war real. Keine Einbildung. Keine tödlichen Dämonen, die über ihn herfallen wollten.

Es war der nächtliche Verkehr zwischen Kopenhagen und Malmö, der direkt vor ihm vorbeirollte. Überall Autos und Lastwagen. Motorengeräusche und grelle Scheinwerfer. Er stand mitten auf der Öresundbrücke. Und er hatte nicht den Hauch einer Ahnung, wie er hierhergekommen war.

Er harrte noch eine ganze Weile am Brückengeländer aus und blickte abwechselnd auf das Meer unter ihm und auf die Fahrzeuge, die an ihm vorbeirasten. Längst spürte er, dass diese Nacht ihn verändern würde. Da der Tod ihn nicht zu sich holte, obwohl er jahrelang alles dafür gegeben hatte, würde er sich dem Leben eben stellen müssen. Ob er wollte oder nicht.

Und um dieses Leben erträglich zu machen, musste er endlich das tun, wozu er die ganzen Jahre nicht fähig gewesen war.

Sich zurückholen, was ihm gehörte.

Und Rache nehmen.

Er hatte noch keine Ahnung, wie er es anstellen sollte, aber in diesem Moment fasste er einen Entschluss. Weil er dem Tod bereits ins Auge gesehen hatte, fürchtete er sich nicht, bis ans Äußerste zu gehen.

Elchbraten

Staffan Hedman drückte den Knopf zu seiner Linken und wartete, bis das Fenster seines Vierzigtonners heruntergefahren war. Dann erst zündete er sich die Zigarette an. Er war irgendwann gestern Mittag in den Niederlanden gestartet, hatte endlos in einem Stau bei Bremen gestanden und freute sich jetzt einfach nur darauf, seine Frau und den Kleinen zu sehen.

Als er Sekunden später aus dem Tunnel heraus über die lang gezogene Rampe auf die Öresundbrücke zusteuerte und die Lichter Kopenhagens in seinem Rückspiegel kaum noch zu sehen waren, zeigte die Uhr in seinem Cockpit bereits fünf nach zwölf. Kurz nach Mitternacht.

Noch knapp dreihundert Kilometer bis Göteborg, seinem Zuhause, wo er geboren war und hoffentlich auch sterben würde. Aber die Fahrerei fiel ihm zunehmend schwer. Jede Woche dieselbe Tour. Seit einigen Jahren in immer schnelleren Frequenzen. Zu immer unmenschlicheren Zeiten. Und natürlich wurde er auch nicht jünger. Die Situationen, in denen ihm die Augen vor Müdigkeit für einen kurzen Moment zufielen, häuften sich.

Der Anblick der Brücke sorgte allerdings wie immer für ein wohliges Gefühl von Heimat. Der letzte Meilenstein sozusagen, bevor er mit seinem Lkw wieder schwedischen Boden berührte. Meistens fielen ihm die letzten Kilometer vergleichsweise leicht, aber heute war es anders. Er fühlte sich müde und erschöpft und freute sich auf ein paar freie Tage und vor allem den Urlaub im Herbst, aber bis dahin lagen noch einige harte Wochen vor ihm.

Am liebsten hätte er einen Halt gemacht. Um sich die Beine zu vertreten und vielleicht noch einen Kaffee aus seiner Thermoskanne mit nächtlichem Blick auf den Öresund zu trinken. Aber ihm lief die Zeit davon, er musste seine Ladung spätestens um vier Uhr am Morgen in Göteborg abgeliefert haben.

Obwohl Staffan die Brücke schon hunderte Male passiert hatte, faszinierte ihn ihr Anblick immer wieder aufs Neue. In der Dunkelheit irritierte ihn jedoch das Wechselspiel aus Laternen und unbeleuchteten Abschnitten. Durch seine müden Augen verschwamm die Welt um ihn herum.

Die Fahrt bis zum schwedischen Festland kam ihm heute endlos vor. Nur die Gedanken an Anne und Frederik hielten ihn noch wach. Und natürlich die Vorstellung vom Geruch des Elchbratens, den seine Frau vorbereitet hatte.

Er kniff seine Augen zusammen, um die Konturen der Straße besser erkennen zu können. Die Rücklichter eines vor ihm fahrenden Autos waren mittlerweile so weit entfernt, dass er sie nur noch erahnen konnte. Er befand sich jetzt am Scheitelpunkt der Brücke. Durch die große Windschutzscheibe sah er eines der riesigen Frachtschiffe, das sich von Süden der Brücke näherte. Wahrscheinlich würde es den Hafen in Malmö ansteuern.

Staffan hatte seinen Blick einen Moment zu lange von der Straße abgewendet. Das dunkle Hindernis auf dem schmalen Standstreifen erkannte er so spät, dass er reflexartig das Steuer nach links riss. Geistesgegenwärtig schnippte er die Zigarette aus dem Fenster. Sofort merkte er, dass sein Auflieger ins Schlingern geriet. Wenn er nicht direkt wieder die Kontrolle über seinen Lastwagen gewann, würde die Ladung verrutschen.

Staffan steuerte heftig dagegen. Tatsächlich gelang es ihm, den Lkw nach einigen Sekunden wieder zu stabilisieren. Er spürte, dass sich sein Herzschlag genauso schnell beruhigte, wie er sich beschleunigt hatte. Ein kurzer Blick in den Seitenspiegel, um sich zu vergewissern, dass das Auto auf dem Standstreifen nah genug am Brückengeländer parkte, sodass er es gar nicht gerammt hätte, wenn er einfach weitergefahren wäre.

Ein jäher Schreck durchfuhr ihn.

Seine Augen blieben an einem schwarzen Schatten in der Nacht hängen. Was zum Teufel tat diese Person dort? Sie hievte offenbar etwas Großes und Schweres über das Brückengeländer. Wieder schnellte Staffans Puls hoch. Ihn überkam ein Gefühl, das er nicht kannte. Eine Mischung aus Hilflosigkeit und Panik.

Aufzug nach unten

Der orange Feuerball schwebte über der Stadt auf der anderen Seite des Öresunds. Vielleicht würde er heute nicht einfach nur untergehen, sondern über Seeland abstürzen. Direkt über Kopenhagen. Lennart Fogelklou lächelte bei diesem Gedanken.

Er stand vor den bodentiefen Fensterscheiben in seinem Büro und blickte nachdenklich auf die Meerenge zwischen Schweden und Dänemark. Ein Containerschiff passierte gerade die Öresundbrücke. Der weiße Rumpf mit dem grün-weißen Reederei-Schriftzug »FoCo« funkelte in der untergehenden Sonne. Es war eines seiner Schiffe. Eines der neuesten, das sich gerade auf Probefahrt befand.

Seine Flotte war in den vergangenen Jahren immer schneller gewachsen. Es gab Momente, in denen Fogelklou regelrecht schwindelig ob dieser Entwicklung wurde. Denn die Verantwortung für das Unternehmen, das er einst mit gerade einmal zwei alten Seelenverkäufern begonnen und bis heute zu einer der größten Reedereien Nordeuropas ausgebaut hatte, lastete weitgehend allein auf seinen Schultern. Und das in Zeiten, in denen die Welt da draußen immer unberechenbarer wurde. Der Wettbewerb längst global und die Bandagen, mit denen gekämpft wurde, von Tag zu Tag härter. Dass seine größten Konkurrenten auch noch ausgerechnet aus der Stadt auf der anderen Seite des Öresunds stammten, ließ ihn bitter lächeln.

Lennart Fogelklou seufzte bei dem Gedanken daran, wie vergleichsweise einfach das Geschäft noch vor zwanzig Jahren gewesen war. Er hatte die Reederei gemeinsam mit seinem Bruder in einem Wahnsinnstempo weiterentwickelt. Sie hatten sich jeden Tag neu erfunden. Und sich hemdsärmelig jede Krone mit Schweiß verdient und sofort wieder investiert.

Die ersten Jahre waren wohl die schönsten gewesen. Risiko und Einsatz waren noch überschaubar, dafür hatten sie jeden noch so kleinen Erfolg ausgiebig gefeiert und das Leben in vollen Zügen genossen. Kein Nachtclub Malmös war vor ihnen sicher. Alles war viel leichter gewesen.

Es hatte diesen einen Wendepunkt in seinem Leben gegeben. Das war der Moment gewesen, als sein Bruder ihm vollkommen unvermittelt offenbart hatte, Schweden zu verlassen und nach Berlin zu ziehen. Er hatte sich in eine deutsche Journalistin verliebt, die eine Reportage über ihn und das Unternehmen gedreht hatte. Über die Geschichte zweier Brüder aus Malmö, die mit viel Risiko und guten Ideen eine der größten Erfolgsstorys Schwedens geschrieben hatten.

Sie hatten nie im Detail darüber gesprochen, aber Lennart hatte immer Zweifel daran gehabt, dass dies tatsächlich der Grund für seinen Bruder gewesen war, seine Zelte in Schweden abzubrechen. Er vermutete vielmehr, dass es mit Inger zu tun hatte.

Einige Monate lang hatten sie noch versucht, die Reederei trotz der Entfernung gemeinsam zu führen, aber schließlich war sein Bruder komplett aus dem Unternehmen ausgestiegen. Er hatte sich gegen die Karriere und das Geld entschieden. Und den alltäglichen Wahnsinn, den das Business in der Schifffahrt mit sich brachte.

Fortan war Lennart Fogelklou auf sich allein gestellt gewesen. Er hatte noch härter arbeiten müssen als zuvor, hatte sein Leben und die Arbeit einzig dem Wachstum der Firma verschrieben. Getrieben von der Aussicht auf mehr Macht und Einfluss und von dem wachsenden Druck, das Erreichte zu verteidigen, war er skrupelloser geworden.

Als er vor zehn Jahren Camilla kennengelernt hatte, war er bereits Mitte vierzig gewesen und hatte die Vorstellung, jemals eine Familie zu gründen, eigentlich längst aufgegeben. Aber auf einmal war alles anders gekommen. Camilla und er hatten in kurzer Zeit zwei Kinder bekommen – sein ganzes Privatleben war nicht nur dadurch von einem auf den anderen Moment auf den Kopf gestellt worden.

Nicht dass es ihm nicht gefallen hätte, Vater zu sein und die Gewissheit zu haben, dass eines Tages der Nachfolger für die Reederei aus der eigenen Familie käme. Aber gerade zu dieser Zeit hatte die Leitung der Reederei ihm immer mehr abverlangt.

Er hatte eingesehen, dass er auf Menschen angewiesen war, denen er vertrauen musste. Um sich selbst zu entlasten, hatte er seine jüngere Schwester ins Unternehmen geholt. Damals die beste Entscheidung, die er nach dem Weggang seines Bruders treffen konnte. Mit Johan Sjögren und Björn Källman hatte er zudem zwei langjährige Mitarbeiter zu Geschäftsführern gemacht, auch wenn sie kaum eigene Entscheidungsbefugnisse besaßen. Loszulassen fiel ihm nach wie vor schwer.

Trotz oder womöglich wegen des rasanten Wachstums der Reederei hatte sich die finanzielle Situation in den vergangenen Jahren immer weiter verschärft. Nachdem die Zinsen ins Bodenlose gefallen waren, hatte er mehr Schiffe zum Neubau in Auftrag gegeben. Und das, obwohl der Markt schon lange übersättigt und kaum noch Geld zu verdienen war. Das Rad hatte sich immer schneller gedreht. Baute die Konkurrenz ein Schiff, zog er mit zwei Neubauten nach.

Wie es um die Finanzen stand, wusste nur er. Die Situation war nicht dramatisch, aber längst schwierig. Noch reichte das Geld, aber im Grunde musste ein Wunder geschehen, um das familiengeführte Unternehmen mittelfristig vor der Insolvenz zu retten. Und dieses Wunder war womöglich zum Greifen nahe.

Lennart Fogelklou musste an das Meeting nächsten Dienstag denken. Es war schon zweimal verschoben worden. Es ging um ein Paket, dessen Volumen ihn womöglich dauerhaft rettete. Einen Deal mit einem südkoreanischen Partner, der vielleicht alles verändern würde. Nur traute er dem Braten schlichtweg noch nicht.

Zu viele merkwürdige Dinge waren in den letzten Wochen passiert. Und damit meinte er nicht einmal die seltsamen Drohungen, die ihn erreicht hatten. Vielmehr irritierten ihn die bisherigen, wenig aufschlussreichen Treffen mit den Mittelsmännern der Südkoreaner. Und vor allem die immer neuen Forderungen und Bedingungen. Von Woche zu Woche war der Deal unattraktiver für ihn geworden. Und trotzdem war er wahrscheinlich nicht in der Position, ihn abzulehnen. Er brauchte ihn. Für die Zukunft der Reederei.

Lennart Fogelklou wandte sich vom Fenster ab und schnappte sich seine Ledertasche, die er auf dem Schreibtisch abgelegt hatte. Camilla hatte ihn gebeten, heute früher nach Hause zu kommen. Die Schultheateraufführung von Gustav stand an, er sollte hingehen, weil Camilla einen Kurs an der Volkshochschule hatte, den sie nicht absagen konnte.

Bei dem Gedanken daran schmunzelte er. Er würde den heutigen Abend also tatsächlich in der Aula der Schule seines Sohnes mit Dutzenden anderer Eltern verbringen. Hätte ihm das jemand vor zehn Jahren gesagt, hätte er denjenigen wohl für verrückt erklärt. Immerhin war er einer der bekanntesten Menschen in Malmö. Und in ganz Schonen. Er vermied es seit einigen Jahren eigentlich komplett, sich in der Öffentlichkeit zu zeigen.

Nicht einmal wenn es um die Reederei ging, zog es ihn vor die Kameras. Er hasste es, sein Gesicht in der Zeitung oder im Fernsehen zu sehen. Die Journalisten wollten nichts Positives über ihn und sein Unternehmen berichten, sie wollten nur im Dreck wühlen, um irgendetwas zu finden, aus dem sie einen Skandal stricken konnten. Diese Ansicht hatte sich bei ihm verfestigt.

Lennart Fogelklou schloss die Tür seines Büros hinter sich und betrat den kleinen Aufzug, der sich direkt gegenüber befand und nur ihm zur Verfügung stand. Er hatte es nie gemocht, mit anderen Menschen gemeinsam im Fahrstuhl zu fahren. Erst recht nicht mit seinen eigenen Mitarbeitern, um mit ihnen womöglich noch unangenehme Gespräche führen zu müssen. Es gab nicht wenige im Unternehmen, die ihn für unnahbar hielten. Oder arrogant. Aber damit konnte er gut leben. Er wollte nicht gemocht werden. Es war ihm egal, was andere über ihn dachten. Da sie ihn nicht kannten, konnten sie sich ohnehin keine Meinung über ihn bilden. Zumindest keine, die der Wahrheit entsprach.

Während sich der Aufzug langsam in Bewegung setzte, dachte er an Inger. Es gab nicht viele Menschen, die überhaupt etwas über ihn wussten und denen er vertrauen konnte, weder in seinem privaten Umfeld noch innerhalb der Reederei. Aber Inger gehörte definitiv zu diesen Menschen. Sie war seit fast zwanzig Jahren seine Sekretärin. Die einzige Person, die den Aufstieg des Unternehmens und alles, was damit einhergegangen war, miterlebt hatte. Sie sprachen nicht viel miteinander, verstanden sich meist blind. Inger hielt ihm den Rücken frei und organisierte ihn. Und er hatte sich immer darauf verlassen können, dass sie es in seinem Sinne tat. Aber jetzt war sie bereits seit einem knappen Monat krankgeschrieben. Schon länger hatte sie sich nicht gut gefühlt. Etwas Psychosomatisches, vermutete Fogelklou.

Er vermisste sie, vor allem an Tagen wie heute. Sie hätte ihm mit Sicherheit ein wichtiges Geschäftsessen arrangiert, sodass er eine Ausrede gehabt hätte, um nicht zu diesem Schultheater gehen zu müssen.

Der Fahrstuhl stoppte sanft, als er in der Tiefgarage angekommen war. In den ersten Jahren nachdem sie hier im Universitätsviertel ihre Büros bezogen hatten, hatte er seinen Porsche direkt vor dem modernen Gebäudekomplex geparkt. Auf dem Parkplatz, der nur für ihn vorgesehen war.

Im Laufe der Zeit war er allerdings immer vorsichtiger geworden. Die Neider waren allgegenwärtig. Er musste ihnen nicht noch zusätzliches Futter liefern, indem er seinen Zwei-Millionen-Kronen-Wagen direkt vor ihrer Nase abstellte. Überhaupt fuhr er den Porsche nicht, um damit anzugeben, sondern schlichtweg, weil er ihn sich leisten konnte und schon als Jugendlicher davon geträumt hatte, eines Tages einen 911er Turbo zu fahren.

Was nahm er nicht alles auf sich, um sein Leben so anonym wie möglich zu führen, durchfuhr es ihn. Er konnte Tiefgaragen nämlich nicht ausstehen. Unübersichtlich. Bedrückend. Voller Abgase. Es waren Angsträume. Aber wenn er ganz ehrlich war, musste er sich eingestehen, dass er das gesamte Gebäude nicht sonderlich mochte. Es war zweifellos funktional. Aber im Grunde steril und ohne jeden Charme. Kein Vergleich zu den alten Büroräumen in der Innenstadt in der Nähe des Lilla Torg.

Gut, das neue Gebäude passte in diese Zeit. Das Kühle war Ausdruck dessen, wie das Business heutzutage nun mal lief. Und außerdem war er ja derjenige gewesen, der den Bau des neuen Hauptsitzes vorangetrieben hatte, weil er der Reederei etwas Modernes verleihen und zeigen wollte, dass sie mit den ganz Großen der Branche mitspielen konnten.

Sein Wagen stand ganz hinten rechts in der Ecke. Ein überbreiter Parkplatz. Dafür hatte er gesorgt. Wenn er schon nicht vor dem Gebäude parkte, wollte er immerhin hier unten ausreichend Platz haben.

Aus der Ferne nahm Fogelklou das Quietschen von Reifen auf dem Estrichboden des Parkhauses wahr. Einige Sekunden später bog ein älterer Mercedes um die Ecke und kam langsam auf ihn zugefahren. Die Scheinwerfer blendeten ihn, sodass er sich abwendete und weiter in Richtung seines Wagens ging.

Aus dem Augenwinkel erkannte er im nächsten Moment, dass aus dem Treppenaufgang in der Mitte des Parkhauses, das ausschließlich von den Mitarbeitern des Bürokomplexes genutzt wurde, eine männliche Person trat. Erfolglos versuchte er, das Gesicht einzuordnen.

Fogelklou schloss mit dem Funkschlüssel seinen Porsche auf, verharrte dann allerdings noch einmal. Irgendetwas stimmte hier nicht, war er sich plötzlich sicher. Diesen Mann – er hatte ihn irgendwo doch schon einmal gesehen. Und das war definitiv vor einigen Tagen hier im Haus gewesen. Im Foyer, wo er sich eigentlich nur selten aufhielt. Aber an diesem Tag hatte er sich mit einem wichtigen Geschäftspartner aus Helsingborg unten in dem Café im Erdgeschoss getroffen, das vor einigen Tagen neu eröffnet hatte.

Fogelklou fuhr herum. Der Mercedes näherte sich. Als er den Fahrer erkannte, zuckte er zusammen. Denn auch diesen Mann hatte er schon einmal gesehen. Und zwar gemeinsam mit dem anderen Mann im Café des Foyers. Oder besser gesagt außerhalb davon. Denn die beiden hatten die großen Fensterscheiben geputzt.

Es war nur der Bruchteil einer Sekunde, dass er dem Fahrer in die Augen sah, aber lange genug, um zu verstehen, dass hier etwas vor sich ging, das er nicht verstand, ihn aber mit einem Mal panisch werden ließ.

Sein Auto war nur noch wenige Meter entfernt. Der Mann, der aus Richtung Treppenhaus kam, hatte längst gemerkt, dass Fogelklou ihn erkannt hatte. Der dunkel Gekleidete beschleunigte seinen Schritt, bis er schließlich losrannte. Im nächsten Moment hielt der Mercedes direkt vor Fogelklou an. Die Fahrertür öffnete sich augenblicklich. Der andere Fensterputzer zückte eine Waffe und richtete sie auf ihn.

Lennart Fogelklou erstarrte. Dutzende Bilder aus den letzten Monaten fuhren ihm durch den Kopf. Seine Frau. Und die Kinder. Seine Geschwister. Malmö. Das Geschäft. Die Drohungen. Die Konkurrenz aus Kopenhagen. Und natürlich die Südkoreaner. Etwas war aus dem Ruder gelaufen, das ahnte er schon seit Langem. Und jetzt, hier in der Tiefgarage seines Unternehmens, zog sich die Schlinge um seinen Hals tatsächlich zu.

Feuer und Eis

Es lag gewittriger Regen in der Luft. Isabelle glaubte, ihn regelrecht riechen zu können. Obwohl sie natürlich wusste, dass es kein bestimmter Geruch war, der ihn ankündigte, sondern vielmehr die Veränderung des Luftdrucks. Und der Zug der Wolken, die den Regen mit sich trugen. Noch waren sie weit genug entfernt. Und dennoch kam es ihr so vor, als spürte sie die Wassertropfen bereits auf ihrer nackten Haut.

Und dann war da noch dieses Geräusch. Das leise Donnern, das allmählich näher kam. Bedächtig ging sie über die Holzbohlen des Ribersborgs Kallbadhus. Seitdem sie vor zwei Jahren zum ersten Mal hier in diesem eindrucksvollen Badehaus direkt am Meer in der Sauna und anschließend schwimmen gewesen war, hatte Isabelle daraus ein wöchentliches Ritual gemacht. Sie hatte keine feste Zeit, richtete sich stattdessen meistens nach ihren Vorlesungen an der Malmö universitet. Manchmal ging sie am Abend saunieren, vor allem in den Wintermonaten. Im Sommer aber auch gern ganz früh morgens, so wie heute.

Wie so oft um diese Zeit war sie ganz allein hier. Nicht dass es ihr etwas ausmachte, wenn jemand sie nackt sah. Es waren mehr die anderen Körper, mit denen sie sich schwertat. Denn unweigerlich musste sie jeden Frauen- und Männerkörper, der ihr hier über den Weg lief, genauer unter die Lupe nehmen. Wie einen grauenhaften Autounfall, an dem man als Unbeteiligter vorbeifuhr und seinen Hals reckte, um zu gaffen, anstatt einfach wegzusehen. Auf eine merkwürdige Art und Weise zogen nackte Menschen, egal wie alt und wenig ästhetisch sie waren, sie an. Lieber war ihr aber, wenn sie sich hier im Ribersborgs Kallbadhus nur um sich selbst kümmern konnte.

Sie war heute schon ein paar Minuten vor zehn hier gewesen. Die Frau an der Kasse hatte sie trotzdem hereingelassen, schließlich kannten sie sich. Nach einer kurzen Dusche hatte Isabelle eine Viertelstunde in der finnischen Sauna verbracht. Dann war sie raus an die frische Luft gegangen, bekleidet nur mit einem Handtuch um die Hüfte.

Die kühle Sommerluft hatte sie überrascht. Als sie heute Morgen das Haus verlassen hatte, war sie mit Jeans und einer dünnen Jacke bekleidet gewesen. Ihr war gar nicht aufgefallen, dass es kälter als an den Tagen zuvor war.

Trotz der Gänsehaut, die sich langsam über ihren Körper verteilte, genoss sie diesen Moment. Einfach hier zu stehen und auf den Öresund zu blicken. Die Brücke zur Linken und das dänische Seeland irgendwo dort hinten am Horizont. Hinter den Gewitterwolken, die sich schon gestern Abend immer stärker zusammengezogen hatten. Mittlerweile stapelten sich die Cumulonimbuswolken am Himmel, als drohe ein schwerer Sturm. Die See wurde allmählich rauer. Wellen schwappten bereits gegen die aufgeschütteten großen Steine, die Ribersborgs Kallbadhus schützten.

Isabelle trat nach rechts auf den Steg, der noch ein paar Meter weiter verlief und dann in eine Treppe ins Wasser mündete. Direkt ins offene Meer.

Sie fror jetzt. Der Wind frischte immer mehr auf, und die Kälte wurde unangenehm. Viele ihrer Freundinnen hatten sie schon gefragt, wie sie zu jeder Jahreszeit und bei jedem Wetter im Meer baden konnte. Darauf antwortete sie stets gleich: Es gab für sie nichts Schöneres und Befreienderes, als zuerst der Hitze in der Sauna und anschließend der erfrischenden Ostsee ausgesetzt zu sein. Wie Feuer und Eis. Oder Yin und Yang.

Irgendwie auch ein Sinnbild ihres Lebens. Bereits als Kind hatte sie zu beiden Extremen geneigt. Dabei war sie meistens ruhig und in sich gekehrt gewesen. Sie war gern für sich allein, hatte ihre Gedanken und Probleme mit sich selbst ausgemacht. Sie brauchte niemanden, dem sie ihr Herz ausschüttete. Schon damals nicht.

Aber da war auch diese andere Seite. Ihr Hang dazu, immer genau dort zu sein, wo die Stimmung kippte. Wo es zu Problemen oder Streitigkeiten kam und sie sich plötzlich mittendrin befand. Es war, als ziehe sie diese Situationen förmlich an. Manchmal fragte sie sich, ob sie vielleicht genau aufgrund dieser Erfahrungen oftmals eher in sich gekehrt war. Vielleicht zog sie sich nur zurück, um den unangenehmen Situationen, in die sie immer wieder hineinstolperte, vorsorglich aus dem Weg zu gehen.

Isabelle schüttelte die Gedanken ab, indem sie kräftig ein- und ausatmete. Eine Übung, die sie perfektioniert hatte. Sie ließ es erst gar nicht zu, dass das Negative Kontrolle übernahm. Ihr Blick blieb stattdessen auf den dunklen Wogen des Meers hängen.

Der Wellengang wurde immer stärker. Das Wasser schwappte gegen die großen Steine. Sie wunderte sich, dass der Zugang ins offene Meer noch nicht gesperrt worden war. Vielleicht war es dennoch sinnvoller, heute nicht schwimmen zu gehen, fuhr es ihr durch den Kopf. Oder zumindest nur im geschützten Innenbereich.

Das dumpfe, stetig wiederkehrende Geräusch nahm Isabelle erst nach einer ganzen Weile bewusst wahr. Irgendein Gegenstand, der wahrscheinlich gegen die Treppe am Ende des Stegs schwappte. Vielleicht ein Stück Holz oder etwas, das eines der Schiffe, die den Öresund passierten, verloren hatte.

Doch ein ungutes Gefühl tief im Innern sagte ihr, dass sie ihren Blick besser nicht nach unten richten sollte. Nicht wieder in Schwierigkeiten geraten. Im nächsten Moment war es dafür bereits zu spät. Denn aus dem Augenwinkel hatte sie die Ursache für das Geräusch längst erkannt. Sie spürte, dass ihr schlecht wurde. Magensäure bahnte sich in ihrer Speiseröhre den Weg nach oben. Nur mühevoll gelang es ihr, den Würgereiz zu unterdrücken.

Auf der Türschwelle

Er war auf das Schlimmste vorbereitet gewesen, nachdem Pernille ihn vor wenigen Minuten angerufen hatte. Als Niklas Zetterberg allerdings die Haustür öffnete und erfolglos versuchte, ihren Blick aufzufangen, wusste er, dass es dieses Mal besonders schlimm um sie stand.

Pernille befand sich nicht nur in einer Ausnahmesituation, hervorgerufen durch ihre manische Depression, sondern war ganz offenbar auch heftig betrunken. Dass sie noch anderes Zeug eingeworfen hatte, schien ihm angesichts ihrer flirrenden Pupillen zumindest nicht unwahrscheinlich.

Niklas seufzte. Nach all den Jahren fiel es ihm noch immer schwer, diesen Anblick zu ertragen. Ihr seelischer und körperlicher Verfall schien in letzter Zeit immer schneller voranzuschreiten. Zu Beginn, gleich nachdem er sich von ihr getrennt hatte, war sie eine Zeit lang einigermaßen stabil gewesen. Zumindest nach außen hin. Sie hatte nicht zugelassen, dass er oder jemand anders einen Blick in ihr Seelenleben warf. Sie hatte zugemacht, noch viel entschiedener als zu der Zeit, als er es nicht mehr ertragen konnte, dass sie nicht über ihre Probleme und Ängste sprechen wollte, obwohl ihr gemeinsames Leben genau deshalb immer mehr zur Hölle wurde.

Natürlich konnte er sie auch jetzt wieder zu sich hineinbitten. Wie er es immer tat. Manchmal beruhigte sie sich und kam tatsächlich mit ins Haus, ohne dann allerdings auch nur ein einziges Wort mit ihm zu sprechen. Wenn er sie aber bat, wieder zu gehen, brannten bei ihr meistens sofort die Sicherungen durch. Vor ein paar Wochen hatte sie eine Tasse mit heißem Tee, den er ihr gekocht hatte, nach ihm geworfen. Sie war in diesen Momenten längst nicht mehr die Frau, in die er sich vor annähernd zehn Jahren verliebt hatte.

Niklas empfand in solchen Augenblicken totaler Extrovertiertheit trotz allem Mitleid. Genau wie jetzt, da er mitansehen musste, wie sie vor ihm auf die Knie ging und in Tränen ausbrach. Obwohl die Situation anmutete wie das täglich grüßende Murmeltier, war es diesmal anders. Wie ein letzter verzweifelter Versuch, ihn … ja, was denn eigentlich? Vor allem, ihn zurückzugewinnen, das hatte sie selbst zugegeben. Aber er hatte ihr schon mehrfach unmissverständlich klargemacht, dass es kein Zurück mehr gab. Davon abgesehen, dass er seit einigen Wochen in einer neuen Beziehung lebte. Oder zumindest in so etwas Ähnlichem. So richtig wusste er das noch nicht.

Was trieb Pernille immer wieder zu ihm? Sie war einsam. Verletzt. Und sie brauchte ihn. Um ihn dann aber trotzdem mit Beschimpfungen und Vorwürfen zu überhäufen. Eine Art Hassliebe. Aber ob sie bewusst oder unbewusst handelte, konnte er natürlich nicht sagen. Es spielte letztlich auch keine Rolle.

Bei Pernille war ohnehin nicht mehr zu unterscheiden, was sie mit klarem oder benebeltem Kopf tat. Unbestreitbar war jedoch, dass sie ihn mittlerweile regelrecht stalkte. Er war zwischenzeitlich derart machtlos gewesen, dass er bereits seine Kollegen von der Streife angerufen und gebeten hatte, sie abzuholen, wenn sie mal wieder vollkommen aufgelöst vor seiner Tür gestanden und ihn aufs Übelste beschimpft hatte.

»Du weißt, wie weh es mir tut, dich so zu sehen«, sagte Niklas und fuhr sich mit der rechten Hand über seinen kahl geschorenen Kopf – eine fast schon rituelle Geste, wenn er nachdachte. Sein Haar war schon mit Mitte zwanzig immer schütterer geworden. Aber er hatte vierzig Jahre alt werden müssen, bevor er letzten Sommer endlich gewagt hatte, dem Elend auf seinem Kopf ein Ende zu bereiten. Die Reaktionen hatten ihn komplett überrascht. Es schien beinahe so, als wäre er mit einem Mal attraktiv für Frauen. Zumindest spürte er plötzlich Blicke, die er nie zuvor wahrgenommen hatte.

Er vermied es in diesem Moment, einen Schritt über die Türschwelle zu setzen und auf Pernille zuzugehen. Es hatte vor nicht allzu langer Zeit schon einmal eine ähnliche Situation gegeben, in der sie versucht hatte, seine Hilfe auszunutzen, um in seine Wohnung zu gelangen und ihn auszusperren.

Auf allen vieren näherte sich Pernille ihm jetzt. Es gelang ihr kaum, den Kopf zu heben und ihn anzusehen. Ein Bild, das für Niklas kaum zu ertragen war. Nicht ihre psychische Labilität bereitete ihm in diesem Augenblick Sorgen, sondern vor allem ihr körperlicher Zustand infolge der jahrelangen Alkohol- und Drogenexzesse ließ seine Alarmglocken schrillen.

»Ich kann dir nicht helfen«, sagte er schließlich. »Wir haben unzählige Male darüber gesprochen. Und das Schlimmste ist, ich weiß nicht einmal, was genau du eigentlich noch von mir willst. Es ist alles gesagt. Warum quälst du uns beide so? Warum terrorisierst du mich? Wie viel muss noch passieren, bis du verstehst, dass ich dir nicht helfen kann? Selbst wenn ich es wollte.«

»Du sollst mir nicht helfen«, antwortete Pernille leise.

»Sondern?«

»Mich einfach zu dir reinlassen.«

»Wir hatten das Thema doch schon so oft.« Niklas war genervt. »Es führt einfach zu nichts. Die Sache zwischen uns ist –«

»Du weißt, weshalb es mir wichtig ist, dass es jemanden gibt, zu dem ich gehen kann, wenn es mir dreckig geht«, fuhr sie dazwischen. »Ich verlange nichts weiter von dir, als dass du mich zu dir reinlässt und mir zuhörst.«

»Wärst du nüchtern, würde ich ernsthaft darüber nachdenken«, antwortete Niklas. »Aber ich lasse mich nicht noch einmal auf deine Spielchen ein.«

»Soll das heißen, du lässt mich hier vor deiner Haustür einfach so liegen? Sieh dir doch an, wie es –«

»Ich werde es so wie immer machen«, unterbrach Niklas sie. »Meine Kollegen werden dich abholen und nach Hause bringen.«

»Schaffst du es wirklich nicht, über deinen Schatten zu springen? Wie kannst du es ertragen, mich so zu sehen?«

»Ich kann es nicht ertragen«, sagte Niklas. »Und ich will es auch schon lange nicht mehr. Aber das scheint dich ja nicht zu interessieren.«

»Ich liebe dich doch noch immer, verstehst du das denn nicht?« Plötzlich klang Pernille flehentlich und beinahe drohend.

Da war er wieder, dieser Murmeltier-Augenblick. Pernille erschien und tat so, als wolle sie nichts weiter als eine Zufluchtsstätte, weil es ihr mal wieder richtig dreckig ging. Aber es dauerte niemals länger als auch nur ein paar Minuten, ehe sie den wahren Grund, weshalb sie ihn immer wieder aufsuchte, preisgab: Sie liebte ihn noch immer. Behauptete sie zumindest. Auf ihre seltsame und ganz eigene Art und Weise, die ihm Angst machte.

»Ich will nicht, dass man dich hier wegträgt«, sagte Niklas nach einigen Sekunden der Stille. »Warum kannst du nicht endlich akzeptieren, dass das mit uns beiden vorbei ist? Ich empfinde nichts mehr für dich.«

Pernille richtete sich plötzlich auf. Aber nur mühsam gelang es ihr, sich auf den Beinen zu halten. Jetzt, wo sie direkt vor ihm stand, erkannte Niklas erst ihren wahren Zustand. Ihre langen blonden Haare, die sie früher meistens zu einem Zopf gebunden hatte, sahen strähnig und ungepflegt aus. Unter der Strickjacke, die ihre linke Schulter freigab, trug sie offenbar lediglich ein Nachthemd. Schwarze Leggins mit Löchern und abgenutzte Turnschuhe rundeten das traurige Bild ab. Wenn er sie aufgrund ihres psychischen und physischen Zustands auch nicht hereinbitten wollte, hätte er es eigentlich tun müssen, damit sie sich bei den kühlen morgendlichen Temperaturen an diesem Augusttag keine Erkältung zuzog.

Das Handy, das Niklas in seiner hinteren rechten Hosentasche trug, vibrierte. Einen Moment lang überlegte er, den Anruf einfach zu ignorieren, aber eigentlich war er regelrecht froh, dass er sich auf diese Weise der Situation mit Pernille entziehen konnte. Er trat ein paar Schritte zurück, bis er wieder vollständig in seiner Wohnung stand. Dann nahm er das Gespräch an.

Es war Emma Steen, seine engste Kollegin bei der Mordkommission in Malmö.

»Ich weiß, du wolltest heute Vormittag deinen Rasen mähen«, kam sie direkt zur Sache, »aber vorhin ist eine Meldung reingekommen, von der du auf jeden Fall wissen solltest.«

»Es ist gerade ziemlich ungünstig«, antwortete Niklas. »Leider nicht wegen des Rasens. Hat das nicht Zeit, bis –«

»Nein«, unterbrach sie ihn vehement. »Allein die Tatsache, wer der Tote ist, der gefunden wurde, macht es verdammt dringlich.«

Plötzlich war Niklas voll da. Er vergaß sogar, dass nur ein paar Meter von ihm entfernt seine ehemalige Lebensgefährtin stand und ihn verzweifelt ansah. »Wer?«, fragte er.

»So wie es aussieht, handelt es sich um Lennart Fogelklou.«

Niklas sagte nichts. Er wusste sofort, dass Emma recht hatte. Allein der Name des Toten machte die Situation ernst. »Wie sicher ist das Ganze?«, fragte er schließlich.

»Ich habe die Leiche selbst auch noch nicht gesehen, aber sowohl die Person, die ihn gefunden hat, als auch die Kollegen von der Spurensicherung haben keinerlei Zweifel an der Identität des Mannes.«

»Hatte er denn irgendetwas bei sich, das ihn ausweist?«

»Nein, offenbar nicht. Aber jemanden wie Fogelklou würde auch ich sofort erkennen.«

»Was wissen wir schon über die Todesursache?«

»Alles, was ich weiß, ist, dass die Leiche wohl bei Ribersborgs Kallbadhus gefunden wurde. Sie trieb im Meer.«

»Bist du jetzt schon dort?«

»Nein, aber ich bin auf dem Weg. Petter bat mich, allen Bescheid zu geben. Wir treffen uns dort in einer halben Stunde.«

»Also war es kein Unfall?«, hakte Niklas noch einmal nach.

»Wie gesagt, ich habe noch keine genaueren Informationen.«

Emma klang angespannt. Niklas kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie entweder mehr wusste, als sie sagen wollte, oder aber einfach vermutete, dass Fogelklou weder eines natürlichen Todes gestorben noch durch einen Unfall ums Leben gekommen war.

»Kommst du dann auch gleich?«, vergewisserte sie sich.

»Mir bleibt wohl keine Wahl.«

»Ich befürchte, nicht.«

»Dann sehen wir uns, bis gleich.« Niklas beendete das Gespräch und steckte das Handy zurück in seine Hosentasche, als sein Blick wieder auf Pernille fiel. Sie hielt auf einmal einen silbernen Flachmann in der Hand und setzte an.

»Ich kann dich in diesem Zustand wirklich nicht alleine lassen«, seufzte er und trat auf sie zu. »Mir bleibt nichts anderes übrig, als mal wieder eine Streife zu rufen, die dich mit aufs Präsidium nimmt. Vielleicht tut dir ein Tag in der Ausnüchterungszelle ganz gut. Allerdings müssen wir für die Zukunft eine Lösung finden. So kann es nicht weitergehen.«

Er sah Pernille eine Weile an, merkte dann jedoch, dass sie ihm gar nicht mehr zuhörte. Sie schien in ihrem ganz eigenen Film gefangen zu sein.

Niklas ging zurück in die Wohnung und schloss die Tür hinter sich.

Mehrfach atmete er tief durch. Er hatte alles getan, wozu er sich in der Lage fühlte. Und er würde noch mehr unternehmen müssen, damit Pernille eines Tages hoffentlich die Kurve kriegte. Aber in diesem Moment wollte und konnte er sich nicht länger mit ihr beschäftigen. Emmas Anruf hatte ihn aus dieser Situation gerettet. Dass der Grund ihres Anrufs allerdings nicht weniger schlimm war als das, was sich vor seiner Wohnung abspielte, ahnte er längst.

Lennart Fogelklou.

Als Emma den Namen ausgesprochen hatte, war er innerlich zusammengefahren. Denn Fogelklou war der wohl bekannteste Unternehmer Malmös und eine der reichsten Personen in ganz Schweden. Wenn jemand wie er starb, noch dazu auf eine Weise, die offenbar jede Menge Fragezeichen zuließ, dann würde in kürzester Zeit in der Öffentlichkeit eine Riesenwelle losgetreten werden. Und wenn seinem Tod tatsächlich Fremdeinwirkung vorausgegangen war, würden die nächsten Wochen ungemütlich werden.

Als er heute Morgen wach geworden war, war er noch frohen Mutes gewesen. Er hatte schnell den Rasen mähen wollen. Der Wetterdienst hatte für später zwar Sommergewitter vorhergesagt, aber er mochte dieses bedrohliche Szenario, das sich über dem Öresund bisweilen abzeichnete. Wenn es vorbei war und der Regen abklang, war die Luft gereinigt, und die Sonne würde wieder durch die Wolken brechen.

Die Sache mit Pernille belastete ihn jetzt zusätzlich, ob er wollte oder nicht. Fast zehn Jahre waren sie zusammen gewesen, hatten Pläne gehabt. Wollten heiraten und Kinder bekommen. Gemeinsam alt werden. Doch dann war alles anders gekommen. Sie hatte immer stärker unter Angst- und Panikzuständen gelitten. Etwas, das sie lange im Griff gehabt hatte, war mit einem Mal mit einer Heftigkeit herausgebrochen, wie er es niemals für möglich gehalten hätte, verstärkt durch ihren Hang zur Flasche. Eine zerstörerische Kombination.

Gemeinsame Therapiesitzungen. Stundenlange Gespräche mit ihr. Rücksicht und Verständnis für jede einzelne Krise, die sie durchlitten hatte – nichts von alledem hatte geholfen, im Gegenteil. Pernille war immer weiter abgedriftet. Hatte einen seltsamen Irrweg aus Selbstzerstörung, Alkohol und Eifersucht eingeschlagen, auf dem sie sich am Ende auch noch eingebildet hatte, er betrüge sie. Obwohl er das während ihrer gemeinsamen Zeit nicht ein einziges Mal auch nur in Erwägung gezogen hatte.

Es war ein schmerzlicher Moment gewesen, als er vor etwas mehr als einem Jahr einsehen musste, dass es keinen Sinn mehr hatte. Er erreichte sie nicht mehr, sein eigenes Leben bestand nur noch aus Deeskalationsversuchen. Die Einsicht, nicht helfen zu können und gleichzeitig auch die glücklichen Jahre aufzugeben, war das Niederschmetterndste gewesen, was er in seinem Leben jemals erfahren hatte. Und doch war es alternativlos gewesen.

Unschlüssig zog Niklas erneut sein Handy hervor. Sekundenlang starrte er das schwarze Display an. Dann entsperrte er es und wählte eine Nummer, die er noch nie angerufen hatte. Diesmal sah er keine andere Möglichkeit, um Pernille wirklich zu helfen. Mit einer Nacht in einer kalten Zelle war es nicht mehr getan. Sie brauchte professionelle Hilfe. Auch wenn es sich für sie im ersten Moment bestimmt wie ein Faustschlag anfühlen würde, konnte nur eine Einweisung in eine Fachklinik sie noch retten.

Bunter Hund

»Um es auf den Punkt zu bringen«, sagte der schmächtige Mann mit den dunkelblonden Haaren, »die klaffende Wunde am Hinterkopf lässt aus meiner Sicht keinerlei Zweifel zu, dass das Opfer gewaltsam ums Leben gekommen ist.«

Niklas Zetterberg hörte Lars Lundin, dem Leiter der Rechtsmedizin, interessiert, aber auch angestrengt zu. Lundin hatte erst vor einigen Wochen die Stelle seines pensionierten Vorgängers eingenommen. Jeder in der Mordkommission war froh gewesen, als der alte Bergström, dieser notorische Grantler, der eine enge Zusammenarbeit zwischen Rechtsmedizin und Ermittlern nahezu unmöglich gemacht hatte, endlich Platz für ein frisches Gesicht gemacht hatte. Umso größer war die Enttäuschung gewesen, als sich Lundin als einer der drögesten Menschen erwies, die Niklas jemals über den Weg gelaufen waren.

Lundin verfiel gern in minutenlange Monologe, zwar ohne dabei die Selbstherrlichkeit mancher seiner Kollegen auszustrahlen, dafür pflegte er bereits nach wenigen Augenblicken in einen trockenen Fachjargon rechtsmedizinischer Details abzugleiten.

»Entschuldigen Sie, dass ich jetzt doch noch einmal nachfragen muss«, sagte Niklas und lächelte etwas verlegen. »Wieso sind Sie sich so sicher, dass der Mann nicht durch einen Unfall ums Leben gekommen ist?«

»Eine berechtigte Frage«, antwortete Lundin und strich sich seinen Seitenscheitel glatt. »Wollen Sie nicht vielleicht doch einen Blick auf die Leiche werfen, dann verstehen Sie es besser.«

»Danke«, sagte Niklas abwinkend. »Ich sehe mir später die Fotos an und lese Ihren Bericht.«

»Wie Sie meinen. Aber wie bereits erwähnt, sollten Sie auf jeden Fall berücksichtigen, dass diese Wunde nicht durch einen unglücklichen Sturz ins Wasser zustande gekommen ist. Das Opfer wurde wohl eher mit einem hammerartigen Gegenstand malträtiert. Wahrscheinlich hat ein einziger Schlag zum Tode geführt.«

»Was denken Sie, wie lange das Opfer bereits tot ist?«, fasste Niklas noch einmal nach.

»Nicht ganz einfach zu sagen, weil die Leiche einige Zeit im Wasser gelegen hat. Aber ich schätze, mindestens drei bis vier Tage.«

Niklas nickte, zog im nächsten Moment allerdings irritiert die Augenbrauen hoch, als er sich fragte, warum Lennart Fogelklou in diesem Fall nicht bereits seit einigen Tagen als vermisst galt. Der bekannteste Unternehmer Malmös. Erstaunlich, dass dies entweder noch niemandem in seiner Familie aufgefallen oder aber bis heute noch nicht bis zur Polizei oder an die Öffentlichkeit vorgedrungen war.

Er gab Emma, die etwas abseits mit dem Kollegen Tommy Wallner in ein Gespräch verwickelt war, ein Zeichen, dass er mit ihr sprechen wollte. Nach einer Weile trat sie auf ihn zu.

»Gibt es irgendeinen Hinweis darauf, dass Fogelklou als verschwunden galt?«, fragte er unmittelbar.

»Was meinst du?«

»Offenbar ist er bereits vor einigen Tagen zu Tode gekommen. Es fällt mir schwer zu glauben, dass das weder seiner Familie noch jemandem in der Reederei aufgefallen wäre. Könntest du so schnell wie möglich in seiner Firma anrufen und das klären? Zu seiner Familie würde ich gerne gemeinsam mit dir fahren.«

»Klar«, antwortete Emma. »Die Fogelklous wohnen übrigens etwas westlich von Svedala. Ich kenne das Anwesen.«

»Anwesen?«

»Allerdings. Ein altes Herrenhaus mit einem riesigen Areal. Kennst du es etwa nicht?«

»Weiß nicht.« Niklas lächelte. Wie er es immer tat, wenn es Momente gab, in denen er unsicher war. Obwohl er eigentlich jeden Winkel Schonens kannte, hatte er kein Bild von diesem Herrenhaus vor Augen.

Er kannte genug Menschen, die immer eine passende Antwort parat hatten oder zumindest so taten. Er war nicht so, aber souverän überspielen konnte er diese Situationen auch nicht. Zumindest verstellte er sich nicht.

»Haben wir schon eine Streife hingeschickt?«

»Ist auf dem Weg.« Emma fuhr sich durch ihre halblangen, fast weißblonden Haare, die sie wie immer offen trug. Vor einigen Wochen hatte sie sich allerdings einen Pony schneiden lassen. Zweifellos stand er ihr gut, so recht daran gewöhnt hatte sich Niklas dennoch nicht.

Emma stand unschlüssig vor ihm und runzelte nachdenklich die Stirn. Niklas spürte, dass ihr noch etwas anderes auf dem Herzen lag. »Woran denkst du?«

»Mir kam gerade eine Meldung in den Sinn, die ich vor ein paar Tagen zufällig im Präsidium bei den Kollegen der Einsatzleitung aufgeschnappt habe.«

»Was meinst du?«

»Jemand hat angerufen, weil er auf der Brücke etwas beobachtet hatte«, erklärte Emma. »Eine Person, die offenbar etwas über das Geländer befördert hat.«

»Etwas?«