Schwerelos - Katie Khan - E-Book

Schwerelos E-Book

Katie Khan

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Beschreibung

Zwei Menschen, schwerelos und allein. Um sie herum: die Schwärze des Alls. Unter ihnen, zum Greifen nah und doch unerreichbar: ihr Zuhause, der blaue Planet. Jetzt haben Carys und Max bloß noch einander zum Festhalten – und nur noch Atemluft für neunzig Minuten. Gemeinsam blicken sie auf die Erde, die ihnen als Liebende keinen Platz bot. Die Erde, zu der sie nun um jeden Preis zurückkehren wollen. Doch die Zeit läuft gegen sie ...

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Seitenzahl: 393

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Das Buch

Das Weltall, in der Nähe des Erdorbits: Eigentlich ist es ein ganz normaler EVA-Einsatz, als die junge Astronautin Carys und ihr Freund und Kollege Max die Laertes verlassen. Doch dann löst sich die Sicherheitsleine und die beiden werden von ihrem Raumschiff getrennt. Zwei Menschen schweben schwerelos und allein in der Weite des Universums. Hilflos müssen sie mit ansehen, wie ihr Schiff immer weiter in der Dunkelheit verschwindet. Jetzt können sie sich nur noch aneinander festhalten – und die Atemluft in den Lebenserhaltungssystemen ihrer Raumanzüge reicht für genau neunzig Minuten. Neunzig Minuten, um ihr Leben zu retten …

Direkt unter ihnen leuchtet die Erde – zum Greifen nah und doch unerreichbar. Der Ort, an dem sie sich einst ineinander verliebt haben und den sie verlassen haben, um zusammen zu sein. Der Ort, an den sie nun um jeden Preis zurückkehren wollen. Doch die Zeit läuft erbarmungslos gegen sie …

Die Autorin

Katie Khan arbeitet für ein großes Filmstudio im Bereich digitales Marketing. Sie ist ein großer Fan von Liebesgeschichten und erfolgreiche Absolventin des Faber Academy Writing Course. Mit ihrem Debütroman Schwerelos landete sie in ihrer Heimat England einen Riesenerfolg und wurde hymnisch von der Presse gefeiert.

Mehr über Katie Khan und ihren Roman erfahren Sie auf:

www.diezukunft.de

KATIE KHAN

SCHWERELOS

ROMAN

Aus dem Englischen übersetzt von Bernhard Kempen

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Titel der englischen Originalausgabe HOLD BACK THE STARS

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Deutsche Erstausgabe 01/2018

Redaktion: Catherine Beck

Copyright © 2017 by Katie Wood

Copyright © 2018 der deutschsprachigen Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Das Illustrat, München, unter Verwendung von Motiven von iurii/Shutterstock und Vadim Sadovski/Shutterstock

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-19657-8V001

www.diezukunft.de

ERSTER TEIL

1

Das ist das Ende.« Sie taumeln ins Blickfeld: Carys atmet schwer, ein panisches Keuchen erfüllt ihren Fischglashelm. »Scheiße«, sagt sie. »Ich werde sterben.« Sie greift nach Max, doch die Bewegung stößt ihn fort, außerhalb ihrer Reichweite.

»Werden wir nicht.«

»Wir werden sterben.« Sie spricht abgehackt, unterbrochen von flachen Atemzügen, die im Glas von Max’ Helm sehr laut klingen. »O Gott …«

»Sag so was nicht«, erwidert er.

»Es ist die Wahrheit. O Gott …«

Sie fallen durch den Weltraum, wirbeln von ihrem Schiff fort, zwei pointillistische Kleckse auf einer unendlich dunklen Leinwand.

»Alles wird gut.«

Er blickt sich um, aber hier draußen gibt es nichts: nichts außer dem endlosen schwarzen Universum links von ihnen und der Erde, die in prächtigen Technicolor-Farben rechts von ihnen hängt. Er streckt sich nach Carys’ Fuß. Seine Fingerspitzen streifen ihren Stiefel, bevor er davonwirbelt, ohne etwas dagegen tun zu können.

»Wie kannst du so ruhig sein?«, fragt sie. »Oh, verdammt …«

»Hör auf, Carys. Komm schon, reiß dich zusammen.«

Ihr Fuß taumelt vor seinem Gesicht empor, und sein Gesicht schwingt zu ihren Knien hinunter. »Was können wir tun?«

Max zieht die Beine an den Körper, so weit er kann, versucht trotz seiner Panik herauszufinden, ob er seine Rotationsachse verändern kann. Den Drehpunkt? Die Achse? Er weiß es nicht. »Ich weiß es nicht«, sagt er, »aber du musst dich beruhigen, damit wir uns einen Überblick verschaffen können.«

»O Gott.« Sie wedelt mit Armen und Beinen, um irgendwie zu verhindern, dass sie vom Schiff abgetrieben wird, aber es ist sinnlos. »Was zum Teufel sollen wir tun?«

Der Aufprall hat sie stärker getroffen, und sie fliegt jetzt schneller fort als er. »Wir driften immer weiter auseinander, während wir fallen, Cari. Bald werden wir zu weit voneinander entfernt sein, um uns noch erreichen zu können.«

»Wir sind auf unterschiedlichen Flugbahnen«, sagt sie.

»Ja.« Er nimmt sich einen Moment, um nachzudenken. »Wir müssen wieder zusammenkommen«, sagt er dann. »Sofort.«

»Okay.«

»Bei drei schwingst du die Arme in meine Richtung, als würdest du in einen Pool eintauchen.« Er macht die Bewegung vor. »Beug den Oberkörper so weit wie möglich durch. Ich werde versuchen, die Beine nach oben zu schwingen, damit du sie packen kannst. Alles klar?«

»Bei drei.«

Es knistert in ihrer Funkverbindung.

»Eins.«

»Zwei …«

»Warte!« Carys hebt eine Hand. »Könnten wir den Zusammenstoß benutzen, um unseren Kurs zu ändern, damit wir zur Laertes zurückdriften?«

Mit dem mattschwarzen Rumpf und ohne sichtbare Lichter liegt die Laertes verlassen über ihnen, ein Schiff, das in der Nacht vorüberzieht. »Wie?«

»Vielleicht wenn einer von uns den anderen heftig genug stößt?«, fragt sie.

Max denkt nach. Vielleicht. Vielleicht? »Nein. Zuerst leinen wir uns an, dann überlegen wir, wie wir zurückkommen könnten. Bevor es zu spät dafür ist. Ich will dich nicht schon hier verlieren. Bereit?«

»Bereit.«

»Jetzt.«

Carys wirft den Körper nach vorn, während Max den Rücken streckt. Ihre Arme schwingen vor, während er die Beine in ihre Richtung stößt. Eine Sekunde lang hängen sie da wie umgekehrte Kommas, bevor sie sich durch die Drehung parallel ausrichten. Als sie sich nah genug sind, packt sie seine Beine und drückt seine Füße an sich. »Hab dich.«

Sie fallen Kopf an Fuß weiter, benutzen dann die Arme, um sich im Uhrzeigersinn zu drehen und langsam am anderen entlangzuhangeln, bis sie sich schließlich in die Augen blicken können.

»Hallo.« Sie legt die Arme um seinen Hals. Er zieht eine Leine aus der Tasche an seinem Oberschenkel und wickelt behutsam das schwebende Seil um sie beide, damit Carys nicht mehr von ihm wegtreiben kann.

Max atmet tief durch. »Wir brauchen einen Plan.« Er blickt zur Laertes zurück, die im Schatten des Alls lauert, während sie immer weiter vom Schiff forttreiben. »Wir müssen Hilfe holen.«

Carys hat sich auf Max’ Rückseite gezogen, wo sie im Tornister seines silbrigen Anzugs kramt. »Wer könnte uns helfen? Wir haben keine einzige Seele mehr gesehen, seit …«

»Ich weiß.«

»Wir haben Lampen«, sagt sie. »Seile, Wasser. Warum haben wir keinen Treibstoff mitgenommen? Wir sind so dumm.«

»Wir mussten versuchen …«

»Wir hätten uns die Zeit nehmen müssen. Du hättest mich zurückgehen lassen sollen und den Stickstoff …«

»Es war ein Notfall. Was hätte ich deiner Meinung nach tun sollen? Zusehen, wie dein Kopf schrumpft, während du erstickst und stirbst?«

Sie zieht sich wieder herum, sodass sie Helm an Helm sind, und sieht ihn vorwurfsvoll an. »So läuft das nicht ab, und das weißt du ganz genau. Die EVSA sagte, schrumpfende Köpfe wären ein Mythos des einundzwanzigsten Jahrhunderts, der von schlechten Filmen in die Welt gesetzt wurde.«

»Die EVSA hat vieles gesagt. Die EVSA hat auch gesagt, dass alles völlig sicher ist und nichts schiefgehen kann.« Max tippt auf den blauen Aufnäher der European Voivode Space Agency am Ärmel seines Anzugs. »Außerdem haben sie uns aufgefordert, eine Entschädigungsverzichtserklärung zu unterschreiben, falls du dich erinnerst.«

»Ich kann es einfach nicht glauben!« Sie blickt sich um. »Sollen wir es mit Osric probieren?«

»Ja. Natürlich. Ja!« Er drückt sie fest an sich.

Carys zieht das Flex über ihre Knöchel und bewegt die Finger, als würde sie tippen. Das Netzgewebe überträgt ihre Muskelreflexe und Fingerbewegungen auf eine unsichtbare Tastatur.

Osric, empfängst du mich?

Sie wartet.

Bist du da, Osric?

Ich bin da, Carys. Ein Ping ertönt in ihrem Audiokanal, und die Worte werden in blauer Farbe auf der linken Seite ihres Helms eingeblendet.

»Gott sei Dank! Max, ich habe Verbindung mit Osric.« Kannst du um Hilfe rufen?

Gewiss, Carys. Wen möchtest du rufen?

Die Basis? Die EVSA? Irgendwen?

»Frag, ob irgendwelche Schiffe in der Nähe sind«, sagt Max. »Nur für alle Fälle.«

Ist irgendjemand nah genug, um uns retten zu können, Osric?

Nein, Carys. Tut mir leid.

Bist du dir sicher?

Ja, Carys. Tut mir leid.

Kannst du mit der Erde sprechen?

Nein, Carys. Tut mir leid.

Sie schreit verzweifelt auf. Der Laut wird in ihrem Helm und durch die Audioübertragung verzerrt. Warum nicht?

Mein Empfänger wurde während des Zwischenfalls beschädigt. Ich glaube, Max hat versucht, ihn zu reparieren, als wir Sauerstoff verloren haben, Carys.

Scheiße.

Wie bitte, Carys?

Entschuldigung, Osric. Tippfehler.

Kein Problem, Carys.

Wir haben ein großes Problem, Osric. Kannst du uns helfen?

Wie soll ich euch helfen, Carys?

Sie seufzt. »Max – ich drehe mich im Kreis, wenn ich mit diesem Ding rede.«

Er streicht über den Ärmel ihres Anzugs. »Ich hatte keine Zeit, mein Flex anzubringen, Cari, also musst du das vorläufig übernehmen. Finde so viel wie möglich heraus. Sind irgendwelche Schiffe in der Nähe?«

Sie schüttelt den Kopf.

Osric, flext sie, kannst du die Laertes zu uns schicken?

Negativ, Carys. Die Navigationssysteme reagieren nicht.

Kannst du sie irgendwie bewegen?

Negativ, Carys. Die Navigationssysteme reagieren nicht.

Sie wenden?

Negativ, Carys. Die Navigationssysteme reagieren nicht, einschließlich der Manövriersysteme, die mir erlauben würden, die Laertes zu rotieren.

Wenn sie sich die Haare raufen könnte, würde sie es tun, aber ihre Hände sind in den Handschuhen gefangen, und ihre lohfarbenen Zöpfe sind im Fischglas ihres Helms eingeschlossen. Das kleine Gänseblümchen, das hinter ihrer Ohrkrempe steckt, ist leicht verrutscht. Kannst du für uns kalkulieren, wie wir zum Schiff zurückkehren können?

Carys? Ich möchte darauf hinweisen, dass ein dringlicheres…

Kalkuliere, wie wir zum Schiff zurückkehren können, Osric.

Laut Situationsanalyse befindet ihr euch auf einer Flugbahn, die keine Rückkehr zur Laertes ermöglicht, sofern ihr keine Stickstoffdüsen benutzt. Verfügt ihr über Stickstoffdüsen, Carys?

Könntest du bitte aufhören, meinen Namen an jeden Satz anzuhängen, Osric?

Gewiss.

Vielen Dank. Nein, wir haben keinen Treibstoff. Irgendeine andere Möglichkeit?

Bitte warte, während die Situationsanalyse läuft, Carys.

Beeil dich! »Osric sagt, dass wir ohne Stickstoffdüsen nicht zum Schiff zurückkehren können.«

Max zieht eine Grimasse. »Sicher?«

Carys? Ich möchte darauf hinweisen, dass ein dringlicheres…

Warte!

»Was könnten wir sonst noch probieren? Osric sagt, dass die Navigationssysteme ausgefallen sind. Soll ich fragen, ob …?«

Carys?

Was ist, Osric?

Die Situationsanalyse ergibt, dass eure Sauerstofftanks nicht voll sind.

Wir waren recht lange außerhalb der Laertes.

Die Summe der verbleibenden Atemluft und des verbrauchten Sauerstoffs ist nicht gleich der Gesamtkapazität der Tanks.

Was soll das heißen? Sprich Europäisch, Osric. Bitte!

Eure Sauerstofftanks waren nicht gänzlich aufgefüllt.

Was?

Des Weiteren ergibt sich aus der Situationsanalyse, dass sie undicht sind.

»Was?« Die Überraschung lässt sie vergessen, dass Osric sie nicht hören kann, also tippt sie es schnell ein. Was?

Eure beiden Sauerstofftanks wurden beschädigt, Carys.

Wie viel Luft haben wir noch?

»Cari?«, fragt Max.

Berechnung läuft…

Beeil dich, Osric!

Ich fürchte, eure Atemluft reicht nur noch für neunzig Minuten, Carys.

2

Neunzig Minuten

Cari. Was ist los?« Max packt sie an den Schultern, aber sie lässt sich nicht beruhigen. »Was hat Osric gesagt?«

Entschuldige, dass ich »Carys« gesagt habe, Carys.

»Neunzig Minuten«, antwortet sie, nimmt große, gequälte Atemzüge. »Unsere Atemluft reicht nur noch für neunzig Minuten.«

Er zuckt zusammen. »Nein. Das kann nicht sein. Sie sollte für mindestens fünf oder sechs Stunden reichen. Wir …«

»Wir werden sterben, Max. Schon sehr bald.« Sie hält die Tränen zurück, während sie nach den richtigen Worten sucht.

»Wir müssen sofort zum Schiff zurückkehren«, sagt er schließlich. »Das Wichtigste zuerst. Du darfst nicht in Panik geraten, dadurch verbrauchst du mehr Atemluft.«

»Und wir verlieren Luft.«

Er schreckt zusammen. »Wirklich? Jetzt gerade?«

»Jetzt gerade. Osric sagt, unsere Tanks wären undicht.«

»Beide?«, fragt er.

»Beide.«

»Scheiße.« Diesmal ist es Max, der flucht. »Dann sollten wir sie ganz schnell flicken.« Er sieht sie an, beurteilt den Grad ihrer Panik. »Soll ich das Loch suchen, während du dich beruhigst?«

»Nein, schon gut«, sagt sie mit zitterndem Herzen. »Ich werde es machen.« Carys lockert ihre Leine, und sie schweben auseinander, fast wie im Ballett. »Streck dich wie ein Schnee-Engel«, sagt sie, fasst ihn am Handgelenk und am Fußknöchel. Die einzige Stoffschicht, die auf seiner Haut liegt, bildet eine widerstandsfähige, unter Druck stehende Oberfläche zum Schutz gegen das Vakuum des Weltraums, wie eine Mischung aus Taucheranzug und Kettenpanzer, die geschmeidige Bewegungen ermöglicht und sich unter ihrer Berührung weich anfühlt. »Lass meine Hand nicht los.«

Max streckt Arme und Beine aus, schwebt auf Hüfthöhe vor ihr. Carys beugt sich über seinen Anzug, ohne ihn loszulassen. Das ist nicht einfach, da sie nicht ruhen, sondern weiter in beständiger Bewegung fallen – in eine Dunkelheit, die wie ein gottloser Ort weit entfernt von der Erde wirkt.

Zügig lässt sie Hand und Blick über seinen Rückentornister aus metallischem Silber wandern. Die Teilstücke sind durch niedrige Rillen getrennt, die blauen Anzeigen an der Seite sind die einzigen Farbtupfer. Carys sucht den gesamten Tornister ab, bis sie auf der Unterseite fündig wird: ein winziger Strom entweichender Luftmoleküle, für das menschliche Auge fast unsichtbar, hätte sie nicht verzweifelt danach gesucht und würden sich die Moleküle nicht ungehindert von Druck und Schwerkraft frei bewegen. »Hab’s.« Sie zieht ein Stück Klebeband aus der Tasche an ihrem Knie, ein Reparaturset, das stets in Griffweite ist, und drückt es auf den Tornister. Sie achtet darauf, dass die Moleküle nicht an den Rändern austreten können.

»Fertig?«, fragt Max.

Osric, flext sie, ist das Leck jetzt abgedichtet?

Der blaue Text erscheint auf ihrer Helmscheibe, begleitet vom irgendwie beruhigenden Ping. Bestätigt, Carys.

»Fertig.« Sie nickt Max zu, atmet schwer aus.

»Dann sollten wir uns um dein Leck kümmern.«

Sie zögert. »Es hätte nie so kommen sollen – wir sollten eigentlich gar nicht hier sein.«

»Komm schon, Cari.«

»Wir haben nur noch für neunzig Minuten Atemluft.« Schließlich stößt sie einen Schluchzer aus, der seine beruhigenden Worte wegwischt, seine Gelassenheit – seine übliche Reaktion auf Stress. Er distanziert sich von der Konfrontation, vom Druck, von ihren überwältigenden Empfindungen, wie es seine Art ist. Jeden Moment wird er einen Witz machen.

»Also, ich weiß nicht, wie du das siehst«, sagt er, »aber ich werde auf MindShare eine sehr schlechte Bewertung für Reisen in den Weltraum abgeben.«

»Halt die Klappe, Max«, erwidert sie, obwohl seine Vorhersagbarkeit in gewisser Weise beruhigend ist. »Das ist nicht die richtige Zeit für deinen albernen Sinn für Humor.«

»Ich weiß.«

Seine Witze waren bisher immer in den ungeeignetsten Momenten gekommen: während des Astronautentrainings, bei Beerdigungen, als sie sich zum ersten Mal begegnet waren.

»Was tun wir jetzt?«

»Wir werden uns beruhigen und sammeln, und dann werde ich dich retten.« Er lächelt. »Wie ich es immer mache.«

Sie hatten sich im dritten Monat der Rotation kennengelernt, während Carys als neue Bewohnerin einer neuen europäischen Stadt weitere Sprachen im Sprachlabor der Region lernte. »Mein Kollege ist von der Woiwode 11 hierhergezogen«, hatte Carys dem Instrukteur erklärt, »also muss ich Neugriechisch lernen, bitte.« Das Sprachlabor der Woiwode war eingerichtet wie eine Retro-Café-Kette, hatte die typische gedämpfte Beleuchtung, Kunstledersofas und den Geruch von eintausend überrösteten Arabica-Bohnen geringer Qualität. Ein fröhliches Poster hinter dem Tresen verkündete: »Lernen Sie fünf Sprachen, dann können Sie sich mit 78 Prozent der Weltbevölkerung unterhalten.«

Der Instrukteur reagierte mit einem Piepen und grünem Licht, dann wurden unverzüglich Anleitungen und Übungen auf Carys’ Workstation projiziert.

»Vielen Dank.« Sie zog das Flex über ihre Hände und machte sich an die undankbare Aufgabe, immer und immer wieder das griechische Alphabet abzuschreiben. Bei ihrem dritten Versuch erinnerte sie sich an das Abendessen. Ein Wasserfall aus Echtzeit-Informationen bewegte sich über drei Wände – die »Wall Rivers«, die einen beständigen Feed aus Nachrichten, Wetterberichten und Updates projizierten. Carys flexte schnell eine kurze Anfrage über den lokalen Kanal von MindShare. Weiß irgendjemand, wo man in der Woiwode 6 Gänsefett kaufen kann? Die Worte erschienen in tadellosem Spanisch an der Wand, wo sie ein paar Sekunden lang pulsierten, bevor sie im Fluss der Kommentare, Fragen und Anekdoten in vielen Sprachen aus der gesamten Woiwodschaft untergingen. Sie erreichte das Omega und ging das griechische Alphabet von vorne durch.

Ping. Carys blickte auf. Jemand hatte geantwortet.

Wofür brauchst du an diesem Tag und in diesem Zeitalter Gänsefett? Die Nachricht war auf Französisch geschrieben.

Mit einem Gefühl der Aufsässigkeit flexte sie auf Katalanisch zurück: Zum Kochen.

Ping. Rumänisch. Warum kochst du an diesem Tag und in diesem Zeitalter?

Bratkartoffeln. Portugiesisch.

Ich fragte: Warum kochst du? Deutsch.

Da ihr Deutsch nicht so gut war, schaltete Carys auf Italienisch um, während der Anflug eines Lächelns in ihren Mundwinkeln zuckte. Neue Nachbarn. Ich möchte ihnen knusprige Bratkartoffeln servieren. Irgendwelche Vorschläge?

Wieder auf Italienisch: Wegen deiner neuen Nachbarn? Nein, tut mir leid.

In dem Spiel, den anderen linguistisch zu übertreffen, war diese Sprachwiederholung ein kleiner Sieg, und nun lächelte sie ganz offen. Du könntest einer meiner Nachbarn sein. Dann serviere ich dir später vielleicht eine Bratkartoffel, die so labberig und zäh ist, dass es sich anfühlt, als würdest du auf einem Gummiball herumkauen. Würdest du dir dann vielleicht wünschen, du hättest mir geholfen, irgendwo Gänsefett zu besorgen?

Es pingte wieder. Ich bin zu misstrauisch, um mich von Fremden bekochen zu lassen.

Du lässt dich doch sicher auch in den Rotationsrestaurants von Fremden bekochen?, flexte sie zurück.

Eigentlich nicht. Ich bin Koch, also kein Problem.

Carys hielt inne. Du arbeitest im RR?

Ja.

Großartig. Vielleicht könntest du mir mit ein paar Kochtipps helfen. Weißt du zufällig, wo ich hier in der Nähe Gänsefett bekomme?

Keine Antwort.

Hallo? Sie fügte einen Smiley hinzu, um den Tonfall zu mildern.

Versuch es im klassischen Supermarkt gleich neben dem Passeig.

Vielen Dank.

Dort verkaufen sie sogar Lebensmittel in Dosen, was an diesem Tag und in diesem Zeitalter kaum zu glauben ist.

Du bist ja ganz besessen von »diesem Tag und diesem Zeitalter«, flexte Carys zurück. Das war schon das dritte Mal.

Wer ist das nicht? So vieles hat sich verändert.

Wohl wahr. Danke für die Hilfe! Ich werde später zu diesem Supermarkt gehen. Sie wiederholte das griechische Alphabet noch sechsmal und entfernte dann das Geflecht von ihrem Handrücken, während sie Bratkartoffeln in sieben Sprachen in ihrem Kopf hatte.

Carys trat in einen wunderschönen Septemberabend hinaus. Eine angenehme Brise strich durch die Ruinen. Glatte Konstruktionen aus Glas und Stahl erhoben sich aus Ziegeln und Fundamenten von Gebäuden, die schon lange nicht mehr existierten, ihre abgestorbenen Hüllen wurden von neuen Inneneinrichtungen erhalten und strukturell gestützt. Stellenweise waren die Überreste von schmalen Gassen und hohen verputzten Wänden zu erkennen, verstärkt durch Stahlträger. Innerhalb der Ruinen befanden sich Zimmer, die aus großen Glasscheiben errichtet worden waren: eine glänzende moderne Matrjoschkapuppe in zerbrochenen, uralten Bauten.

Das Licht verblasste zu einem Orangeton, während sie durch die Plätze voller Cafés lief, die nackten Unterarme um den Brustkorb geschlungen, während ihr Chip hinterherhinkte und sie an einer Ecke innehalten ließ. »Kopf hoch, Liebste, vielleicht passiert es nie«, kam eine Meldung herein, und sie drehte irritiert das Handgelenk.

»Wenn die Meteore die Menschheit auslöschen, weiß ich, wen es zuerst treffen sollte«, murmelte sie, als ihr Chip endlich mit dem Update fertig war und den Rest des Wegs berechnet hatte.

Carys erreichte eine breite, von Bäumen gesäumte Straße mit Kopfsteinpflaster und wandte sich einer Reihe von Geschäften zu, deren Fassaden vom Alter gebeugt waren und von Stahlträgern aufrecht gehalten wurden. Ein vielfarbiger Perlenvorhang markierte einen kleinen Eingang, über dessen Fenster der Schriftzug Fox Supermarkets leuchtete. Draußen stand ein Zeitungsdisplay mit blinkender Schlagzeile: »Fallout in USA endlich auf sichere Werte gesunken.«

Altertümliche Drahtkörbe und Einkaufswagen waren zu beiden Seiten des Eingangs aufgereiht. Carys schob die Perlenschnüre mit einem rhythmischen Prasseln auf und trat in den Supermarkt.

Im Gang acht kniete ein Mann auf dem Boden, während er Lebensmitteldosen einsortierte. »Entschuldigen Sie, dass ich störe«, sagte sie, »aber können Sie mir die Richtung zeigen, wo ich Gänsefett finde, falls Sie so was haben?«

Er drehte sich um. Dunkles, leicht lockiges Haar, das über blaue Augen fiel, die amüsiert blickten, als hätte sie einen Witz verpasst. »Du musst Carys sein.« Er räumte die letzte Dosen ein, stand auf und reichte ihr eine. »Wir haben miteinander gesprochen. Hallo.«

Verdutzt streckte sie die Hand aus und nahm die Dose entgegen. »Sie … du … Moment. Was?«

»Auf MindShare.«

»Aber hast du nicht gesagt … bist du nicht Koch? Im RR?«

»Nein. Ja. Fast.« Er hatte den Anstand, leicht zu erröten. »Zumindest werde ich es sein. Ich habe mich während meiner letzten Rotation ausbilden lassen, also hoffe ich, dass ich hier eine Stelle in den Restaurants bekomme. Sobald mir jemand bei den Familienangelegenheiten geholfen hat«, sagte er und deutete in einer umfassenden Geste auf den Supermarkt, »bin ich weg, hoffe ich.«

»Gut«, sagte sie und drehte die Dose mit Gänsefett in der Hand. »Ich hoffe, du findest jemanden.«

»Danke«, sagte er. »Was machst du?«

Sie zögerte. »Ich fliege.«

»Drachen?«

»Shuttles.«

Er zog eine beeindruckte Miene. »Cool.«

Carys wich einen kleinen Schritt zurück. »Ich hetze nur ungern, aber ich bin mit diesem Abendessen schon etwas spät dran. Danke für deine Hilfe, und … es war nett, dich kennenzulernen.«

»Kein Problem. Ich bin übrigens Max.«

»Carys.« Verlegen hielt sie ihm die Hand hin, die er schüttelte. »Wie hast du meine Anfrage gefunden?«, wollte sie wissen.

»Anfragen auf MindShare mit Schlüsselwörtern aus dem Lebensmittelbereich werden hierher weitergeleitet. Sie werden für die Geschäfte und Restaurants gekennzeichnet, damit sie sie beantworten können.«

»Das klingt vernünftig.« Sie nickte, drehte sich um und ging los. »Noch mal vielen Dank.«

»Und«, rief er ihr nach, »dein Profilfoto ist einfach süß. Hat auch geholfen.«

Carys blickte sich über die Schulter um. »Geschäftsleiter, Koch und Online-Stalker? Du musst sehr viel zu tun haben«, erwiderte sie, aber in unbeschwertem Ton.

»Drei Vollzeitjobs«, erwiderte er. »Und du hast geantwortet, als ich auf Französisch geschrieben habe – die Sprache meiner letzten Rotation.«

Sie hob eine Augenbraue und drehte sich wieder ganz zu ihm um. »Wirklich? Ich war davon ausgegangen, dass du für unsere Unterhaltung den Übersetzungschip benutzt hast.« Sie deutete auf sein Handgelenk.

»Nein.«

»Ich auch nicht«, sagte sie, worauf sie beide lächelten. »Auch ich habe in W8 gelebt. Vor zwei Rotationen. Ganz im Süden, am Meer.«

»Ich habe drei Jahre in Paris verbracht. Da habe ich kochen gelernt – ich mache ein astreines Soufflé.«

Nach einer kurzen Pause sagte sie: »Hör mal, ich habe ein paar meiner neuen Nachbarn zum Abendessen eingeladen. Nur ein paar Leute, damit wir uns anfreunden können. Nichts Ausgefallenes. Ich kenne seit Adam niemanden. Möchtest du auch vorbeikommen?«

»Sehr gern. Wer ist Adam?«

»Das ist eine Redensart. Aber ich sehe an deinem Grinsen, dass du das weißt und mich veräppeln willst. Ich werde Veräppeln gleich neben leichtem Stalking auf die Liste setzen. Also heute Abend … um acht? Ich flexe dir die Adresse. Bring irgendwas mit. Egal.« Sie wiederholte die Nicken-Umdrehen-Losgehen-Prozedur.

»Gut. Wir sehen uns.«

Kerzenlicht hallte von sechs Weinkristallgläsern und Wasserkaraffen wider. Die Dinnerparty war in vollem Gang. Zwei Wände von Carys’ Wohnzimmer waren auf die Wall Rivers geschaltet. Einer der riesigen eingebauten Bildschirme zeigte einen Strom aus Nachrichten, der andere das Geplapper auf MindShare. Für den Text hatte sie auf beiden Wänden ein warmes Orange ausgesucht. Die ehemalige Barrio-Seite des Gebäudes warf die Schatten von Balkongittern in den Raum, das Rauschen des Meeres drang durch die antiken Rollläden. Das Buffet hielt ein Angebot von Brathähnchen, Gemüse, Yorkshire-Puddings und Carys’ vielgepriesenen Bratkartoffeln bereit.

»Yorkshire-Puddings mit Hähnchen?«, fragte Liljana, eine von Carys’ neuen Kolleginnen. »Ist das nicht ein wenig …?«

»Unkonventionell«, warf John ein, Baustatiker und ihr neuer Nachbar von genau gegenüber, während er nach einem Servierlöffel griff. »Wo ich herkomme, pfeift man auf Konventionen und isst, was man mag.«

»Und wo kommst du her, John?«, fragte Carys und warf ihm einen dankbaren Blick zu.

John wand sich mit leichtem Unbehagen. »Nun, wie wir alle weiß ich es nicht mit Sicherheit. Aber meine ersten Erinnerungen stammen aus der Woiwode 3. Ich war fünf. Meine Oma nahm mich mit, um Fish ’n’ Chips zu essen, aber ich wollte nur Pudding. Ich war quengelig, weil ich seit Ewigkeiten keine komplette Mahlzeit mehr gegessen hatte. Der Koch im RR rechnete beides zusammen und gab mir einen frittierten Schokoriegel mit Pommes frites.«

Rund um den Tisch lachten alle.

»Ich weiß. Aber ich war jung, und es hat funktioniert – es brachte mich dazu, den Teller zu leeren. Oma belohnte mich, weil ich alles aufgegessen hatte, und für den Rest des Monats habe ich jedes Mal meinen Teller geleert.«

»Darauf trinke ich.« Liljana hob ihr Glas, und die Runde folgte ihrem Beispiel. »Auf den geleerten Teller.«

Als die Gruppe mit den Gläsern anstieß, strahlte John. »Was ist mit dir, Liljana? Von woher bist du hierher gezogen?«

»Mein Name wird Lil-i-ana ausgesprochen«, korrigierte sie ihn. »Ich weiß, dass es anders aussieht, wenn man ihn auf MindShare liest.«

»Ich bitte um Verzeihung, Liljana.« Diesmal klang es richtig. »Ein hübscher Name.«

»Meine Eltern waren auf Rotation an der Adria, als ich gezeugt wurde, daher der Name, obwohl ich rein afrikanischer Herkunft bin. Zuletzt habe ich in der Woiwode 1 gelebt.«

»Herkunft«, sinnierte Olivier, den Carys im Sprachlabor getroffen und aus einer höflichen Laune heraus eingeladen hatte. »Wir Europäer der dritten Generation sprechen nicht allzu oft über unsere Herkunft.«

»Woiwode 1?«, fragte Carys Liljana, ohne auf Oliviers Einwurf einzugehen. »Wie war das Leben in der zentralen Woiwode?«

»Utopisch«, erwiderte Liljana, und der ganze Tisch lachte. »Und immer noch sehr stolz.«

»Das sollten wir auch sein«, sagte John. »Frei und unabhängig in ständig wechselnden gemischten Gemeinschaften zu leben – darauf können wir sehr stolz sein.«

»Hört, hört«, sagte Liljana, bevor sie vorsichtig das utopische Gelöbnis anstimmte: »In wessen Namen handelt ihr?«

»Keines Gottes, keines Königs, keines Landes«, antworteten alle.

»In wessen Namen?«

»Nur in meinem.«

Olivier nutzte die Gelegenheit, sich noch etwas Wein nachzuschenken. »Aber ist es nicht interessant«, fragte er, während er den Pinot Grigio in seinem Glas schwenkte, »dass wir nicht mehr darüber sprechen, woher wir stammen, sondern wo wir überall gewesen sind?«

»Das ist das Schöne an der Rotation«, sagte Max. »Wir sehen etwas von der Welt, wir leben an verschiedenen Orten, nirgendwo länger als drei Jahre …«

Astrid beugte sich vor. »Ich habe meinen Namen in den nördlichen Woiwoden erhalten, und auf meiner sechsten Rotation wurde ich dorthin zurückgeschickt. Es war wunderbar, für eine Weile wieder in Skandinavien zu leben. Aber auch sehr kalt.«

Die anderen lachten.

»Was war der kälteste Ort, an dem ihr gelebt habt?«, fragte John.

»Russland«, erwiderte Liljana. »W13. In den Büros der Weltraumorganisation ist es oft minus zehn Grad.«

Olivier erschauderte. »Irland.«

Carys hob eine Augenbraue. »Irland? Der kälteste Ort?«

»Frostbeule«, amüsierte sich Astrid. »Ich war dort und fand es ausgesprochen mild.«

»Vor drei Rotationen habe ich in der Woiwode 5 gelebt, und es war eiskalt«, bekräftigte Olivier. »Warst du jemals in einer Bar am River Liffey, wo Folk gespielt wird?«

Astrid schüttelte den Kopf.

Er ließ sich nicht beirren. »Wirklich ein toller Laden.« Er nahm einen Schluck Wein und ließ sich von seinem Stuhl gleiten. »Carys, ich glaube, er würde dir gefallen. Ich habe dort einmal ein Lied gesungen – ein klassisches Liebeslied. Ich werde es jetzt für dich singen.«

O Gott! »Das ist wirklich nicht nötig. Max hat Pudding mitgebracht …«

Olivier nahm sich eine Gitarre, und während Carys ihre Mutter verfluchte, die sich gewünscht hatte, dass sie sich um das verdammte Ding kümmerte, begann er zu spielen und kam auf sie zu.

O Gott, o Gott! Sie betete inständig, dass er sie nicht direkt ansang. Doch als er den Mund öffnete und loslegte …

»Lass mich dir helfen«, sagte Max und machte sich daran, die Teller vor Carys abzuräumen, wobei er sich wie zufällig zwischen sie und ihren Bewunderer stellte. Er blickte sich am Tisch um und fragte: »Möchte noch jemand Nachtisch?«

»Eine großartige Idee«, sagte sie.

»Vielleicht könntest du mir helfen«, erwiderte er, während Olivier hinter ihnen heftig auf die Gitarre einschlug.

»Sicher.« Sie versuchte, sich an Olivier vorbeizuschieben, der immer noch spielte, aber dann beugte er sich vor, und der Weindunst seines Atems schlug ihr entgegen.

Während Carys zurückzuckte, legte Max die Finger um den Steg, und der Ton verstummte mit einem metallischen Missklang. Carys’ Verehrer hielt verwirrt inne. »Nachtisch?«, fragte Max freundlich.

Olivier gab sich geschlagen und ließ sich auf seinen Stuhl zurückfallen.

Astrid tätschelte sein Handgelenk. »Manche Leute verstehen nichts von bedeutender Kunst.« Sie füllte sein Weinglas nach und wandte sich ihm zu. »Sie haben einfach keine Ahnung.«

Max und Carys trugen die Teller in die Küche, dann zogen sie die Tür hinter sich zu. Sie lehnte sich dagegen und atmete aus. Max gesellte sich zu ihr. »Mein lieber Schwan«, sagte sie und blickte zur Decke auf. »Das war heftig. Vielen Dank.«

»Ich verstehe einfach nicht, warum manche Leute so was auf zivilisierten Dinnerpartys machen. Glaubst du«, fuhr er fort, »er wollte, dass wir mitmachen? Eine Jam-Session? Ich hätte mit Bongos aushelfen können, und Liljana könnte mit Löffeln klappern, als Maraca-Ersatz …«

»Oder man könnte zwei große Becken zusammenschlagen, mit Oliviers Kopf dazwischen …«

»Das ließe sich bestimmt arrangieren.«

»Ich könnte in die Tasten greifen …«

»Du spielst Klavier?«

Carys nickte.

»Das ist cool. Wo ist es?«

Sie streckte die Finger, während sie immer noch die Teller in den Händen hielt, und lächelte.

»Ach so, natürlich. Du könntest überall spielen. Ich dachte nur … weil du eine traditionelle Gitarre besitzt. Im anderen Zimmer.«

»Die gehört meiner Mutter. Wir kümmern uns abwechselnd darum, je nachdem, wer sich im kühleren Klima aufhält. Sie sagt, Luftfeuchtigkeit würde dem Instrument irgendwie schaden. Sie ist geradezu davon besessen. Ich bin die Hüterin von Gwens Gitarre, zumindest für einen begrenzten Zeitraum.«

»Also wäre sie traurig, wenn sie gesehen hätte, wie sie heute Abend missbraucht wurde?«

Wieder lachten sie leise, und Carys stellte die Teller neben die Spüle. Max zog ein Geschirrhandtuch hervor und legte es sich über die Schulter, während er sechs Dessertschalen bereitstellte und Oliviers Melodie summte, worauf sie beide kicherten. »Wo ist deine Familie jetzt?«

Sie lehnte sich gegen die Anrichte und beobachtete, wie er den Nachtisch portionierte. »Meine Eltern leben momentan in W14, und mein Bruder arbeitet in einem Hilfsteam in den ehemaligen Vereinigten Staaten …«

»Scheiße. Wirklich?«

»Ja. Wir haben seit einiger Zeit nichts mehr von ihm gehört – ich glaube, damit mussten wir rechnen, aber es ist trotzdem schwer. Wahrscheinlich ist die Kommunikation nicht so wichtig wie die Aufgabe, die Überlebenden mit Nahrung und Wasser zu versorgen. Meine Schwester ist in der portugiesischen Woiwode.«

»Aha«, sagte Max, während er mit dem Geschirrhandtuch am Rand der Dessertschale entlangstrich. »Daher deine mäßigen Portugiesischkenntnisse bei unserer Unterhaltung auf MindShare.«

Sie lächelte. »Das ist dir aufgefallen, was?«

»Wie viele Sprachen sprichst du insgesamt?«

»Vielleicht fünf? Oder sechs? Bald sind es sechs. Ich habe jetzt mit Griechisch angefangen. Beherrschst du wirklich alle diese Sprachen?«

»Sehe ich aus wie jemand, der darauf angewiesen ist, dass der Chip alles für ihn übersetzt?« Er zog die Augenbrauen hoch.

»Nein«, sagte sie, während sie ihn musterte. »Du siehst wie jemand aus, der schwer schuftet.« Sie griff nach seiner Hand und drehte sie um. »Ein Arbeitstier.« Ihr wurde bewusst, wie abgeschmackt das klang, und sie errötete. »Jemand, der seinen Lebensunterhalt verdient. Der einen Laden am Laufen hält, weil er es versprochen hat.« Sie hielt inne. »Bin ich nah dran?«

»Näher als die meisten Leute.«

»Wirklich?«

»Ja. Hauptsächlich, weil du keinen halben Meter von mir entfernt bist.«

Sie verdrehte die Augen, und klirrendes Gelächter aus dem Nebenzimmer brachte sie in die Realität zurück.

»Also«, sagte er in einem anderen Ton, »du fliegst Shuttles, magst keine Ständchen und fragst Leute, die ihr gesamtes Leben in der Rotation verbracht haben, woher sie stammen?« Er legte den Kopf schief und betrachtete sie fragend.

»Ach so«, sagte sie und machte sich daran, die Anrichte abzuwischen. »Das vergesse ich immer, wenn ich mit Leuten wie Liljana zu tun habe. Ich habe schon immer dazu geneigt, ins nächstbeste Fettnäpfchen zu treten.«

»Was meinst du mit ›Leute wie Liljana‹?«

»Die stolz an die Utopie glauben.«

Max musterte sie. »Also Leute wie ich.«

»Ja?«

»Ja«, sagte er. »Meine Familie … wir sind leidenschaftlich von den Vorzügen der Rotation überzeugt.«

»Es ist wichtig, immer wieder umzuziehen und allein in anderen Städten zu leben?«

»Ja.«

Carys zuckte mit den Schultern und wahrte eine neutrale Miene. »Dann bin ich wahrscheinlich etwas anders aufgewachsen als du.«

»Inwiefern?«

Sie rührte in dem Topf, verteilte alles, und in der Küche breitete sich wieder der Geruch nach Brathähnchen aus. »Das ist eine ganz andere Geschichte für eine ganz andere Zeit. Wollen wir jetzt das Dessert nach draußen bringen?«

Irgendetwas flackerte über sein Gesicht, während er geschickt vier Schalen aufhob und auf Hand und Unterarm balancierte. »Klar. Und später kannst du mir vielleicht mehr über deine Herkunft erzählen.«

»Vielleicht«, sagte Carys leichthin und ging mit den restlichen zwei Schalen zur Küchentür, »aber benutz bitte nicht mehr das Wort ›Herkunft‹, wenn Olivier in der Nähe ist. Damit machst du uns Europäer der dritten Generation ganz verrückt.«

»Richtig«, sagt Carys. »Du hast mich schon immer gerettet, Max. Ein weißer Ritter, wie er im Buche steht.« Die Sternendämmerung umgibt sie, während sie fallen, während sie wie Marionetten an den Fäden des Raums hängen. »Aber diesmal ist es ernster als mit meinen Bratkartoffeln.«

»Immerhin bist du etwas ruhiger geworden«, sagt er, »und gehst vernünftiger mit deiner Atemluft um.«

»Gut«, sagt sie, »und jetzt kannst du aufhören, mich so gönnerhaft zu behandeln. Ich bin zurück. Ich bin hier. Ich atme.« Sie blickt sich in der Dunkelheit um, dann wendet sie sich wieder der blauen Anzeige ihres Luftvorrats zu. »Was zum Teufel wollen wir jetzt machen?«

»Keine Sorge«, sagt Max. »Ich habe einen Plan.«

3

Siebenundachtzig Minuten

Er löst die Leine, und sie trennen sich voneinander, während sie immer noch vom Schiff fortstürzen. »Jetzt bist du an der Reihe, den Schnee-Engel zu machen«, sagt er und hält sie an Handgelenk und Fußknöchel fest, »weil der erste Teil des Plans darin besteht, das Leck in deinem Tornister zu finden.«

»O Gott«, sagt sie und beobachtet, wie das weiße Seil zwischen ihnen schwebt. Sie bemüht sich, die Panik zu unterdrücken, die erneut in ihr aufsteigen will. Sie reicht ihm das Klebeband, dann sucht er nach entweichenden Molekülen, wie sie es bei ihm gemacht hat. »Es ist winzig«, sagt Carys. »Vielleicht kannst du es gar nicht sehen. Achte darauf, dass du einen dunklen Hintergrund hast – nur dann wirst du es erkennen.«

Ohne ein Wort zu sagen, manövriert er Carys herum, bis er ins Sonnensystem hinausblickt, weg von der Erde, vor dem schimmernden Streifen der Milchstraße.

»Wusstest du«, plaudert sie zur Ablenkung, während Max nach dem Gasstrom sucht, »dass es mehr Sterne im Weltraum gibt als Sandkörner an sämtlichen Stränden der Erde?«

»Das klingt erschreckend.«

»Manche sagen, für jedes Sandkorn gibt es zehntausend Sterne. Stell dir vor, dass viele davon erheblich größer sind als unsere Sonne.«

Wenig später drückt er einen behandschuhten Finger auf einen winzigen Luftstrahl. »Es ist an der Unterseite.«

»Genau wie bei dir. Kannst du es flicken?«, fragt sie.

»Ja.« Er bringt das Klebeband an, rubbelt es fest, damit es hält, und seufzt vor Erleichterung. »Erledigt. Jetzt bleib ruhig – ich möchte sehen, ob es funktioniert.«

»Ob was funktioniert?«

Max tastet sich an Carys’ Luftversorgung entlang, bis er die manuelle Überbrückung für die verschiedenen Unterteilungen findet, dann den Schlauch, der vom Tornister zu ihrem Helm führt. Er ist tief in eine Rille eingebettet, was ihn zur Verzweiflung bringt. Ohne Schwierigkeiten wird er ihn nicht herausbekommen.

»Max?«

»Gib mir noch etwas Zeit. Ich habe eine Idee, aber ich muss noch eine Minute lang nachdenken.«

»Bist du verrückt?«, erwidert sie. »Wir haben nicht mehr allzu viele Minuten übrig.«

»Dann eine halbe. Vertrau mir.« Er legt die Finger um den Schlauch und zieht fest daran, spürt, wie er ein wenig nachgibt. Er rollt ihn zwischen Daumen und Zeigefinger und zieht erneut, löst die Luftversorgung von dem langen Faden, der sie festhält. An der Unterseite des Tornisters sind die Gummiteile spiralförmig zusammengewickelt. Als Max oben dreht, ziehen sie sich zusammen. Trotzdem macht er weiter, auch wenn es mühsam ist.

»Wie kommst du voran?«

»Ich brauche eine Düse«, sagt er. »Was könnten wir benutzen?«

»Wie groß?«

»Klein.« Er hält zwei Finger nebeneinander. »So schmal.«

»Wir haben den Schlauch für den Wasserbeutel«, sagt sie leise. »Aber wenn wir ihn nehmen, können wir nicht mehr …«

»Wir haben noch den anderen Beutel. Er reicht für mindestens …«

»Wofür reicht er? Sechsundachtzig Minuten? Länger wollen wir nicht überleben?«

»Doch, natürlich. Aber wenn wir jetzt nicht versuchen, uns zu retten, wird es keine Rolle mehr spielen, ob wir noch für zwei Tage Wasser haben. Nichts wird mehr eine Rolle spielen, wenn wir keine …«

Sie sehen sich an und sagen nichts.

Er legt eine Hand auf ihre. »Bitte.«

»Du hast recht«, sagt sie und legt ihre andere Hand auf seine. »Du hast recht. Wir müssen es versuchen.«

»Danke.«

Sie sucht nach den Lampen und dem Wasserbeutel und löst den durchsichtigen weißen Strohhalm, reicht ihn Max, ein winziges Symbol der Hoffnung vor dem riesigen Hintergrund aus Nichts. »Mach was draus«, sagt sie, während er ihn vorsichtig mit Daumen und Zeigefinger entgegennimmt.

Er drückt den Strohhalm zu einem Trichter auf, biegt den Kunststoff, damit er die Form hält. »Ich werde dir genug Luft für eine Minute übrig lassen und die Zufuhr abstellen. Spar deine Atemluft, so gut es geht, okay?«

Sie blinzelt, dann nickt sie.

»Es wird bald vorbei sein.« Nun hat er den Schlauch ganz aus Carys’ Luftversorgung herausgezogen. »Mach dich bereit.«

»Wofür?«, flüstert sie.

»Versuch nicht zu sprechen. Atme langsam, wenn überhaupt. Und gerate nicht in Panik.« Er löst den Schlauch und steckt die provisorische Düse in das Ende. Gleichzeitig drückt er auf die manuelle Überbrückungsschaltung an ihrem Tornister, worauf ein Sauerstoffstrahl durch den Schlauch zischt und ihren Körper wegdrückt. Sie bewegt sich einen Zentimeter weit, und er lacht vor Erleichterung. »Es funktioniert!« Er lässt ihre Hand los, während sie sich ein kleines Stück weiter entfernt.

»Warte …« Carys schüttelt die Arme und greift nach ihm. Sie darf nicht zu viel sprechen, bis er sie wieder an die Luftzufuhr angeschlossen hat.

»Du bewegst dich, Cari …«

Hektisch gibt sie ihm Signale, starrt ihn mit grünen Augen an. Der Sauerstoff entweicht zu schnell, während sie nicht genug beschleunigt wird …

Sie entfernt sich nicht weit genug, und er vergeudet nur ihre Atemluft. Er packt ihren Tornister, und nun gerät er in Panik, schließt den Schlauch wieder an, schraubt ihn falsch herum hinein. Das zusammengeknüllte Ende des Schlauchs entrollt sich, und er versucht es zu erwischen, als es davonschießt und noch mehr Sauerstoff ins Vakuum entlässt.

Jede Sekunde zählt.

Er zieht den Schlauch zurück und wickelt ihn auf, drückt das letzte Stück in die Rille, schraubt ihn wieder fest.

»Max«, keucht sie.

»Alles in Ordnung mit dir?«

»Wolltest du die Luft als Treibstoff nutzen?«

»Ja.«

»Ich würde nicht genug Geschwindigkeit erreichen. Du müsstest das Gas erhitzen, um genug Schub zu erzeugen«, sagt sie, während Schweißperlen neben ihrem Gesicht im Innern des Helms schweben.

»Aber«, sagt Max, »ich dachte, es würde funktionieren, wenn der Druck …«

»Nein.« Carys hebt eine Hand, um sich die Augen zu reiben, doch es geht nicht. Also schüttelt sie den Kopf hin und her, um die Flüssigkeit loszuwerden. Die Tröpfchen sammeln sich in ihrem Haar, das wie ein Heiligenschein um ihren Kopf geflochten ist, damit es ihr nicht ins Gesicht fällt. Ihr Adrenalin strömt, und ihr Herzmonitor piept. Sie schaltet den Alarm aus, aber ihre Herzschlagfrequenz steigt trotzdem weiter.

»Tut mir leid«, sagt er.

Wieder piept ihr Alarm. »Man braucht Druck, um Schub zu erzeugen.«

»Das wusste ich nicht. Tut mir leid.« Er greift nach ihr.

»Ich kann noch gar nicht fassen, dass du mich ganz allein zurückschicken wolltest, ohne mit mir darüber zu sprechen.«

Max’ Hand hält auf dem Weg zu ihr inne. »Das ist es, was dich eigentlich ärgert, nicht wahr?«

»Wie viel Luft habe ich verloren?«

»Nicht allzu viel.« Er wirft einen Blick auf die Anzeige an ihrem Tornister. »Ich werde sie dir ersetzen. Beim nächsten Mal benutzen wir meinen Tornister.«

»Beim nächsten Mal?«, ruft sie mit verzerrter Stimme. »Jetzt habe ich weniger Luft als du, also wirst du wahrscheinlich zusehen müssen, wie ich sterbe. Gut gemacht!«

»Flipp nicht aus. Ich habe versucht, dir zu helfen.«

»Ja, aber du hast es nicht getan. Und jetzt habe ich noch weniger Zeit mit dir, um unser Problem zu lösen.«

»Wenn es funktioniert hätte, wärst du in Sicherheit gewesen. Du hättest gerettet werden …«

»Himmel!« Carys schüttelt den Kopf. »Ich brauche keinen weißen Ritter, Max!«

Er klingt flehend. »Ich versuche doch nur, das Richtige zu tun.«

»Es ist nicht dein Job, mich zu retten.«

Er hatte die Dinnerparty gegen Mitternacht verlassen, und sie hatte ihn zur Tür begleitet, sich gegen den Rahmen gelehnt und in der Kühle unter ihrem Cardigan die Arme um sich geschlungen.

»Danke für den Abend«, hatte er gesagt. »Danke, dass du einen weiteren völlig Fremden zum Essen eingeladen hast.«

»Danke, dass du mir mit den Bratkartoffeln geholfen hast.« Sie lachten. »Was machst du morgen?«

»Im Laden arbeiten. Und du?«

»Dasselbe, arbeiten.«

Trotzdem zögerte er es hinaus. »Wirst du demnächst wieder Griechisch lernen?«

»Oh, zweifellos.«

»Im Sprachlabor?«

Sie nickte.

»Gut. Dann weiß ich, wo ich dich finde.« Er wartete. »Wir sehen uns bald, Carys.«

Er blickte sich noch ein paarmal um, sah sie als Schattenriss vor dem orangefarbenen Schein der Straßenbeleuchtung, während sie sich vom Eingang entfernte.

Er brauchte nicht lange bis nach Hause. Der Chip an Max’ Handgelenk erkannte seine Wohnung, als er nah genug war. Die Tür öffnete sich klickend, und der Metallbolzen zog sich vom Holz zurück. Die Lampe im Korridor schaltete sich automatisch ein, doch als er eintrat, sah er nur leere Rahmen – anders als in Carys’ Wohnung, wo von ihrem Chip unablässig Fotos auf die Wände projiziert wurden. An der Küchenwand hingen immer noch Bilder von den Bewohnern während der letzten Rotation, und wenn Max darunter kochte, achtete er nie auf ihre lächelnden Gesichter oder die fantastischen Sonnenuntergänge.

Er dachte an das, was Carys an diesem Abend bei der Party gesagt hatte: dass sie ihre Wohnung sofort nach dem Einzug dekoriert hatte. Sie hatte über MindShare Kontakt zu ihren neuen Nachbarn aufgenommen und Gespräche mit ihren Freunden und Verwandten in anderen Woiwoden gestreamt. Ihr Leben war voller Menschen, voller Lärm und Durcheinander. »Willst du diese Horde wirklich rund um die Uhr in deinem Haus haben?«, hatte er gefragt und auf Astrid und Olivier gezeigt, die sich auf dem Sofa näher kamen, wobei Letzterer Wein aus seinem Glas auf Carys’ hellen Teppich verschüttete.

»Warum nicht?«, hatte sie erwidert. »Es ist um Längen besser, als die ganze Zeit allein zu sein.«

Er war sich nicht sicher, ob er ihr zustimmen konnte.

Max ging nach oben, achtete darauf, die knarrenden Fußbodendielen zu meiden. Lautlos trat er ins Badezimmer und drückte auf das Pad, um seine Zahnreinigung zu programmieren. Er lehnte sich gegen das Waschbecken, betrachtete sich aufmerksam im Spiegel, während er immer noch ihren funkelnden Blick spürte und wusste, dass er noch nicht wollte, dass diese Nacht vorbei war … noch nicht.

Er berührte die Schulter des Typen an der Tür zum Club, der ihn sofort hineinließ. Carys war nicht die Einzige, die von Max’ Hilfe auf MindShare profitiert hatte. Es war fast ein Uhr nachts, aber im Dormer war es recht voll für einen Donnerstag, weil Gruppen von Leuten, die sich bei ihrer neuen Rotation angefreundet hatten, schon vor dem Wochenende feierten – unten an der Bar oder auf der gläsernen Tanzfläche über seinem Kopf. Er blickte hoch, bewunderte die farbigen Muster, die durch die Bewegungen der Tanzenden erzeugt wurden. Das berührungssensitive Glas leuchtete unter ihren Füßen in Farbexplosionen auf. Der Effekt war faszinierend und die einzige Dekoration, die diese umfunktionierte Kirche wirklich brauchte. Nachdem in Europia alle religiösen Überzeugungen zum Glauben zusammengefasst worden waren (und alle Nichtreligiösen zu den Nichtgläubigen gehörten), wurden viele alte religiöse Gebäude neu genutzt. So war ihre beeindruckende Architektur zu Kultlocations im Nachtleben der Woiwoden geworden.

»Max! Hier drüben!«, rief Liu von den zerschlissenen Chesterfield-Sofas neben dem Bar-Altar im Erdgeschoss. Liu war ein bekannter chinesischer Dissident, der mit seinen abenteuerlichen Geschichten immer wieder große Zuhörermengen anzog. Eine Gruppe Mädchen, die sich in ihrer neuen Clique offensichtlich noch nicht wohlfühlten, umringte ihn, und Max ging hinüber, glättete sein T-Shirt, das bereits einen Tag alt war, und strich sich das Haar aus dem Gesicht.

»Hallo!«, sagte er.

Ein Chor aus Begrüßungen in unterschiedlichen Tonlagen antwortete ihm, und er lächelte freundlich.

»Ich hätte nicht gedacht, dass du heute Abend noch rüberkommst«, sagte Liu und stand auf, um Max nach der bevorzugten Begrüßungsgeste der Woiwoden die Arme auf die Schulter zu legen. »Ich hatte erwartet, dass du für heute genug hast.«

Max schüttelte den Kopf, und ein Mädchen in einem geschlitzten roten Kleid sprang auf. »Wir haben von dir gehört«, sagte sie, »vom berühmten Max.«

»Aha?«

»Es besteht kein Grund zur Schüchternheit.« Sie leckte sich Salz vom Handgelenk und kippte einen Tequila hinterher. Max bemerkte, dass ihre Lippen exakt den gleichen Farbton hatten wie das Kleid. »Wir alle haben gehört, dass du ein Astronaut bist, der die Welt retten wird …«

Max war beunruhigt. »Liu, komm und hilf mir, ein paar Drinks zu holen.« Sie gingen zur Bar, nahmen vor dem uralten Holz Platz, während vor ihnen eine Reihe Tequilas eingeschenkt wurde. »Was zum Henker ist hier los, Kumpel?«, fragte er.

»Ach, du weißt schon, das Übliche«, sagte Liu und lächelte wie die Cheshire-Katze. »Übernimmst du die?« Er zeigte auf die Gläser, die aufgereiht auf der Theke standen.

»Mit meinem Nichtastronautengehalt kann ich mir so etwas nicht leisten.«

Liu lächelte noch breiter. »Ich habe sie auf dich vorbereitet.«

»Du wusstest doch gar nicht, ob ich komme.«

Liu lachte laut und klopfte Max auf den Rücken. »Dann habe ich verdammtes Glück, dass du hier bist, weil ich diesen Frauen nicht helfen kann, nicht wahr?«

Max stach ihm in die Rippen. »Du Idiot.«

»Ich habe einfach gehofft, dass du wie üblich auftauchst, und wenn nicht, hätte ich wenigstens ein paar Leute kennengelernt, die sich von meiner Fabelhaftigkeit blenden lassen und verzweifelt meinem Astronautenfreund begegnen wollen.«

»Das ist ein gefährliches Spiel«, erklärte Max. »Wahrscheinlich werde ich morgen die Hälfte von ihnen im Laden bedienen.«

»Sehen irgendwelche von diesen Leuten so aus, als würden sie ihr Essen selbst zubereiten?« Liu zog eine skeptische Miene. »Genau.«

»Niemand tut so etwas.«

»Genau. Also besteht keine große Gefahr für unseren kleinen Mythos.«

»Deinen Mythos«, erwiderte Max, und Liu lachte wieder. »Ich habe ein Mädchen kennengelernt. Heute. Im Laden.«

»Sandy aus dem Laden? Die blonde Sandy? Wie lief es mit ihr?«

»Nicht sie. Eine andere.«

Liu nickte weise. »Frauen sind wie Busse.«

»Komm schon, Mann«, sagte Max. »So wie du redest …«

»Mach dir keine Sorgen. Ich bin voll und ganz für die Gleichstellung der Geschlechter, also werde ich Männer auf genau die gleiche Art wie Objekte behandeln.«

Max kippte einen der Shots und zuckte zusammen. »Daran zweifle ich keinen Augenblick.«

»Also los«, sagte Liu. »Erzähl mir von deinem neuen Mädchen.«

Ein vertrauter Beat setzte ein, und die Gruppe auf den Chesterfields schrie auf, bewegte sich wie ein Schwarm die Treppe hoch und auf die gläserne Tanzfläche. Max nahm sich einen Moment, um sie dort oben zu beobachten, dann sagte er: »Sie ist … ich kann mit ihr reden, glaube ich. Über wirkliche Dinge.«

»Dinge?«

»Dinge. So wie wir beide reden. Also nicht über Affären.« Er drehte sich um, stemmte die Ellbogen auf die Theke. »Aber im Gegensatz zu diesem Haufen …«

»Und Sandy«, sagte Liu.