Schwitters - Ulrike Draesner - E-Book
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Schwitters E-Book

Ulrike Draesner

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Beschreibung

Ausgezeichnet mit dem Bayerischen Buchpreis – Ein tiefgründiger, dabei humorvoller Roman über die Kraft der Kunst in dunklen Zeiten

Wie fängt man eine Zukunft an, die eigentlich schon aufgehört hat? Mit einem Streifen Meer zwischen sich und seiner Heimat, seiner Sprache, sich selbst? Kurt Schwitters ist 49, als ihn die Nationalsozialisten zur Flucht aus Hannover zwingen. Sein Erfolg, Werk, Besitz, die Eltern und seine Frau Helma bleiben zurück. Die Kunst weicht der Kunst des Überlebens. In Norwegen, London und endlich dem Lake District beginnt Schwitters‘ zweites Leben in fremder Sprache. Wantee, die neue Frau an seiner Seite, hält ihn auf Kurs und seinen Kopf über Wasser, selbst als der Wortkünstler verstummt. Im Merzbau hat Schwitters einen anderen Weg gefunden, um Himmel und Heiterkeit, das Funkeln der Wiesen und die Durchsichtigkeit der Luft einzufangen. Mit irrwitziger Disziplin, bis zur Erschöpfung. Wer ihn dabei beobachtet, begreift: Kunst bildet die Welt nicht nach. Sie übersetzt sie in Formen, die uns berühren.

In ihrem Roman folgt Ulrike Draesner dem Schriftsteller und bildenden Künstler Kurt Schwitters ins Exil. Es sprechen Kurt, seine Frau, sein Sohn, seine Geliebte. In einer virtuosen Mischung aus Fakten und Fiktion entsteht das Panorama einer Zeit, in der angesichts einer brennenden Welt neu um Freiheit und Kultur gerungen wird. Ein tiefgründiger, dabei humorvoller Roman über die Kraft der Kunst, darüber, wie sie entsteht und was sie vermag.

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Ein tiefgründiger, dabei humorvoller Roman über die Kraft der Kunst in dunklen Zeiten

Wie fängt man eine Zukunft an, die eigentlich schon aufgehört hat? Mit einem Streifen Meer zwischen sich und seiner Heimat, seiner Sprache, sich selbst? Kurt Schwitters ist 49, als ihn die Nationalsozialisten zur Flucht aus Hannover zwingen. Sein Erfolg, Werk, Besitz, die Eltern und seine Frau Helma bleiben zurück. Die Kunst weicht der Kunst des Überlebens. In Norwegen, London und endlich dem Lake District beginnt Schwitters’ zweites Leben in fremder Sprache. Wantee, die neue Frau an seiner Seite, hält ihn auf Kurs und seinen Kopf über Wasser, selbst als der Wortkünstler verstummt. Im Merzbau hat Schwitters einen anderen Weg gefunden, um Himmel und Heiterkeit, das Funkeln der Wiesen und die Durchsichtigkeit der Luft einzufangen. Mit irrwitziger Disziplin, bis zur Erschöpfung. Wer ihn dabei beobachtet, begreift: Kunst bildet die Welt nicht nach. Sie übersetzt sie in Formen, die uns berühren.

In ihrem Roman folgt Ulrike Draesner dem Schriftsteller und bildenden Künstler Kurt Schwitters ins Exil. In einer virtuosen Mischung aus Fakten und Fiktion entsteht das Panorama einer Zeit, in der angesichts einer brennenden Welt neu um Freiheit und Kultur gerungen wird. Ein tiefgründiger, dabei humorvoller Roman über die Kraft der Kunst, darüber, wie sie entsteht und was sie vermag.

Ulrike Draesner, 1962 in München geboren, wurde für ihre Romane und Gedichte vielfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Preis der LiteraTour Nord, dem Gertrud-Kolmar-Preis und dem Nicolas-Born-Preis. Von 2015 bis 2017 lehrte sie an der Universität Oxford, seit April 2018 ist sie Professorin am Deutschen Literaturinstitut der Universität Leipzig. Dort und in Berlin lebt und schreibt sie – neben Romanen und Gedichten auch Erzählungen und Essays. Im Penguin Verlag erschien zuletzt ihr Essay »Eine Frau wird älter« (2018).

»Hier schreibt eine Autorin, die sich mit Lust, mit Lebenslust und Sprachlust, einlässt auf die Komplexitäten, Widersprüche und Absurditäten der Welt. Empathisch und analytisch, kunstfertig und unterhaltsam.« F. C. Delius in seiner Preisrede zum Nicolas-Born-Preis

»Vielfach preisgekrönt und hochgepriesen zählt Ulrike Draesner zu den spannendsten Autorinnen der jüngeren deutschen Literatur.« Radio Bremen

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Ulrike Draesner

SCHWITTERS

Roman

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Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © 2020 Penguin Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: Sabine Kwauka

Covermotiv: © ullstein bild / Friedrich Seidenstücker; shuttertock / Evannovostro und RanQuick

Autorinnenfoto: © Gerald Zörner@gezett

Umsetzung E-Book: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-641-25509-1V004

www.penguin-verlag.de

Man muss daher nicht den Eingang, sondern den Ausgang eines Kinos betreten, wenn man gratis hineinkommen will, stellt sich mit dem Gesicht nach außen, den anderen schönen Körperteil natürlich nach innen, und geht mit negativer Geschwindigkeit hinaus.

Kurt Schwitters, Wie man gratis in ein Kino kommt

Das deutsche Leben

(Ausgang)

1 12. Oktober 1936, Waldhausenstraße 5, Hannover

Dass ein sechster Freund gesagt hätte,

Ich sollte gesagt haben,

Was ich nicht gesagt habe,

So sage ich hier getrost an alle Freunde,

Ich hätte gesagt,

Ich hätte nichts gesagt.

Kurt Schwitters, Wenn mir einer sagte

Also doch, das Geräusch kommt näher. Eben noch lag die Straße still in der Vormittagssonne. Erneut unterbricht er die Arbeit und blickt in den Spiegel am Fensterrahmen.

Ein grauer Lastwagen. Scheint etwas zu suchen, so langsam wie der fährt. Kein Firmenname, keine Aufschrift. Jeder macht Werbung, manche nicht. Er hat Logos für die Firma Pelikan entworfen, für die Stadt Hannover. Er weiß, wovon er spricht.

»Ich putz mal den Bären«, ruft er nach hinten in den Flur.

Er steht in der Haustür, den Eisbärenkopf unterm Arm. Zögert. Im Haus hört ihn niemand, Helma ist einkaufen. Draußen hört man ihn hoffentlich umso besser. Putzen will er nichts. Der Bär ist ein Vorwand, bizarr genug, um abzulenken. Das Motorengeräusch ist verstummt.

Vom Eingang führen drei Stufen hinunter auf den Steinplattenweg. Vergebens versucht er, durch den buschigen Flieder die Straße entlangzuspähen. Gegenüber fegt die alte Görschen das Trottoir, dabei sieht sie ihrerseits wie ein Besen aus, stangendürr, weißer Borstenkranz obenauf. Wäre selbst in dem kleinen Döhren, gelegen vor dem nichtgroßen Hannover, in jüngster Zeit nicht so viel umgezogen worden, wäre es weniger staubig.

Am Gartentürchen pustet Kurt dem Kopf pflichtschuldig über den elfenbeinfarbenen Pelz. Der Wagen hat gehalten, ein paar Häuser weiter links. Vier Männer in Arbeitsoveralls klettern aus der Kabine. Ein fünfter, im Anzug, klingelt. Der trägt keine Möbel, der trägt die Verantwortung. Der sagt: Sie ziehen heute aus. Wussten Sie das nicht?

»Herrlicher Tag«, ruft Kurt der Görschin zu. Die Oktoberluft schwimmt von Farben. Das Licht ist dunstig. Sehr dunstig. Man sieht Silhouetten, sieht Schatten. Gesichter verschwimmen. Sie verstecken sich.

Im Sommer 1933 haben sowohl die Stadt Hannover als auch Pelikan ihn entlassen. Man bedauere diesen Akt sehr, sagte man, und erlaubte dabei dem eigenen Gesicht fortzuschwimmen. Seine Arbeit sei hervorragend. Aber er müsse verstehen. Er verstand: In der großen Villa Pelikan machte man gute Stimmung nach oben. Sicher war sicher, und schade war tot.

Nun las, sägte, hämmerte und schrieb er auch vormittags auf der Plattform, die er sich in die hintere Ecke des MERZbaus gezimmert hatte. Den Spiegel am Fenster hatte er so gedreht, dass er, wenn er an seiner Arbeit saß, die Straße sehen konnte, ohne gesehen zu werden. Überrascht werden wollte er nicht.

Der Bau wuchs nur mehr nach innen. Wuchsen so nicht auch Gehirne? Das war ein Wunsch. Gehirn fehlte in diesem Land überall. Säulen und Nischen in einer Höhle in einer weiteren Höhle auf dem Rücken einer Höhle. Grotte: bald. Collage: ja, dreidimensional. Eine Skulptur, die man betreten konnte. Dynamisch, komisch, fies. Seit bald zwei Jahrzehnten arbeitete er daran. Der Bau war seine Heimstatt, sein Heiligtum, gemacht aus allem, was Mann-Mensch-MERZ in die Finger fiel.

Seine irrste Idee. Seine brillanteste. Seine schönste.

Statt zu fegen, starrte nun auch die Görschin die Straße hinab. Kurt drehte den Eisbären um, so dass der Scheitel nach unten zeigte, und tat, als inspizierte er das Halsloch. Seine Hand passte mühelos durch den harten Ring mit dem abgegriffenen Fellbesatz. Der Bär hatte keine Zunge mehr. Die Zähne waren glatt und kühl. Ehe man sich versah, steckte man fest. In einem Mund, aus dem nichts mehr drang.

Rasch zog er die Finger aus dem Loch. Der Anzugmann war verschwunden. Die Arbeiter hatten die grauen Ladetüren geöffnet. Seit Wochen ließ Helma die Englischlehrerin heraushängen, als mache ausgerechnet das ihn williger, in die USA zu emigrieren. »Nach Amerika wollte ich schon als Kind«, sagte sie. Ihrer Meinung nach hatte er Shininglaunen, also Künstleranwandlungen, nun gut, Krisen, Zweifel, Abbau- und Aufbauphasen, und zu seinem Glück auch eine Frau, die ihm den Kopf geraderückte, nämlich sie. Dazu schenkte sie ihm eine Dose Schuhcreme, Lederfett-Extraglanz. Von dem runden Metalldeckel grinste ein Pferdekopf mit Menschengesicht und Sternchenaureole, in der in hübschester Schulschrift Shining! stand. »Shining reist«, sagte sie, »Shining ist international.«

»Onkel Schwitters!«

Die Görschenenkelin rannte über die Straße auf ihn zu. Kurt stellte den Kopf in das Gras am Zaun. Im Laderaum des Lkw hingen Gurte von Haken, Decken lagen bereit. Wer so vorfuhr, rechnete mit Werten. Oder sprach man schon von Beute?

Kastanien hielt die Kleine ihm hin, Streichhölzer ohne Zündköpfchen. Die Blüten der Dahlien am Zaun waren so groß wie ihr Kopf. Die Blumen schienen aus Lippen gemacht. Er selbst schien aus Illusionen gemacht: Lichtfäden, Spinnenfäden, buntes Laub – so schön, hier zuhause zu sein.

Zwei Griffe in die Hosentaschen, ein Messer, der Drillbohrer. Er ging in die Hocke, die Kleine machte es ihm nach. Kurt bohrte die erste Kastanie an. Das Mädchen war vier, vielleicht fünf. Die nassen Locken fielen ihr ins Gesicht.

»Ich war schon schwimmen«, sagte sie.

»Wir haben Herbst. Ist das nicht zu kalt?«

»Oma geht jeden Tag.«

Über die Hildesheimer summte der Verkehr. Alte Bäume, dahinter der See. Nigel-nagel-maschsee-hitlerneu. Der Führer erschuf die Welt. Da war ein See eine Kleinigkeit. Naziwunder, volksgesunder Erholungsgau. Zwei Jahre lang hatte man gebaggert, geschaufelt, Staub aufgewühlt. Jetzt war das Loch befüllt. Man ertüchtigte sich. Wunderglaube, Heilgehirn.

»Hart«, sagte die Lütte, »hart wie ne Wolke.« Meinte sie den Eisbärenkopf? Sie hüpfte davon. Drei Kastanientiere nahm sie mit, das vierte, für dessen Vorderbeine die Hölzchen nicht gereicht hatten, schenkte sie ihm.

»Heil Hitler, danke«, rief die Görschin herüber.

»Ich warte auf meine Frau«, rief er zurück. Er log möglichst selten. Auf einen unhörbaren Pfiff hin verschwanden die Arbeiter durch das schmiedeeiserne, hohe Gartentor der Tossionis. Denn bei den Tossionis, vor dem ältesten und prächtigsten Bürgerschlösschen der Straße, hatte der Wagen gehalten. Türmchen mit Kupferdach, Fachwerk, Erker, Karyatiden, ein Traum im Stil der vergangenen Zeit. Kurts Eltern hatten hart gearbeitet und auf die gleiche Weise das 19. Jahrhundert weitergeträumt. Kurt war 14 gewesen, als die Döhrener Villa fertig wurde. Er liebte das Haus. Unter Kollegen wurde er für seine Ortstreue verlacht: Genie im Gehrock, Muttersöhnchen, Spießer, Frauenmann. Dabei war es nur das: Wie viele, die im Geheimen in Anarchie lebten, schätzte er nichts mehr als äußere Ordnung. Sie gab ihm Halt. Dank ihrer konnte er alles andere loslassen.

Vor der Front des seit 35 Jahren vermoosenden, von Jasmin, Flieder und einem Kurt widerlichen, von Helma indes geliebten Forsythienbusch umwucherten Eingangs der Nummer 5 fiel heller Sonnenschein auf die vormittagsstille Straße.

Vormittagsstill. So hätte es sein sollen. Im rückwärtigen Teil des Grundstückes warfen hohe Buchen und Eichen einen breiten Schatten erst auf einen weiß und grün quadrierten Steingang, der zum Wassergraben zwischen dem Garten und dem stadteigenen Wald hinunterführte, dann auf einen kleinen runden Platz mit französischem Bistrotisch und Stühlen aus weiß lackiertem Metall, wo H&H, Henny und Helma, Mutter und Frau, eingefasst von Rhabarberstauden zur einen Seite und hochwachsenden Fingerhüten und Stockrosen zur anderen, im Sommer gern saßen und nähten.

So war es: Einige 20 Schritte weiter nach Osten lief in Fortsetzung der jüngst aufgemauerten Garage, in der statt eines Wagens Gartenutensilien und Kurts Baukram verstaut wurden, eine zweimannhohe, in feinblättrigem Efeu stehende Steinmauer. Sie begrenzte das Gelände. In ihrem Efeu war ein weiterer Spiegel versteckt. Die Mauer endete wie hier üblich einen Meter vor dem Wassergraben, so dass sich ein ungefährlich breiter Trampelpfad ergab. Auf ihm waren früher lediglich die Kinder zwischen den Gärten hin und her gehuscht. So hätte es bleiben sollen. Hinter der Mauer ragte der lächerlich blitzende, weil frisch vergoldete Wetterhahn der Hasenvilla auf, die bei den Schwitters so hieß, seit Familie Löffel sie bewohnte. So war es: Mit den Löffels kommunizierte man extra-stramm. Und so: Auf der gegenüberliegenden Seite bildete ein unspektakulärer Drahtzaun die Grenze zur Nummer 3, eine offene Flanke ausgerechnet dort, wo das 20. Jahrhundert in Gestalt des MERZbaus begann.

Zur Linken hatte Helma einen Kräutergarten angelegt, den ein Hufeisen von Salbei und Zwergwacholder umschloss. Hufeisen waren Kurt wichtig. Glückszeichen waren Kurt wichtig. Katzen, Pfennige und Öre zählten dazu. Auf das glückliche Pflanzenhufeisen zeigte die Spitze einer mehr als zwei Kilo schweren Eisenpyramide, die, gehalten von einem am Balkon im ersten Stock befestigten, neuartigen, kaum sichtbaren Plastikdraht, frei über dem Beet zu schweben schien.

»Kommt die nicht irgendwann runter«, sagte Helma.

»Genau«, sagte er.

Hier wurde an Damokles gedacht. Der hatte es sich auch überlegt: teilnehmen oder fliehen? Was man eben so »überlegen« nannte. Freiwillig war anders.

An dem Boskop, der von den Vorbesitzern her auf dem Schwitterschen Grundstück stand und eine verblüffend schiefe Höhe erreicht hatte, hing noch Ernsts Schaukel. Das Brett, an beiden Enden von Seilschlaufen gehalten, war über und über mit einst glänzenden Nägeln beschlagen. Ernst hämmerte gern. Sozialistische Arbeiterjugend, 17 Jahre alt. Den gesamten Sommer über hatte er sich in Norwegen versteckt.

Hinter dem Graben standen einige mächtige Schwarzerlen, dort roch es nach Blättern, Wasser und erneut nach Moos. Hier begann die Eilenriede, der Stadtwald. Schloss Kurt hier die Augen und atmete tief, wurde er mit der Hoffnung voll, dass etwas Erlösendes passieren könnte.

Und so war es: Kaum war er auf dies schöne Schaukelbrett der Zuversicht, Anhänglichkeit und Treue geklettert, glitt ein namenloser, grauer Lkw durch die Straße. Die Tossionis hatten mit keinem Wort erwähnt, dass sie ausziehen wollten. Die Tossionis wollten nicht ausziehen. Die Tossionis, Großeltern, Eltern, vier Kinder zwischen zehn und zwanzig, feierten Weihnachten, Ostern, gingen neben Helma im Fronleichnamszug mit. Jetzt stand der Wagen da. Jetzt waren die Tossionis jüdisch. Fuhr ein Möbelwagen ohne Aufschrift vor, war man jüdisch.

Er war entartet. Man konnte dieser Tage viel Schlechtes auf einmal sein. Im Juni 1933 waren Grafiken von ihm in der Zersetzungs-Ausstellung in Stuttgart gezeigt worden. In einer Schau namens Entartete Kunst mussten im Herbst desselben Jahres in Dresden sein MERZ- und sein Ringbild an die Wand. Seither wanderte die Sammlung, dieser Tage erst hatte sie in Frankfurt am Main ihre Pforten geschlossen. Was für eine Laufzeit. Welch Ruhm. Es hieß, die Nazis bereiteten eine größere, noch umfassendere Darbietung vor; er hatte das sichere Gefühl, dass er auch bei der neuen Hetze nicht fehlen würde. Niemand mehr gab ihm Aufträge als Typograf oder Grafiker oder Werber oder Schriftsteller oder Unterhalter oder Musiker oder Schwitters oder Mensch. Reichsbürger Kurt Schwitters, geächtet, arbeitslos.

Da konnte er auch vormittags zur Gestapo gehen.

Durch sein Hannover, sein Helma-Henny-Heimstatt-Höhlen-Reich, sein Hab&Gut, seine Zuhausestadt, in der er hatte arbeiten können, weil er reisen durfte, weil Helma sich um ihn kümmerte, seine Mutter nach ihm sah, seine Bilder und sein Bau ihn umgaben und der belebende Ärger mit Fiederallala, der Schwiegermutter aller Schwiegermütter, nie endete. Breites Grinsen, alle 100 Haifischzähne entblößt, war sie im Juni vor ihm gestanden und hatte ihm den grauen Umschlag mit Reichsadler in die Hand gedrückt. Vor satten 21 Jahren, an seinem Hochzeitstag, hatte er die frisch erworbene »Mutter Fischer« nach der Eule in der Vogelhochzeit benannt: »Brautmutter war die Eule, nahm Abschied mit Geheule.« Das war selbstverständlich grotesk. Eine Eleonora F. heulte erstens nie und entließ zweitens die einzige Tochter für keine einzige Sekunde aus der töchterlichen Pflichtexistenz. Jeden Tag rückte Eleonora bei den Schwitters an. Sie war jetzt Vegetarierin, wie der Führer. Zu Kurt sagt sie: »Dich hätten sie mal an der Kunstakademie nich nehmen solln, dann wär vielleicht auch aus dir was geworden.«

Pünktlich zu dem angegebenen Termin hatte er im Polizeipräsidium vorgesprochen. Die Gestapo arbeitete so sehr, dass sie in Kurts Richtung nur verächtlich mit den reichsdeutschen Schultern zuckte. Ganz Hannover schien zum Stelldichein versammelt. Man trug Gesichter: eifrig, devot. Dabei kühlte man sich das Mütchen – die Nachbarn, die Familie, die Kollegen, der Chef. Danach flüsterte man sicherheitshalber wieder und blickte häschenbrav ins Gestapogesicht. Endlich Hitler, endlich Maschsee, endlich Gerechtigkeit.

»Was ist MERZ?«

Linoleum, Büropflanze. In der Mitte des Eichenschreibtisches ein Wimpel mit der SS-Standarte, Führerbild an der Wand. Hinter dem Schreibtisch eine Handvoll trübe Sonne.

Das waren seine Briefe, seine Schrift, gerichtet an Christof Spengemann, bis vor kurzem Leiter der Sozialistischen Arbeiterjugend?

Er versuchte sich zu erinnern, was er Krischan geschrieben haben mochte. Im Sommer 1933? Und vor zehn Jahren? Die Macht zog eine Packung Ernte 23 aus der Hosentasche. Feine Hände, Kratzer darauf wie von einem Kätzchen. Das linke Auge wirkte verständig, das andere glich einer Rechenmaschine. Verbindungen schnurrten darin auf und ab.

MERZ?

»Mehr Frühling war nie«, sagte der junge Mann. Und grinste: So ein Witz.

Auch hier im Schreibtischraum, der Junge stand, Kurt saß, hatte man Gesichter. Man benutzte sie. Neben den Gesichtern hatte man Lampen. Man drehte sie. Wer saß, war kleiner als einer, der stand. Wer saß, wurde angestrahlt. Jedem Angestrahlten tat Helligkeit unaufhaltsam gut. Kurt sollte erleuchtet sein.

Dann sind die hohen Gäste

Beisammen am vulgären Feste,

Sie essen alles, auch die Reste.

Bei Rest dachte die Macht, sagte die Macht, naturgemäß an Nest. Wie Widerstandsnest. Die Macht lachte: Er sehe, sie reimten ebenfalls. Die Lampe ruckte, Kurt blinzelte. Sah er auch, wie nah man sich war? Die Macht, sagte das Jüngelchen, dachte bei MERZ nicht an Scherz. Das sei ihr zu billig und ihm sicher erst recht. Radikalere, totalere Reime, sagte das Jüngelchen, Reime wie ausmerzen entsprächen ihnen beiden besser. MERZ sei ein Name für den neuen Geist. Das Jüngelchen paffte. »Ernte 23, Orienttabak. Der Drang nach Osten, überall.« Man sei bereit, ihm zu verzeihen. Jeder vollarische Mann verdiene die Möglichkeit, neu zu beginnen, den germanischen Menschen zu fördern, seinen völkischen Beitrag zu leisten. Darstellung des entschiedenen, kriegerischen Rassemenschen in Bild und Skulptur. Oder auch der deutschen Mutter und Hausfrau, das Weibliche sei, wie die Macht sehr wohl wisse, sein ureigenstes Element.

Als Kurt auf die Straße trat, blitzten die Fassaden. Der Himmel war eine Wand. Bei der Anmeldung hatte man ihm einen grauen Zettel mit einer Nummer gegeben, der kratzte in der Hemdtasche. In Kurts Gehirn trieben helle und dunkle Flecken. Sie kratzten ebenfalls.

Dem Volksknaben, der ihn verhört hatte, rubbelte die Volksmutti jeden Morgen die Wangen glatt. Vor ein paar Jahren war der Junge noch zur Schule gelaufen. Ein wilder Schopf blondes Haar, aufmerksame, lebendige Augen. Was war nur mit ihnen allen geschehen?

Das Pfeifenputzergras am Zaun wiegte sich im Wind. Scheinähren nannte Helma das buschige Rot. Anfang des Monats hatte er ihr wie üblich eine Hand Bananen zum Hochzeitstag überreicht. Bananen statt Rosen, Tropengold. Nichts da Schein. Einfach nahrhaft und süß. Bislang hatte ihr das gefallen.

Sie kannten sich seit Helmas Geburt. Seit 35 Jahren lebten sie in enger Nachbarschaft oder zusammen. Miteinander verwandt waren sie zudem. Der gleiche Stall, die gleichen Werte. Meistens. Sie fromm, er nur halb – das war der größte Unterschied. Oder der zweitgrößte. Sie treu, er nicht. Nicht einmal halb. Wenn sie ihn damit aufzog, war alles in Ordnung.

Er riss eine Scheinähre ab, die nächste. Die Wolken flogen nach Süden. Entscheide dich. In Stockholm, vor drei Tagen erst, waren silberne Lichter aus dem Meer an den Fassaden hochgesprungen wie feiernder Hering. Er hatte mit Feiningers Sohn Andreas Pfefferkuchen verspeist, die er in läpprigen Kaffee stippte, von dem man für Einmalbezahlen so viel trinken durfte, wie der Magen fasste. Vater Feininger lehrte in Oakland, Kalifornien, wo Kaffee in Literbechern ausgegeben wurde und schwarz glänzte. In Hannover war die Kaffeeportion kleiner und schwärzer. Schatten fielen von überall. Sie wuchsen, es war nur eine Frage der Zeit.

Nächstes Jahr blüht ihr ohne mich!

Vier Mietshäuser hatte Kurt beim Tod seines Vaters geerbt, von diesen Einnahmen lebten sie. Helma führte die Bücher. Spezifizieren Sie die Verwendung der einzelnen Räume und welchen Nutzen Sie daraus ziehen (Reichsmark per annum). Für die Villa waren gemeldet: Eigentümer Kurt, Gattin Wilhelmine, Sohn Ernst (zweiter Stock), Mutter Henriette Schwitters (eigene Wohnung im ersten Stock) sowie diverse Mieter, genannt die Zimmerherren. Helma vermietete nicht an alleinstehende Frauen. Nicht gemeldet: der Bau.

Er starrte in den leeren Lkw-Bauch vor dem Zaun der Tossionis. Die Schwittersarena Hannover hatte Käthe Steinitz sein Leben hier genannt, das Theater Schramm, Schrat und Schrott.

Käthe war fort, in New York. Sie schrieb: Fahr, solange du kannst. Yours, Kate. Seiner Frau zeigte er die Briefe erst gar nicht, die fing auch ohne Ermunterung jeden Tag mit dem Thema Auswandern an.

Freunde, Volksgenossen, Deutsche! Wie soll ich das Land verlassen?

Anfangs sah seine Arbeit schnell aus. Dann dauerte es. Der Weg führte durch Wälder, über Berge und Täler, ans Meer, führte über den Zoo, wo ihm Tiere die Farbe Braun retteten, durch die Menschenhäuser, Arbeitsstätten, Einkaufsläden, die Museen und Archive, in die Gärten und Hintergärten, auf Parkplätze, über Friedhöfe, zu Rinnsteinen und Abfalleimern, Komposthaufen und Kehrecken, an die Bushaltestellen, in die Kanalisation, auf den Spielplatz, in den nächsten Ameisenhaufen, ins Knistern des Feuers und das Röntgenlicht der Krankenhäuser, hinter den Kaninchenstall und die Autogarage, in die Korsettage seiner Mutter, in die Anatomiezeichnungen und Casustafeln der Schulbücher, von stolpernden Kutschpferden zu Charlie Chaplin, hinter die Wählscheibe des Telefons und ins Rauschen der Senderwahl, auf die Probebühne, auf die Echtbühne, in die Gedichte und in den Balzgesang der Vögel, in den Mölm und den Wind und den Rauch, zu den winzigen Teilen, in den Mittelfinger, in den Keller, zum Kalben eines Gletschers und ins Café Kröpcke, zu Bahlsen und Bollos, in die Tragegondel eines Zeppelins und ein Eisbärenmaul, in die Münder aller Beteiligten (ohne Absprache), an die Nordseeküste, auf Blumenkohlfelder, rutschend einen Geröllhang hinab, zu Gewölle (in der Eilenriede), auf den Müllhaufen der Geschichte, in die Fahrkartenhäuschen und Futterspeicher, in den Stillstand, in die Schwankung, in das Poloch (Bürgerschreck zwei), in die Dynamik, in die Leere und die fürchterliche Leere, ins Zerlachen des Ichs und die Neuentdeckung der Scham, in den Jubel, ins Versteck und eine norwegische Inselhütte, ins geheimste Revier, in das Innere eines Huhns auf der Suche nach dem Ei, ins Innere des Eis auf der Suche nach dem Huhn, in die Zeitung und in das Zeitungshochhaus, genannt Anzeiger, durch ein Zinnoberfest zurück in den Buchstaben A sowie zu bestimmten fleischbeigen Strumpfenden und unbestimmten strumpflosen Beinen, in den Anfang und Ausgang, den Auf- und Zugang, den gesamten, verdammten, den verdammt seligen Umgang.

Volksgenossen, Deutsche, liebe Narren! Verteidigt mir mein Hannover, statt von fremden Küsten zu schwärmen.

Seine Mutter sagte nichts. Was sie sich wünschte, wusste er wohl. Helma fuhr bei jeder Gelegenheit dazwischen: Mit dem Zoo komme er ihr jetzt? In den USA gebe es 1000 schöne Tiergärten. Jeder besser als die Ruhe-Schau hier mit dem schrumpfenden Nashorn (Kurt: »Nashörner können nicht schrumpfen«, Helma: »In Hannover schon«) und den zum Verkauf stehenden Ponys, rund vor Fett wie Ballons.

Er hatte den Pferdedeckel über der Matratze im MERZbau an die Wand genagelt. Shining konnte man weder wissen noch erzwingen. Shining schob Raum in Raum, verschob das Ich. Es war MERZ, wenn es passierte. Die Welt ruckte, zerlegte sich, stob auseinander, eine Explosion, sekundenlang gefrorene Luft, dann sein Blick – das Bild setzte sich schwebend frisch zusammen, unerhört. Unterwegs fand das nicht statt. Er konnte nicht fort, auch wenn Käthe, Hannah Höch und Raoul Hausmann in Paris ihn drängten, auch wenn er beim Zeitungslesen nur mehr erschrak, auch wenn in Stockholm Licht und Gedanken über die Fassaden geglitten waren wie fliegender Fisch: GEH!

Hinter Kurt, der »Rampensau« (was er sich alles anhören musste – doch das hörte er mit Freude), steckte Truk. Truk, der Tüftler, der Winkel maß, Buchstaben entwarf, auf Leinwand, Holz und im Raum Zeichen konstruierte. Truk lebte im Bau. Außerhalb litt er. Für ihn nahm Kurt auf jede Reise Kartoffeln von zuhause mit. 15 Koffer waren sein Reiseminimum, ergänzt durch Bilderrahmen, große Objekte wechselnder Art (Grammofon, Holzblock, Teppich), Reitstiefel (zum Zerschneiden), Helm. Mehrere substantielle Verspätungen der Reichsbahn gingen exklusiv auf das Konto der fahrenden Kunst. Schon für eine Reise nur nach Lübeck löste Kurt sich schwer von zuhause. Hannovers Erden, Hannovers Müll. Die Stimmen der Eltern und Helmas, der Freunde, Ernsts. Der Geruch seiner Behausung, das Knarren ihrer Stiegen. Er kannte die Villa mit dem gesamten Körper. Der Villa gehörte er blind.

Da kam Truk, ausgerechnet Truk, damit an: Ein chinesisches Zeichen verfüge über vier Töne mit unterschiedlichen Bedeutungen auf jedem Ton. Truk malte zwei Stangen, an deren oberes Ende er, nach innen zeigend, jeweils einen Holzkasten hängte. Pinselte man ein Ohr darunter, bedeutete das Tor zuhören. Stellte man das Zeichen für Mund zwischen die Kästen, wurde aus dem Tor eine Frage.

So wurde mit dem Zeichen gedacht, sagte Truk. Das Zeichen enthielt einen kompletten Satz. Er lautete: Verstehe eine Frage als ein Tor, angeboten von einem Mund.

Und seine Frage?

Hieß sie noch: Soll ich fort? Oder schon: Komm ich noch weg?

Die Umzugsmänner klappten die Türen des Lkw zu. Kurt griff mit beiden Händen seine Jackentaschen ab. Er brauchte eine Zigarette. Im Mai war er zum Kindergeschrei vom Maschsee, zum Tuten der Schiffe und der Paraden aufs Dach des Hauses geklettert. Seither saß eine neue MERZung, ein schmaler Steg vor dem Speicherfenster, an der Villa wie eine Flagge am Mast eines Schiffes. Man konnte darauf liegen, durfte sich nicht rühren. Grässlich schön: jeder Baum vertraut, das Rauschen, der Blick auf den Döhrener Turm. Im Rondell hatten H&H den gesamten Sommer über an einem seidenblauen Bettüberwurf gestickt. Oben blendete der See, kaum hob man den Kopf.

Krischan Spengemann war im Juli verhaftet worden. Das makellos rasierte Gesicht der Macht sagte zu Kurt: Jedem eine zweite Möglichkeit. Bei seiner Rückkehr aus Stockholm hatte Fiederallala am Radio vor Glück geschrien: In Wilhelmshaven war die Scharnhorst vom Stapel gelaufen. 28-cm-Drillingstürme, schweres Gerät! Das erste nach der ertrogenen Niederlage von 1918 gebaute deutsche Kriegsschiff. Fiederallala legte sich auf der Chaiselongue vor der juhu-braunen Riffeltapete die lilastichigen Haare zurecht. Für den Empfang der Botschaften des heiligen Adolf musste der alte Kopf vollkommen geformt werden. Soldatisch grüßte Oma Fischer den Volksempfänger und hielt »fürderhin« den Mund. Ihre Füße sahen aus, als wollten sie über die Schuhe hinausquellen. Dort unten tat sie Kurt leid.

Ein zweiter Lkw, grau wie der erste, bog in die Straße. Halb zwölf, sagte Kurts Armbanduhr. Er hatte eine Packung Juno gefunden, kein Feuer. Alle Streichhölzchen waren abgebrochen für die Kastanientiere. Helma müsste jeden Augenblick von den Wocheneinkäufen für den Heimzoo zurück sein. Die Uhr hatte sie ihm zum Geburtstag geschenkt. Leicht, wertvoll, mitnehmbar.

Hatte sie so gedacht?

Die zweite Umzugsmannschaft verschwand im Heim der Tossionis. Das lief ja wie am Schnürchen. Platthirnig, so ein Bär von oben. Tatsächlich weniger weich, als man hätte denken wollen. Er setzte sich zu dem hohlen, einst wilden Kopf auf den Gehweg. Wie das aussah, war ihm nun auch egal. Kurt zwischen Nachbarn und Lilien, und die taten schilien. Was das betraf, blühten Lilien in Deutschland jetzt das gesamte Jahr hindurch. Nach dem Termin bei der Gestapo hatte er einen zweiten und dritten Spiegel an der Außenwand des MERZbaus über dem Kräutergarten installiert.

Helma war zehn gewesen, als Familie Schwitters nach Döhren zog. Jeden Nachmittag trank Vater Fischer nun bei den Schwitters Tee mit so viel Zucker, wie er wollte. Seine Älteste brachte er mit. Man verstand, dass auch sie Eleonoras Regime entfloh. Die Kopie der Fischervilla in der Waldhausenstraße wurde für die beiden Besucher Zuhause Nummer zwei. Wilhelmine schlenkerte mit den braunen Beinen auf der Gartenmauer, lutschte ein Bonbon, dass ihre Wangen sich nach innen saugten, und lachte, wenn Kurt, der Vetter zweiten Grades, etwas vorführte. Sie war die Erste, bei der ihm das gelang.

Seine frühen Lebensjahre hatte er in der Korsettage verbracht, Henriettes Modehaus inmitten der Stadt voller Spitzen, Bänder, Kleider und Blusen, verlockender Bilder aus der Nouvelle Mode, der Dame, der amerikanischen Vogue. Er hatte Maschinenrädchen ineinandergesteckt, um Frauengesichter zu rädeln, früh auf Nachthemden, Leibchen, Hemden, Höschen und Hosen gestarrt, perlweiß, champagner, schwarz, Batist oder Seide, durchbrochen, geklöppelt, Baumwolle, mit Spitzen besetzt. Hier hatte er die Namen der Welt gelernt. Bald konnte er die Stoffe am Geruch unterscheiden, die Frauen ebenso. Das Talent seiner Mutter für Maße war stadtbekannt. Sie erfasste die Schwächen ihrer Kundinnen, noch bevor diese sich auszogen; bot von vornherein nur an, was Stärken erzeugte. Stärken, die es zuvor nicht gegeben hatte. Das war Zauberei! Das Kind, das mitten im Laden zwischen Stoffen saß, bewunderte, wie viele Frauen es gab. Und wie sie sich in den Umkleidekabinen veränderten. Dass sie sich Gesichter malten, kannte es, hinter den Vorhängen machten sie sich neue Körper: Dort drückten sie etwas weg, da stopften sie etwas auf. Lebendige Skulpturen. Aus dem Kind auf der Decke aus Seidenresten, gefüttert, getätschelt, war Kurt geworden. An Frauen forschte Kurt bis zum heutigen Tag. Jeden Tag.

Das war – stadtbekannt. Schwitters, der Schwirrer, ruheloser Umwickler einfacher Wahrheiten, bourgeoiser MERZ im Dreiteiler, mit Dackel (die Rasse wurde penetrant unterschätzt, tatsächlich ein Jagdhund), Dichter des Paradoxen, nie einer Gruppe angeschlossen, nie politisch geworden, reinste Verkörperung von Treue, Witz und Seitensprung. Kunst: Zuhörer in Rhythmen und Klängen baden, bis sie aus ihren steifen Anzügen, lieber noch aus ihren Röcken, Kostümen, Kleidern wuchsen, lächelten, kicherten, dahinsanken, sich dabei erhoben fühlten, ermutigt, beschwingt.

Kurt, Friese, Hüne, Blauauge, Galan. All die »Arrs« auf den Straßen. »Arr« von »Affäre«. Ein Mann in seinen besten Jahren. Einer, der tanzen konnte und nicht darauf verzichten würde. Familienmensch, Gewohnheitstier.

»Helmchen, du bist und bleibst meine Nummer eins.«

Das stimmte. Sie gehörten zusammen. Auch wenn er ihr die sexuelle Treue nicht hielt, alle anderen hielt er ihr durchaus: die Arbeitstreue, die Lachtreue, die Familientreue, die Unterstützungstreue, die Herzlichkeitstreue, die Treue des offenen Ohrs, die Du-darfst-mich-schimpfen-Treue, die Ratschlagstreue (ich höre auf dich).

Als er aus dem Polizeipräsidium nach Hause gekommen war, hatte Helma ihre alten Englischbücher auf den Küchentisch gepackt: You cannot have the cake and eat it.

Welch ausnehmend dämlicher Satz.

Er sollte Englisch lernen. Sie konnte es.

Wir räumen Ihr Haus. Sie haben davon gehört, nicht wahr?

Ach ja, bitte, treten Sie ein, wir warten schon.

Dem Bären standen die Glasaugen wie halbe Globen aus dem Kopf. »Gut« war von gestern, »Zuhause« auch.

Bye-bye Fiederallala. Das wäre leicht.

Bye-bye Helmama?

Das Wort »Exil« lag seit Monaten im Schwittersnest, ein giftig-goldenes Ei. Es glänzte, tags. Nachts machte es Angst. Nachts fiel Dunkelheit auf Dunkelheit.

Zu jedem Weihnachtsfest strickte Fiederallala ihm einen neuen Schal. Er trug ihn ebenso wie jenen, den Helma ihm zu Weihnachten strickte. Totschwitzen für den Frauenfrieden! Zwei, drei Wochen und es wäre kalt. Er würde die Stricknadeln klappern hören, Schlinge um Schlinge. Es gab Dinge, die man nicht vermisste, wenn man verschwand.

Da ging es um Bleiben oder Gehen, eine Entscheidung for good (so Helma) – und er dachte an Schals. Das Deutsche Reich zu verlassen war verlockend. Hannover zu verlassen vorstellbar. Die Villa zu verlassen ein Jammer. Die in der Villa gelagerten Werke zu verlassen herzzerreißend. Den MERZbau zu verlassen unmöglich.

Damit war es festgestellt. Er, Kurt, lebte wie ein Pilz. Den Fruchtkörper konnte man abschneiden. Helma meinte, das Myzel könne man ausgraben. Falsch. Man fand es nicht. Es war zu fein, zu verwurzelt, zu subtil.

»Tossionis?« Helma, rot im Gesicht, stand mit dem Leiterwagen vor ihm. Stumm luden sie die Fracht in die bereitstehenden Körbe um. Es sah besser aus, wenn man nicht zu viel zu bereden hatte. Der Heimzoo umfasste einen Salamander, vier Echsen, zwei Schildkröten, zahlreiche Meerschweinchen, zwei Katzen, Mutter Henriette, Helma und Kurt.

Der zweite Möbelwagen rauschte an ihnen vorüber. Kurt senkte den Kopf. Den gesamten Vormittag über war kein einziger der Tossionis zu sehen gewesen. Immer häufiger zogen Möbel allein um. Als ob die Menschen, denen sie gehörten, schon Gespenster wären.

GEH!

Helma. Dunkelblaues einfaches Kleid, seegrüne Strickjacke, die Haare, braun mit grauen Strähnen, im Nacken zu einem Knoten gebunden. Ihre Hände waren geschwollen, seit Jahren litt sie an Arthritis. Sie reichte ihm bis zur Brust. Ihr Scheitel wurde hell.

Alles veränderte sich.

Die Veränderungen auf der Straße, in den Ämtern, den Schulräumen, in jedem Park, auf jedem Platz, in jedem Gesetz, in der Angst und der Hoffnung drangen durch Fenster und Ritzen in jedes Haus. Dort dehnten sie sich wie Nebel zwischen den Menschen aus, die man liebte. Jeder musste daran glauben, was Hitler sagte, auf die eine oder andere Weise. Man hoffte, dass es nicht mit dem Leben wäre. Die tägliche Beschallung aus Fiederallalas Radioapparat vergiftete die Gedanken, die Tage, die Nächte, ihn selbst. Da stand er und zerbrach sich den Kopf über seine persönliche und seine künstlerische Ehrlichkeit (GEH!) und die Tossionis wurden vor seinen Augen umgezogen. Blind stellen, taub stellen, Blümchen malen? Deutscher Eintopf à l’intellectuelle. Er hatte seine Gedichtabende verMERZt, jedes Mal zu Beginn seines Auftrittes ein Führerbild von der Wand genommen, es an den Rand der Bühne gestellt und das Publikum aufgefordert, es anzuspucken. Das akzeptiere er als Applaus! Er erfand einen braunen Hasen, der um Ecken sprang, die es nicht gab, erzählte vom stärksten Mann der Welt, der Frauen über das Radio schwängerte, so dass jede Dame, »deutsche Präzisionsarbeit«, nach neun Monaten einen Zwerg gebar, und lernte seit einem Jahr seine Gedichte auswendig.

Das war Hundewiderstand. Kurt Wauwau Schwitters wedelt wann und dann, wenn er nur kann.

Er schämte sich.

Er war nicht mutig. Und er wollte es nicht sein. Er wollte nicht, dass es ihm abverlangt wurde. Allein in der Kunst wusste er, was er tun musste. Da nannten andere es Mut.

Privat lebte er längst doppelt. Kurt und Helma, Kurt und die Arrs. Doppelt leben in seiner Kunst? Sich verstecken, tarnen, heimlich weiterschreiben? Das war nicht unmöglich, er sah Beispiele. Schweigen und Hoffen. Anderen war Schlimmeres widerfahren. Helma nahm Geld von Fiederallala, so kamen sie finanziell aus. An den Häusern war viel zu richten gewesen. Sie hungerten nicht. Er hatte versucht weiterzumachen, auch wenn Helma seine Unentschiedenheit zum Davonlaufen fand. Im Winter 1935 war er davongelaufen, zu Suus Freudenthal.

Ach, die Treue. Die zu anderen, die zu sich selbst. Und wenn die beiden Treuen sich stritten? Die Antwort darauf hatte er stets gewusst. Kunst brauchte Überschuss und Witz. Witz war eine Form von Geist. Ohne ihn, ohne die Freiheit, genau zu sein, vielfältig zu sein, wurde Kunst schal.

Er fasste sich in die Hosentasche. Lose lagen die Pillen (Schläfendruck, Magenkrampf, Nierenfunktion) darin. Kopf in den Nacken gelegt, und der zufällig gegriffene Wundermix fiel ihm in den Mund. Helma setzte die beiden letzten Salatköpfe auf den randvollen Korb, er hob den Eisbären auf.

»Den jetzt?« Sie war noch immer rot im Gesicht. Behände nahm sie ihm den Kopf aus den Händen und klemmte ihn sich selbst unter den Arm. »Der, mein Lieber, bleibt hier!«

Die Küche roch nach den Kuchen (Hefefladen Schokotorte gedeckter Apfel Frankfurter Kranz Cremeschnitten Dampfnudeln Nusshörnchen Strudel Quarktaschen Donauwellen Liwanzen), die Helma hier buk. Er hatte das Feuer im Ofen angefacht, den Holztisch leergeräumt, an dem er arbeitete und an dem sie an Wochentagen auch aßen. Die Platte war ein Gebirge aus getrockneten Leimhügeln, durchzogen von Messercanyons.

Seit der MERZbau den dritten Stock erreicht hatte, verhöhlte, was von der Wohnung übrig war. Das Buffet lag voller Bücher, wacklige Türme aus Taschenbüchern und Leinenbänden wuchsen im Flur vor den vertäfelten Wänden, Rücken und Schutzumschläge grau, dazwischen Hefte, Magazine, Collagenmaterial. Zugewuchert der Couchtisch, Wände aus Büchern vor den tapezierten Wänden, jeder Vorsprung belegt. Im Klo, lindgrün gestrichen, rubinfarbener Teppich, gab es gerade so genug Platz zum Umdrehen, da der Spülkasten, bemalt mit einer enormen, kitschigen Orchidee, knapp unter der Decke hing. Zog man an der Metallkette, donnerte das Wasser herab.

Die Stühle vom Flohmarkt passten nicht zusammen. Zufrieden hockten die Katzen darauf, zuweilen saß der Schatten von Frau Tatje, der alten Weißnäherin seiner Mutter, am Tisch, wie sie vor Jahren hier auf Ernstlemann aufgepasst hatte. Sie hatte zur Familie gehört. Familie war, was einem am Herzen lag. So war es immer gewesen. Sie erwarteten ihren Sohn zurück. Als Kurier für die Sozialistische Arbeiterjugend hatte er sich in Norwegen aufgehalten und war gleich dortgeblieben, nachdem seine Auftraggeber hier in Hannover im Sommer in einer Hauruckaktion von der Gestapo »ausgehoben« worden waren. Verschwörung, Landesverrat, mehr als 300 Verhaftete. Anführer der Verräter: kein anderer als Freund Krischan Spengemann, Verfasser der unvergessenen Verse zu Herrn MERZ: Heute 1919!–: da sitzt er vor einer Fliege, die ihre Flügel putzt,und faltet die Hände.Und träumt und träumt.

Als Zwölfjähriger hatte Ernst behauptet, Norwegen sei kein Traum, sondern Heimat. Nach dem Kalender war der Sohn inzwischen fünf Jahre älter. Seine Welt leuchtete schwarz-weiß. »Leuchten?«, sagte Ernst. »Unbedingt.« Sprich: Er leuchte seinen Eltern den Weg. Familie? Nur um »für immer« für Norwegen zu packen, würde er heimkehren. Im Sommer1904, als Kurt so alt gewesen war wie Ernst jetzt, hatte Kaiser Wilhelm geruhsam jeden Abend seinen Bart gezwirbelt und nicht nur Kurt hatte sich ein Jahrhundert ohne Krieg in Europa vorgestellt.

Helma tippte auf der Erika.

In der Regel konnte sie Kurts Stenogekrakel müheloser lesen als er selbst. Er schnitt das Schweinefleisch mit der Schere in mundgerechte Happen. Zum Lauchschneiden nahm er ebenfalls die Schere. Für Collagen ohnehin. Die Filets wälzte er in den zu Bröseln geriebenen Resten der Morgenbrötchen, verquirlt mit Ei. Neben ihm lag der Plan. Der Zoo war geschrumpft, umgezogen wurden seine Mitglieder gleichwohl:

Nr. 1

draußen

drinnen

entwischt

drinnen

Nr. 2

drinnen

Rückgabe an

Zooladen

Nr. 3

drinnen

draußen

zu doof

verspeist

Nr. 4

draußen

drinnen

draußen

drinnen

Nr. 5

zurückgekehrt

krank

drinnen

vermisst

Nr. 6

auf Diät

vermisst

ersetzt

auf Diät

Nr. 23

draußen

draußen

drinnen

Meerschweinchen, Mäuse, ein Molch, zwei Hasen. Aus Platzgründen blieb stets die Hälfte im Keller (draußen), während die andere Hälfte die Schwitterswohnung sowie den Bau belebte (drinnen). Die Durchführung der Umzüge fiel Helma zu, aber es war der Zeremonienmeister, der für jedes Tier einen exakten Stundenplan des Erscheinens und Verschwindens (vorwiegend durch Verfütterung) erstellte, komplexe Bilder, die Rücksicht auf Alter und Wesen nahmen. Im Schwittersjargon hieß der Plan das Karussell des Lebens. Kurt erwog, auch die Namen der humanoiden Mitglieder der Familie daraufzusetzen.

Nr. 24 Fiederallala

verspeist

Nr. 25 Ernst

draußen

erwartet

abgereist

Nr. 26 Helma

drinnen

drinnen

drinnen

Nr. 27 Kurt

drinnen

auf Diät

übel gelaunt

Er stellte den Kartoffelsalat auf den Tisch, wobei er seiner Frau auf den Busen starrte. Helma – ein Kurt-Nasenloch sog etwas Tierhaftes ein, das andere bekam das ewige Maiglöckchenparfum ab. Maiglöckchen! Es gab Dinge, bei denen diese Ehefrau stur war wie ein Esel. Eselgeruch wäre ihm lieber gewesen. Die Sturheit mochte er.

Zwei Mal war er Suus dieses Jahr begegnet. Im März in Amsterdam, im Juni in Norwegen. In Djupvasshytta in Norwegen hatten sie sich vor zwei Sommern kennengelernt. Suus Freudenthal, ein Vierteljahrhundert jung, mit Ehemann Hans, der in Amsterdam an der Universität lehrte. Wie sie dem Gedicht Anna Blume lauschte. Himmel noch mal, dieses niederländische meisje reagierte auf jeden Laut. Tanzen konnte es obendrein. Für den Winter lud er sich in ihr Quartier am Vondelpark ein, er bezahle in Bildern, bringe Ernst mit und ein tragbares Grammofon. Die Freudenthals mussten ihn offiziell auffordern, sie zu besuchen, damit Kurt ein Visum für die Niederlande erhielt. Der jüdische Name der Einladenden machte Schwierigkeiten. Wider Erwarten begann das Jahr 1935 dann mit Trümpfen und Trompeten: Schwitters junior wie senior stiegen in den Zug ans IJsselmeer. Der Senior dicklich, rot vor Bluthochdruck, Augen geschwollen – so die einen. Die anderen sahen einen stattlichen blonden Mann, der im Nu alles – Haus, Herz, Hirn – füllte mit seinem funkelnden Geist und seiner Lebendigkeit. Innerhalb von Minuten schlug er in Bann, riss wie ein Gott die grauen Wolken der Konventionen entzwei. Oho, was für ein Bild. Seinem Publikum widersprach er nie. Hauptsache, die alte Ordnung schepperte vom Podest. Abgelegte Arrs behaupteten, seine Geheimratsecken wüchsen, bald trage er ein kahles U auf dem Vorderkopf. In ersprießlichen Augenblicken indes war er kaum 40 und glich Cary Grant, nur mit feineren Zügen. Im April vor einem Jahr war dann Suus für zehn goldene Tage zu Besuch in Hannover erschienen. Suus, weit und breit ohne Hans.

Zwei Grotten im MERZbau gehörten nun ihr, eine hieß Sehnsucht, Zirkus die andere, beide hatte er eigenhändig verglast.

Zirkus war mächtiger Kitsch, eine glänzende eisblaue Weihnachtskugel hing an einer seidenen Schnur in die Höhle. Suus hatte es gemocht. Er auch.

»Helmchen, beruhig dich. An dich reicht keine heran.« Das war ja wahr. Nur schön war es nicht. Oder doch. Kompliziert schön.

Im November des schönen Jahres 1935 kam Suus’ Baby zur Welt. Ein Stammhalter für Hans. Perfekt, schrieb Kurt nach Amsterdam: Ehe und Familie zuerst. Vor ein paar Monaten in Norwegen hatte er alle drei Freudenthals getroffen. Sofort war das Wetter fürchterlich geworden, das Kind schrie ohne Unterlass. Kurt befand sich in Gedanken bei Glockenmoos und Heidebeeren, Suus im Frühling 1935. Da war sie schon guter Hoffnung gewesen. Bitte schön, nicht von ihm. Davon konnte keine Rede sein. Zumindest redete niemand davon. Auf diese Weise waren alle zufrieden: Helma, die in der Waldhausenstraße die Gastgeberin hatte spielen müssen im April. Er. Und Hans. Und Suus. Suus doch wohl auch.

GEH!

Helmas Busen durfte er anstarren. Wollte er? Sie verwaltete seine Kunst, tippte seine Texte, sie war genau und lustig, den Haushalt schmiss sie ebenfalls. Seit neuerem sagte sie: Wenn du dich nicht zusammenreißt, schmeiß ich dir alles hin.

Zur Bananenhand vor einer Woche hatte sie das Gesicht verzogen. Als er damit angefangen hatte,1916, waren Bananen teuer gewesen, ein exotisches Produkt der Afrikanischen Frucht-Compagnie. Nun lag in jedem besseren und schlechteren Laden die nationalsozialistische Kamerunbanane zum Verkauf. Sein Weib hatte das Hochzeitstagsgeschenk zermatscht und in Kuchenteig gerührt. Den Kuchen hatte sie über die Straße zu den Görschens getragen. Er hatte es in seinem Fensterspiegel gesehen. So ein Spiegel war eben doch eine Falle. Auch für einen selbst.

Er nahm die Schweinefilets von der Flamme und deckte sie zu. Falls Ernst kam, dann gegen acht Uhr. Den Zugfahrplan zwischen Hannover und Hamburg kannten sie auswendig. Gelegentlich fuhr Kurt mit dem Fahrrad zum Hamburger Hafen. Schiffe mochte er nicht, die Fähre nach Oslo liebte er.

Es war gefährlich, Kinder zu haben in Zeiten wie diesen. Man verlor sie. Das erste Kind, Gerd, hatten sie acht Tage nach der Geburt verloren. Von dieser Angst erholte man sich nie. Das war Familie jetzt. Sie saßen am Tisch, rauchten, warteten. Eigenhändig hatte er die Totenmaske des zarten Gesichtes abgenommen. Mit seinen das Vatersein eben erst erlernenden, verzweifelten Händen. Ernst war zwei Jahre nach Gerd zur Welt gekommen. Er rettete sie. Ob er das wusste? Sie hatten es ihm nie gesagt. Das Kind war seiner Jugend entsprechend heldenhaft: kurzsichtig, feurig und dazu bereit, jede Konsequenz seiner politischen Haltung auf sich zu nehmen. Gegen diese dringliche Aufrichtigkeit hatte Kurt kein Argument. Seine eigene war ihm abhandengekommen oder hatte, was die Politik betraf, nie existiert. Zeit für Parteien, für Kundgebungen gab es in seinem Leben nicht. Er half, wo er konnte, sie führten ein offenes Haus, sie hatten gelernt, verschwiegen zu sein. Ein Päckchen mit Mikrofilmen, auf denen Fotos von zerrissenen, lumpigen Hitlerplakaten gespeichert waren, hatte er zur klugen Verwendung an Tristan Tzara in Paris geschickt.

Helma hatte die Aufnahmen gemacht. Eine Frau bewunderte den Führer eben in jeder Gestalt. Sie hatte auch den Brief zur Post gebracht. Wenn es auf das spontane Erfinden von Ausreden ankam, war sie schneller als Kurt.

»Kuh-Witters, hörst du nicht?«

Es klopfe unten an der Gartentür.

Sie blickten sich an. Ernst hatte einen Schlüssel, der klopfte nicht.

Helma packte die Maschine weg: »Geh du.«

Rosafarbene Glatze, von weißen Haarpuscheln umkränzt. Lautlos klappte der alte Tossioni, zwei Köpfe kürzer als Kurt, den Mund auf und zu. Er hatte den Trampelpfad am Landwehrgraben genommen. Schleichverkehr quer durch die Rückwärtsgärten, verborgen im Grünen. Der alte Mann schob sich die Brille auf der Nase hoch, brachte kein Wort heraus. Hastig bat Kurt ihn ins Haus.

Tossioni schaute sich auf die Füße und rührte sich nicht. Als er den Kopf hob, rückte er sich erneut die Brille zurecht.

Sah der Mann jüdisch aus?

Welch ekliger Gedanke. Kurt griff sich an die Stirn. Man hörte und hörte die braunen Sätze und dachte unvermutet etwas, was einem in keiner Weise entsprach. Das Gift kroch in den Kopf.

»Möchten Sie etwas trinken?«, sagte Helma. »Wir haben einen besonders wohltuenden Birnenschnaps dieses Jahr.«

Der Bärenkopf stand neben der Besenkammer auf dem Boden. Tossioni, am Tisch, schob sich wieder und wieder die Brille gegen die Stirn. Helma löffelte Teeblätter in die Chinakanne, goss Milch aus der dicken braunen Flasche in ein Kännchen, stellte einen Teller Bahlsen auf den Tisch.

Sein Heim, sagte Tossioni, leer. Sohn und Enkel gestern früh abgeholt. Er und die Frauen in die hinterste Kammer gepfercht. Alle anderen Räume ausgeräumt, abgesperrt, versiegelt. Toilette? Ein Eimer. 16 prächtige, reich möblierte Zimmer, einst. Zwei Garagen.

Es war, als wollte Tossioni sich die Brille durch den Knochenansatz der Nase ins Gehirn schieben. Die Nazis hätten Ordnung geschaffen. Im deutschen Sinne. Ihn vor den Kommunisten gerettet. Vermutlich. Die ihm sein Elternhaus ebenfalls weggenommen hätten. Vermutlich. Und früher. Um es unter zehn Familien aufzuteilen. Und die Kunst zu verheizen. Oder als Pisspott zu benutzen. Da sei ihm das hier lieber. Obwohl.

»Verzeihung«, sagte er. Er seiere, er rede Stuss. Nur eines stehe fest. Er räusperte sich: »Dreihunderteinundsechzig.«

Brille zurück. Dreihunderteinundsechzig Jahre hatte die Familie Tossioni ehrsam, strebsam, national in Hannover gelebt.

Er und italienisch? »Meyn Gutskeyt, Herr Schwitters.«

»Zuhause ist, wo man gut zu dir ist«, sagte Kurt. Auch ein Stuss. Er hielt das Brillengeschiebe nicht mehr aus. Helma warf ihm einen ihrer Schildkrötenblicke zu: Stirn langsam in Falten gezogen, Augen rund.

»Vos a Gedank«, sagte Albert Tossioni. Brillenschub. Kurt schaute nach unten auf den Tisch. Da lagen Tossionis Hände.

Bitte, das sei nichts, sagte der Nachbar, er friere, deswegen zittere er.

Sein Sohn. Das Enkelkind. Die Großväter und Urgroßväter hatten für Deutschland gekämpft.

Zum Tippen der Listen habe die Gestapo eine eigene Schreibmaschine mitgebracht, ebenso das Reichspapier. Und einen Experten: Möbel, Bilder, Porzellan, Schmuck. Der habe sich ausgezeichnet ausgekannt. Alles geschätzt, etikettiert.

Kurt blickte weiter auf den Tisch. Wie voll die eigene Wohnung stand, wollte er nicht sehen. Schränke, Vitrinen, Regale, Tische, Stühle, fremde und eigene Gemälde, Collagen, Skulpturen, Objekte, Teppiche, handbemaltes Geschirr, Silberbesteck, Leinen, Seiden, Plumeaus und Federbetten, Stickwaren, Spiel- und Werkzeuge, Pinsel und Schmuck, ein Globus der Erde, einer des Mondes, Welt um Welt. Nichts davon alt, dafür alles Teil der Familiengeschichte. Selbst der hässliche Wollteppich. Den hatte er für Wassily Kandinskys Besuch gefärbt. Ein schwarzes Quadrat zum Drauftreten. Ein Witz.

»Erzählen Sie mir was, Herr Schwitters, lenken Sie mich ab. Bitte. Dann hab ich auch ein Wort für Sie.«

Sie tauschten Wörter, wenn sie sich auf der Straße trafen. Die meisten Wörter, die Tossioni kannte, kannte Kurt ebenfalls. Tossioni kannte andere Geschichten dazu.

Kurt wühlte in dem Papierstapel auf dem Buffet und legte dem Nachbarn eine Postkarte mit der Frauenkirche in München hin. Hauptstadt der Bewegung. Schlimm. Aber hinten, ohne Unterschrift: Lieber Kuh-hurt! Habe den Bärenin einem Haushaltswarenladen im Schaufenster entdeckt. Ihm scheint die nationale Sonne auf die Nase wie jedem tadellosen Bären. Schüsseln und Siebe bietet er feil, Geschirrtücher über dem toten Arm.

Der Bär, einst Silberschalenbutler bei Thomas Mann. Die Manns lebten im Exil in Küsnacht in der Schweiz. Die Karte stammte von Hannah Höch. Unter Pseudonym reiste sie durch Adolfs Reich.

Er erzählte Tossioni, wie er sich 1919 über dieses ausgestopfte Tier geärgert hatte. Der Autor der Buddenbrooks hatte in der heimischen Villa zu München ebenjenen sibirischen Braunbären aufgestellt, der in dem Roman der Kaufmannsfamilie in Lübeck von den Verwandten in Riga geschickt wird. Aufrecht auf den Hinterbeinen war Meister Petz aus der Fiktion in die Wirklichkeit getreten. Um auf ebendiesen Hinterbeinen am Treppenaufgang des Mannschen Heims den Besuchern das Schälchen für die Identität unter die Nase zu halten.

Neidisch war Kurt durch Hannover gerannt. Ein derartiges DADA-Wunder, Fiktion verwandelt in Materie, bei Thomas Mann? Das konnte nicht hingenommen werden. Hannover erwies sich, wie zu erwarten gewesen war, als ganz und gar bärenfrei. In der Kasernenstadt gab es bestenfalls Bärenfell, an Soldatenmützen.

Endlich war es einem Antiquitätenhändler gelungen, wenigstens den Kopf eines Bären zu besorgen.

Die Farbe war falsch. »Bär ist Bär«, brummte der Antiquar. »Ich erstand sie also, die gelbliche Glorie«, sagte Kurt, »zu einem unverschämten Preis.«

Zuhause hatte er sie in den Kamin gestellt. Schwarz war ebenfalls dabei: Glasauge 1, Glasauge 2, das sandig-raue Leder der Bärennase. Unbeeindruckt von ihrem eigenen Tod warf sie einen so lebendigen, nach unten spitz wie ein Herz zulaufenden Schatten in das Tiergesicht, als röche sie Beute wie eh und je.

Der alte Mann nahm die Brille ab. Endlich. Er schüttete Milch in seinen Tee, rührte um. Noch mehr Milch. Der Tee wurde hellbraun.

»Alle Erinnerung ist schwarz«, sagte der Nachbar. Schwarz wie ein künstliches Auge. Wie tote Haut. Kurt spürte Helmas Blick. Erinnerungen waren bunt, hatte er gedacht. Seine zumindest. Bislang.

Ihr Gast fragte, ob er das Klo benutzen dürfe.

Wo er eine Ewigkeit blieb. Fast musste man sich Sorgen machen. Die Brille lag auf dem Tisch. Starrte Tossioni ohne Brille durch das Fenster auf sein Zuhause? Man konnte den Giebel ausmachen, ein Stück Dach. Kurt wollte sich nicht vorstellen, was der Mann empfand. Kurt putzte die fremde Brille mit einem Tuch. Endlich hörten sie die Spülung, den Wasserfall.

Dünner und kleiner als je stand der Nachbar zum Abschied neben Kurt im Garten. Der MERZbau warf ein schwaches Spiegellicht in das abendfeuchte Gras.

»Hech supha«, sagte Tossioni. Das Wort für heute.

Hechtsuppe hätten die Deutschen daraus gemacht. Das geschehe ihnen recht. Darin schwämmen sie nun. Hech supha, starker Sturm.

»Danke«, sagte Tossioni. »Danke für die Brille. Das Brillenputztuch. Die Kalligrafie.«

Kalligrafie. Kurt kannte Maler, Grafiker, wahre Künstler am Stift. Er hatte seinem Gegenüber einen Zettel mit Adressen zugesteckt. In den Gläsern von Tossionis Brille spiegelte sich der Wetterhahn auf der Villa der Löffels. Übergolden und schnell drehte er sich mit dem Wind.

Zwei perfekt polierte Schuhe schritten über den mit bemoosten Platten belegten Weg zum Landwehrgraben hinunter. Kurt sah sie noch gehen, als Tossioni längst verschwunden war.

Es dämmerte.

Die Steine, der Weg, alles war leer. Leer bis auf seine, Kurts, Angst.

Seit Monaten versteckte er sie vor sich selbst. Nun, zwischen den dunklen, schon fast blattlosen Büschen fand sie ihn.

Sie stritten, kaum saß Kurt wieder in der Küche.

Helma dachte gar nicht daran, wie der Bär zu sein. Der blieb in Hannover. Auch ohne Kurt. Wie heute Morgen festgestellt. Und sie? Sie kam mit. Das stand fest. Allemal nach diesem Besuch.

Sie räumte Tossionis Tasse weg. Schnapsflasche und Teekanne standen da. Kurt fühlte sich versucht, beides so lange auf der Tischplatte herumzuschieben, bis sich ein Bild ergab: dick und niedrig, schmal und hoch, Schatten und Form.

Er griff nach einem Keks, zerkrümelte ihn. Einer von ihnen sollte Ernst begleiten. Und einer von ihnen musste sich um die Eltern kümmern, um die Häuser. So doch ihre, Helmas, Rede. Seit Monaten.

Und es stimmte: Sie konnten ihre drei alten Menschen nicht allein lassen. Auch nach den Immobilien musste jemand sehen. Jemand musste Kurts Werk beschützen.

X-mal hatten sie das besprochen. Durchgekaut. »Helma, nicht wahr?«

Gut, das gebe er ihr zu, mit der Verwaltung der Häuser ließe sich notfalls jemand betrauen. Alles andere hingegen?

»Das sind wir selbst, die Familie«, sagte er. »Und meine Kunst.«

Das war: seine und Helmas Verbundenheit. Und was dank ihrer entstanden war. Es war alt und stark. Ihre gemeinsame Wurzel. Einer musste hierbleiben und diese Gemeinsamkeit vor Ort beschützen.

Sie war, worin sie sich treu geblieben waren. Das Beste an ihnen.

Das hatte sie, Helma, selbst stets so gesehen. Nicht wahr?

»Wir gehen nicht auseinander«, sagte sie. Der Ausdruck ihres Gesichtes hatte nichts Liebevolles. Auch nichts Trotziges. Das verwirrte ihn.

Es ging schließlich um … ihn. Und Ernst. Sie, die Männer, wurden verfolgt. Helma haftete nicht für Kurts Kunst oder Ernsts politischen Widerstand. Helma konnte sich sicher fühlen. Er wollte, dass sie es tat.

»So leben wir nicht«, sagte sie. Dass sie so genuin traurig klang, machte es schwierig. Ihre Hände lagen auf dem Tisch. Bevor er nach ihnen greifen konnte, griff sie nach seiner rechten, krümeligen, drückte sie kurz, ließ los.

Auch er fühlte, was Hannover anging, anders als noch am Vormittag. Er fürchtete sich davor, zu bleiben. Zugleich fürchtete er sich davor, ohne Helma leben zu müssen.

Seit Wochen schwelte das Thema zwischen ihnen. Seit Wochen drehte er die Fragen im Kopf um und um. Die Eltern mitnehmen? Die Kunst verstecken? Die Häuser verkaufen? Geschwind, geschwind. Oder allem zum Trotz vor Ort verharren. Doch Ernst musste fort. Und Ernst allein in Norwegen mit seinen 17 Jahren, das kam nicht in Betracht. Also das Kind ziehen lassen und Helma mit ihm.

»Ich bliebe gern«, flüsterte er. »Zuhause, hier.«

Oma Henny, seine Mutter, brachte seit neuestem nicht mehr alle Sätze zu Ende. Fiederallala, dank einer entzündeten Wunde am Arm zu schwach zum Sitzen, hitlerte unverdrossen vom Bett aus, war in diesem Zustand aber nicht halb so nervtötend wie üblich. Opa Fiederallala starrte die meiste Zeit verwirrt vor sich hin.

Und wenn sie Ernst versteckten, sagte Helma. Und auch ihn, Kurt? Dann gäben sie ihre Eltern nicht auf.

»Hier in der Villa?«, fragte er und wusste im gleichen Augenblick die Antwort. Auf keinen Fall. Fiederallala rückte ihnen jeden Tag auf den Pelz. Sie schnüffelte. Also wo?

Spengemanns schieden aus. Daran, dass Käthe, seine beste Freundin in Hannover, die mit ihm zusammen Kinderbücher verfasst hatte, die alle seine Werke kannte, deren Hausschlüssel in einer Grotte des MERZbaus steckte, nicht nur gegangen, sondern besorgt um das Leben ihrer halbjüdischen Töchter richtiggehend geflohen war, wollte er am liebsten nicht denken. Ihr Mann, Arzt im Jüdischen Hospital, hatte Deutschland kurzentschlossen bereits im Sommer 1933 verlassen. Letztes Jahr war Käthe, von der Reichsschrifttumskammer des Kulturbolschewismus bezichtigt, ihm mit den Töchtern nach New York gefolgt.

Freunde wolle sie auf keinen Fall mithineinziehen, sagte Helma. Da dächten sie gleich. Niemand sollte sich ihretwegen gefährden.

»Ich wünsche mir ja auch alles weg, die gesamte Hitlerei.« Wie ein nordischer Felsbrocken drücke das Elend sie nieder.

Kurt griff nach der Kanne, goss sich einen Schluck ein. Der Tee war kalt.

»Fiederallala wird sich erholen«, sagte er.

Dabei sah er Helma nicht an. Es sollte nicht wie ein Vorwurf klingen. Zumindest nicht sehr. Auch wenn es versteckt einer war. Sie wussten, was »erholen« im Fall dieser »Mutter« hieß. Mehr Hitlerenergie.

Damit stand es ihnen abermals vor Augen. Ernst musste Naziland verlassen. Je schneller, umso klüger.

Namen flogen auf. Wie Motten? Nein, toter. Leerer Flitter, sofort erschöpft. Ernst & Helma, Kurt & Ernst & Oma Schwitters und ja, Helma & Kurt & Oma Schwitters & Ernst.

Helma tunkte einen Keks in ihren Tee und starrte das Ergebnis an. Er dachte »solo«, »Oslo solo«. Kurt & Ernst. Auch er war traurig. Wenn auch anders als sie.

Norwegische Felsen. Am Boden kriechende Kiefern, Wasser, Gletscherfront. Er malte dort nach der Natur. Er entspannte sich dabei. Jeden Sommer seit 1929 hatte er im Norden verbracht. Wochen mit Helma, Wochen ohne sie. Ein Foto aus Molde zeigte ihn mit einem Plastikball auf dem Kopf, von bewundernden Frauen umringt. Es war leicht gewesen. Er hatte jeden Tag dort oben darauf vertraut, hierher zurückzukommen.

Er liebte Helma nicht am stärksten, wenn er nicht bei ihr war. Er lebte von Nähe. Versorgt sein wollte er ebenfalls. An Helmas Stelle hätte ihm die Lösung »Kurt mit Ernst in Oslo« ebenfalls nicht gefallen. Auch politisch war das nicht ideal.

Wenn Helma in Hannover blieb, konnten die Nazis sie benutzen, um ihn unter Druck zu setzen. Im Drohen und Einschüchtern, Einbestellen, Durchsuchen und Konfiszieren waren sie Meister schon jetzt. Man musste sich davor fürchten, welche Erlasse ihnen in Zukunft einfallen mochten.

Also sie drei. Das Familienpaket.

Er glaubte an Liebe und Ehe. Und an seine Freiheit. Fiederallala wühlte in Kurts Briefen, gab weiter, was sie fand, erfand hinzu. Hannovers höchste Hitlerette! Er suchte den Blick seiner Frau. Das fiel auf ihre Seite. Darum musste sie sich kümmern, nicht er.

Wir sind dran, dachte er mit einem Mal bitter, Kurt und Helma. Ernst konnte, ja durfte verschwinden. In der Falle saßen nur sie beide, das Paar.

Täte die Trennung ihnen nicht vielleicht auch gut?

»Henriette hilft dir, wenn ich mit Ernst in Oslo bin. Du schaffst das. Ich brauche dich hier.«

Die Küchenuhr an der Wand tickte. Auf der 12 saß eine gemalte Amsel, die niemals sang. Ein schwarzer Fleck mit gelbem Schnabel auf dem Höhepunkt der Zeit. Es war grausam, auf eine stille, oberflächlich wirkende Weise grausam, Helma mit den drei Alten hier zu lassen. Ihren Alltag wollte er sich gar nicht erst vorstellen. Helma allein mit Ernst nach Oslo zu schicken, blieb dennoch ein Hirngespinst. Ernst unmündig und Helma, als Gattin, nahezu ebenfalls. Für alles – Kontoeröffnung, Mietvertrag, eine größere Anschaffung, den Transfer von Geld, einen Kunstverkauf – brauchte sie seine Unterschrift. Eines half: Sie mussten es schönreden. Eben als er ansetzen wollte, sagte sie: »Dein ewiger Optimismus hat uns das alles eingebrockt. Sonst wären wir seit langem weg. In den USA, wie …, wie Käthe.«

Das nun wieder. Käthe wurde zu Helmas bester Freundin erklärt und als Waffe benutzt. Doktor Pfitzer hatten ihn Käthes Mädchen genannt. Jedes Mal schrieb Käthe »Fahrt, solange ihr könnt« und legte in ein Buch oder in eine Zeitung, die niemand außer ihm las, einen Zettel für ihn allein: »Komm wenigstens du.« Sie, die wusste, dass er an keinem anderen Ort als Hannover arbeiten konnte. Also nahm er sich ihre Zeilen besonders zu Herzen. Er musste zugeben, dass er dieses Arbeiten anderswo nie ernsthaft versucht hatte.

»Bitte«, sagte Helma, »besinn dich.« Die Manns, die Brechts, Gropius, Richter, Grosz, Taut, Zweig, Moholy-Nagy. Alle fort!

Sie wirkte entschlossen. War sie deswegen so traurig? Seit »der Sache Suus« schimpfte sie häufig mit ihm. Andererseits: Mehr als einmal hatten sie gemeinsam dem Leben ein Schnippchen geschlagen. Sein Ruhm war gestiegen, sie hatten Spaß gehabt, Feste gefeiert, waren durch Europa gereist. Ihm war nur zu klar, was Helma wollte: weit weg. Das war auch Suus-weg. Sie, zu dritt, in die USA.

»Gründe?«, sagte sie. »Herrgott, Schwitters!« Was brauche er Gründe angesichts der Umstände.

Die USA verlangten Empfehlungen, amerikanische Bürgen, Geld. Das war langwierig. Ungewiss. Konnte das Braunreich nicht zusammenbrechen, lohnte sich das Auswandern denn?

»Wir liefern unsere Eltern ihrem Schicksal aus, das bringt sie ins Grab, die sehen wir lebend nie mehr«, sagte er.

Helma war gewappnet: Ihr Vater wünsche nichts anderes, als dass sie in Sicherheit sei. Auf ihre Mutter könne sie verzichten.

Sie schwiegen. Blieb seine Mutter. Seine Gedanken drehten sich im Kreis. Helma und ihm, mittlere Generation, fiel die Aufgabe zu, die Alten zu schützen, die Jungen zu retten. Die Falle. Da schnappte sie von neuem zu.

Konnte man es nicht auch positiv ausdrücken, dachte Kurt: Helma und er sollten sich aufteilen. Einer von ihnen musste der Retter des Anderen werden. Einer durfte der Selbstretter sein.

»Du fälschst meine Unterschrift«, sagte er. »Ich gebe dir und Ernst Blankoschecks mit, ihr fahrt nach Oslo und ich bleibe, kontrolliere Fiederallala.«

Und leichthin, als wäre es ein Nachgedanke: »Und beschütze mein Werk.«

»Hellchen, geh.«

Geh du.

Sie stand auf, der Stuhl kratzte über die Dielen. Ohne ihn anzublicken, begann sie am Herd aus der Pfanne zu essen, mit der Hand.

Sie stopfte sich den Mund? Er wusste schon. Sie aß sich den Schrecken weg. Sie aß zu viel, tröstete sich zu oft. Er sagte nichts.

Man kannte sich gut. Vielleicht zu gut. Den anderen jedenfalls.

Wenn er nichts sagte, beruhigte sie sich.

Und er?

Er hatte den Tag so oft angefangen. Nun entschied sich das Ende oder was das Ende werden sollte, das Ende nicht allein dieses Tages, zwischen ein paar Atemzügen. Zwischen einem Gedanken in dem einen Kopf und einer Absicht in dem anderen.

Die Falle war, worin sie lebten. Helma hatte das von Anfang an klarer erkannt als er. Diese Falle ließ ihnen nicht mehr als Halbsätze und geringe Abstände: »Ich weiß ja …«, »wäre es nicht …«, »denk an den Anzeiger.«

Nun also doch. Da war es ausgesprochen. Was im Anzeigerhochhaus mit Kurt passiert war, im Eingangsbereich. Wie sie es vertuscht hatten, zu zweit.

War man mit sich allein und verdrängte eine Gefahr, belog man sich. Verdrängte man sie zu zweit, keimte Hoffnung auf. Man konnte ein Stück weit glauben, dass ein Mittelweg möglich wäre. Das war schön daran, zu zweit zu sein. Endlich spürten sie etwas davon in der Küche, zwischen dem Tisch und dem kalten Herd.

»Ich hab ne Idee«, sagten sie gleichzeitig.

Helma, mit vollem Mund: »Wie blöd waren wir.«

»So machen wir es«, sagte er.

Kurt stellte sich neben Helma und aß wie sie mit den Fingern aus der Pfanne. Welch angenehmes, simples Gefühl. Und die Idee, simpel auch sie.

Das Kind begleiten, zusehen, dass es sich einrichtete, in die norwegische Spur einschwang. Das übernahm Kurt. Danach kehrte er nach Hannover zurück.

»Felsbrocken werden überschätzt«, sagte Helma. Ein dritter Weg! Die USA nur aufgeschoben. Er nickte. Sie beruhigten sich gegenseitig. Kein Einschnitt, nichts Prinzipielles, nur Norwegen, nur zwischendurch, nur 1000 Kilometer. War er nicht immer viel gereist?

»Bin doch immer viel gereist, Hellchen.«

Ernst würde nicht mehr bei ihnen wohnen. Das wäre irgendwann ohnehin passiert. Und wenn sie es sich vorsagten und sich darin bestärkten, erlebten sie es auch so: Das alte Leben ging weiter. Hin- und herfahren, vollkommen normal! Arbeiten in Norwegen wie seit Jahren, nun eben auch im Winter und Herbst. Dabei wissen, dass er nach Hannover zurückkäme. Nicht nur einmal im Jahr. Wenigstens zweimal.

Er küsste sie auf die Stirn. Es war besser schlau als mutig zu sein.

Auf die Stirn. Das Gefühl »hinter mir sind sie her, nicht hinter ihr« saß ihm nun doch in der Brust. In der Eingangshalle des Anzeigerhochhauses, roter Klinker, goldgesprenkelt, die unübersehbare Blechkuppel grün patiniert, Hannovers spektakulärster Neubau, keine zehn Jahre alt, hatte er im Juli einen epileptischen Anfall gehabt.