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Einst herrschten die Götter über die Welt und die Menschen – bis sich eine Gruppe Magier zusammenschloss, um die Macht an sich zu reißen. Die Götter fielen, die Welt versank in den Schatten. Und auch die Rebellion des Assassinen Davarus Cole und seiner Verbündeten ist gescheitert: Seine einstigen Gefährten sind entweder tot oder wurden in die Verbannung geschickt. Doch in den Schatten regt sich ein neuer Feind – mächtig und unsterblich, und plötzlich werden die Karten um das Schicksal der Menschheit neu gemischt und Feinde zu Verbündeten.
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Seitenzahl: 770
LUKE SCULL
SCHWERT DESNORDENS
Roman
Aus dem Englischen von Jürgen Langowski
Deutsche Erstausgabe
WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN
DAS BUCH
Dies ist das Zeitalter des Untergangs. Die Götter, einst die Herrscher der Welt, wurden von den Magierfürsten besiegt. Doch auch die Herrschaft der Magier ist nicht von Dauer, und die mächtigen Städte der Magier fallen.
Salazar, der tyrannische Magierfürst von Dorminia, ist tot. Seit seiner Ermordung hat sich in der Stadt allerdings wenig geändert. Davarus Cole, der Held des Aufstands gegen Salazar, ist von seiner beinahe tödlichen Verletzung noch nicht wieder genesen. Währenddessen herrschen Korruption und Gewalt in den Straßen von Dorminia, und das Volk leidet. Schon scharen sich die ersten Unzufriedenen um eine geheimnisvolle Frau names Melissan, und eine Rebellion gegen die neuen Herrscher bahnt sich an. Allein Brodar Kayne, der Barbarenkrieger aus dem Norden, hofft auf ein ruhiges Leben an der Seite seines Sohnes und der Frau, die er liebt – doch dann wird er vom neuen König wieder in den Krieg gerufen. Er soll als Heerführer und »Schwert des Nordens« die Westmark erobern. Das blutige Zeitalter des Untergangs ist noch nicht zu Ende …
DER AUTOR
Luke Scull arbeitet als Game Designer und entwirft Fantasy-Rollenspiele. Für seinen Debütroman Schattenkrieger hat er bei Kritikern und Lesern gleichermaßen Beachtung gefunden.
Von Luke Scull sind bei Heyne erschienen:
Schattenkrieger
Schwert des Nordens
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Titel der englischen Originalausgabe SWORD OF THE NORTH
Deutsche Erstausgabe 02/2016
Redaktion: Rainer Michael Rahn
Copyright © 2015 by Luke Scull
Copyright © 2016 der deutschsprachigen Ausgabe by
Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlagillustration: Larry Rostant
Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München
Datenkonvertierung E-Book: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ePub-ISBN: 978-3-641-17119-3V001
www.heyne.de
Sechsunddreißig Jahre zuvor
Wildes Land
Je mehr sich verändert
Nacht des Feuers
Träume der Toten
Sechsunddreißig Jahre zuvor
Wilde
Der Schlächterkönig
Kalte Wahrheiten, warme Lügen
Neuernte
Einunddreißig Jahre zuvor
In den Sumpf
Der Eisenmann
Nur ein Mädchen
Ungebrochen
Ein besserer Ort
Sechsundzwanzig Jahre zuvor
Blutmagie
Anpassung
Narben des Krieges
Fünfundzwanzig Jahre zuvor
Entscheidungen und ihre Folgen
Ganz unten
Die Aussaat
Man hat immer die Wahl
Die Zeiten ändern sich
Vierundzwanzig Jahre zuvor
Die Seherin
Von den Göttern berührt
Schattenhafen
Reflexionen
Einundzwanzig Jahre zuvor
Mal-Torrad
Das Vermächtnis der Götter
Enthüllungen
Die Ungeborenen
Vierzehn Jahre zuvor
Alte und neue Freunde
Was darunter liegt
Engel und Dämonen
Zehn Jahre zuvor
Getrennt
Rückkehr
Der bessere Mann
Hingerichtet
Heimkehr
Die Wahrheit des Eisens
Der Wanderer
Danksagung
Für Mum
Krachend brachen sie hinter ihm durch das Unterholz. Er schlitterte den Abhang hinunter, die abgewetzten Stiefel fanden auf dem verharschten Schnee kaum Halt. Die Füße waren taub vor Kälte und fühlten sich so tot an wie das Lamm, das von seiner Schulter zu rutschen drohte. Aus der aufgeschlitzten Kehle des Tiers rann immer noch das Blut und tränkte die schmutzigen Lumpen, mit denen er sich bedeckt hatte.
Einer der Verfolger fluchte, darauf folgte ein zorniger Schrei. Grinsend schob er das tote Tier auf der Schulter zurecht. Anscheinend konnte er sie trotz der Last abschütteln. Vermutlich hatten ein paar von ihnen bereits aufgegeben. Überwiegend waren es alte Männer, deutlich über dreißig Jahre alt.
Nun galt es, einen ordentlichen Vorsprung zu gewinnen und sich irgendwo zu verstecken. Er würde sich eine Weile verkriechen und ein Feuer in Gang bringen. Mit einem mächtigen Knurren erinnerte ihn sein Magen daran, dass es ein harter Winter war. Härter als jeder andere, an den er sich erinnern konnte.
Er sprang über einen umgestürzten Baum und schaffte es trotz der Eisfläche dahinter, im Gleichgewicht zu bleiben. Wenige Augenblicke später hörte er einen dumpfen Aufprall und weitere deftige Flüche. Wahrscheinlich war ein Verfolger gegen den Baumstamm geprallt und auf der Nase gelandet.
Er fragte sich, was aus Leaf und Rotohr geworden war – oder Totohr, wie er den gefallenen Freund in Zukunft nennen wollte. Rotohr sollte Wache halten, während er und Leaf den Bauernhof überfielen. Das erste Lamm war kaum geschlachtet, da hatte schon jemand Alarm geschlagen. Wie sich zeigte, war Rotohr als Wächter ebenso unnütz wie am Kochtopf. Kaum zu glauben, dass er in Skarns Bande so lange überlebt hatte.
Endlich wurde der Wald lichter, und er konnte den Fluss sehen. Sobald er den Bereich der Eisschmelze überwunden hatte, würden die störrischen Dreckskerle wohl endlich einsehen, dass sie verloren hatten. Er rannte weiter, die schnellen Atemstöße bildeten Wölkchen vor seinem Gesicht. Als er sich dem Fluss näherte, wurde ihm allerdings bewusst, dass er die Lage völlig falsch eingeschätzt hatte. In dem tosenden Wasser trieben mächtige Eisbrocken, zwischen denen ein Mann leicht zu Brei zermalmt werden konnte. Es war schier unmöglich, diese wilde Flut schwimmend zu überwinden.
Er lauschte, ob er die Verfolger hörte, und bog ab, um flussabwärts zu laufen und wieder im Wald zu verschwinden.
Zwischen den Bäumen tauchten zwei Männer auf und versperrten ihm den Weg.
»Bis hierhin und nicht weiter, Junge.« Der Erste der beiden keuchte, doch die grimmige Entschlossenheit, die hinter den Worten stand, war nicht zu verkennen. Auch der schimmernde blanke Stahl an der Hüfte sprach eine deutliche Sprache.
Statt dem Mann zu antworten, stürmte er los und drosch dem Sprecher die Stirn ins Gesicht. Er hörte Knochen brechen, und der heftige Stoß hatte wohl auch einige Knorpel zermalmt. Sofort fuhr er herum, nahm das tote Lamm von der Schulter und hob es, um es als primitiven Schild zu benutzen. Der Schwertstreich des anderen Mannes traf die Flanke des Tiers. Die Überraschung des Angreifers währte gerade lange genug, dass er ihn mit drei raschen Hieben niederstrecken konnte.
Er sprang zu dem toten Lamm und zog gerade das Schwert heraus, als jemand ihn von hinten umrannte und zu Boden warf. Die Klinge und der malträtierte Kadaver flogen in hohem Bogen davon.
Sofort drehte er sich um und packte den Neuankömmling. Dieser hier bereitete ihm erheblich mehr Mühe, denn er war größer und deutlich schwerer als die anderen. Obwohl er selbst für sein Alter ungewöhnlich kräftig war, gelang es ihm nicht, den Dreckskerl festzuhalten und mit einem gezielten Fausthieb auszuschalten. Er fing sich sogar selbst einen Schlag auf den Mund ein und spuckte Blut. Der andere Mann nahm ihn in den Schwitzkasten und rang ihn nieder. Verzweifelt wehrte er sich und konnte mit knapper Not verhindern, dass sein Schädel an einem Stein zerschmettert wurde.
Während er mit dem großen Ostmärker kämpfte, verlor er jedes Zeitgefühl. Eine Minute oder eine ganze Stunde mochte vergehen, während sie am Flussufer aufeinander eindroschen. Keinem gelang es, die Oberhand zu gewinnen. Endlich lösten sie sich voneinander, und der Gegner wich keuchend einen Schritt zurück.
Allmählich wurde ihm bewusst, dass andere ihn beobachteten. Er blickte in die Runde. Ein halbes Dutzend Menschen starrten ihn an. Einen darunter erkannte er trotz der Blutergüsse, die das Jungengesicht in eine verfärbte Masse verwandelt hatten. Leaf.
Ein Mann hielt Leaf einen langen Dolch an die Kehle. Zwei andere hatten Pfeile auf die Bögen gelegt und die Sehnen gespannt. Der grimmigste unter ihnen schüttelte den Kopf und spuckte in den Schnee. »Wo haben sich die anderen versteckt?«
»Die anderen?« Natürlich begriff er, wen der Mann meinte, oder er glaubte es wenigstens. Falls seine Annahme zutraf, war er schon so gut wie tot.
»Deine Bande. Ihr habt das ganze letzte Jahr über die Siedlungen im Grenzland überfallen. Eine Familie habt ihr sogar in den Betten ermordet, die Mutter und die Kinder und alle anderen.«
Er zuckte zusammen, als die Erinnerungen erwachten, wischte sich das Gesicht mit dem Handrücken ab und betrachtete das auf der Haut verschmierte Blut. Dann hob er den Kopf. Der Himmel war dunkel wie ein alter Bluterguss.
»Ich warte auf eine Antwort, Junge.«
Er kniff die Augen zusammen und starrte das tote Lamm an, das aufgespießt am Fluss lag. »Das war ich nicht. Und Leaf und Rotohr waren es auch nicht.«
»Du willst mir doch nicht erzählen, ihr hättet euch von den anderen abgesetzt, als sie die Leute umgebracht haben?«
»Es ist die Wahrheit.«
Der Anführer der Ostmärker spuckte noch einmal aus. »Dann machen wir es eben auf die harte Tour.« Er winkte dem Mann, der Leaf hielt. »Ertränke ihn im Fluss, aber mach es langsam. Unser Freund hier soll Zeit zum Nachdenken bekommen, ob er uns nicht doch noch etwas verraten will.«
Leaf zappelte, als sie ihn zum Fluss schleppten. Eigentlich war er noch ein Kind, und es war schwer, dabei zuzusehen, wie er sich wand, aber erst recht war es unmöglich, den Blick abzuwenden. Nicht einmal dann, als sie Leafs Kopf in das brodelnde Wasser drückten.
»Wie alt bist du?«, fragte der Anführer ihn, als sie Leafs Kopf wieder hochzogen.
»Sechzehn«, antwortete er. Leaf klapperte heftig mit den Zähnen. Der drahtige Bursche rang um Atem, die Haut hatte einen ungesunden bläulichen Ton.
»Oh, kaum mehr als ein Knabe. Trotzdem hast du zwei meiner Männer bewusstlos geschlagen. Da ist es dir sicher leichtgefallen, die Frau und die Kinder abzuschlachten.«
Jetzt wurde er wütend. »Ich habe es dir doch gesagt, wir waren das nicht! Wir haben lediglich etwas Vieh gestohlen. Skarn und die anderen haben wir verlassen, ehe sie Osteck erreicht hatten.«
Wieder tauchten sie Leaf unter. Als er dieses Mal herauskam, hatte er die Augen verdreht und zappelte nicht mehr.
Der Anführer deutete auf den leblosen Jungen. »Der ist erledigt. Tötet ihn und werft ihn in den Fluss.«
Wilde Wut brandete in ihm auf. Er mochte Leaf, der ein kluger Junge war und ein fröhliches Wesen hatte, auch wenn er seinem Onkel die Kehle durchgeschnitten hatte, weil er keine weitere Nacht in dessen Bett verbringen wollte. Leaf hatte sich um ihn gekümmert, als er sich Skarns Bande angeschlossen hatte, und war ihm mehrmals bei blutigen Auseinandersetzungen beigestanden, als er zu stolz gewesen war, einen Rückzieher zu machen.
»Wenn du ihn ertränkst, töte ich dich.«
Die Männer mit den Bögen regten sich. Die Pfeile lagen auf den Bögen, die Sehnen waren gespannt. Der Anführer stieß ein gemeines Kichern aus und nickte dem Mann zu, der Leaf hielt. »Ersäuf ihn.«
Er griff an.
Einen Augenblick später lag er auf dem Boden und starrte den bleigrauen Himmel an. Schneeflocken flatterten herab und schmolzen auf seinem Gesicht. Er griff nach dem Knie, in dem ein Pfeil steckte. Jemand beugte sich über ihn.
»Das war dumm. Tapfer, aber dumm. Männer!«
Sie zerrten ihn durch den Schnee zum rauschenden Wasser. Dort drehten sie ihn unsanft herum und hielten ihn fest. Er starrte das Schmelzwasser an, in dem Leafs Leichnam tanzte und sich drehte wie ein Blatt im Wind. Dann packte jemand ihn an den Haaren und drückte ihm den Kopf hinunter, hinab in den eiskalten Mahlstrom …
»Halt.«
Der Vollstrecker zögerte, eine Handbreit über dem Wasser verharrte sein Gesicht. Er starrte in die tosende Tiefe.
»Wie heißt du?«, fragte der Mann. Die Stimme klang tief und kräftig, der Besitzer schien direkt neben ihm zu stehen. Er drehte den Kopf ein wenig herum. Der Sprecher war der große Dreckskerl, gegen den er kurz vorher gekämpft hatte.
»Was soll das?«, entgegnete der Anführer gereizt. »Er ist ein Räuber. Wir töten ihn, und fertig.«
»Der Junge hat Feuer im Leib. Feuer und Stahl. Vielleicht könnten wir ihn schmieden, damit etwas Gutes aus ihm wird. Die Geister wissen, dass wir im Turm jeden Kämpfer brauchen können.«
»Er ist ein eiskalter Mörder. Er hat Kinder umgebracht. Außerdem hat er gerade einen Pfeil ins Knie bekommen. Von so einer Wunde erholt sich niemand mehr.«
Es gab ein kurzes Schweigen. Er hielt den Atem an. Unter ihm tobte die Flut.
Eine starke Hand zog ihn beinahe sanft hoch und drehte ihn herum. »Ich habe noch nie einen Burschen gesehen, der so gekämpft hat wie du. Besonders keinen, der dabei halb verhungert war. Ich frage dich noch einmal: Wie heißt du, Junge?«
Er starrte den Retter an. Der Mann hatte von ihrem vorherigen Kampf einige kleine Wunden davongetragen, doch in den Augen lagen weder Bosheit noch Zorn. Nur eine gewisse Neugierde war dort zu erkennen.
»Ich heiße …«, begann er leise. Vor Schmerzen wurde er beinahe ohnmächtig. Er blinzelte, als ihm die Schneeflocken in die Augen wehten. »Ich heiße …«, setzte er noch einmal an.
»Ich heiße Kayne.«
»Kayne.«
Der grobe Ruf riss ihn aus dem Schlaf, als hätte ihm jemand einen Eiskübel über den Kopf gekippt. Der Wolf verstand sich darauf, einen Namen so zu rufen, dass einem das Blut in den Adern stockte. Ein Blick in Jereks vom Feuer vernarbtes Gesicht reichte aus, um zu erkennen, dass Unannehmlichkeiten drohten.
»Banditen?«, hauchte Kayne. Sein kahlköpfiger Gefährte nickte und starrte finster in die nächtliche Dunkelheit, die gerade der Morgendämmerung wich. Der mächtige Krieger hatte die Doppeläxte bereits in den Händen. Die brutalen Todesbringer hatten mehr Menschen getötet, als Kayne überhaupt zählen konnte.
Der alte Hochländer kam mühsam auf die Beine und rieb sich den Schlaf aus den Augen. Sie hatten darauf verzichtet, ein Lagerfeuer zu entfachen. Es war mitten im Sommer, und außerdem wollten sie keine Aufmerksamkeit erregen. Sie hatten gehofft, genau das zu vermeiden, was jetzt eingetreten war.
Er zog das Großschwert und spähte in die Dunkelheit. Absolut nichts zu sehen, dachte er verdrossen. Sein Augenlicht wurde mit den Jahren merklich schwächer.
Jereks Sinne dagegen waren anscheinend so scharf wie eh und je. Sein Freund übernahm den Löwenanteil des Wachdienstes. Sie hatten nie darüber gesprochen, aber allmählich bekam Kayne Schuldgefühle. So etwas hielt ein Mann nur bis zu einem gewissen Punkt aus, und je älter man wurde, desto schwerer war es zu ertragen.
In der Nähe knackte ein Zweig. Ein Pfeil sauste zischend durch die Luft und schlug zwei Schritte vor den angebundenen Pferden ein. Sie schnaubten und tänzelten nervös.
Kayne seufzte. Er hasste die Bogenschützen. Seiner Ansicht nach waren sie kaum besser als die Zauberer, aber sie waren wenigstens so anständig, nicht in kostbaren Röcken herumzulaufen. Ein Bruchstück des Traums, aus dem er gerade erwacht war, flackerte kurz auf. Er sah sein linkes Knie an. Die Erinnerung an die alten Schmerzen ließ ihn zusammenzucken.
Jerek deutete nach links und schlich tief gebückt und in Schlangenlinien davon. Kayne folgte ihm, aber als er weit vorgebeugt lief, protestierte sein Rücken ausgesprochen heftig.
Schließlich glaubte er, vor sich einige Schatten zu erkennen. Normalerweise bildeten die Banditen kleine Gruppen, die hart und schnell zuschlugen und sich rasch wieder absetzten. Höchstwahrscheinlich waren es nicht sehr viele. Sobald ein oder zwei Angreifer ausgeschaltet waren, würde sich der Rest in alle Winde zerstreuen.
Auf einmal spürte er rechts von sich eine Bewegung. Ohne auf die knackenden Knie zu achten, rollte er sich ab, kam mit erhobenem Großschwert wieder hoch und war bereit, den Angreifer zu zerstückeln.
Es war nur Jerek, dessen Augen im Zwielicht gespenstisch glühten. Der Wolf spuckte ins Gras und schüttelte den Kopf. »Sie sind geflohen«, erklärte er. »Wir sollten lieber aufbrechen. Es bringt ja nichts, wenn wir warten und bei Tageslicht noch einmal angegriffen werden.«
Kayne nickte. Mit Banditen musste man immer rechnen, wenn man durch das Ödland reiste. Das wussten die beiden Männer dank ihrer jüngsten Erfahrungen nur zu gut.
Als sie ins Lager zurückkehrten, war ihr Gepäck verschwunden.
»Die Wichser haben unsere Sachen geklaut«, fluchte Jerek, der nie ein Blatt vor den Mund nahm. Er zauste sich den Bart, wie er es immer tat, wenn er kurz vor einem Wutausbruch stand.
Kayne schloss die Augen und stützte sich auf das Großschwert. Das war ein wahrhaft unglücklicher Beginn ihrer Reise. Drei Wochen waren seit dem Aufbruch aus Dorminia vergangen. Nachdem sie sich in der Schlacht um die Stadt einige Verletzungen zugezogen hatten, waren sie gezwungen gewesen, sich zunächst eine Weile auszuruhen. Vor allem Jereks Wunden waren schlimm – er hatte sich mindestens zwei Rippen und den Wangenknochen gebrochen. Der Wolf wollte jedoch lieber im Sattel ohnmächtig werden als noch eine weitere Woche abwarten. Jerek hasste große Menschenmengen. Er hasste auch die verweichlichten, bequemen Tiefländer. Um ehrlich zu sein, hasste er so ziemlich alles.
»Wenigstens haben wir noch die Pferde«, grunzte Kayne. Er ging zu den Tieren hinüber und schüttelte bedrückt den Kopf. »Wir könnten nach Aschfall zurückreiten und uns neu ausrüsten«, schlug er vor, obwohl er die Antwort bereits kannte.
Jerek warf ihm einen finsteren Blick zu. »Dahin kehre ich nicht zurück. Der Ort ist ein Dreckloch.«
Kayne konnte ihm nicht widersprechen. Aschfall trug seinen Namen zu Recht. Der schwarze Staub drang überall ein, die Wirbelwinde trugen ihn von den Höllenfeuerbergen hinab in Dorminias nördlichste Vasallenstadt, wo er alles bedeckte. Aschfall war kein Ort, an den man freiwillig zurückkehrte.
»Dann sollten wir rasch weiterreiten«, sagte Kayne. Er steckte das Schwert in die Scheide und zog sich auf das Pferd. Der Himmel wurde heller, das Mitternachtsblau wich dem Eisengrau, als der Morgen anbrach. Während Jerek auf sein eigenes Pferd stieg, sah er sich um. Jereks Reittier war ein schwarzer Hengst, der die mürrische Last mit einer Leichtigkeit trug, die den Stallmeister, der ihnen das Tier verkauft hatte, in Erstaunen versetzt hätte. Mit Tieren konnte Jerek erheblich besser umgehen als mit Menschen.
Viele Meilen weit erstreckte sich flaches Land in alle Richtungen. Grasflächen wechselten sich mit kleinen Gehölzen aus Eichen, Ulmen und Birken ab. Bald würde das Tageslicht die strahlenden goldenen und grünen Farben zum Leben erwecken.
Weiter im Norden war die Farbenpracht, wie Kayne wusste, stark gedämpft. Dort wuchs das Gras matt und spärlich, und statt der Bäume gab es nur noch Büsche, bis das eigentliche Ödland begann – eine riesige unfruchtbare Weite, in der einst die Nomadenstämme der Yahan-Reiter gelebt hatten, bevor der Götterkrieg das Land zerstört hatte. Als er und Jerek das letzte Mal durch das Gebiet gereist waren, hatten sich dort überall Banditen herumgetrieben. Wenn man bedachte, welche Spur von Leichen die beiden Hochländer hinterlassen hatten, musste man annehmen, dass der Banditenkönig sie gewiss nicht mit offenen Armen empfangen würde.
Während sie ritten, beobachtete Kayne besorgt den Gefährten. Der Wolf schien Schmerzen zu haben. Wahrscheinlich machte ihm eine seiner Verletzungen zu schaffen. Auch Kaynes Wunden schmerzten noch, besonders der Messerstich in den Bauch, der beinahe schwärig geworden wäre. Inzwischen war die Haut gesäubert und geflickt, aber die Narbe schmerzte immer noch. Meistens achtete er kaum darauf. Allerdings gab es Wunden, die niemals heilten. Wunden, die tief in der Seele eiterten und letzten Endes mehr als jeder körperliche Schaden dazu beitrugen, dass ein Mann zerbrach. Die Geister wussten, wie viele solcher Wunden er abbekommen hatte, aber die jüngsten Neuigkeiten aus der Grauen Stadt gaben ihm zumindest die Hoffnung, dass ihn die schlimmste nicht bis ins Grab plagen würde. Zum ersten Mal seit vielen Monaten hatte er ein Ziel. Etwas, für das es sich zu leben lohnte.
Er ließ die Zügel los und tastete nach dem Geldbeutel, der an seinem Gürtel hing. Vierzig Golddukaten und eine Handvoll Silberzepter – wahrlich eine stattliche Summe. Er und Jerek waren durch die Hölle gegangen, um sich das Geld zu verdienen. Man bekam nicht jeden Tag die Gelegenheit, eine Stadt von einem Tyrannen zu befreien. Er hatte unten im Trigon Freunde gefunden und einige brave Männer und Frauen kennengelernt – und dazu ein paar andere, die nicht unbedingt brav, aber dafür wenigstens interessant gewesen waren. Unter anderen Bedingungen wäre er versucht gewesen, dort zu bleiben. Doch er und der Wolf hatten Dorminia verlassen, sobald sie ihren Sold erhalten hatten. Der andere Schatz, der in dem Beutel steckte, war das einzig Wichtige und der Grund dafür, dass er nun gen Norden ritt. Zurück zu den Hohen Klippen. Zurück zu dem Ort, den er einst als Heimat betrachtet hatte.
»Kayne.«
Jerek deutete auf ein Dickicht, das direkt vor ihnen lag. Kayne beugte sich auf der braunen Stute vor und blinzelte, konnte aber außer einem verschwommenen Grün nichts erkennen. Frustriert schüttelte er den Kopf. Er konnte sich an eine Zeit erinnern, in der er gedacht hatte, mit dreißig sei man alt. Mit vierzig hatte ein Mann seine Blütezeit überschritten, und mit fünfzig sollten die Tage der Kämpfe längst vorbei und zu alten Geschichten geworden sein, die man den Enkelkindern erzählte. Er dagegen war im sechsten Jahrzehnt immer noch mit dem gleichen alten Mist beschäftigt, nur dass allmählich sein Körper in die Binsen ging und das Pissen anstrengender war, als einen Mann im Zweikampf zu töten.
Er zügelte das Pferd und ritt hinter Jerek. Vor der Baumgruppe bogen sie ab und trieben die Pferde zum Galopp an. Gleich darauf brach eine Gruppe Berittener aus dem Wäldchen hervor. Er zählte fünf Gegner. Mit einem Grunzen wies Jerek ihn auf drei weitere hin, die sich vor ihnen in einem Gebüsch versteckt hatten.
»An denen kommen wir ohne Kampf nicht vorbei«, stellte Kayne fest, während er besorgt die Männer betrachtete. Die beiden Hochländer spornten die Pferde an. Der Wind fuhr durch Kaynes graues Haar und wehte um Jereks kahlen Schädel. Kayne riskierte einen raschen Blick zurück. Die Reiter, die ihnen folgten, holten rasch auf. »Verdammt«, fluchte er.
Sie konnten den Banditen nicht entkommen. Die Pferde der Hochländer waren kräftig, konnten sich aber nicht mit den Reittieren der Steppenbewohner messen. Nach dem abrupten Untergang der Yahan-Stämme waren dem Banditenkönig die besten Pferde weit und breit in die Hände gefallen.
Drei Reiter schoben sich neben sie und hielten mühelos Schritt. Der Anführer hob die Hand und machte eine, wie es schien, ungewöhnlich höfliche Geste. »Ergebt Euch!«, rief er dramatisch. »Wenn Ihr flieht, ist euer Leben verwirkt.«
Jerek kniff die Augen zusammen und spuckte zur Seite aus. Sich zu ergeben, kam ihm anscheinend überhaupt nicht in den Sinn, dachte Kayne. Wahrscheinlich überlegte der Wolf bereits, wie er sich eine blutige Bahn durch die Gegner hacken konnte.
Er senkte die Stimme und hoffte, nur Jerek könne ihn hören. »Wir sollten lieber absteigen. Sie sind uns vier zu eins überlegen, und ich halte nicht viel davon, im Reiten zu kämpfen.«
Zuerst glaubte er, sein Gefährte wollte die Bemerkung einfach übergehen, aber nach ein paar Sekunden zog Jerek an den Zügeln seines Hengstes und hielt abrupt an. Kayne folgte seinem Beispiel und hoffte, er habe keinen schrecklichen Fehler gemacht.
Sie stiegen ab, und die Banditen umstellten sie sofort. Der Anführer sprang anmutig vom Pferd und schaffte es sogar, eine rasche Verbeugung anzudeuten, was Jerek offenbar erzürnte.
»Nun denn.« Der Anführer der Banditen zwirbelte seinen dünnen Schnurrbart. Das pechschwarze Haar hatte er zu einem Pferdeschwanz gebunden, an der Hüfte trug er ein kostbares Schwert mit schönem Heft. Der Gürtel war eng um die graue Lederrüstung geschnallt. Kayne unterdrückte ein Niesen, als ihn ein Duft der Nase kitzelte. Der Bandit roch tatsächlich leicht nach Parfüm.
»Nun denn«, wiederholte der adrette Gesetzlose. Er setzte ein Lächeln auf und entblößte strahlend weiße Zähne. »Mich deucht, wir wollen nun einen Raub begehen. Gern würde ich sagen, dass Ihr uns eine prächtige Hetzjagd geliefert habt, aber das wäre eine Lüge.«
Aus dem Augenwinkel beobachtete Kayne Jereks Reaktion. Der Wolf knirschte mit den Zähnen, sein Jähzorn stand kurz vor dem Ausbruch. Das Benehmen dieses Gecken ging ihm sehr gegen den Strich.
»Ich möchte dir einen Vorschlag machen«, antwortete Kayne vorsichtig. »Wir bezahlen dir ein paar Münzen, um uns freies Geleit zu erkaufen. Dann entbietest du uns ein freundliches Lebewohl, und wir gehen friedlich getrennter Wege.«
Der Anführer hob eine Hand, die in einem Handschuh steckte, und rieb sich nachdenklich das Kinn. »Du bist mit unseren Gebräuchen vertraut. Diese Börse da an deinem Gürtel dürfte wohl ausreichen. Und was eure Waffen angeht – in dieser Gegend kann man guten Stahl immer gebrauchen.«
»Du kannst mich mal.«
Sofort richteten alle die Aufmerksamkeit auf Jerek.
»Ich werde doch meine Äxte nicht irgendeiner Schwuchtel überlassen«, fügte der Wolf hinzu, was die Lage nicht verbesserte.
Kayne ließ sich die Verzweiflung nicht anmerken, als ringsherum Stahl aus den Scheiden glitt. Dem Anführer musste man zugutehalten, dass er seine Klinge nicht zog. »Ich glaube nicht, dass ihr in der Position seid, euch zu weigern«, sagte der Gesetzlose mit dem Schnurrbart langsam. Er deutete auf die Börse, die an Kaynes Gürtel hing. »Was ist in dem Beutel da, alter Knabe?«, fragte er freundlich.
Als er die Beleidigung hörte, kniff Kayne die Augen zusammen, löste aber den Beutel vom Gürtel und öffnete ihn, um den Banditen den glitzernden Inhalt zu zeigen. »Vierzig Golddukaten«, sagte er und bemühte sich sehr, freundlich zu bleiben. Er schüttelte die Geldbörse, um seine Worte zu unterstreichen, schätzte die Bewegung jedoch falsch ein, und der wahre Schatz, der darin verborgen war, fiel heraus und landete im Gras.
Verdammt. Er wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte, also beschränkte er sich auf ein irres Grinsen.
»Vierzig Golddukaten und was noch? Ein Vorrat an kostbaren Steinen vielleicht?« Der Bandit kicherte, es war ein tiefes, kehliges Glucksen, und deutete auf das kleine, in Tuch gewickelte Bündel. »Was willst du da vor mir verstecken? Gib es mir.«
»Das kann ich nicht tun«, antwortete Kayne. Seine Stimme klirrte wie Eisen, diese Härte konnte er nicht mehr unterdrücken, auch wenn er wusste, wohin das führen würde. Jerek suchte seinen Blick, und in diesem Moment war beiden klar, was gleich geschehen würde.
Wieder seufzte der Anführer, der offenbar den dramatischen Augenblick auskosten wollte. In gespieltem Bedauern schüttelte er den Kopf. »Dann nehmen wir es uns eben mit Gewalt.«
»Onkel«, ließ sich eine unsichere Stimme vernehmen. Es war der jüngste Bandit, ein Bursche, der direkt neben dem Anführer angehalten hatte. Kayne betrachtete ihn mit gerunzelter Stirn. Er war fast noch ein Knabe, ein drahtiges Kerlchen mit grünen Augen und hellroten Haaren. Zu jung, um sich mit solchen Gesellen herumzutreiben.
»Sei still, Brick.« Der Anführer wedelte herablassend mit einer Hand.
»Aber diese Männer …«, setzte Brick noch einmal an. Der ältere Bandit beugte sich vor und verpasste ihm eine Kopfnuss.
»Du sollst still sein. Vergisst du deine Manieren? Ich habe dich doch nicht zum Barbaren erzogen. Du bist nicht so wie diese Rohlinge.«
»Das ist jetzt aber ein bisschen gemein, Meister«, warf einer der anderen Banditen vorwurfsvoll ein.
Der Anführer zog eine Augenbraue hoch. »Ich habe über die Hochländer gesprochen.« Er legte die Hand mit dem Handschuh auf das Heft seines Schwerts. Dann zog er den Zeigefinger der anderen Hand quer über seine Kehle. »Tötet sie.«
Brodar Kayne warf die Geldbörse hoch in die Luft.
Sie flog über den Kreis der Banditen hinweg, die den Blick, gierig wie die Fliegen beim Anblick einer Leiche, auf die Goldstücke richteten, die herausfielen. Die Ablenkung währte nicht lange, aber in der kurzen Zeit geschahen mehrere Dinge gleichzeitig.
Kayne griff hinter sich, zog das Schwert aus der Scheide und köpfte den Räuber, der ihm am nächsten war. Eine Axt flog durch die Luft, überschlug sich und traf die Brust des Banditen, der vor Jerek stand. Der Aufprall fällte den Mann wie einen Baum, das Blut spritzte den schockierten Räubern auf beiden Seiten in die Gesichter. Sofort setzte der Wolf nach, und die verbliebene Axt schnitt durch Leder und Knochen.
Nur der Anführer reagierte schnell auf diese überraschende Wendung und sprang rasch auf sein Pferd. Er versetzte dem Tier einen Tritt und raste davon, ohne einen Blick zurückzuwerfen.
Ein Bandit rannte mit erhobenem Krummsäbel auf Kayne zu und stieß sinnlose Schreie aus, wie es Männer gern taten, die sich nie in einem echten Kampf bewährt hatten. Kayne stieß die unbeholfen geführte Klinge zur Seite, versetzte dem Mann einen Stiefeltritt in den Bauch und streckte ihn nieder. Der Mann tastete immer noch verzweifelt nach seiner Waffe, als der alte Krieger ihn erledigte.
Ein Pfeil sauste knapp über Kaynes Schulter vorbei. Er duckte sich tief und knirschte mit den Zähnen, als ein schrecklicher Schmerz durch seinen Rücken zuckte. Der junge Bursche, der Brick hieß, griff wieder nach seinem Köcher. In seinen Augen stand die nackte Angst. Der andere Bandit hatte bereits einen Pfeil angelegt und zielte auf Kayne.
Plötzlich blitzte Metall, und der Kopf des Bogenschützen zerplatzte wie eine Melone. Hirnmasse und Knochen flogen umher, und der Tote sank zu Boden. In dem blutigen Brei steckte Jereks Axt genau dort, wo gerade noch der Kopf des Mannes gewesen war.
Ein Bandit war noch übrig.
Kayne suchte den Blick des Burschen, als dessen sommersprossige Hand an dem Bogen herumfummelte. Er war zehn Schritte entfernt. »Kannst du gut damit umgehen?«, fragte Kayne gelassen, während er das Großschwert an der Leiche, die vor ihm lag, abwischte. Jerek näherte sich bereits dem Gegner, in dessen Brust noch die erste Axt steckte.
»Ziemlich gut«, erwiderte Brick mit bewundernswerter Festigkeit. Er legte den Pfeil auf die Sehne und spannte sie.
»Du hast mich schon einmal verfehlt«, fuhr Kayne gleichmütig fort. »Dein nächster Schuss sollte sitzen. Ich glaube nicht, dass du eine weitere Gelegenheit bekommst.« Er nickte in Jereks Richtung, der sich gerade bückte und die Axt barg. Seine Miene verhieß nichts Gutes.
Nun schwankte die Entschlossenheit des Burschen. »Ich will nicht sterben.« Auf einmal klang er schrecklich jung. Nervös betrachtete er die toten Kameraden. Den zertrümmerten Schädel des Mannes, aus dem das Gehirn quoll.
»Niemand will sterben, aber Leute auszurauben ist ein hässliches Geschäft.«
Bricks Blick wanderte zwischen Kayne und Jerek hin und her, der Bogen folgte der Bewegung und zielte abwechselnd auf die beiden älteren Männer. »Ich weiß, wer ihr seid. Ihr seid die Hochländer, die Dutzende von Asanders Männern getötet haben. Der Banditenkönig hat auf euch ein Kopfgeld ausgesetzt.«
Kayne seufzte. »Aye«, bestätigte er. »Das sind wir.«
»Ich reite weg und drehe mich nicht um«, fuhr Brick verzweifelt fort. »Ich werde niemandem verraten, dass ihr hier seid. Ich verspreche es euch!«
Dazu ist es jetzt etwas zu spät, Bürschchen. Wenn ich dich laufen lasse, hetzt du uns sämtliche Banditen im Ödland auf den Hals.
Sein Herz sank, als ihm bewusst wurde, was er tun musste. Er stählte sich innerlich, ging langsam zu dem Burschen hinüber und streckte eine blutige Hand aus. »Gib mir den Bogen, und wir haben eine Abmachung.«
Brick zögerte, dann entspannte er die Sehne. Mit einem dankbaren Nicken nahm Brodar Kayne den Bogen entgegen.
Mit der anderen Hand versetzte er dem Jungen einen Faustschlag ins Gesicht.
»Wir müssen ihn töten. Lass es uns schnell erledigen.«
Kayne rieb sich über den Stoppelbart. Er blickte zu den Sternen hoch, dann zu dem stöhnenden Gefangenen, der neben ihm auf den Sattel geschnallt war.
»Er ist doch noch ein Kind.«
»Du hast schon mehr als einmal Männer seines Alters getötet.«
Jerek war nicht begeistert, dass Brick immer noch atmete. Der Wolf hatte sich inzwischen beruhigt, die heiße Wut war einer mürrischen Verärgerung gewichen. Kaynes Erfahrung nach würde sich letztere noch eine Weile halten.
»In dieser Hinsicht bin ich wohl kein leuchtendes Vorbild, was?«
Jerek spuckte aus. Schweigend ritten sie weiter nach Norden in die Wildnis, die jenseits des Trigon lag. Noch ein oder zwei Tage, und sie wären tief ins Ödland eingedrungen.
»Der Banditenkönig hat uns nicht vergessen«, sagte Jerek schließlich. »Sein Vetter Fünfbauch wahrscheinlich auch nicht. Du hast gehört, was der Junge gesagt hat. Auf uns ist ein Kopfgeld ausgesetzt.«
»Ich weiß, aber daran können wir jetzt nichts ändern.«
»Der Onkel des Jungen wird den Burschen suchen. Hast du mal daran gedacht?«
»Aye.«
»Und?«
»Daran können wir jetzt nichts ändern.«
Jerek schüttelte den Kopf. Das Mondlicht glänzte auf dem kahlen Schädel. »Du verkommst zu einer alten Memme.«
Kayne seufzte. »So ist das, wenn man älter wird.«
Jerek schnaubte nur.
Eine Stunde später zügelten sie die Pferde und schlugen ihr Lager auf. Sie hoben Brick aus dem Sattel und legten ihn auf den Boden. Der Junge hatte einen blauen Fleck auf der Wange, war aber nicht schwer verletzt. Kayne schüttelte wehmütig den Kopf. Es hatte mal eine Zeit gegeben, da hätte ein Faustschlag von ihm dem Gegner das Kinn gebrochen.
»Bist du wach?« Er schüttelte den Wasserschlauch, den er hochgehoben hatte, und spritzte dem Jungen ein paar Tropfen ins Gesicht.
»Bäh! Lass mich in Ruhe!«
Jerek trat dem Jungen recht unsanft mit der Stiefelspitze in die Rippen. »Beweg dich, du fauler Sack.«
»Aua! Wo … wo bin ich?«
Kayne holte ein Stück Brot hervor und biss herzhaft hinein. »Ich könnte sagen, du bist unter Freunden«, sagte er mit vollem Mund. »Aber die Wahrheit ist, dass du unser Gefangener bist und am besten tust, was wir dir sagen, weil wir dich sonst töten.«
Er ließ Brick einen Moment Zeit, die Neuigkeiten zu verdauen. »Wo ist mein Onkel Glaston?«, fragte der Bursche.
»Beim ersten Anzeichen von Schwierigkeiten ist er geflohen wie ein erschrockenes Reh. Dein Onkel ist ein Feigling.«
»Er ist kein Feigling! Er ist der klügste Mann, den ich kenne.«
»Er war so klug, die eigene Haut zu retten, das muss ich ihm lassen.«
»Du verstehst das nicht«, beharrte Brick. »Asander, der Banditenkönig, hätte mich getötet, wenn mein Onkel nicht gewesen wäre.«
»Demnach ist der Banditenkönig nicht gut auf dich zu sprechen?«
Brick schüttelte den Kopf und betastete die geschundene Wange. »Wir sind nach Süden geflohen, um ihm zu entkommen. Wir wollten nur euer Essen und euer Geld stehlen. Wir sind keine Mörder.«
Kayne zog eine Augenbraue hoch, ließ es ihm aber durchgehen. Er schwieg eine Weile und suchte nach einer Lösung, die nicht dazu führte, dass er den Burschen töten musste. »Na gut, Brick«, sagte er. »Es läuft so. Du reitest mit uns und hilfst uns hier als Führer. Wenn du tust, was wir dir sagen, bekommst du dein Pferd zurück, sobald wir die Purpurberge erreichen.«
»Onkel Glaston lässt mich bestimmt nicht im Stich.«
»Dann musst du ihm eben die Situation erklären, sobald er wiederauftaucht. Ich binde dir die Beine los, aber deine Hände bleiben vorerst gefesselt.«
Er schnitt das Seil durch, das er um Bricks Beine geschlungen hatte, und gab dem Jungen einen Kanten Brot und den Rest aus dem Wasserschlauch. Der Bursche langte gierig zu, kaute aber ausschließlich auf der rechten Seite. Einen Moment lang bedauerte Kayne den jungen Banditen. Traurig schüttelte er den Kopf und erinnerte sich an einen anderen kleinen Jungen, der vor vielen Jahren im Schmelzwasser ertrunken war.
Jerek kümmerte sich inzwischen um die Pferde. Kayne ließ sich unter Schmerzen auf dem Boden nieder und lehnte sich an eine Eiche. Dann griff er in die Geldbörse am Gürtel und wühlte darin herum. Sie war leichter als vorher. Beim Kampf gegen die Banditen hatten sie eine Handvoll Dukaten und Zepter verloren. Seiner Ansicht nach war die Summe durchaus eine gute Investition gewesen.
Behutsam holte er die Erinnerungsstücke hervor, die eingewickelt im Beutel lagen. Das schützende Tuch hatte beim Kampf Blutflecken abbekommen, doch zu seiner Erleichterung war der Inhalt nicht verschmutzt.
Er starrte die Gegenstände an, die er vorsichtig in der Hand hielt. Seine drei kostbarsten Besitztümer.
Eine Locke von Mhairas schokoladenbraunem Haar.
Der Ring, den sie ihm zur Hochzeit geschenkt hatte: ein schlichtes Band aus Silber. Obwohl so viele Jahre vergangen waren, glänzte er noch hell.
Das kleine Messer, das er für Magnar gemacht hatte. Es war das traditionelle Geschenk, das ein Vater seinem Sohn am vierzehnten Namenstag überreichte, wenn der Knabe offiziell zum Mann wurde. Zärtlich ließ er den Finger über die stumpfe Klinge gleiten.
Jerek kam herüber. Kayne bemerkte, dass sein Gefährte leicht hinkte. Anscheinend hatte sich der Wolf bei dem Kampf eine Verletzung zugezogen. Das hatte er nicht erwähnt. Über so etwas sprach er nie.
Wieder erwachten Kaynes Schuldgefühle. Die schreckliche Bürde der Wahrheiten, die er so lange verdrängt hatte.
Jerek betrachtete ihn; dem vernarbten Gesicht war nicht zu entnehmen, was in dem Mann vorging. Falls der Wolf sah, dass Kayne die Tränen in die Augen zu schießen drohten, so ließ er sich nichts anmerken. »Wir werden sie finden«, sagte er nur. Er streifte die Stiefel ab und schnarchte schon, kaum dass er sich ausgestreckt hatte.
Kayne wickelte die Gegenstände wieder ein und steckte sie vorsichtig in die Börse zurück. Dann warf er Brick einen Blick zu. Der Junge starrte in die Dunkelheit und überlegte zweifellos, wann sein Onkel zurückkehren und seine Rettung in Angriff nehmen mochte.
Kayne machte es sich so bequem wie möglich und ließ seinen Blick ebenfalls über die Wildnis schweifen. Immer wieder zog es seine getrübten Augen nach Norden.
Tausend oder mehr Meilen entfernt wartete die Frau auf ihn, die er bis vor Kurzem noch für tot gehalten hatte. Er würde Mhaira finden, und wenn er konnte, würde er das Verhältnis zu seinem Sohn wieder ins Lot bringen. Dann konnten er und der Schamane ihre Abrechnung beginnen.
Nach zwei langen Jahren kehrte das Schwert des Nordens heim.
Auf dem Kai drängten sich die Menschen – eine große, stinkende Masse von Körpern, die in der Mittagssonne schwitzten. Die meisten waren verzweifelte arme Hunde. Allerdings fragte sich Eremul, der Halbmagier, ob nicht ein paar der »Freiwilligen« auf dem Kai in Wirklichkeit gelangweilte Kaufleute waren, die das Abenteuer suchten.
Die Städter, die zurückblieben, sahen traurig zu, wie ihre geliebten Angehörigen über die Laufplanken auf die großen Schiffe schlurften, die träge im Hafen dümpelten. Bald würden sie nach Westen segeln, über das Gebrochene Meer zu den Himmelsinseln. Die Mehrheit der Menschen ängstigte diese Vorstellung. Nur sehr wenige schienen sich aus unerfindlichen Gründen darauf zu freuen. Eremul verzog verächtlich die schmalen Lippen.
Sie glauben, sie kehren als gemachte Männer von den Inseln zurück. Wer den Kopf in die Schlinge steckt und hofft, der Henker werde ihn zum Prinzen küren, muss schon ein ganz besonders großer Idiot sein.
Seit Salazars Ermordung war ein Monat vergangen. Inzwischen hatte Eremul begriffen, dass Dorminias neue Herrscherin keine Erlöserin war, die, von altruistischen Motiven geleitet, dem Volk große Geschenke machen würde. Soweit er es beurteilen konnte, war lediglich ein Tyrann einem anderen gewichen. Die Weiße Lady von Thelassa herrschte genauso streng wie Salazar. Nur, dass ihre Methoden subtiler waren.
»Bist du der Halbmagier?«, fragte jemand hinter ihm gedehnt. Er drehte sich um und runzelte die Stirn, als er das schmierige Lächeln eines Mannes mit rundem Gesicht sah. Nach dem kostbaren purpurnen Wams zu urteilen, das sich über dem Schmerbauch spannte, war er ein Kaufmann. Allein die goldenen Knöpfe waren schon ein kleines Vermögen wert. Jedenfalls genug, um Dutzende hungrige Mägen in den Elendsvierteln zu füllen.
Eremul drehte seinen Stuhl herum und zeigte mit einem zierlichen Finger auf die Gewänder, die seine Beinstummel bedeckten. »Kennst du noch einen anderen grässlich verstümmelten Magier?«
Der Händler kniff die Triefaugen zusammen. »Nein.«
»In diesem Fall dürfte deine Annahme zutreffen. Ich bin tatsächlich der Halbmagier.« Unbehaglich rutschte er auf dem Stuhl herum. Der Stoff seiner Gewänder klebte bei dieser drückenden Hitze feucht am Hintern. Vor dem Besuch des Obelisken musste er sich noch einmal waschen.
»Du bist ein Held«, sagte der Händler, der sich durch die Abfuhr nicht beirren ließ und keine Anstalten machte, sich zu verziehen. »Wie ich hörte, mussten sie den Tyrannen von der Straße abkratzen, als du mit ihm fertig warst.«
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