Schwierige Situationen mit Fallbesprechungen meistern - Margarete Stöcker - E-Book

Schwierige Situationen mit Fallbesprechungen meistern E-Book

Margarete Stöcker

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Beschreibung

Gute Pflege dank Fallbesprechungen In der Altenpflege sind herausfordernde Situationen wie Schreien, Schlagen, Rückzug oder komplette Verweigerung alltäglich. Dieses Buch präsentiert über 50 beispielhafte Situationen und bietet Pflege- und Betreuungskräften die Möglichkeit, rasch und sicher Lösungen zu finden. Dabei werden die verschiedenen Perspektiven, einschließlich der Bewohner, des Umfelds, der Pflege- und Betreuungskräfte sowie der Angehörigen, berücksichtigt. Es werden vielseitige Ansätze gesetzt, die flexibel an individuelle Situationen angepasst werden können. Pflege- und Betreuungskräfte können so neue Wege erkunden und kreative Lösungen entwickeln. Mit Fallbesprechungen gelingt das in kürzester Zeit. Ein eigenes Kapitel widmet sich den unterschiedlichen Krankheitsbildern in den besprochenen Situationen, um Pflege- und Betreuungskräften das notwendige, kompakte Know-how für ihren Alltag bereitzustellen.

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Margarete Stöcker ist Krankenschwester und Fachkrankenschwester für Psychiatrie, Diplom-Pflegewirtin und Master of Arts im Gesundheitswesen, Master of Science Gesundheitspsychologie, Heilpraktiker für Psychotherapie, Mimikresonanz®-Trainer und Coach. Sie ist Inhaberin des Bildungsinstitutes Fortbildungvorort, Inhouse-Schulungen für Gesundheitsberufe.

 

 

 

» Sie können zu einer tragfähigen Beziehung beitragen, indem Sie die Ihnen anvertrauten Menschen akzeptieren und wertschätzen. Das ist es, was alle Menschen brauchen.«

MARGARETE STÖCKER

 

 

 

 

 

 

 

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

ISBN 978-3-8426-0904-4 (Print)ISBN 978-3-8426-9200-8 (PDF)ISBN 978-3-8426-9201-5 (EPUB)

Originalauflage

© 2024 Schlütersche Fachmedien GmbH, Hans-Böckler-Allee 7, 30173 Hannover, www.schluetersche.de

Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wurde in diesem Buch gelegentlich die männliche Form gewählt, nichtsdestoweniger beziehen sich Personenbezeichnungen gleichermaßen auf Angehörige des männlichen und weiblichen Geschlechts sowie auf Menschen, die sich keinem Geschlecht zugehörig fühlen.

Autorin und Verlag haben dieses Buch sorgfältig erstellt und geprüft. Für eventuelle Fehler kann dennoch keine Gewähr übernommen werden. Weder Autorin noch Verlag können für eventuelle Nachteile oder Schäden, die aus in diesem Buch vorgestellten Erfahrungen, Meinungen, Studien, Therapien, Medikamenten, Methoden und praktischen Hinweisen resultieren, eine Haftung übernehmen. Insgesamt bieten alle vorgestellten Inhalte und Anregungen keinen Ersatz für eine medizinische Beratung, Betreuung und Behandlung.

Etwaige geschützte Warennamen (Warenzeichen) werden nicht besonders kenntlich gemacht. Daraus kann nicht geschlossen werden, dass es sich um freie Warennamen handelt.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der gesetzlich geregelten Fälle muss vom Verlag schriftlich genehmigt werden.

Lektorat: Claudia Flöer, Text & Konzept Flöer

Covermotiv: Robert Kneschke – stock.adobe.com

Inhalt

Vorwort

1Von der Biografie über die Herausforderung zur Lösung

1.1Grundsätze der Biografie

1.2Fallbesprechungen durchführen

2Herausforderndes Verhalten

2.1Die Basisemotionen

2.2Die grundlegenden Bedürfnisse

2.3Auf Ihre Beobachtungen kommt es an

3Herausfordernde Situationen meistern

3.1Anna A. stiehlt in Geschäften

3.2Berta B. lehnt alle Angebote ab

3.3Carola C. sucht ihre Kinder

3.4Dorian D. bedroht andere Menschen

3.5Elvira E. wird nervös, wenn es dunkel wird

3.6Franziska F. hat Angst, vergiftet zu werden

3.7Gerda G. ist in einer manischen Phase

3.8Hanna H. ist »Hypochonderin«

3.9Ida I. ist unbeliebt

3.10Julia J. ruft immer: »Hallo! Hallo!«

3.11Lena L. wird palliativ begleitet

3.12Martin M. droht mit der Geste einer Waffe

3.13Nora N. singt immer und überall

3.14Oskar O. ruft ständig um Hilfe

3.15Peter P. trauert noch immer um seine Frau

3.16Rosa R. räumt ständig das Mobiliar um

3.17Sigrid S. verliert massiv an Gewicht

3.18Ulrike U. ist starke Raucherin

3.19Vera V. ist schon mehrfach gestürzt

3.20Wilma W. leidet unter Sundowning

3.21Xenia X. klingelt alle fünf Minuten

3.22Zora Z. wurde früher geschlagen

3.23Alfons A. ist verbal übergriffig

3.24Bruno B. kommt von der Straße

3.25Carol C. kann keinen Lärm ertragen

3.26Denis D. droht und schubst

3.27Erika E. zieht sich vollständig zurück

3.28Friedhelm F. will nicht bevormundet werden

3.29Gudrun G. ist depressiv

3.30Hanna H. ist blind und demenzkrank

3.31Irina I. klagt über ständig starke Schmerzen

3.32Julia J. leidet unter Phantomschmerzen

3.33Kornelia K. schläft im Speisesaal

3.34Mona M. sieht sich als Angestellte der Einrichtung

3.35Norma N. schlägt ihren Ehemann

3.36Otto O. stößt als Straftäter auf Abwehr

3.37Pia P. leidet unter Stimmungsschwankungen

3.38Rita R. hat ständig Hunger

3.39Sara S. verlässt ihr Zimmer nicht

3.40Thea T. ist Alkoholikerin

3.41Ulrich U. sucht seine Ehefrau

3.42Vivian V. greift andere Bewohner an

3.43Wilfried W. schmiert mit Kot

3.44Yasemin Y. steht immer wieder auf und stürzt

3.45Zoltan Z. kann nachts nicht schlafen

3.46Anja A. masturbiert mit dem Tafelmesser

3.47Britta B. leidet unter Waschzwang

3.48Carla C. weiß nicht, wo sie ist

3.49Damian D. schlägt und tritt um sich

3.50Flora F. nimmt kaum Kontakt auf

4Die Krankheitsbilder der Fallbesprechungen

4.1Abhängigkeitserkrankungen

4.2Drogenabhängigkeit

4.3Affektive Störungen

4.4Angststörungen

4.5Demenz

4.6Ätiologie und Pathogenese

4.7Kleptomanie

4.8Parkinson-Krankheit

4.9Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis

4.10Zwangsstörungen

5Ergänzende Maßnahmen

5.1Basale Stimulation®

5.2Handpuppen, Stofftieren und mehr

5.3Zigaretten einteilen

6Dokumentation

Schlusswort

Literatur

Register

Vorwort

Wenn Sie dieses Buch in ihren Händen halten, heißt das, dass Sie die ein oder andere sog. »herausfordernde Situation« kennen. Aber was bedeutet das? Was ist ein herausforderndes Verhalten und wer fordert wen heraus? Ist das Verhalten, die Situation wirklich »herausfordernd« oder zeigt ein Mensch ein (noch) nicht erkanntes Bedürfnis?

In diesem Buch stelle ich Ihnen mehr als 50 Fälle aus der Praxis vor – und wie heißt es immer im Vorspann von Filmen »Ähnlichkeiten mit bekannten Personen sind rein zufällig!«

Die Fallbeispiele sind so aufgebaut, dass zunächst biografische Daten des Bewohners vorgestellt werden und anschließend die Situation. Sie finden unterschiedliche Sichtweisen, einmal die mögliche Perspektive des Bewohners, die mögliche Perspektive der Umgebung/der Tätigen und die mögliche Perspektive der Angehörigen. Selbstverständlich gibt es mehrere Möglichkeiten und Optionen! Die in diesem Buch vorgestellten Tipps sind Alternativen und mögliche Handlungsmöglichkeiten. Es geht nicht um »richtig oder falsch«, sondern um Optionen. Ich möchte Ihnen Mut machen, neue (eigene) Wege zu beschreiten.

Selbstverständlich kennen Sie Ihre Bewohner*innen, dennoch möchte ich Sie ermutigen, auch andere Perspektiven einzunehmen. Erst wenn Sie etwas Neues ausprobiert haben, werden Sie sehen, ob es passt. Nach dem Motto: »Wenn ich ein Lebensmittel nicht kenne, muss ich mindestens einmal reinbeißen, um zu wissen, ob es schmeckt oder nicht.«

Bitte bedenken Sie: Menschen brauchen immer etwas Zeit, um Veränderungen anzunehmen. Besonders Menschen mit psychiatrischen Krankheitsbildern brauchen Routine.1 Die hier beschriebenen Sichtweisen der Bewohner*innen beziehen sich auf vorhandene biografische Aussagen.

Nach den Beschreibungen der praktischen Situation mit möglichen Maßnahmen finden Sie ein Kapitel zu den Krankheitsbildern der Fallbesprechungen. Das gibt Ihnen nochmal das kompakte Know-how, das Sie täglich brauchen.

Sie werden in der Praxis immer wieder alles versuchen, um das Wohlbefinden und die Selbstständigkeit eines Bewohners zu erhalten oder wiederzugewinnen. Aber auch als Profi kommen Sie an Ihre Grenzen. Locker ausgedrückt: »Niemand kann das Alter zurückdrehen und/oder Krankheiten »wegzaubern«. Was Sie aber können, ist, den Moment zu gestalten. Den Menschen akzeptieren und zu einer wertschätzenden Begegnung beitragen. Das ist es, was alle Menschen brauchen.

Gern können Sie mir von Ihren Erfahrungen berichten. Außerdem bedanke ich mich bei Ihnen, dass Sie sich für dieses Buch entschieden haben. Mein Dank gebührt auch Claudia Flöer von Text & Konzept Flöer, den Mitarbeiter*innen der Schlüterschen Fachmedien GmbH, die im Hintergrund wirken, und Christiane Neubauer für ihre kreativen Marketingideen. Ebenso der Grafikerin Maria Reichenauer für die wunderbaren Zeichnungen.

Aber auch mein Mann und mein Sohn bekommen ein Dankeschön für ihre Unterstützung. Selbstverständlich meine vierbeinige Co-Referentin Sina (Dalmatiner-Mädchen), die bei jedem Buchstaben neben mir liegt und für Entspannung sorgt. Bleiben auch Sie entspannt.

Abb. 1: Sina – meine Co-Referentin von Fortbildungvorort.

________________

1 Vgl. Stöcker M (2022b): Pflege bei psychiatrischen Krankheitsbildern. Schlütersche, Hannover.

1 Von der Biografie über die Herausforderung zur Lösung

1.1Grundsätze der Biografie

Gedanken einer alten Frau

»Was sehen Sie, Schwester? Schauen Sie her!Was denken Sie, wenn Sie genau hingucken?Eine mürrische Alte, nicht sehr gescheit,mit abwesendem Blick und schrulligen Verhalten,die ihr Essen verkleckert und nicht reagiert,wenn Sie mit steinerner Stimme fordern:»Ich möchte, dass sie es wenigstens versuchen!«,die anscheinend nicht versteht, was Sie für sie tun,und ständig einen Schuh oder Strumpf verliert.

Wenn das alles ist, was Sie über mich denken,wenn sie mich nur so sehen, dann kennen Sie mich nicht.Ich will Ihnen sagen, wer ich auch noch bin,wenn ich tue, was Sie sagen und esse, was es gibt.

Ich bin ein Kind, 10 Jahre alt,mit Vater und Mutter und vielen Geschwistern,die häufig streiten und sich versöhnen.Ein Mädchen von 16 mit Flügeln an den Beinen,das nur davon träumt, einem Prinzen zu begegnen.

Eine Braut dann mit 20 – mein Herz bleibt fast stehen,wenn ich heute bedenke, was ich damals versprach.Mit 25 habe ich Kinder, denen ich gebe, was sie brauchen:ein geborgenes, glückliches Heim.

Eine Frau von 30, die Kinder wachsen schnell,mit 40 sind sie schon alle aus dem Haus,doch mein Mann bleibt mir, und die Trauer ist leichter.Mit 50 spielen Enkel um die Knie,und wieder erleben wir, wie Kinder sind.

Dann dunkle Tage, mein Mann ist tot,ich schaudre vor Angst, die Zukunft ist schwarz.Meine Kinder ziehen selbst ihren Nachwuchs groß.Mir bleibt nur die Liebe, die ich früher genoss.Nun bin ich alt, und das Leben ist hart,es kleidet das Alter ins Narrengewand:Der Körper verfällt, Kraft und Anmut verschwinden,mein Herz wurde scheinbar zu einem Stein.Doch tief im Gerippe lebt immer noch ein Mädchen,dessen Herzen hin und wieder aufgeregt pocht.

Ich denke an die Freuden, ich spüre den Schmerz,ich liebe und lebe mein Leben noch einmal.Ich denke an die Jahre, sie verflogen zu schnell,und lerne begreifen, dass nichts ewig besteht.

So öffnen Sie die Augen und blicken Sie her,kommen Sie näher und erkennen Sie endlich:keine mürrische Alte, sondern mich!«2

Was bedeutet für Sie nun also Biografiearbeit? Eine Auszubildende der Altenpflege sagte mir einmal: »Ich kann die Falten, die das Leben schrieb, viel besser lesen, wenn ich die Biografie des älteren Menschen kenne und verstehe.« Wenn ein Mensch geboren wird, ist er komplett abhängig von seinen Bezugspersonen. Im Laufe der Zeit wird der Mensch sozialisiert, macht seine Erfahrungen, lebt und lernt, »steht« seinen Mann/seine Frau. Am Ende des Lebens kann es sein, dass der Mensch Fähigkeiten wieder verliert – so extrem, dass er sogar wieder in die »embryonale« Körperhaltung zurückgeht. Doch das bedeutet keinesfalls, dass ein solcher Mensch als Kleinkind wahrzunehmen ist.

Ihre Maxime als Pflege- und Betreuungskraft sollte sein: Kein erwachsener Mensch wird wieder zum Kind. Jeder erwachsene Mensch hat sein Leben (gelebt). Er ist und möchte auch so behandelt werden!

Jeder von uns ist das Ergebnis seiner individuellen Biografie. Für mich gibt es drei wichtige Bereiche der Biografie:

1. Die genetische Disposition, d. h. meine Gene haben dafür gesorgt, dass ich z. B. dunkle Haare habe (zugegeben: Mittlerweile hilft der Friseur nach).

2. Die Sozialisation, d. h. die Prägung, die Erziehung und das soziale Umfeld.

3. Das, was der Mensch aus den beiden erst genannten Faktoren macht.

Stellen Sie sich in der Begegnung mit den pflegebedürftigen Personen immer seiner Biografie. Jeder ist das Ergebnis seiner Biografie. Bei Menschen mit einer demenziellen Erkrankung wird die Vergangenheit zur Gegenwart und zur möglichen Zukunft. Falls Sie nach dem Strukturmodell/SIS® dokumentieren, gibt es die Aussage3, dass keine weiteren zusätzlichen Biografiebögen nötig sind. Aber die tägliche Praxis bietet uns da ein anderes Bild. Immer wieder fehlen biografische Aussagen in der SIS®. Es mangelt an ergänzenden und wichtigen Aussagen. Dazu gehört z. B. der ehemalige Beruf. Doch genau das wäre wichtig.

Prägnante und zur Identität der Person gehörende Themen sind beziehungsfördernd und führen direkt ins Gespräch.

Stellen Sie sich vor, Sie treffen auf einem Fest Ihnen unbekannte Menschen. Was wird meistens gefragt? »Was machen Sie denn beruflich?« Kommen Sie nun aus ähnlichen/gleichen Berufen, haben Sie schnell einen gemeinsamen Nenner. Falls nicht, lohnt sich die Nachfrage, was den Beruf angeht, bevor dann eher über das Wetter ein Gesprächseinstieg versucht wird. Achten Sie darauf, möglichst fehlende biografisch relevante Informationen zusammenzutragen. Als kleine Hilfe bietet sich die folgende Mindmap (Abb. 2) an. Sie dient Ihnen als Idee und kann selbstverständlich nach Ihren Vorgaben verändert werden.

Abb. 2: Mindmap zur Biografiearbeit.

Schauen wir uns diese wichtigen Informationen einmal genauer an.

»Diese Menschen sind mir wichtig«

Denken Sie bitte nicht nur an Angehörige. Zunehmend werden Freunde, Bekannte und Nachbarn, sog. Zughörige, für Menschen wichtig.

»Mein ehemaliger Beruf«

Der ehemalige Beruf ist ein wichtiger Bestandteil der Identität eines Menschen. Wenn Sie wissen, dass ein Mensch früher Bäcker war, denken Sie bestimmt an folgende Merkmale: Kennt sich aus mit Getreide und Teig, kennt viele Brötchen- und Brotsorten und/oder musste immer früh aufstehen.

Meine Tiere

Tierbesitzer kennen das: Woran werden wir beim Spaziergang erkannt bzw. erkennen wir unsere Nachbarn? An ihrem Hund. Tiere sind wichtige Wegbegleiter des Lebens und bringen sehr schnell Menschen ins Gespräch. Sie sind auch meist eine gute Quelle für glückliche Erinnerungen und Erlebnisse.

Ich trinke gern/nicht gern …

Wichtig ist eigentlich, was nicht gern getrunken wird. Wenn Pflege und Betreuung bekannt ist, was ein Pflegebedürftiger gern isst oder trinkt, ist die Gefahr sehr groß, dass der Mensch dies nur noch vorrangig bekommt. Irgendwann mag der Bewohner es dann doch nicht mehr ganz so gern.

Wenn ich gepflegt werde, möchte ich …

Überlegen Sie kurz: Was wäre Ihnen persönlich wichtig? Vielleicht denken Sie an warmes Wasser, Intimsphäre, gleichgeschlechtliche Pflege, bestimmte Düfte …

Ich mag es/nicht …

z. B.: geduzt zu werden

Nicht vergessen

z. B.: die Brille aufsetzen …

Das ist mir wichtig

z. B.: Erst anklopfen und warten, bevor das Zimmer betreten wird.

Bei mir schmerzt/en

Das Knie, die Hände …

Einige dieser biografischen Informationen sollten in der SIS® und in der Grundbotschaft des Maßnahmenplans stehen. Die Idee der Mindmap ist, sie auszudrucken, in eine Folie stecken und an die Innentür des Kleiderschranks des Bewohners zu befestigen. So hat jeder Mitarbeiter sofort wichtige Informationen zu Verfügung.

Eine Biografiearbeit besteht aus drei Bereichen:

1.Was der Mensch sagt

– Die Bewohner*innen sind grundsätzlich Ihre ersten und wichtigen Ansprechpartner*innen. Jeder Mensch möchte jedoch nicht »ausgefragt« werden, sondern darüber informiert werden, warum Sie bestimmte Dinge fragen4, nämlich nicht, weil Sie neugierig sind, sondern damit Sie alles tun können, damit sich der Bewohner in der Einrichtung wohlfühlt.

– Sie kennen Menschen, die Ihnen gerne ihr Leben erzählen und Sie kennen auch Menschen, die Ihnen (fast) nichts erzählen. Es gibt jedoch viel dazwischen. Bitte bedenken Sie, Biografiearbeit ist nicht das Graben in der Vergangenheit eines Menschen. Jeder hat auch ein recht auf Geheimnisse. Wer hat keine »Leichen« im Keller?

– Sollte der Bewohner keine Angaben machen können, besprechen Sie dies mit den Angehörigen bzw. Betreuer*innen. Bitte bedenken Sie jedoch, dass der Sohn oder die Tochter nicht alles wissen können. Sie sind deswegen aber keine »schlechten« Kinder.

2.Was Sie beobachten können

– Sie bekommen nicht immer alle Informationen. Manchmal erhalten Sie sogar gar keine oder nur sehr wenige. In diesem Fall sind Sie noch mehr auf Ihre fachliche Einschätzung angewiesen. Ihre Beobachtungen sind wichtige Ergänzungen zu vorhandenen Informationen.

– Greift eine ältere Dame, die für die Körperpflege am Waschbecken sitzt, direkt nach vorne, könnte dies ein Hinweis darauf sein, dass sie sich immer erst die Zähne geputzt hat (Griff zum Zahnbecher) und sich danach gewaschen hat.

3.Was eine Generation auszeichnet

– Jede Generation hat ihren »Gewohnheiten«, ihre Geschichten und Merkmale. In der Sprache, in ihren Werten, ihren Umgangsformen, in ihrer Kultur usw. Holen Sie sich die Informationen zu den typischen Welten der Generation, die Sie pflegen und betreuen. Für Menschen über ca. 80 Jahre könnte das Typische sein Folgendes sein: samstags war Badetag der Familie, sonntags gab es ein komplettes Menü mit Vorsuppe, Hauptmahlzeit und Nachtisch usw.

Bei allen »typischen« Hinweisen müssen Sie immer die Individualität des einzelnen Menschen bedenken. Der österreichische Pflegeforscher Erwin Böhm5 forderte schon vor vielen Jahren, dass die spezielle Biografie jedes einzelnen Menschen wichtig ist. Jeder Mitarbeiter einer Einrichtung sollte die Lebensbiografie der Bewohner*innen kennen. Böhm postuliert, dass die Geschichten eines Menschen sein Leben ausmachen. Biografiearbeit bedeutet nicht, dass ältere Frauen ständig das Angebot des »Kartoffelschälens« bekommen.

Sie werden bei Ihren Bewohner*innen vier Grundtypen von Menschen finden. Zum einen Menschen, die sich gerne an Vergangenes erinnern und für die die Erinnerungen wertvoll sind. Zum zweiten gibt es Menschen, die Erlebtes teilweise bedauern, jedoch damit gut zurechtkommen, dass es jetzt so ist, wie es ist. Zum dritten gibt es Menschen, die überhaupt nicht gerne aus ihrer Vergangenheit erzählen. Sie wirken eher verbittert, haben ein negatives Verlusterleben und keine Bewältigungsstrategien gefunden. Sie kennen bestimmt die Validation nach Naomi Feil6. Sie spricht von Menschen mit eingesperrtem Gefühl und weist darauf hin, dass Menschen das Bedürfnis haben, in Frieden zu sterben.

Zu diesen vier Grundtypen gesellen sich weitere Bereiche der Biografie, die Beziehungsbiografie und die soziale Biografie.

Zur Beziehungsbiografie gehören der Familienstand der Bewohner*innen, die Bildungs- und Berufsbiografie und die Persönlichkeitsbiografie. Sie beinhaltet Gewohnheiten, Einstellungen und Erlebnisse. Jeder Mensch erlebte in seinem Leben Krisen. Es ist nicht grundsätzlich erforderlich zu wissen, welche Krise es war. Wer möchte schon »Familiengeheimnisse« erzählen oder Erlebnisse, die er anderen Menschen noch nie erzählt hat? Wichtig ist jedoch zu wissen, dass Sie wissen, wie Krisen bewältigt wurden. Jede bewältigte Krise hinterlässt zumeist die Erfahrung, wie die nächste am besten bewältigt werden kann. Diese Strategie(n) zu kennen, gibt Ihnen die Möglichkeit, für die letzte Krise im Leben eines Pflegebedürftigen Hilfen zur Bewältigung zu erhalten.

Die soziale Biografie beinhaltet die finanzielle Situation sowie die Zugehörigkeit zu Vereinen. Die Wohnbiografie können Sie zur Milieugestaltung für den Bewohner einsetzen. Er soll in Ihrer Einrichtung ja möglichst ein neues Zuhause finden. Unterstützen Sie ihn damit, dass Sie die Umgebung, sein Zimmer, biografieorientiert gestalten. Am besten fragen Sie den Bewohner, was ihm wichtig ist.

Es gibt Bewohner, die nichts (mehr) haben. Dann müssen Sie aktiv werden. Sie können z. B. auf eine große Fotopappe Fotos des ehemaligen Berufes, des Wohnortes etc. kleben.

Wie wäre es, wenn Sie mit den Bewohner*innen Erinnerungsalben (Abb. 3) erstellen? Nehmen Sie dazu ein Einsteckalbum und Fotos des Bewohners oder typische Fotos von Bewohnerthemen (beispielsweise wieder der ehemalige malige Beruf). Auf der einen Seite steht das Foto, auf der anderen Seite eine Karte mit einer Beschreibung des Fotos. Diese Technik wird zunehmend in die Einrichtungen einziehen.

Abb. 3: Erinnerungsalbum.

Wenn Sie digitale Bilderrahmen nutzen, können Sie per Speicherkarte leicht Fotos einfügen, ergänzend mit auditiver Begleitung wie passenden Geschichten zu den Fotos oder Musik.

1.2Fallbesprechungen durchführen

Fallbesprechungen werden nach Erstellen der SIS® bei einem konkreten Anlass und in regelmäßigen Abständen durchgeführt. Gerade bei herausfordernden Verhaltensweisen können sie dafür sorgen, dass Verhalten verständlich wird, oft durchaus sinnhaft ist (aus der Sichtweise des Bewohners) – und adäquate Verhaltensweisen auf Seiten der Pflege und Betreuung verlangt. Das bedeutet nicht, dass ein Bewohner, der Sie und Ihre Kolleg*innen »herausfordert«, wesentlich mehr Zeit von Ihnen verlangt. Oft ist sogar das Gegenteil der Fall: Wird eine Herausforderung verständlich, haben Sie die Möglichkeit, zielgerichtet zu reagieren, statt vergeblich immer wieder ein »korrektes« Verhalten anzustreben, dass dem Bewohner gar nicht (mehr) möglich ist.

Jeder Fall, um den es bei einer Fallbesprechung geht, entsteht, weil ein Pflegebedürftiger ein Verhalten zeigt, das von einem anderen (v. a. von Ihnen als Pflege- oder Betreuungskraft) als irritierend erlebt wird.*

* Vgl. DZNE (Hrsg.) (2012): Wittener Modell der Fallbesprechung bei Menschen mit Demenz – narrative Ansatz. Welcome-Neo, Witten, S. 5

Eine Fallbesprechung lässt sich hervorragend mit einer Pflegevisite kombinieren, sollte multidisziplinär stattfinden, in der Regel aber nicht länger als 20 Minuten dauern.

So gehen Sie vor:

Die Vorstellung des Bewohners sollte von der prozessführenden Pflegefachkraft, also Qualitätsniveau 4 des Personalbemessungsinstruments7, durchgeführt werden. Zur Fallbesprechung gehört eine Reihe von Informationen:

• Biografische Angaben des Bewohners

• Beschreibung der aktuellen Situation

• Einflussnehmende Rahmenbedingungen

• Mögliche Maßnahmen, an die sich das komplette Team zu halten hat

Am besten nutzen Sie für die Fallbesprechung einen Flipchartbogen (Abb. 4), damit Sie alle wichtigen Bereiche visualisieren können. Setzen Sie im Anschluss ein Prüfdatum auf das Blatt und schauen Sie nach der festgelegten Zeit, was erfolgreich umgesetzt wurde oder ggf. nicht umgesetzt werden konnte. Selbstverständlich halten Sie das gesamte Prozedere in der Dokumentation fest.

Definition Fallbesprechung

»Bei einer Fallbesprechung werden die pflegerischen Interventionen und die Gesamtsituation rund um den Klienten mit Pflegebedarf besprochen. Fallbesprechungen finden häufig mit dem Ziel der innerbetrieblichen pflegerischen Fortbildung statt und zur Verbesserung der Versorgungsqualität.«*

* Stöcker U (2020): Kollegiale Fallberatung – Professionelle Kompetenz optimieren. Schlütersche, Hannover, S. 19

Abb. 4: Muster eines Flipcharts.

Bei den Fallvorstellungen in diesem Buch stelle ich Ihnen immer zuerst die bekannte Biografie, das Krankheitsbild und die Herausforderungen vor. Anschließend finden Sie die verschiedenen Sichtweisen: Die mögliche Sicht des Bewohners, falls vorhanden die mögliche Sicht des Angehörigen und die mögliche Sicht der Pflege- und Betreuungskräfte. Da sich die diagnostischen Krankheitsbilder wiederholen, werden sie bei den Fällen nur als Hauptdiagnosen benannt. Verdachtsdiagnosen werden aber zum direkten Verständnis bei der Fallvorstellung ebenfalls beschrieben. Sie finden auch den ICD-10-Schlüssel und teilweise bereits die neue Version nach ICD-11. Ein wichtiger Hinweis: Es sind mögliche Sichtweisen.

Anschließend finden Sie Vorschläge im Umgang mit dem Bewohner und Ideen, die Situation anders zu gestalten. Geben Sie sich und Ihren Bewohnern diese Chance! Nach meiner Erfahrung rechnet es sich, sich die Zeit für eine Fallbesprechung nehmen. Die ca. 20 Minuten einer geplant durchgeführten Fallbesprechung kann die Pflege und Betreuung so beeinflussen, dass sich der Bewohner wohlfühlt und Sie als Pflege- oder Betreuungskraft das gute Gefühl haben, wirklich wertschätzend, wie Sie es sich auch wünschen, zu pflegen.

________________

2 Diese Zeilen stammen, so ist es vielfach zu lesen, von einer alten Frau. Man fand sie nach ihrem Tod in einem Schrank. Einige Quellen berichten davon, dass die Pflegekräfte bis zum Fund des Schreibens davon ausgegangen waren, dass die Frau weder lesen noch schreiben konnte…

3 Vgl. Beikirch E, Nolting HD, Wipp M (2917): Dokumentieren mit dem Strukturmodell. Vincentz, Hannover

4 Vgl. Stöcker M (2020): Pflege mit dem Strukturmodell für Dummies. Wiley, Weinheim.

5 Vgl. Böhm E (2018): Psychobiographisches Pflegemodell nach Böhm. Maudrich, Wien

6 Feil N, de Klerk-Rubin, V (2023): Validation. Reinhardt, München

7 Vgl. Wipp M, Stöcker, M (2021): Das pflegerische Fachgespräch. Schlütersche, Hannover.

2 Herausforderndes Verhalten

Was ist »herausforderndes Verhalten«? Wer fordert hier eigentlich wen heraus? Stellen Sie sich bitte folgende Situation vor: Die Bewohner*innen sitzen im Wohnbereich, eine Pflegende betritt den Raum und berührt eine Bewohnerin von hinten an der Schulter. »Hallo Schätzchen«, sagt die Pflegende, nimmt ein Glas mit Wasser und führt es der Bewohnerin an die Lippen: »Nun trink mal schön.« Die Bewohnerin, demenziell erkrankt, erschreckt sich, schlägt nach hinten und wehrt das Getränk ab. Die Pflegende dokumentiert: »Bewohnerin ist herausfordernd und verweigert das Trinken.«

Wie sehen Sie die Situation? Wer hat wen herausgefordert?

Anmerkung: Die Bewohnerin wurde einfach geduzt, grundsätzlich werden Bewohner gesiezt! Es kann fachlich erforderlich sein zu duzten, dann muss es dokumentiert sein.

Die Gründe für ein herausforderndes Verhalten sind vielfältig:

• Körperliche Faktoren

– Schmerzen, Schlafstörungen

– Hunger, Durst, Harndrang

– BZ-Entgleisungen, Medikamente

– Kaffee, Alkohol – Entzugssymptome

– Infektionen

– usw.

• Psychosoziale Faktoren

– Unzufriedenheit, Verbitterung

– Unterforderung, Überforderung

– Infantilisieren

– Fehlende Wertschätzung

– Häufiger Wechsel der Bezugsperson

– usw.

• Neurologische-psychiatrische Faktoren

– Persönlichkeitsveränderungen

– Krankheitsbilder

– usw.

• Milieufaktoren

– Lärm, räumliche Enge

– Lichtmangel, Ortswechsel

– usw.

In Fortbildungen werden bei den Fallbesprechungen oft die oben aufgeführten Themen besprochen. Doch es gibt noch eine weitere Herausforderung, die leider oft übersehen wird: Menschen, gerade mit einer demenziellen Erkrankung, ziehen sich zunehmend zurück. Ihr Blick geht ins Leere, sie verstummen. Sie sitzen oder liegen tagein/tagaus im Stuhl oder Bett. 24 Stunden, sieben Tage die Woche, 52 Wochen im Jahr. Diese Menschen werden bei den Fallbesprechungen viel zu wenig betrachtet. Sie sind still, leise und stören nicht, dabei brauchen diese Menschen die Pflege- und Betreuungskräfte so sehr!

Ein weiteres Tabuthema sind sexuelle Übergriffe. Übergriffe der Bewohner*innen aufs Personal, auf andere Bewohner*innen; Übergriffe von Angehörigen auf Bewohner*innen, aber auch Übergriffe des Personals auf Bewohner*innen.

Übung

Was fordert Sie heraus?

Überlegen Sie kurz, welche herausfordernde Situationen Sie kennen und notieren Sie Ihre Erlebnisse. Dazu könnten gehören:

• erhöhter Bewegungsdrang,

• lautes Rufen, Schlagen,

• Wahn, Halluzinationen,

• Pflegeverweigerung,

• Nahrungsverweigerung,

• körperliche Abwehr,

• nächtliche Unruhe,

• Ängste,

• depressive Verstimmung,

• usw.

Die Fallbesprechungen im nächsten Kapitel werden sich mit all diesen Themen beschäftigen. Zu jedem Fall gibt es verschiedene Sichtweisen. Mein Wunsch ist, dass Sie versuchen, eine konkrete Situation/Herausforderung aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu sehen. Wechseln Sie Ihre Sichtweisen (Abb. 5).

Abb. 5: Veränderte Sichtweisen – Kommunikation und Wahrnehmung.

Wenn Sie Fallbesprechungen durchführen, sollten Sie daher immer erst auf die in der Situation gezeigten Emotionen und Bedürfnisse achten. Sie geben Ihnen wichtige Hinweise und Sie können danach die Weichen hoffentlich anders stellen. Überlegen Sie sich Maßnahmen und achten Sie auch darauf, dass sie auch durchgeführt werden. Geben Sie den Menschen die Gelegenheit, Veränderung wahrzunehmen und zuzulassen. Dazu brauchen Sie das u. a. Wissen zu den sieben Basisemotionen, deren Auslöser und die übergeordneten Bedürfnisse.

2.1Die Basisemotionen

Emotionen sind wichtig, sie müssen erkannt und gelebt werden. Menschen der älteren Generation durften ihre Gefühle oft nicht zeigen, sie mussten einfach »funktionieren«. Bereits Naomi Feil8 wies darauf hin, dass eingesperrte Gefühle verarbeitet werden müssen.