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Sechs unheimliche und phantastische Geschichten rund um das Thema »die unheimlichen Orte« vom vielleicht bekanntesten modernen Kritiker und Verfechter der unheimlichen Literatur S. T. Joshi persönlich ausgewählt.
Das Unheimliche in einer albtraumhaft anmutenden Landschaft tritt während eines antarktischen Sturms auf, oder es sucht auch heute noch ein englisches Herrenhaus heim, eine düstere Winterlandschaft in Kansas ist da geradezu prädestiniert und sogar in einen sonnigen Hinterhof im Mittleren Westen ist man vor dem Unheimlichen nicht sicher. Zu den Autoren des ersten von drei Bänden gehören Melanie Tem, John Shirley, Michael Aronovitz, Richard Gavin, Caitlín R. Kiernan und Ramsey Campbell.
Alle drei Bände erscheinen bei Bärenklau Exklusiv.
Folgende Beiträge sind in diesem Bandenthalten:
› Einführung von S.T. Joshi
› Melanie Tem – Eingefroren
› John Shirley – Zu Hause bei Azathoth
› Michael Aronovitz – Das Mädchen zwischen den Latten
› Richard Gavin – Das Getrappel winziger Füßchen
› Ramsey Campbell – In Lorn Hall
› Caitlin R. Kiernan – Blindfish
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Melanie Tem / John Shirley / Michael Aronovitz /
Richard Gavin / Caitlin R. Kiernan /
Ramsey Campbell
SEARCHERS AFTER HORROR
Band 1
Das Grauen in mir
Neue Geschichten des Unheimlichen und Phantastischen
herausgegeben von S. T. Joshi
Copyright © by Authors/Bärenklau Exklusiv
Übersetzer: Bärenklau Exklusiv, Bearbeitung: Tomos Forrest
Einleitung: Copyright © by S. T. Joshi
© der deutschen Übersetzung: Bärenklau Exklusiv
Cover: © by Steve Mayer mit Bärenklau Exklusiv, 2023
Illustrationen: © by Thomas Ostwald, 2024
Verlag: Bärenklau Exklusiv. Jörg Martin Munsonius (Verleger), Koalabärweg 2, 16727 Bärenklau (OT), Gemeinde Oberkrämer. Kerstin Peschel (Verlegerin), Am Wald 67, 14656 Brieselang
Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.
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Inhaltsverzeichnis
Impressum
Das Buch
Searchers after Horror
Das Grauen in mir
Einführung von S. T. Joshi
Eingefroren
Zu Hause bei Azathoth
Das Mädchen zwischen den Latten
Das Getrappel winziger Füßchen
In Lorn Hall
Blindfisch
Sechs unheimliche und phantastische Geschichten rund um das Thema »die unheimlichen Orte« vom vielleicht bekanntesten modernen Kritiker und Verfechter der unheimlichen Literatur S. T. Joshi persönlich ausgewählt.
Das Unheimliche in einer albtraumhaft anmutenden Landschaft tritt während eines antarktischen Sturms auf, oder es sucht auch heute noch ein englisches Herrenhaus heim, eine düstere Winterlandschaft in Kansas ist da geradezu prädestiniert und sogar in einen sonnigen Hinterhof im Mittleren Westen ist man vor dem Unheimlichen nicht sicher. Zu den Autoren des ersten von drei Bänden gehören Melanie Tem, John Shirley, Michael Aronovitz, Richard Gavin, Caitlín R. Kiernan und Ramsey Campbell.
Alle drei Bände erscheinen bei Bärenklau Exklusiv.
Folgende Beiträge sind in diesem Bandenthalten:
› Einführung von S.T. Joshi
› Melanie Tem – Eingefroren
› John Shirley – Zu Hause bei Azathoth
› Michael Aronovitz – Das Mädchen zwischen den Latten
› Richard Gavin – Das Getrappel winziger Füßchen
› Ramsey Campbell – In Lorn Hall
› Caitlin R. Kiernan – Blindfish
***
Band 1
Neue Erzählungen des Unheimlichen und Phantastischen
Herausgegeben von S. T. Joshi
»Sucher nach dem Grauen suchen fremde, ferne Orte auf. Für sie sind es die Katakomben von Ptolemais und die geschnitzten Mausoleen der Alptraumländer. Sie klettern auf die mondbeschienenen Türme verfallener Rheinburgen und stolpern über schwarze, mit Spinnweben besetzte Stufen unter den verstreuten Steinen vergessener Städte in Asien. Der verwunschene Wald und der verlassene Berg sind ihre Heiligtümer, und sie verweilen bei den düsteren Monolithen auf unbewohnten Inseln. Aber der wahre Genießer des Schrecklichen, für den ein neuer Kick unsagbarer Grausamkeit der Hauptzweck und die Rechtfertigung des Daseins ist, schätzt am meisten die alten, einsamen Bauernhäuser im hinterwäldlerischen Neuengland; denn dort vereinen sich die dunklen Elemente der Kraft, der Einsamkeit, der Groteske und der Unwissenheit zur Vollkommenheit des Abscheulichen.«
-H. P. LOVECRAFT, »Das Bild im Haus«
Das Motiv des ›unheimlichen Ortes‹ ist so alt wie die Gattung der übernatürlichen Literatur selbst. Die frühen Gothic-Romanautoren schilderten gern die ungezähmten Wälder des Apennin oder das Rheintal als angemessen düstere Kulisse für ihre Geschichten über übernatürliches oder psychologisches Grauen. Mary Shelleys Frankenstein beginnt und endet mit lebhaften Ansichten der Antarktis. Edgar Allan Poe fand unheimliche Landschaften vor allem in seiner eigenen Fantasie, wie der unvergängliche erste Absatz von ›The Fall of the House of Usher‹ bezeugt.
J. Sheridan Le Fanus Erzählungen über die abgelegene irische Landschaft, Ambrose Bierces schaurige Schilderungen der Einsamkeit verlassener Bergbaustädte im amerikanischen Westen, Arthur Machens unvergessliche Bilder von den ›wilden, gewölbten Hügeln‹ seiner Heimat Wales – all das hat sich fest in unser Gedächtnis eingeprägt.
Algernon Blackwood ist vielleicht der Meister der unheimlichen Landschaft. Ob es sich um die Abgeschiedenheit des seit Äonen verfrachteten Ägyptens, die erhabenen Höhen der Schweizer Alpen oder die scheinbar ruhigen, aber pulsierend vitalen Landschaften seiner Heimat England handelt, jede seiner Landschaften verkörpert in vollem Umfang den mystischen Pantheismus, der den Kern seines Denkens bildet. H. P. Lovecraft mag, wie die einleitenden Zeilen von ›The Picture in the House‹ andeuten, Neuengland als einzigartig geeignete Kulisse für literarische Merkwürdigkeiten empfunden haben, aber er war bei Weitem nicht der Erste, der diese alte Ecke Amerikas mit Leben erfüllte: Nathaniel Hawthorne, Mary E. Wilkins Freeman, Sarah Orne Jewett und andere hatten dies bereits vor ihm getan.
Dieser Trend hält bis heute an. Die zunehmende Verstädterung unserer Gesellschaft mag sich im albtraumhaften New York von T.E.D. Kleins bestem Werk oder im zwielichtigen Liverpool von Ramsey Campbell widerspiegeln; doch die Weird Fiction Autoren von heute finden in den Landschaften der ganzen Welt einen unbegrenzten Fundus an Seltsamkeiten, der durch die Inbrunst ihrer eigenen Vorstellungskraft noch erweitert wird.
In dieser auf drei Bände angelegten Sammlung finden Sie ein modernes, aber immer noch heimgesuchtes Neuengland in Nick Mamatas’ »Exit Through the Gift Shop«; einen gespenstischen Mittleren Westen, der sich auf das Werk von August Derleth und Clark Ashton Smith in John D. Haefele’s »The Sculptures in the House« stützt; das Grauen sowohl in der Landschaft als auch in den Bewohnern des ländlichen Virginia in Steve Rasnic Tem's »Crawldaddies«; die Abgeschiedenheit einer Autobahn in Pennsylvania in Darrell Schweitzer's »Going to Ground«; die Fremdheit des pazifischen Nordwestens in W. H. Pugmire's »An Element of Nightamre«; und die Abgeschiedenheit eines kargen Colorado in Ann K. Schwader's »Dark Equinox«.
Die britischen Autoren Ramsey Campbell und Gary Fry greifen in »At Lorn Hall« und »The Reeds« auf das uralte Erbe ihrer Heimat zurück, und die Kanadier Donald Tyson (»Ice Fishing«), Richard Gavin (»The Patter of Tiny Feet«) und Simon Strantzas (»The Beautiful Fog Ascending«) tun dies ebenfalls.
Weniger präzise Topografien stehen im Mittelpunkt von Michael Aronovitz' komplexer, verschachtelter Erzählung »The Girl Between the Slats« und Melanie Tems »Iced In«, aber sie sind deshalb nicht weniger anschaulich. Hannes Boks »Mirandas Baum« beschwört den Pantheismus von Blackwood in einer Erzählung herauf, die wahrscheinlich Mitte der 1950er Jahre geschrieben, aber hier erstmals veröffentlicht wurde.
Die antiken Katakomben Italiens dienen als unheimlicher Schauplatz für Nancy Kilpatricks nachdenkliche Reflexion über Tod und Sterben, »Flesh and Bones«, während Jonathan Thomas' »Three Dreams of Ys« die Bretagne als Kulisse für eine Geschichte nimmt, die Fantasie und Seltsamkeit geschickt miteinander verbindet. Brian Stableford (»Et in Arcadia Ego«) greift auf das antike Griechenland mit seinen Nymphen und Satyrn zurück, um eine Geschichte zu erzählen, deren klassisches Setting schleichend in Lovecraft'sche Schrecken übergeht.
Die Unheimlichkeit der Landschaft kann in allen Genres der phantastischen Fiktion genutzt werden, und John Shirley (»At Home with Azathoth«) und Lois H. Gresh (»Willie the Protector«) nutzen sie in lebendigen Erzählungen, die Horror und Science-Fiction miteinander verbinden. Der paläogeanische Schrecken in Caitlín R. Kiernans »Blind Fish« und Jason V. Brocks »The Shadow of Heaven« wird durch die klar umgesetzten Schauplätze noch eindringlicher.
Die Unheimlichkeit der Landschaft ist nur eine Komponente in all diesen Erzählungen, denen es gleichzeitig gelingt, die Komplexität des menschlichen Charakters sorgfältig herauszuarbeiten und den Schrecken in einer Vielzahl von Themen, Motiven und Bildern zu evozieren. Jeder dieser Autoren ist auf der Suche nach dem Grauen aus den Tiefen seiner eigenen Vorstellungskraft, und ihre Leser werden unweigerlich zu Bewohnern bizarrer Reiche der Fantasie und des Schreckens, die sie sich nicht hätten vorstellen können.
S. T. Joshi
(Org. Titel: Iced In)
von Melanie Tem
Es lag kein Schnee. Alles sah kahl und nicht gefährlicher aus als sonst, bis das Tages- oder Mondlicht es zum Schimmern brachte. Alle nannten es Glatteis, aber das war irreführend. Kelly war es gewohnt, getäuscht zu werden, aber das war nicht fair.
In Wahrheit war das Eis durchsichtig, zumindest durchscheinend, mit wenig oder gar keiner eigenen Farbe, schwarz nur dort, wo es tückisch wurde, die Äste der Bäume wirkten schwer und zerbrechlich. Die Dächer reflektierten das schiefergraue Licht des Himmels. Man konnte alles an der kleinen Maus sehen, die sie im Eis eingefroren gefunden hatte – offene, puppenartige Augen, ein winziger Schwanz. Blöde Maus.
Das Fehlen des Schnees gab ihr das Gefühl, dass all das ihre Schuld war, als ob das Problem aus einem Charakterfehler resultierte – Inkompetenz, Ignoranz, Hang zum Dramatisieren. Sich ständig wegen allem schuldig zu fühlen, war solipsistisch und selbstverliebt und egozentrisch und dumm, und es zermürbte sie, aber sie konnte es nicht abstellen. Vielleicht war es besser, wenn etwas Schlimmes ihre Schuld war, wenn es zufällig geschah, und schlimme Dinge passierten ständig. Vielleicht war Schuld besser als Hilflosigkeit – nicht viel besser, und sie hätte nicht sagen können, warum, aber besser.
Kelly hatte ihr ganzes Leben lang in diesem Haus in dieser Stadt hier draußen in den Ebenen von Kansas gelebt. So schön für ein behütetes Kind, so glatt und so ruhig. Dies war nicht ihr erster Eissturm. Mannshohe Äste, an der Einfahrt festgefroren wie tote Soldaten. Auch wenn man wusste, dass sie keine toten Soldaten waren, konnte man so tun, als wären sie es. Sie hatte den Quilt mit dem Sternmuster mit Mama zusammengenäht, was die langen, eisigen Tage nicht schneller vergehen ließ, aber ihnen Kanten und Muster verlieh. Sie benutzte den Quilt immer noch, der jetzt in Fetzen lag, weil sie mit dem Flicken nicht nachkam.
»Tut mir leid, Mama.«
Die Eiszapfen, die an ihrem Haus wuchsen, gleich, ob sie zusah oder nicht, erinnerten sie an Zähne, Schwerter, Nadeln. Es hätte reichen sollen, was sie waren: riesige Eiszapfen unter all denen, die von Stromleitungen, Zäunen, Bäumen, Gebäuden, fast jeder anderen Fläche und Kante in der schneefreien Landschaft hingen. Wimpern, Haare. Knochen. Sie wuchsen und schmolzen in der kalten Sonne und tropften, als wären sie fertig, als würden sie jetzt verschwinden, um dann beim nächsten Licht sichtbar länger und dicker zu werden. Das war für sie genug, um damit fertig zu werden. Zu viel. Sie sollte nicht mit so viel zurechtkommen müssen.
Als die Nacht wieder hereinbrach, frischte der Wind auf, und die ganze Nacht hindurch gab es unangenehme Geräusche von Ästen, die möglicherweise auf das Haus fielen. Oder Eisteile rutschten vom Haus ab oder eisige Erdlöcher taten sich auf. Sie würde es nicht vor Tagesanbruch wissen, wenn überhaupt.
Denny sagte immer, dieses Haus würde sie eines Tages umbringen. Natürlich nahm sie das persönlich, wer würde das nicht tun? Es hatte als einer seiner Scherze begonnen, die eigentlich keine waren, sondern eine hinterhältige Art, sie zu kritisieren und ihr dann vorzuwerfen, sie habe keinen Sinn für Humor und nehme alles persönlich, wenn sie wütend wurde oder einfach nicht lachte. Später hatte er darauf bestanden, dass sein Grinsen ein Lächeln war – »vielleicht ein besorgtes Lächeln, weil ich dich liebe, vielleicht ein wenig verärgert, weil du dir selbst das Leben schwer machst« –, als ihr Fuß durch den Boden der Veranda gerutscht war und sie sich am Knöchel geschnitten hatte. Das Loch war immer noch da, nur größer im verrotteten Holz, und ihr Blut war wahrscheinlich auch noch da.
Er hatte es gesagt, als sie die Treppe hinuntergefallen war, weil sie versuchte, all die Sachen wegzuräumen, die sie immer wieder wegräumen wollte; damals war der falsche Scherz ein Vorwand gewesen, um zu verbergen, wie wütend er auf sie war. Seitdem war die Treppe noch mehr verstopft, und die Kleider, Zeitungen und Schuhe, über die er sich beschwert hatte, befanden sich nun in der Nähe des unteren Endes. Kelly ging einfach nicht mehr so oft in den zweiten Stock.
Er hatte es noch einmal gesagt, als er ging.
»Du wirst dir hier drinnen eine Krankheit einfangen, Kelly! Du musst es sauber machen. Ich werde dir helfen. Wir holen jemanden, der dir hilft.« Und dann: »Mach es sauber oder ich bin weg. Tue etwas!«
Sie hatte ihm nicht gesagt, er solle gehen. Es war seine Entscheidung gewesen. Er hatte bei diesem Wetter nicht rausgehen müssen. Aber der Gedanke, gemeinsam in dem vereisten Haus und vielleicht tagelang ohne Strom zu sein, war schrecklich. Er hatte sie auf die kalte und böige Veranda geschickt, um nach Dingen zu suchen, die sie zu Holz zerkleinern konnte, falls sie mitten im Wohnzimmer ein Feuer machen musste, da der Kamin seit Jahren nicht mehr funktionierte Und dann ging er in den grauen, gefrorenen Mittag, um sinnlos zu verkünden, wie es die Leute immer taten: »So schlimm sieht es nicht aus.« Tage später, als die Straßen wieder befahrbar waren, hatten sie ihn im Straßengraben gefunden, etwas näher an seinem Haus als an ihrem, sein Lastwagen ein paar Meter hinter ihm.
Lange Zeit, vor allem als die Vorhersage eisigen Schneeregen ankündigte, hatte Kelly sich ausgemalt, wie die Dämmerung die Flachheit der Ebenen betonen musste. Sie dachte an die Horizontlinie, über die man nicht sehen konnte und deshalb darauf vertrauen musste, dass es nicht das Ende der Welt war. Er hatte eine Entscheidung getroffen: lieber das Risiko eingehen, zu Fuß nach Hause zu gehen, als in seinem liegengebliebenen Lastwagen zu warten, weil wahrscheinlich niemand in nächster Zeit vorbeikommen würde.
»Man muss sich entscheiden«, hatte irgendein Philosoph verkündet. »Wir sind zur Entscheidungsfreiheit verdammt, und das macht uns zu wahren Menschen«, oder so ähnlich. Am Rande einer leeren Straße mitten im Nirgendwo zu Eis erstarrt: Das ist es, wohin einen das Treffen von Entscheidungen bringt. Vollkommen menschlich zu sein, wurde überbewertet.
Jetzt schnitt der Wind durch daumenbreite Risse in den Schlafzimmerwänden und fegte unter der Tür hervor. Dieses Zimmer war ohnehin seit Jahren nicht mehr zu betreten gewesen, Bett und Kommode und Lampe und Schreibtisch und Computer und wer weiß, was noch alles, überhäuft mit Dingen, von denen sie nicht wusste, was sie damit anfangen sollte, nicht wusste, wie sie sie nennen sollte, Ramsch oder Andenken, nützlich oder Müll. Also hatte sie die Tür einfach geschlossen gehalten und versucht, die Kälte zu vermeiden, der in den Rest des Hauses sickerte.
Erst heute war ihr ein eiszapfenförmiger Riss an der nördlichen Wohnzimmerwand aufgefallen, und sie fragte sich, was sich wohl von innen oder von außen hineinarbeiten würde. Das Fundament bröckelte schon seit langem, man konnte es deutlich sehen, also hatte sie aufgehört, es zu betrachten. Vielleicht würde Schnee einsickern, aber nicht jetzt, denn es lag kein Schnee.
Das arme alte Haus war kalt. Es knarrte und ächzte um sie herum durch den fehlenden Lärm elektrischer Geräte. Das Elektrizitätswerk machte eine große Sache daraus, wie bürgerlich es war, den Leuten, die ihre Rechnungen nicht bezahlen konnten, in den kältesten Zeiten den Strom wieder einzuschalten, aber das nützte nicht viel, wenn niemand Heizung oder Licht hatte. Wie bürgerlich war es, keine Geräte zu haben, die so etwas Grundlegendes wie Eisstürme bewältigen konnten?
Sie tat sich selbst leid, weil ihr so kalt war, und das aus gutem Grund. Sie schien die gesamte Wärme zu verbrauchen, die die beiden Strumpfmützen ihres Vaters, ein Paar gefütterte Ohrenschützer aus Wolle, drei Mäntel aus verschiedenen Phasen ihres Lebens, darunter der braune von Denny, Lagen von Pullovern, so viele Paar Handschuhe und Fäustlinge, wie sie tragen und ihre Hände noch benutzen konnte, und so viele Paar Socken, wie sie in ihre Stiefel stopfen konnte, erzeugen würde. Selbst wenn sie versuchte, verantwortungsbewusst, einfallsreich und vorbereitet zu sein, war sie nicht sehr gut darin. Mom und Dad waren immer gut vorbereitet gewesen, aber das hatten sie nicht an sie weitergegeben. Das war nicht fair.
Sie könnte zurück in den Haufen von Decken, Handtüchern, Kleidern, Vorhängen und Kissen in dem Raum kriechen, den sie zum Schlafen zwischen dem zusammengefallenen Bücherregal und den ungeöffneten Kartons des Shopping-Kanals freigemacht hatte, als sie sich solche Dinge noch leisten konnte. Aber es konnte nicht gut sein, so viel Zeit dort unten zu verbringen, Eissturm hin oder her, und ihr Schlaf war ohnehin unruhig, egal zu welcher Tages- oder Nachtzeit, egal zu welcher Jahreszeit oder bei welchem Wetter.
Draußen gab es einen Knall, ganz in der Nähe. Kelly machte erschrocken ein paar Schritte zurück, stolperte über Bücherstapel und glitschige Zeitschriftenstapel und zwang sich, den schmalen Weg, den sie offen zu halten versuchte, zur Haustür zu gehen. Vielleicht war das Geräusch nur ein Klopfen gewesen, das durch das Eis stilisiert worden war. Vielleicht war es jemand, der gekommen war, um ihr zu helfen, oder nur, um nach ihr zu sehen und dann wieder zu gehen, oder jemand, der zurückgekommen war, um noch einmal zu versuchen, sie zu lieben, obwohl sie sie hatte ziehen lassen, als sie nicht gewusst hatte, ob sie sie genug liebte.