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Ein nervenaufreibender Krimi in bester skandinavischer Tradition. Südschweden ächzt unter einer Hitzewelle, als südlich von Helsingborg ein Hof abbrennt. Ein tragischer Unfall? Doch in den Trümmern finden sich Hinweise auf Brandbeschleuniger – und eine Leiche. Das Team der Mordkommission Malmö um Kommissar Niklas Zetterberg und Emma Steen nimmt die Ermittlungen auf. Sie erfahren, dass der Hof einem rechtspopulistischen Politiker gehört, von dem jede Spur fehlt. Als ein weiterer Mord in Helsingborg verübt wird, droht die Lage zu eskalieren.
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Seitenzahl: 356
Veröffentlichungsjahr: 2025
Jesper Lund ist »40 something« und lebt seit einigen Jahren an der deutschen Ostseeküste. Als Unternehmensberater arbeitet er für eines der größten Unternehmen Dänemarks. Er entwickelt Strategien und plant die Zukunft für Unternehmen im gesamten Ostseeraum. Das Schreiben verfolgt ihn seit mehreren Jahrzehnten. Seit 2006 hat er bereits mehr als zwanzig Romane veröffentlicht. »Schwedenglut« ist nach »Schwedensommer« und »Schwedenlicht« der dritte Fall mit dem Malmöer Kommissarenpaar Niklas Zetterberg und Emma Steen.
www.jobst-schlennstedt.de
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig.
© 2025 Emons Verlag GmbH
Cäcilienstraße 48, 50667 Köln
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer
Lektorat: Hilla Czinczoll
E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-98707-274-1
Originalausgabe
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Die Bosheit trinkt die Hälfte ihres eigenen Giftes.
Lucius Annaeus Seneca
Drei Tage zuvor
Das Meer lag spiegelglatt vor ihm. Kein Wellenschlag, nicht einmal ein leichtes Kräuseln. Als wäre das Wasser einfach eingefroren, was angesichts der Hitze natürlich vollkommen abwegig war.
Er konzentrierte sich auf den Stein in seiner rechten Hand. Er passte genau in die Handinnenfläche, wenn er sie schloss, und fühlte sich gut an. Weil er angenehm kühl war und ihn gleichzeitig auf eine sonderbare Weise erwärmte.
Steine waren nach Feuer das Ursprünglichste auf dieser Welt. Menschen waren nur eine Randerscheinung der Erdgeschichte, bestenfalls die Weiterentwicklung von Tieren. Das machte es auch so leicht für ihn.
Leben war vergänglich. Es kam und es ging. Immer wieder aufs Neue. Kein einziges Leben blieb für die Ewigkeit. Wenn überhaupt, dann blieben Erinnerungen. Erinnerungen an besondere Menschen, die ihren Fußabdruck hinterließen. Die auf dieser Welt etwas Einzigartiges geschaffen hatten. Sie nach ihren Vorstellungen verändert hatten.
Dieser Stein in seiner Hand würde aber bleiben. Er wäre noch da, wenn es Menschen wahrscheinlich längst nicht mehr gab. In ein paar hunderttausend Jahren würde er vielleicht nur noch aus einzelnen Sandkörnern bestehen, dennoch wäre die Materie noch da. Von den Menschen hingegen blieb nichts. Nach nicht einmal hundert Jahren unter der Erde gab es nichts mehr, was einen Hinweis darauf lieferte, überhaupt jemals existiert zu haben.
Er lächelte. So etwas Banales wie Angst kannte er nicht mehr. Schon gar nicht vor dem Tod. Nicht nach dem, was er erlebt hatte. Alles hatte seine Zeit. Er lebte jetzt, und wenn der Sensenmann irgendwann anklopfte, wollte er sich nicht den Vorwurf machen, seine Zeit auf der Erde nicht sinnvoll genutzt zu haben.
Dem Stein würde es egal sein, wo er seine nächsten Jahrtausende verbrachte. Ob hier am Strand oder am Meeresboden. Wie hoch der Meeresspiegel in ferner Zukunft stehen würde, wusste ohnehin niemand. Er würde sich verändern, so wie er das schon immer getan hatte. Und irgendwann würde es wahrscheinlich auch wieder eine Eiszeit geben, dann wäre dieses Meer vor ihm tatsächlich eine gigantische gefrorene Masse. Es würde dann längst eine andere Spezies auf diesem Planeten geben, die ihn dominierte. Nicht auszuschließen, dass die Dummheit der Menschen genauso schnell für ihren Niedergang sorgen würde, wie es ihnen gelungen war, die Welt zu beherrschen.
Ihm war das alles egal. Ihn interessierte nur das Hier und Jetzt. Sein Leben. Und seine Ziele für dieses Land. Umso mehr, seit er das Gefühl hatte, dass alles um ihn herum immer komplizierter und unsicherer wurde.
Er musste Lösungen suchen. Das fiel ihm nicht schwer, er hatte immer die passende Lösung gefunden. Hindernisse ließ er gar nicht erst zu Problemen werden, sondern räumte sie einfach beiseite. Notfalls mit allen Mitteln, die ihm zur Verfügung standen. Egal, wie unrechtmäßig sie waren. Aber diesmal war es anders. Das Hindernis war so groß, dass er Zweifel hatte, es ohne Weiteres lösen zu können. Denn ehrlicherweise fühlte es sich mittlerweile wie ein ausgewachsenes Problem an.
Lange Zeit hatte es nichts um ihn herum gegeben, was offenkundig Gefahr ausstrahlte. Jedes Glied in der Kette funktionierte, alle taten, was er ihnen befahl. Sie akzeptierten, dass er über sie bestimmte und alles nach seinen Vorstellungen und Regeln verlief. Nur so, und das hatte er ihnen immer und immer wieder eingebläut, würden sie ihr Ziel erreichen.
Und trotzdem beschlich ihn seit einigen Monaten dieses Gefühl von Misstrauen. Es kam aus mehreren Richtungen, und manchmal war er sich nicht sicher, ob er es sich nicht bloß einbildete. Eine seltsame Unruhe, die er nicht kannte, hatte ihn längst befallen. Und selbst das nahezu bewegungslose Meer schien ihm auf einmal falsch zu sein. Es heuchelte ihm vor, dass die Welt um ihn herum friedlich sei. Aber das war sie längst nicht mehr.
Seine Hand ballte sich jetzt immer fester um den Stein. Bis er Schmerzen verspürte. Er war in erster Linie unvorsichtig gewesen. Hatte auch die Augen davor verschlossen, was sich am Horizont zusammenbraute. Statt die Signale zu erkennen, war er blind gewesen. Hatte nicht sehen wollen, dass nicht alles wie geplant verlief. Er hätte viel früher gegensteuern müssen. Mit der Faust auf den Tisch hauen und alles einmal durchrütteln. Aber stattdessen hatte er geschwiegen.
Der Stein würde den Frieden, den ihm die Wasseroberfläche vorspielte, zerstören. Er war die Faust, die so dringend notwendig war. Langsam trat er ein paar Schritte zurück, ehe er ausholte. Er wollte zumindest diesen Scheinfrieden beenden.
Plötzlich zuckte er zusammen. Ein Eindruck, als schleiche sich jemand an. Im Grunde geräuschlos, und doch wahrnehmbar. Wie ein Tier. Beinahe panisch fuhr er herum, aber da war niemand.
Es dauerte ein paar Sekunden, bis er sich wieder beruhigt hatte. Ein Gefühl von Wut kam in ihm hoch. Wie konnte es sein, dass er sich derart aus der Bahn werfen ließ? Er, der doch immer alles im Griff und unter Kontrolle hatte. Der führte und das Sagen hatte. Der eigentlich anderen Angst einjagte.
Er kannte den Grund, doch genau das machte es nur schlimmer. Sein Blick verlor sich wieder auf dem Meer. Wollte er das alles überhaupt noch, fragte er sich schon seit einiger Zeit. Immer weiterkämpfen. Vorangehen. Lösungen finden. Probleme abwenden. Noch vor ein paar Wochen hätte er sich diese Frage niemals gestellt, aber die abstrakte Bedrohung, die sich in seinem Unterbewusstsein eingenistet hatte, hinterließ Spuren. Vielleicht musste sein Leben eine neue Wendung nehmen. Wieso sollte er seine Bedürfnisse nicht einfach neu definieren? So wie er es ohnehin schon seit einer Weile tat. Hatte sein Leben nicht längst eine ganz neue Bedeutung? Wenn da nur nicht diese Zweifel wären.
Wieder schrak er zusammen. Im nächsten Moment spürte er einen Luftzug neben seinem rechten Ohr. Aus dem Augenwinkel erkannte er einen Stein, der an ihm vorbeiflog und Sekunden später den heuchlerischen Frieden zerstörte, als er ins seichte Wasser fiel und Dutzende kleine Wellen auslöste. Wie winzige Tsunamis rollten sie zu allen Seiten und stürzten die Welt vor seinen Augen ins Chaos. Was zum Teufel passierte hier gerade?
Er kam nicht mehr dazu, sich umzudrehen und sich davon zu überzeugen, dass er mit seinem ungeheuerlichen Verdacht richtiglag. Etwas Hartes traf ihn am Hinterkopf. Mit einer solchen Wucht, dass sofort alles um ihn herum schwarz wurde. Instinktiv fasste er an die Stelle und fühlte das Blut zwischen seinen Fingern. Dann taumelte er nach vorn, bis er sich nicht mehr auf den Beinen halten konnte. Wie ein gefällter Baum stürzte er mit dem Gesicht voran ins flache Meer.
Der Frieden war endgültig vorbei.
Mit jeder Minute, die sie länger hier in diesem feuchtwarmen Keller hockte, verschwammen Raum und Zeitgefühl. In Wellen überkamen sie Schwindel und die Gewissheit, vielleicht schon bald das Bewusstsein zu verlieren. Ganz zu schweigen von den Schmerzen an ihren Hand- und Fußgelenken. Aber am schlimmsten stand es um ihr kaputtes Knie. Selbst wenn sie doch noch einmal das Tageslicht erblickte, dieses Mal würden die Ärzte ihr Bein nicht retten können.
In den ersten Stunden hatte sie noch versucht, die Minuten mitzuzählen, aber je erschöpfter sie wurde, desto weniger gelang es ihr, sich zu konzentrieren. Dass ihr Mund sich trocken anfühlte und der Magen knurrte, war noch ihr geringstes Problem. Am schlimmsten war die Dunkelheit. Die meisten Menschen mochten keine Dunkelheit. Aber bei ihr war es anders, sie fürchtete sich regelrecht davor. Ein Kindheitstrauma, nachdem sie eines Tages nicht rechtzeitig vom Spielen nach Hause gekommen war, weil sie sich im Wald verlaufen hatte. Mit der hereinbrechenden Dunkelheit hatte sie die Hand vor Augen nicht mehr sehen können. Sie hatte zwar nur eine knappe Stunde ausharren müssen, bis ihre Eltern und Nachbarn sie mit hellen Taschenlampen bewaffnet ausfindig gemacht hatten, aber es waren die schlimmsten Momente ihres Lebens gewesen. Momente, die sich tief in ihre Psyche gefressen hatten.
Sich allein in einem tiefschwarzen Wald zu befinden, ohne zu wissen, wie viel Zeit vergehen würde, bis sie jemand fand, war das pure Grauen gewesen. Bei jedem Geräusch, den der Wald von sich gab, zusammenzuschrecken und Todesangst zu verspüren. Bis heute litt sie unter Panikattacken, immer wieder kamen die Gedanken an damals hoch, wenn sie sich in einer Situation befand, in der sie die Kontrolle verlor. Wenn sie sich aus ihrer Komfortzone herausbewegen musste, weil etwas Unerwartetes eintraf.
Sie hatte immer versucht, diesen Situationen aus dem Weg zu gehen. Meistens gelang es ihr, ihr Leben so zu planen, dass sie Herrin der Lage war. Damit sie ihre Safe Places nicht verlassen musste. Aber bei dem, was sie tat, ließ es sich nicht komplett vermeiden. Und in diesem Fall sowieso nicht, nach allem, was passiert war.
In den letzten Monaten hatte sie oft darüber nachdenken müssen, wie sie es in jungen Jahren geschafft hatte, in der Öffentlichkeit zu stehen und sich unter höchster Anspannung zu messen. Aus heutiger Sicht war ihr das ein absolutes Rätsel. Welchen Mut sie aufgebracht haben musste. Sicherlich hatte sie sich auch damals immer in ihr bekannten Bahnen bewegt, mit Menschen an ihrer Seite, die ihr bestens vertraut waren. Trotzdem widersprach es allem, was sie innerlich an Angst und Unsicherheit verspürte. Aber sie war gut in dem, was sie gemacht hatte, wahrscheinlich war das der Schlüssel gewesen, aus sich rauszugehen und allen zu zeigen, was in ihr steckte.
Sie hörte in sich hinein. Irgendetwas war anders als sonst in diesen Momenten, wenn sie glaubte, alles bräche über ihr zusammen. Die Panik, mit der sie so fest gerechnet hatte, blieb einfach aus. Nur der Gedanke, dass sie irgendwann doch noch über sie käme, machte ihr Angst.
Es gab viele, die sie gewarnt hatten, nicht so weit zu gehen, wie sie es getan hatte. Und auch ihr selbst war immer bewusst gewesen, welches Risiko sie einging, immerhin hatte sie sich mit dem Teufel angelegt. Gerade in den letzten Wochen war sie besonders auf der Hut gewesen, weil sie wusste, wie sehr sie ihn gereizt hatte. Aber sie hatte keinen anderen Ausweg mehr gesehen, um sich zu befreien. Um dem, was sie selbst so sehr gewollt und was wie eine Droge gewesen war, wieder zu entkommen.
Dass es so für sie enden würde, hätte sie trotzdem niemals geglaubt. In einem dreckigen dunklen Loch dahinzuvegetieren, angekettet an ein Metallrohr. Vielleicht war sie zu naiv gewesen. Die Videos, mit denen sie ihn erpresst hatte, und ihre Drohung hatten das Fass offenbar endgültig zum Überlaufen gebracht. Jetzt musste sie also mit ihrem Leben bezahlen, obwohl er es war, der den Tod längst verdient hätte.
Es kratzte plötzlich in ihrem Hals. Sie unterdrückte ein Husten, weil sie vermeiden wollte, ihren Mund unter dem Tuch, mit dem man sie geknebelt hatte, zu öffnen. Aber der Reiz war zu groß, im nächsten Moment hustete sie in den Stoff und spürte sofort, dass sie jetzt gar keine Luft mehr bekam.
Die Panik kam von einem auf den anderen Augenblick. Und übermannte sie mit solcher Wucht, dass sie befürchtete, sofort das Bewusstsein zu verlieren. Obwohl sie nichts sah, glaubte sie, die Wände stürzten um sie herum ein, während sie starr vor Angst darauf wartete, dass ihr Kopf explodierte.
Sekunden vergingen, in denen sie verharrte und den Anfall über sich ergehen ließ. Aber es wurde nicht besser. Das Gefühl zu ersticken lähmte sie immer mehr. Und auf einmal war da noch etwas anderes, das ganz langsam bei ihr einsickerte. Es brauchte eine Weile, bis sie es einordnen konnte. Der Schock darüber, dass der Grund für ihren Hustenreiz der Rauchgeruch war, der wie eine sich schlängelnde Schlange in ihre Körperöffnungen vorstieß, ließ sie augenblicklich hyperventilieren.
In der Dunkelheit meinte sie plötzlich, helle Schwaden zu erkennen. Aber vielleicht waren es auch nur Bilder vor ihrem inneren Auge, die entstanden, weil ihr aufgrund der Atemnot immer schwindeliger wurde.
Sie hatte keine Chance mehr, darüber nachzudenken. Im nächsten Moment verlor sie das Bewusstsein und sackte in sich zusammen. Dass immer mehr Rauch aus kleinen Öffnungen in das Kellerverlies drang und der Sauerstoffgehalt in dem Raum binnen weniger Sekunden dramatisch sank, bekam sie gar nicht mehr mit. Sie starb bereits, bevor sich der Schwelbrand vollständig ausbreitete und ihren Körper förmlich verkohlen ließ.
In der blauen Plastikbox, die ihm Åsa heute Morgen gepackt hatte, lag ein kleiner Zettel, der Lennart Andersson zwischen zwei Sandwiches und etwas Obst beinahe gar nicht aufgefallen wäre. Überrascht griff er danach und faltete ihn auseinander. Ein paar aufmunternde Worte, dass das Schlimmste hinter ihm liege und er in ihrem Südfrankreich-Urlaub in wenigen Wochen mit Sicherheit die schrecklichen Bilder vergessen würde.
So war sie mit ihrer einfühlsamen Art und Empathie. Schon immer hatte sie die passenden Worte genau im richtigen Moment gefunden. Als könne sie seine Gedanken lesen und Teil seiner Gefühlswelt sein.
Ganz anders als er selbst. Er war meistens unaufmerksam, aber nicht aus Absicht. Åsa verdiente eigentlich jeden Tag einen Strauß Blumen und Frühstück ans Bett, doch egal, wie oft er sich schon vorgenommen hatte, ein besserer Ehemann zu sein, es gelang ihm einfach viel zu selten. Åsa schien sich zu seinem Glück nicht daran zu stören, zumindest hatte sie noch nie geäußert, dass sie sich mehr Aufmerksamkeit wünschte. Aber dass sie sich nicht beklagte, musste nicht heißen, dass sie nicht doch enttäuscht von ihm war.
Wenn die Sache hier vorbei wäre, würde er sie als Dankeschön zum Essen einladen, schwor sich Lennart in diesem Moment. Dafür, dass sie es ertrug, wenn er nach Einsätzen wie diesem zu Hause einfach nur stillschweigend am Tisch saß, weil er zu erschöpft war, um davon zu berichten, was er erlebt und gesehen hatte. Und auch dafür, dass sie ihn nicht mit Fragen löcherte, sondern lediglich für ihn da war, was das Wichtigste überhaupt war. Außerdem dafür, dass sie ihm jeden Morgen liebevoll die blaue Box packte. Und das schon seit mehr als zwanzig Jahren.
Seufzend verstaute er seine Sachen in der Tasche aus feuerfestem Stoff, die sein Chef anlässlich des hundertjährigen Bestehens der Feuerwehr in Bårslöv für alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hatte springen lassen, und stellte sie neben einer zusammengestürzten Backsteinmauer ab. Dann ging er zurück in die abgebrannte Ruine, auf der Suche nach letzten Glutnestern. Vor etwas mehr als achtundvierzig Stunden waren sie ausgerückt, weil ein Hof in Kvistofta in voller Ausdehnung brannte.
Beim Eintreffen hatten sie sofort gewusst, dass sie zu spät waren und die Flammen nicht mehr würden löschen können. Das große Haupthaus und eine angrenzende Scheune brannten lichterloh. Ihnen blieb eigentlich nichts anderes übrig, als das Feuer so kontrolliert wie möglich ausgehen zu lassen. Und zu hoffen, dass sich niemand mehr im Innern der zum Teil bereits eingestürzten Gebäude befand.
Selbstverständlich hatten sie nicht tatenlos dabei zugesehen, wie das Feuer wütete, sondern alles gegeben, um möglicherweise noch eingeschlossene Menschen zu retten. Wie schon so häufig hatten sie ihr eigenes Leben aufs Spiel gesetzt und unter schwersten Bedingungen gegen das Feuer gekämpft. Aber sie hatten in den Trümmern niemanden gefunden. Obwohl der Hof laut Polizei nicht leer stand, sondern von seinem Besitzer, der hier auch lebte, regelmäßig für Veranstaltungen genutzt wurde. Aber vielleicht hatte dieser Mann Glück im Unglück gehabt und war nicht zugegen gewesen, als das Feuer ausgebrochen war.
Lennart ließ seinen Blick schweifen. An manchen Stellen qualmte und loderte es tatsächlich noch immer. Er wusste aus Erfahrung, dass sie bei größeren Bränden manchmal selbst nach einer Woche noch nicht »Feuer aus« vermelden konnten.
Vorsichtig bewegte er sich zwischen verkohlten Holzbalken und zusammengestürzten Backsteinwänden, die Augen immer nach unten gerichtet. Einige Meter vor ihm schimmerte etwas Metallenes unter einem Haufen Asche. Lennart wischte mit dem Fuß über die Stelle, bis immer mehr Eisen zu erkennen war. Eine flache Platte, knapp einen mal einen Meter groß. In der Mitte befand sich ein Ring, in den wahrscheinlich eine Stange als Hebel eingehakt werden konnte. Offenbar der Zugang zu einem Keller, fuhr es ihm durch den Kopf. Zögerlich befühlte er das Metall. Es war warm, aber nicht heiß genug, um befürchten zu müssen, dass unter ihm noch ein Feuer loderte.
Lennart sah sich um, aber nirgends war eine Stange für die Platte zu sehen. Kurzerhand griff er mit seinen dicken Handschuhen nach dem Ring und versuchte, die Platte zu verschieben. Aber sie war schwer. Eigentlich zu schwer, doch die Situation entfachte so etwas wie Ehrgeiz in ihm. Unter lautem Ächzen zog er sie Zentimeter für Zentimeter beiseite.
Ein kleiner Spalt tat sich auf, und schon kroch dunkler Qualm hervor, der einen stechenden Schmerz in den Augen verursachte. Lennart wich zurück und zog rasch seine Atemschutzmaske herunter, die auf den Haaren saß.
Im nächsten Moment wurde er durch die Druckwelle der Detonation, die sich mit einem lauten, dumpfen Knall entlud, zu Boden geschleudert. Er fing sich mit beiden Armen ab, gerade noch rechtzeitig, um nicht mit dem Kopf voraus auf einem kleinen Haufen Schutt zu landen. Aus dem Augenwinkel erkannte er, dass die schwere Eisenplatte durch die Luft flog und mehrere Meter entfernt die Reste einer Backsteinmauer durchbrach.
Mühsam erhob sich Lennart und klopfte sich Staub von seiner Uniform. Es war nicht das erste Mal, dass ihn eine Verpuffung getroffen hatte, aber diesmal war er einfach viel zu unvorsichtig gewesen. Wie konnte er nur in einer Brandruine einen Zugang zu einem Kellerraum öffnen, ohne die notwendigen Vorkehrungen zu treffen! Er hätte überprüfen müssen, ob es dort unten zu einem Schwelbrand gekommen war und wie hoch der Kohlenmonoxidwert war.
Bestimmt zwei Minuten verharrte er und beobachtete das Loch im Boden. Noch immer drang Rauch hervor, aber es schien so, als hätte sich das Gasgemisch nur in einer heftigen Explosion entladen, ohne dass etwas in Brand geraten war.
Er wartete, bis sich die letzten Schwaden verzogen hatten, dann trat er direkt an die Öffnung, die pechschwarz vor ihm lag und ihn an das Tor zur Unterwelt erinnerte. Schließlich zog er seine Taschenlampe hervor und leuchtete hinein.
Er hatte sich keine Gedanken gemacht, was sich unter seinen Füßen befand. Wozu dieser Keller diente. Ein normaler Kellerraum, der vielleicht nicht mehr gebraucht und deshalb mit einer schweren Metallplatte abgedeckt worden war. Aber mit Sicherheit nicht das, was das Licht seiner Taschenlampe preisgab.
Ein kleiner Raum, kaum größer als zehn Quadratmeter, in dem sich nichts befand. Mit der einzigen Ausnahme eines menschlichen Körpers, hinten links in der Ecke. Und obwohl sie als solche kaum auszumachen war, hatte Lennart keinen Zweifel, dass es sich dabei um eine Leiche handelte. Doch was ihn noch viel mehr schockte, war die Tatsache, dass die tote Person ganz offensichtlich mit Händen und Füßen an einen Heizkörper gefesselt war.
Schweißperlen bildeten sich auf Niklas Zetterbergs Stirn, obwohl er einfach nur reglos dasaß und auf zwei nackte Füße starrte. Ein Kleid fiel herunter, ein anderes wurde hochgezogen. Dieser Vorgang wiederholte sich mittlerweile bestimmt zum fünften Mal. Im nächsten Moment wurde der Vorhang aufgezogen, er musste eine kurze Einschätzung abgeben, fing sich einen Blick ein, der zwischen Skepsis und Unverständnis schwankte, und ohne dass er sich überhaupt äußern konnte, verschwand Emma schon wieder hinter dem samtenen roten Stoff.
Die kleine Vintage-Boutique besaß keine Klimaanlage, nicht einmal einen Ventilator, der für etwas Abkühlung gesorgt hätte. Die wenigsten Geschäfte waren auf diese Hitzewelle vorbereitet, die Skåne seit mehr als zwei Wochen fest im Griff hielt. Temperaturen jenseits der dreißig Grad und achtzehn Stunden lang strahlend blauer Himmel am Tag. Ein Jahrhundertsommer, wie »Expressen« und »Aftonbladet« nicht müde wurden zu titeln. Für die meisten Schwedinnen und Schweden gerade noch rechtzeitig, ehe die langen Ferien in einer Woche endeten.
Niklas war allerdings genau wie Emma seit einigen Tagen wieder im Dienst. Auch wenn sich der Büroalltag längst noch nicht wieder als solcher anfühlte und ihre Gedanken immer wieder abschweiften. Die Bilder und Erlebnisse ihres gemeinsamen Roadtrips durch Kalifornien waren präsenter als die wenig spannenden Akten von unspektakulären Überfällen und Einbrüchen. Viel lieber dachte Niklas zurück an San Francisco und den Pacific Highway, an Buckelwale und Orcas vor Santa Barbara und an die grandiose Landschaft im Yosemite National Park.
Niklas hatte sich einen Lebenstraum erfüllt und ihn gemeinsam mit Emma erlebt. Nicht mit Pernille, seiner langjährigen Lebensgefährtin, mit der er die Reise mal vor vielen Jahren geplant hatte. Damals war noch alles in Ordnung zwischen ihnen gewesen. Er hatte nie daran gezweifelt, Pernille eines Tages zu heiraten. Ihre Beziehung hatte den normalen Gang genommen. Nicht mehr so verliebt wie in der Anfangszeit, aber alles harmonisch und ohne irgendein Anzeichen dafür, dass er an ihr zweifeln sollte.
Doch irgendwann war etwas passiert, das sich Niklas bis heute nicht erklären konnte. Pernille hatte sich binnen weniger Monate stark verändert. Depressive Schübe und Panikattacken, die schon als Jugendliche bei ihr diagnostiziert worden waren, waren mit großer Wucht zurückgekommen und hatten sich immer mehr zu einer ernsthaften Bedrohung für ihre Beziehung entwickelt. Dazu kamen ihr stetig ausufernder Alkoholkonsum und eine immer problematischere Eifersucht, die so weit ging, dass sie ihm sogar während des Dienstes nachstellte. Innerhalb von nicht einmal zwei Jahren war alles, was sie miteinander verbunden hatte, kaputtgegangen.
Irgendwann hatte Niklas den Mut gefunden, die Reißleine zu ziehen und sie zu verlassen. Was allerdings alles noch viel schlimmer gemacht hatte, denn von dem Tag an waren bei Pernille endgültig alle Sicherungen durchgebrannt. Sie hatte betrunkenen Kopfes bei ihm im Vorgarten gestanden und von ihm verlangt, sie sofort in sein Haus zu lassen. Ein anderes Mal war sie auf seine Motorhaube gestiegen, als er sein Grundstück verlassen wollte, und schließlich sogar mit einem Messer auf ihn losgegangen. Und beinahe täglich hatte sie ihn mit Textnachrichten voller übler Beschimpfungen einerseits und hilflosem Flehen, dass sie ohne ihn nicht leben könne, andererseits vollgespammt.
All dies war nicht spurlos an Niklas vorbeigegangen. Pernille hatte sich in seinem Kopf festgesetzt. Ihr Konterfei war ihm auf einmal in den unpassendsten Momenten erschienen. Manchmal hatte er ihr Gesicht nur für wenige Sekunden gesehen, aber er hatte auch Visionen gehabt, in denen sie in sein Haus eingedrungen war, um auf ihn loszugehen. Sie hatte ernsthaft versucht, ihn zu töten. Dazu kamen noch die Alpträume, die ihn manchmal wochenlang begleitet hatten.
In der Zwischenzeit war es besser geworden. Pernille hatte sich in eine Entzugsklinik begeben, und seitdem hatte Ruhe geherrscht. Keine Anrufe mehr, keine Nachrichten, kein plötzliches Auftauchen vor seinem Haus. Je mehr Zeit vergangen war, desto seltener war sie in Tag- oder Nachtträumen erschienen. Nicht einmal während ihres letzten Einsatzes in Österlen, der ihn nicht nur wegen der Ermittlungen, sondern vor allem auch aufgrund des dramatischen Todes seines Vaters und der schockierenden Beichte seiner Mutter, vor sechzehn Jahren ein Kind überfahren und es bis heute verheimlicht zu haben, an seine Belastungsgrenze gebracht hatte.
Bis zum vergangenen Donnerstag.
Fünf Tage waren mittlerweile vergangen, seit er Pernille völlig unvermittelt über den Weg gelaufen war. Auf dem Weg ins Präsidium war sie ihm mit zwei Einkaufstüten in den Händen entgegengekommen. Im letzten Moment, bevor sie ihn bemerkt hätte, war er ihr ausgewichen und hinter einem parkenden Auto verschwunden. Er hatte dort ausgeharrt, bis er sich sicher gewesen war, dass sie ihn nicht gesehen hatte. Es hatte nicht lange gedauert, bis die Bilder des vergangenen Jahres wieder präsent gewesen waren, als sie völlig die Fassung verloren hatte.
Die wenigen Sekunden, in denen er sie beobachtet hatte, waren verstörend gewesen. Ihr Gesichtsausdruck war seltsam leer, ihr Blick starr, als würde sie ziellos durch die Straßen Malmös laufen. Sie hatte noch blasser und dünner gewirkt, als er sie in Erinnerung hatte. Ihre Kleidung und die gesamte Optik machten einen ungepflegten Eindruck. Von der attraktiven Frau, in die er sich vor langer Zeit verliebt hatte, war längst nichts mehr übrig.
»Ich nehme die ersten beiden Kleider, das hellblaue und das gelbe«, unterbrach Emma seine Gedanken. »Wenn du willst, kannst du schon bezahlen gehen.« Sie reichte ihm die beiden Kleidungsstücke durch den kleinen Schlitz zwischen Vorhang und Kabinenwand und warf ihm ein Lächeln zu, gepaart mit einem Zwinkern.
Seine Augen blieben einige Momente an ihrem braun gebrannten, fast nackten Körper hängen. Unter anderen Umständen hätte er nicht wenig Lust gehabt, zu ihr in die Kabine zu schlüpfen, aber die Hitze und die unschönen Gedanken an Pernille sorgten dafür, dass jede Lust im Keim erstickt wurde. Er nahm die beiden Kleider und bezahlte bei einer Frau in seinem Alter, die in überfreundlichem Ton immer wieder betonte, wie schön sie waren und wie unglaublich gut Emma darin aussah, als müsse sie ihn noch immer vom Kauf überzeugen. Niklas gelang es aber nicht, sich ein Lächeln abzuringen, er bedankte sich nur knapp und entschuldigte sich dann, dass er lieber draußen auf der Straße auf seine Freundin warten würde, wo es vielleicht etwas kühler war.
Er trat auf den Bürgersteig der Kärleksgatan und atmete tief durch. Die erhoffte Abkühlung wollte sich leider überhaupt nicht einstellen. Die Hitze hing wie eine Glocke über dem kleinen Stadtbezirk Davidshall südlich des Södra Förstadskanalen in nicht allzu weiter Entfernung der Altstadt, wo sich ein Second-Hand- und Vintage-Geschäft an das andere reihte. Das kleine Viertel war seit einiger Zeit bei jungen Menschen und vor allem auch bei Leuten seiner Generation äußerst beliebt. Emma fand hier jedes Mal einen neuen Lieblingsladen. Und zunehmend versuchte sie, auch ihn für die Mode vergangener Jahrzehnte zu begeistern, bislang allerdings ohne Erfolg. Nicht, dass ihm Mode egal war, aber er favorisierte es moderner und meistens schick.
Aktuell war ihm stimmungsmäßig allerdings eher nach Jogginghose und Schlabberpullover, nur die Temperaturen hatten ihn daran gehindert, dass er heute Morgen seine legeren Klamotten aus dem Kleiderschrank hervorgeholt hatte.
Das Handy in der hinteren Tasche seiner dunklen Chinohose vibrierte. Er wechselte die Tüte mit den Kleidern in die linke Hand und fingerte das Telefon mit der rechten hervor. Eine Nummer aus dem Präsidium.
Es war schon nach achtzehn Uhr, und eigentlich gab es aktuell nichts Dringliches. Also konnte das nur bedeuten, dass etwas passiert sein musste.
Gerade als er das Gespräch annahm und die Anruferin mit ernster Stimme ansetzte, erkannte er aus dem Augenwinkel eine dunkel gekleidete Gestalt, die sich ihm langsam auf dem Bürgersteig näherte.
»Es passt gerade nicht so richtig gut«, versuchte Niklas, die Kollegin aus der Einsatzzentrale des Präsidiums abzuwürgen. Er war abgelenkt durch diese Person. Und so wichtig würde es schon nicht sein, hoffte er.
»Eigentlich ist es ziemlich dringend«, sagte die Frau am anderen Ende der Leitung, die Niklas nur flüchtig kannte. »Es geht um diesen Hof bei Helsingborg, der vor zwei Tagen abgebrannt ist. Dort wurde eine Leiche gefunden, und es gibt offenbar Hinweise auf Fremdverschulden. Genaueres weiß ich aber auch nicht. Du sollst dich bei Larsson melden.«
Niklas verstand sofort, dass die ruhige Phase nach ihrem Urlaub in diesem Augenblick ein jähes Ende gefunden hatte. Wie aus dem Nichts öffnete sich die Tür zu einem neuen Fall. So war es eigentlich immer. Und auch jetzt spürte er sofort wieder das Adrenalin durch seinen Körper strömen. Zu ahnen, dass dies der Anfang einer nervenaufreibenden Ermittlung sein konnte, ließ augenblicklich sein Kopfkino starten.
Dennoch war etwas anders. Das eigentlich positiv-aufgeregte Gefühl wurde von einer unterschwelligen Nervosität verdrängt, die sich in ihm ausbreitete. Die fremde Person befand sich auf einmal nur noch eine Körperlänge von ihm entfernt. Trotz der Hitze trug sie einen Hoodie, dessen Kapuze tief ins Gesicht gezogen war.
Niklas trat einen Schritt zurück, damit der Unbekannte ihn nicht anrempelte. Aber dann verstand er, dass der das gar nicht vorhatte. Er blieb direkt vor ihm stehen und hob langsam den Kopf.
Es war kein Mann, der sich da vor ihm aufbaute. Es war Pernille. Sie blickte ihn aus leeren Augen an. Aber da war etwas anderes, das ihm sofort Angst machte. Sie waren sich hier nicht zufällig über den Weg gelaufen. Er hatte keinen Zweifel daran, dass sie ihm aufgelauert hatte.
»Hallo, Pernille, wie geht es dir?«, fragte er vorsichtig, merkte aber, dass vor allem Unsicherheit mitschwang.
»Bestens, sieht man das nicht?« Sie wollte sarkastisch klingen, aber ihre Worte wirkten kraftlos. Immerhin schien sie einigermaßen bei Sinnen zu sein.
»Die Hitze ist kaum auszuhalten.« Außer ein paar Belanglosigkeiten wusste er nicht, was er zu ihr sagen sollte. Jedenfalls nicht die Wahrheit, nämlich, dass sie aussah wie ein Junkie, der sich eben erst einen Schuss gesetzt hatte und jetzt wie ein Zombie durch Malmös Straßen wankte.
»Ist sie noch da drinnen?«
Niklas schrak zusammen. Ihre Stimme hörte sich von einem auf den anderen Moment bedrohlich an. Sofort wich er einen weiteren Schritt zurück und versuchte, sich vor dem Eingang der Boutique so breit wie möglich zu machen.
»Ob die Schlampe noch in diesem Laden ist, habe ich gefragt«, wiederholte Pernille mit aggressiver Stimme.
Niklas’ Hände verkrampften augenblicklich. Eigentlich spürte er das Verlangen, sie zu Fäusten zu ballen. »Hast du uns etwa beobachtet?«, brachte er unsicher hervor.
»Ich beobachte dich seit Monaten«, antwortete sie mit einer Kälte in der Stimme, die ihn trotz der Hitze innerlich frösteln ließ.
»Ich dachte, du hättest verstanden, dass das zwischen uns –«
»Verstehen heißt nicht akzeptieren«, fiel sie ihm ins Wort. »Ich warte nur auf den richtigen Moment.«
»Den richtigen Moment? Was soll das heißen?«
»Glaubst du ernsthaft, ich lasse mich durch dieses kleine Flittchen ersetzen? Ich kenne deine Schwächen und weiß genau, was zu tun ist.«
»Und was gedenkst du zu tun?«
»Netter Versuch«, antwortete sie, untermalt von einem fast diabolischen Grinsen.
»Ich könnte dich auf der Stelle wegsperren lassen«, sagte Niklas. »Ein Anruf genügt.«
»Wenn du meinst, dass das etwas ändert, bitte. Lass dich nicht aufhalten. Ich muss dich aber leider enttäuschen, es ist vollkommen egal, was du unternimmst.«
Niklas schüttelte den Kopf, er verstand nicht, worauf Pernille hinauswollte. Er rief sich wieder vor Augen, dass seine Ex verrückt war. Längst nicht mehr im Vollbesitz ihrer geistigen Fähigkeiten, und wahrscheinlich litt sie wieder unter Wahnvorstellungen. Dazu kamen ihrem Blick nach zu urteilen Alkohol und starke Medikamente. Dennoch zog sich sein Magen zusammen, wenn er darüber nachdachte, dass sie ihm drohte.
»Weshalb bist du wirklich hier?«, fragte er schließlich. »Was hast du vor?«
»Ich mache dir Angst, richtig?«
»Etwas. Vor allem mache ich mir aber Sorgen um deinen Zustand. Du wirkst, als würde es dir gesundheitlich nicht gut gehen.«
»Warum überrascht mich das nicht?«, reagierte Pernille müde lächelnd. »Mit diesen miesen Unterstellungen verfolgst du einzig und allein das Ziel, mich fertigzumachen. Mich als durchgeknallte Psychotante dastehen zu lassen.«
»Dafür hast du schon ganz allein gesorgt. Aber um das Ganze hier jetzt mal zu beenden: Wenn du mir noch einmal auflauerst oder Emma beleidigst, bist du schneller zurück in der Klinik, als dir lieb ist. Und ich werde dafür sorgen, dass du da nicht so leicht wieder rauskommst.«
»Wie gesagt, es würde sich nichts ändern, ich weiß ganz genau, wie ich dich treffen –«
»Was zum Teufel hat diese Person hier zu suchen?«
Niklas war versucht, sich abrupt umzudrehen und Emma ein Zeichen zu geben, sich zurückzuhalten. Aber stattdessen blieb er stehen und verharrte mit seinem Blick auf Pernilles Gesicht. Was er sah, war eine Mischung aus Wut, vielleicht sogar Hass, aber auf jeden Fall auch Verunsicherung über die plötzliche Konfrontation mit Emma.
Aus dem Augenwinkel erkannte er, dass Emma sich plötzlich an ihm vorbeidrängte und direkt vor Pernille aufbaute.
Sekunden vergingen, in denen sich die beiden Frauen schweigend ansahen. Niklas musste etwas unternehmen, irgendwie diese Situation auflösen, bevor sie eskalierte. Pernille kam ihm zuvor. Sie wandte sich plötzlich ab und verschwand schweigend in die Richtung, aus der sie gekommen war.
»Was wollte sie?«, fragte Emma leise.
»Es scheint ihr wieder schlechter zu gehen. Ich befürchte, der nächste Zusammenbruch ist nur eine Frage der Zeit.«
»Egal, was er dir erzählt, es wird nicht die Wahrheit sein«, drang im nächsten Moment Pernilles Stimme zu ihnen herüber. »Oder hat er dir etwa erzählt, was der wahre Grund dafür ist, dass sein Vater sterben musste?«
Niklas erstarrte. Die Hoffnung, sich das alles nur einzubilden und augenblicklich aus diesem Alptraum wieder aufzuwachen, erfüllte sich allerdings nicht. Pernille hatte sich nicht einmal zu ihnen umgedreht. Sie ging einfach weiter die Kärleksgatan entlang.
Woher zum Teufel wusste sie, weshalb Krister Dahlin seinen Vater Richard umgebracht hatte? Er hatte ja nicht einmal Emma davon erzählt. Was er vor einigen Wochen während ihrer Ermittlung in Kivik erfahren hatte, sollte doch in Kivik verbleiben, hatte er sich geschworen. Kannte sie tatsächlich die wahren Umstände?
Er spürte förmlich, wie sich die Angst vor Pernille von den Haarspitzen und den Zehen gleichzeitig ausgehend in Richtung Körpermitte fraß. In einer Geschwindigkeit, die ihn für einen kurzen Augenblick schwindelig werden ließ. Ja, beinahe panisch. Wenn sie wirklich die Wahrheit kannte, hatte er ein Problem. Und zwar ein ziemlich großes.
Obwohl es Niklas schwerfiel, hatte er sich dafür entschieden, Emma die Wahrheit zu sagen. Zumindest die halbe Wahrheit. Dass sein Vater dieses Mädchen damals totgefahren hatte und er das Ganze vor seiner Mutter und ihm, aber auch vor allen anderen Menschen verschwiegen hatte. Es sei ein Unfall gewesen, sein Vater habe unter Schock gestanden, weshalb er das tote Kind in den Kofferraum seines Wagens gelegt und an einem unbekannten Ort vergraben habe.
Die halbe Wahrheit.
Kein Wort darüber, dass es in Wirklichkeit seine Mutter gewesen war, die am Steuer gesessen hatte. Mit etwas Alkohol im Blut, aber genug, dass sie schuldig gesprochen worden wäre. Sein Vater hatte alle Spuren verwischt, und so hatten die beiden nie wieder ein Wort über die Sache verloren. Bis Krister Dahlin, der Bruder des Mädchens, ausgerechnet dann in dem kleinen Ort Kivik an der Südostküste Skånes aufgetaucht war, um sich zu rächen, als Niklas und Emma wegen eines Mordfalls in der Künstlerszene dorthin gerufen worden waren.
Dahlin hatte seinen Vater in dem festen Glauben getötet, er habe damals den Wagen gefahren. Erst Tage später hatte seine Mutter Niklas die ganze Wahrheit erzählt. Eine Last, die sie mit ihm geteilt hatte, ohne dass er sich dagegen hatte wehren können. Sie hatte sich ein Stück weit von ihr befreien können, während er nun ein nicht gerade kleines Päckchen mit sich herumtrug, auf das er gut und gern verzichtet hätte. Wie zum Teufel sollte er damit umgehen, dass seine Mutter ein Kind totgefahren hatte und sie das Ganze vertuscht hatten?
Doch ab jetzt war die Sache noch viel komplizierter. Pernille wusste mehr, als sie wissen durfte. Und sie war zweifellos eine Gefahr. Nicht für sein Leben, aber mit Sicherheit für seine Beziehung mit Emma, das war ihm vorhin in Davidshall klar geworden. Und letztlich auch für seine Mutter. Am meisten allerdings für ihn selbst. Für seine eigene seelische Gesundheit.
Emma hatte geschwiegen. Das tat sie immer, wenn sie sauer auf ihn war. Und dass sie sauer war, daran konnte kein Zweifel bestehen. Immerhin hatte er ihr wochenlang verschwiegen, was der tatsächliche Grund für den Mord an seinem Vater gewesen war.
»Können wir diese Sache vielleicht fürs Erste vergessen?«, fragte Niklas, als er die E 6 Richtung Helsingborg kurz vor Glumslöv verließ, um die restlichen Kilometer zum Fundort der Leiche in Kvistofta zu fahren. Landschaftlich geprägt durch Felder, so weit das Auge reichte. Die Gegend war nicht so lieblich wie die Südostküste in Österlen, aber sie erinnerte ihn an damals, als er eine unbeschwerte Kindheit und Jugend auf dem Land, einige Kilometer südlich von Malmö, erlebt hatte.
Niklas konnte an einer Hand abzählen, wie oft er in seinem Leben in Helsingborg gewesen war. Die Beziehung der beiden größten Städte in Skåne war speziell und sicherlich nicht die allerbeste. Zwar bestand die größere Rivalität zwischen Malmö und Göteborg, aber wenn es um die Vorherrschaft in Skåne ging, egal ob im Fußball, Eishockey oder was die regionale Bedeutung betraf, dann gönnten sich die Bewohner in der Regel gegenseitig nichts.
Emma schwieg noch immer, aber Niklas war sich sicher, aus dem Augenwinkel ein flüchtiges Nicken registriert zu haben.
Im nächsten Moment klingelte ihr Telefon. Emma kannte die Handynummer nicht, nahm das Gespräch aber sofort an.
»Magnus Strindberg hier, Polizeidirektion Helsingborg«, meldete sich eine tiefe Männerstimme. »Wo steckt ihr denn?«
»Sind auf dem Weg«, antwortete Emma knapp, nachdem sie einige Sekunden angestrengt darüber nachgedacht hatte, woher sie den Kollegen kannte, und ihr dann eingefallen war, ihn vor ein paar Jahren schon einmal im Rahmen einer Fortbildung kennengelernt zu haben. Unmittelbar kamen ihr Bilder eines blonden Enddreißigers vor Augen, der ganz genau wusste, dass er im klassischen Sinne ziemlich gut aussah. Groß gewachsen, gut gebaut und ein nicht zu kantiges Gesicht mit einem Lächeln, das strahlend weiße Zähne freigab. Und trotz dieser Attribute war er ihr auf Anhieb unsympathisch gewesen, weil er mit jeder Faser deutlich gemacht hatte, dass er sich darüber im Klaren war, welche Wirkung er auf Frauen hatte.
»In zehn Minuten sind wir da«, antwortete sie so unterkühlt, dass Niklas sich bestimmt wundern musste. Aber er war nicht immer so aufmerksam, was subtile Gefühlsregungen betraf. Und seit der Sache mit Pernille schien er ohnehin neben der Spur zu sein.
Was sie am meisten irritierte, war allerdings die Sache mit seinen Eltern. Weshalb hatte er ihr nicht sofort vom wahren Grund des Todes seines Vaters erzählt? Oder zumindest kurz danach, als sie am Pazifikstrand gesessen und dem atemberaubenden Sonnenuntergang zugesehen hatten. Und wie konnte es sein, dass ausgerechnet Pernille davon wusste, wenn Niklas doch offenbar vorgezogen hatte, mit niemandem darüber zu reden?
»… der Hof übrigens August Björk gehört, nur dass ihr vorab schon Bescheid wisst. Noch scheint das zum Glück nicht in die Öffentlichkeit gedrungen zu sein, aber –«
»Moment«, fuhr Emma dazwischen. »Was hast du da gerade gesagt? Der Hof gehört August Björk?«
»Genau das sagte ich gerade«, entgegnete Strindberg leicht genervt.
»Ist er etwa der Tote?«, ignorierte Emma seinen Kommentar.
»Könnte durchaus sein, aber die Identifizierung des Opfers dürfte noch etwas dauern. Die Leiche befindet sich in keinem guten Zustand.«
»Ich hörte davon«, sagte Emma. Sie hatten vorhin kurz mit Petter Larsson, dem Leiter der Mordkommission, telefoniert. In seiner typischen, etwas flapsig-lapidaren Art hatte er ihnen davon berichtet, dass die Leiche offenbar stark verrußt und kaum mehr als menschliches Überbleibsel, wie er es nannte, zu erkennen war.
»Es gibt noch etwas anderes, das für die Ermittlungen nicht ganz unbedeutend sein dürfte, aber am besten seht ihr euch das selbst an. Also beeilt euch.«
Emma hatte keine Chance, Strindberg zu fragen, was genau er damit meinte. Er hatte bereits aufgelegt.
»August Björk?«, fragte Niklas argwöhnisch und sah Emma von der Seite an. Seine Stirn bildete sorgenvolle Falten. Nicht nur bei Emma schien das Gedankenkarussell sofort angesprungen zu sein.
August Björk war einige Jahre lang der bekannteste Politiker der Schwedendemokraten gewesen, einer rechtspopulistischen Partei, die mittlerweile ein fester Bestandteil der politischen Bühne Schwedens war. Vor allem in Skåne war Björk alles andere als ein Unbekannter. Für die Rechte in Schweden galt er lange Zeit als so etwas wie die Galionsfigur, bis er aufgrund mehrerer Skandale zurückgetreten war und sich vor drei Jahren komplett aus der Politik zurückgezogen hatte. Wenn sie sich richtig erinnerte, war Björk unter anderem vorgeworfen worden, Mitglieder der eigenen Partei unter Druck gesetzt und Gelder veruntreut zu haben.
»Ich habe erst vor ein paar Wochen einen Zeitungsartikel über Björk gelesen«, sagte Niklas nachdenklich. »So schnell er politisch emporgekommen ist, so heftig war auch sein Fall. Auch wenn die Anschuldigungen gegen ihn bis heute nicht aufgeklärt werden konnten. Interessant war aber vor allem der letzte Absatz.«
Niklas machte eine Pause, während sie das Ortsschild von Kvistofta passierten und er das Tempo drosselte. Links und rechts waren vereinzelte Gebäude und große Anwesen zu sehen, die ihn an seine Kindheit und das zweistöckige Haus seiner Eltern mit dem angrenzenden Schuppen und dem weitläufigen Garten denken ließen. Dazwischen lagen immer wieder Getreide- und Maisfelder.
Bei einer Kreuzung im Dorfkern bog Niklas links ab. Aus dem Augenwinkel erkannte er, dass Emma ihn erwartungsvoll ansah.
»Es könnte sein, dass Björk sich diesen Ort hier ganz bewusst ausgesucht hat«, fuhr er schließlich fort. »In dem Artikel wurde spekuliert, dass ihn sein unfreiwilliger Rückzug und die Enthüllungen zwar hart getroffen haben, er aber seine politische Karriere längst noch nicht ad acta gelegt hat. Es wurde gemunkelt, er plane ein Comeback, das er ganz akribisch mit einer neuen Partei angehen wolle. Seiner eigenen Partei, in der nur er das Sagen hat. Wenn ich daran zurückdenke, wie er bei den Schwedendemokraten aufgetreten ist, will ich mir gar nicht vorstellen, was passiert wäre, wenn er tatsächlich eine eigene Partei gegründet hätte.«
»Sofern es sich bei der Leiche tatsächlich um ihn handelt«, sagte Emma nachdenklich. »Ich habe nämlich das ungute Gefühl, dass noch ein paar böse Überraschungen auf uns warten.«
Vielleicht hat sie recht, dachte Niklas, während sich rechts von ihnen eine Hofeinfahrt auftat. Sie passierten ein hohes Eisentor, das geöffnet war, und fuhren die leicht ansteigende Einfahrt hinauf. Das Bild des einsam gelegenen, pittoresken schwedischen Bauernhofs wollte sich jedoch nicht einstellen. Das bis auf die Grundmauern abgebrannte Haupthaus und ein weiteres durch die Flammen völlig zerstörtes Nebengebäude wirkten vielmehr wie die Kulisse eines Endzeitfilms.
Niklas wusste nicht, was er mehr fürchten sollte – dass die bösen Überraschungen hier auf sie warteten oder dass sie etwas mit der unheilvollen Begegnung mit Pernille und ihrer Drohung zu tun hatten. Eines stand jedoch fest: Wenn beides zutreffen würde, wollte er gar nicht erst an die nächsten Tage denken. Sofort sehnte er sich zurück in ihren Urlaub. Er versuchte, sich Bilder aus Monterey und vom Pismo Beach vor Augen zu rufen, aber je mehr er sich anstrengte, desto düsterer wurde es um ihn herum.
Er blickte erneut zur Seite.
Pernille saß jetzt plötzlich auf dem Beifahrersitz. Sie sah krank aus. Ausgehöhlte Wangen. Blutleere Lippen. Und vollkommen ausdruckslose, tote Augen. Wie ein Zombie inmitten der Apokalypse, die sich vor ihm abzeichnete.
Zweifellos waren die Bilder zurück.
Magnus Strindberg lehnte an einem Streifenwagen und sprach mit einem Unterton in der Stimme in sein Funkgerät, der Emma sofort wieder klarmachte, weshalb sie eine Aversion gegen ihn hegte. In jedem seiner Worte schwang etwas Abschätziges und Arrogantes mit. Vollkommen egal, wer gerade am anderen Ende der Leitung war, niemand verdiente es, dass so mit ihm gesprochen wurde.
Die leichte Nervosität, die Emma bei seinem Anblick verspürte, versuchte sie zu kaschieren, indem sie ihm professionell zunickte. Ein weiterer Polizeibeamter in Uniform erschien im nächsten Augenblick fast wie aus dem Nichts und trat auf die beiden zu.
»Ihr seid also die Verstärkung aus Malmö?«, fragte er direkt.