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Suche niemals nach Antworten, wenn du nicht bereit bist, die Konsequenzen zu tragen …
»Sie wandert umher, weil sie nicht atmen kann. Und – sie ist wütend, weil du atmen kannst.«
Mickey Fitzsimmons und seine Freunde suchen lediglich den »Thrill« und erzählen sich auf dem Friedhof Gruselgeschichten, wie die von der vierzehnjährigen Alice Arthur, die im vergangenen Sommer ertrunken war.
Inspiriert von Mikeys Geschichte machen sich die Freunde auf den Weg zum Mausoleum des Mädchens – um die schwere Granittür zu öffnen: Sie haben keine Ahnung, was sie da unten erwecken sollten …
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Michael Aronovitz
Wenn Alice erwacht!
Horror-Roman
Copyright © by Author/Bärenklau Exklusiv
Originaltitel: ALICE WALKS, 2017 by Michael Aronovitz
Nachwort: »Sie ist wütend, weil du atmen kannst« – Michael Aronovitz: Wie Alice zu mir kam!, 2020 by Author
Übersetzung: Jörg Martin Munsonius
Bearbeitung: Roland Heller, Jörg Martin Munsonius
Cover: © by Steve nach Motiven, 2023
Korrektorat: Bärenklau Exklusiv
Verlag: Bärenklau Exklusiv. Jörg Martin Munsonius (Verleger), Koalabärweg 2, 16727 Bärenklau. Kerstin Peschel (Verlegerin), Am Wald 67, 14656 Brieselang
Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.
Alle Rechte vorbehalten
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Das Buch
Prolog
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
»Sie ist wütend, weil du atmen kannst« – Michael Aronovitz: Wie Alice zu mir kam!
ENDE
Folgende Bände von Michael Aronovitz sind ebenfalle erhältlich, oder befinden sich in Vorbereitung:
»Sie wandert umher, weil sie nicht atmen kann. Und – sie ist wütend, weil du atmen kannst.«
Mickey Fitzsimmons und seine Freunde suchen lediglich den »Thrill« und erzählen sich auf dem Friedhof Gruselgeschichten, wie die von der vierzehnjährigen Alice Arthur, die im vergangenen Sommer ertrunken war.
Inspiriert von Mikeys Geschichte machen sich die Freunde auf den Weg zu ihrem Mausoleum – um die schwere Granittür zu öffnen: Sie haben keine Ahnung, was sie da unten erwecken sollten …
***
Alice geht spazieren. Sie wandert umher, weil sie nicht atmen kann. Und – sie ist wütend, weil du atmen kannst.
Mein liebster Max,
Es ist an der Zeit, dass ich dir die Wahrheit über deinen Großvater erzähle.
Einiges davon hast du im Laufe der Jahre selbst mitbekommen, das meiste sind Gerüchte, anderes ist wahr, aber das würde niemand in unsere Familie jemals zugeben.
Deshalb werde ich mein Bestes tun, dir die ungeschminkte Wahrheit zu vermitteln, soweit ich darüber Bescheid weiß und was ich tief im Inneren vermute, ganz gleich, welches Unbehagen es in mir hervorzurufen vermag.
Dabei ist auch wichtig, dass ich dir einige meiner persönlichen Geheimnisse offenbare, denn ich fürchte, meine Zeit ist knapp bemessen.
Ich nehme täglich sechzig Milligramm Benacar gegen Bluthochdruck und der Arzt hat gerade dreißig Milligramm Amlodipin zusätzlich verordnet.
Meine Adern sind wie ein altes Rohrsystem, das an unzähligen Stellen Schweißnähte hat, die überall zu reißen drohen. Ich werde die weiße Fahne zur Kapitulation bald schwenken müssen.
Mir ist klar, dass ich viel von dir verlange, meinen Gedanken zu folgen, wenn man selbst erst vierzehn Jahre alt ist, aber im Grunde genommen bist du an der Schwelle, ein junger Mann zu werden.
Ich bitte dich also, mein bevorstehendes Ableben als Teil deines Erwachsenwerdens zu akzeptieren, deine Familiengeschichte kennen zu lernen und du sollst wissen, dass ich dich immer mehr geliebt habe als alles andere auf dieser grünen Erde.
Oder darunter.
Ja, da spreche ich es wieder aus, doch konzentrieren wir uns auf das, was ich dir weiter mit auf den Weg geben möchte.
Ich will mit dir über Dinge sprechen, die nicht einfach zu verstehen sind. Über die Last der Geschichte und vieler Erinnerungen, die auf der Oberfläche nur kleine Spannungsrisse zu erzeugen scheinen, doch wenn man tiefer in die Geheimnisse eintaucht, eine Welt zum Vorschein bringen, die immer wieder nur geflickt, übertüncht und mit Ausflüchten und Ablenkungen aufrecht gehalten wird.
Es ist an der Zeit für dich, diesen Teil der Erwachsenenwelt kennen zu lernen.
Ich will dir dabei helfen, das nötige Rüstzeug dafür zu erlernen.
Glaube mir, meine Geschichte wird schonungslos offen sein.
Wie du weißt, war Großvater früher Englischlehrer – und zwar ein verdammt guter – und er hat mir in meiner eigenen Jugend ziemlich viel beigebracht, wie man wichtige Sätze analysiert, auch wenn ich seiner Art der Beweisführung nicht gut folgen mochte.
Ich sage, diese Geschichte wird mit schonungsloser Offenheit erzählt werden, denn die Geheimnisse, die ich ans Licht zerren will, sind eine wirkliche Gefahr für dich.
Nichts will ich vor dir verborgen halten.
Ich werde dir einige Dinge erzählen, die schreckliche Schatten auf deine Zukunft werfen werden und das wird schmerzhaft für dich sein.
Es geht um Erlösung, Entscheidungen, die getroffen werden müssen und um alte Familienschulden. Es geht darum, was du erben wirst, eine Ernte, die eingefahren, und eine Saat, die ausgebracht werden muss.
Es begann alles, als ich in deinem Alter war, in einer Winternacht, als ich das Gelände des Friedhofs zu Saint Mary's unbefugt betreten hatte.
Ich hatte ein paar Freunde dabei und einen Satz Schlüssel, den ich aus dem Gärtneroverall meines Vaters entwendet hatte.
Dieser Friedhof hatte eine Menge Schlösser und Türriegel.
Und Türen, die nie geöffnet werden sollten.
»Mikey, beeil dich. Ich friere mir hier die Eier ab.«
»Drinnen wird es nicht viel wärmer sein, weißt du.«
Ich fummelte an den Schlüsseln herum. Sie hingen an einem großen Metallring. In den alten Cartoons im Fernsehen sah man die Schlüsselringe immer, oder in den alten Western, die Dad so gern schaute.
Und derjenige, der schließlich die Schuppentür öffnete, war natürlich der letzte, den ich angefasst hatte. Ich hatte ihn sogar einmal umgangen, weil er zu groß aussah. Es war ein Generalschlüssel mit einem kurzen Bart am vorderen Ende. Ich steckte ihn etwa bis zur Hälfte in das Schlüsselloch. Er ließ sich nicht drehen.
»Rüttel mal kräftig daran«, meinte Nick.
»Ja, rede ihm gut zu«, kommentierte Will.
Ich blickte über meine Schulter. »Du stehst mir im Licht.«
Beide traten einen Schritt beiseite.
Das Licht einer einsamen Laterne beleuchtete mit blassem Schein unsere Fußabdrücke, die bereits dabei waren, von den Schneeflocken aus dem schwarzen Himmel über uns wieder zugedeckt zu werden.
Alles wurde vom Schnee zugedeckt, auch der in der Nähe stehende kleine Bagger, der wie ein schlafender Dinosaurier aussah, und der frische Erdhügel, der nur notdürftig von einigen Planen abgedeckt worden war.
Etwa zwanzig Fuß weiter befand sich die erste Reihe von Grabsteinen und einige von ihnen waren zur Seite gekippt oder standen angelehnt an andere Grabsteine.
Dahinter verschwammen die Formen in einem Meer aus Dunkelheit, das nur am äußersten Rand von den kahlen Bäumen unterbrochen wurde, weil sich dahinter die fernen Lichter der Stadt sanft abzeichneten.
Nick drehte sich zuerst um, sein nasses, schwarzes Haar klebte auf der Stirn bis zu seinen Augen.
»Wir können dir nicht im Licht stehen, Kumpel.«
Will stimmte schnell zu, seine Brillengläser beschlugen ein wenig.
»Ja. Wir sind in einem Schatten. Wir stehen nicht im Licht vor dir.«
»Oh!«, sagte ich. »Ihr steht also nicht im Licht …«
»Halt die Klappe«, sagte er.
»Du hältst die Klappe.«
»Und du erzählst nur Blödsinn.«
»Blöder Volltrottel.«
»Deine Ma ist ein Vollpfosten mit Schnurrbart und Achselhaaren.«
»Jetzt, da wir das geregelt haben«, unterbrach uns Nick, »schaffst du es endlich, den Schlüssel umzudrehen? Mir ist kalt und ich spüre meine Füße nicht mehr.«
Ich rüttelte erst sanft, dann wurde ich ruppiger und ich wartete auf weiteren Spott, ob ich mich beim Masturbieren auch so anstellen würde – eben das übliche Nörgeln und Spotten, wie man sich eben 1978 als Achtklässler gegenseitig aufzog. (Smalltalk würde ich heute sagen und Jungs beschäftigte zu dieser Zeit, ob das Kiss-Konzert wirklich ausverkauft war oder nicht.)
»Verstanden.«
Ich bekam das Schloss auf, gab der Tür einen Stoß und wir gingen in einen dunklen Raum.
Ich ging drei Schritte hinein, blieb stehen und ich stellte mir vor, Nick und Will taten dasselbe, weil sie Angst hatten, auf das Ende einer verlegten Harke oder Schaufel zu treten und den Stil mitten ins Gesicht zu bekommen.
Der dunkle Ort roch nach Erde, Rost und Motoröl.
»Mikey, wo ist das Licht?«
»Ich glaube mich zu erinnern, dass es drüben bei dieser Wand ist.«
»Bist du dir sicher?«
»Warum flüstern wir?«
Wir hatten alle ein bisschen gekichert und ich schlich mich nach rechts, während meine Kanvas-Turnschuhe über den Zementboden schlurften.
»Komm schon«, sagte Will.
»Wirst du wohl still sein? Ich muss mich konzentrieren.«
Meine Hüfte streifte etwas Flaches und Hartes.
Ich tastete mit den Händen vor mir auf die Oberfläche der Werkbank und fuhr mit den Fingern über etwas, das sich anfühlte wie eine Kaffeedose, schwer und voller Muttern, Schrauben und Unterlegscheiben und dann tastete ich über eine kalte, flache Vertiefung …Volltreffer. Es war der Schraubstock, verklebt mit Metallspänen und WD-40.
Ich fand die Werkbankleuchte und knipste sie an.
Vor mir hingen Elektrowerkzeuge und gleich links von der Werkbank stand eine geöffnete Arbeitsbox, die mit aufgerollten Schlauchrollen bestückt war, einer Spule mit Schweißkabel und etwas, das wie eine kaputte Verkehrssperre aussah, über die Sicherheitsfahnen drapiert waren, die sich ein wenig in der Zugluft bewegten. Ich drehte mich um und benutzte einen Ton, der dem meiner Mutter seltsam ähnlich war.
»Was, lebst du in einer Scheune?«
Will schloss daraufhin die Tür und dann standen er und Nick dort am Rand des Lichtkreises. Will trug ein schäbiges rotes Sweatshirt mit einer halb abgerissenen Kängurutasche davor und Nick trug einen Rollkragensweater unter einem dicken Wollpullover, den seine Großmutter gestrickt hatte. Keiner von uns trug Handschuhe.
Als der Schnee zu fallen begonnen hatte, riefen wir uns gegenseitig an, wir sollten doch etwas unternehmen und so trafen wir uns dann am Eingang des Rock Ridge Park an der Stonybrook Road, liefen über Feldwege, eilten verbotenerweise über einen Golfplatz und rannten weiter bis zum Friedhof Saint Mary’s an der Aspen Street.
Hier waren wir nun.
Nick fror und schüttelte sich die Haare aus dem Gesicht. Das tat er oft, zu oft in letzter Zeit, so dass es zu einem nervösen Tick wurde.
Will nahm seine Brille ab, die aus seinen klammen Fingern zu Boden fiel, er hob sie auf und wischte sie mit dem Rand seines Sweatshirts ab. Er verschmierte den Schneematsch einfach. Er grinste mich dabei nur dümmlich an und ich seufzte.
Wir waren damals ein wilder Haufen, jung und naiv, wir waren nicht einmal passend angezogen, als wir uns rausgeschlichen hatten.
Eine Bande ohne richtigen Anführer.
Leider musste jemand einspringen und den Posten übernehmen, und normalerweise war ich dieser Trottel.
»Nick«, sagte ich, »hole ein paar Sachen zum Daraufsetzen. Und Will, krieche hier unter die Bank und ziehe den Stecker des Heizlüfters heraus. Mein Vater mag es, wenn es auf seine Füße bläst, aber wir können hier im Raum auf dem Boden stellen, mit einem dieser großen Verlängerungskabel.«
Will grinste breit, ohne den Mund zu öffnen und sprach wie ein Bauchredner.
»Ich krieche da nicht drunter. Käfer und so weiter.«
Ich ging auf alle Viere, duckte mich und krabbelte selbst unter die Bank und wunderte mich über die vielen Kanister und offenen Blechdosen, die Pa hier durcheinander gestapelt hatte.
Na ja – was tat man nicht für seine Freunde.
Als ich mit dem Lüfter herauskam, wusste ich, dass ich wie ein Schornsteinfeger aussah. Die Jungs kicherten ein bisschen, sagten aber nichts. Nick hatte sich einen Klappstuhl aus Stahl geschnappt, über dessen Plastikbezug getrocknete weiße Farbtupfer verteilt waren und Will hatte sich Vaters Bankhocker geschnappt.
Und für mich lag da nun ein verschlissener alter Lkw-Reifen mit abgefahrener Lauffläche.
Der flache Heizlüfter war etwa einen Meter lang und als ich ihn angeschlossen hatte, machte das Gebläse ein angenehmes Brummgeräusch.
Ich schaltete die Lampe über der Bank aus und wir saßen mitten im Geräteschuppen auf dem Friedhof wie bei den Pfadfindern, um ein nettes kleines Feuer gekauert, welches die Wärme matt in den Raum verströmte. Es wurde angenehmer.
Zeit für ein bisschen Plauderei unter Jungs.
»Hast du’s?«, fragte Will.
Nick streckte seine Füße aus und vergrub seine Hände in die Jeanstaschen. Ich stand auf und stellte mich in meinen Reifen.
»Du hast es in deine Vordertasche gesteckt?«
»Ich wette, es ist in eine Million Stücke zerbrochen«, sagte Will überzeugt.
»Halt die Klappe«, meinte Nick beleidigt.
»Es ist nicht kaputt.«
Er fischte eine selbstgedrehte Zigarette heraus, vergilbtes Papier, das er an einem Ende verdrehte. Das Gebläse der Heizung brummte und ich streckte meine Hände danach aus.
»Spielt auch keine Rolle. Gras bringt mir sowieso nichts.«
Nick verdrehte die Augen.
»Du hast es doch nur einmal versucht. Man muss es ein paar Mal machen, damit es eine Wirkung zeigt.«
»Richtig«, bekräftigte ich.
Nick wusste so einige Fakten: Über Pott, Außerirdische, was im Bermuda-Dreieck wirklich geschah – man musste seine Fakten allerdings aussieben, damit die Wahrheit übrig blieb.
Trotzdem wusste auch ich aus anderen zuverlässigeren Quellen, dass man ein paar Mal kiffen musste, ehe es Wirkung zeigte.
Als wir es letzte Woche in dem – wie Will es nannte – anderen Gebäude (in Wirklichkeit eine einsame und freistehende leere Garage) schon einmal versucht hatten, hatte ich viel gehustet, mir einige Male die tränenden Augen abgewischt und darauf gewartet, alles wie durch ein Fischglas und in knallig bunten Farben zu sehen. Doch nichts geschah.
Aber wie ich schon sagte, wir waren noch nicht überzeugt davon, dass es geklappt hatte …
Nick fand einige Streichhölzer und zündete die Selbstgedrehte schließlich an.
Er nahm vorsichtig ein paar Züge, bis er anfing zu husten.
»Gib weiter …«, brummte Will.
Nick reichte sie ihm und Will nahm einen tiefen Zug, seine Augen blinzelten, die Füße waren um die Stahlbeine des Hockers geschlungen, als hätte er Angst, dass er ohne diesen Klammergriff davonfliegen würde.
Als er sich vorbeugte, um den Glimmstängel weiter zu reichen, hatte Nick den inhalierten Rauch bereits wieder ausgeblasen, weil es in seiner Lunge fürchterlich kratzte.
Ich nahm einen Zug und hielt die Kippe nach oben und sprach durch den Rauch hindurch. »Halt die Klappe und versuch’s noch mal.«
»Sei selber still, verschwende es nicht.«
Ich zuckte die Achseln und hielt den Atem an. Tief in meiner Lunge juckte es – in Ermangelung einer besseren Beschreibung – als würden die Chemikalien im Rauch buchstäblich in mir reagieren und sich verdicken.
Ich blies ihn aus und sah zu, wie der graue Nebel zu den Dachsparren schwebte.
»Wow«, staunte ich. »Es dehnt sich irgendwie aus.«
Nach zwei weiteren vorsichtigen Runden war das Ding bis auf einen Stummel abgebrannt, und Nick trat es auf dem Boden aus.
»Nur der Rest eines Schwarzen Afghanen«, kommentierte er lakonisch.
Aus irgendeinem Grund klang es aus seinem Mund unglaublich clever und ich fügte schnell hinzu: »Spar dir das auf. Wir könnten den Rest später rauchen, wenn wir …«
Beide schauten mich an, die Heizwendeln leuchteten für einen Moment in grellem Orange auf und reflektierten in ihren Augen.
»Das richtige Werkzeug haben«, beendete ich schwach.
»Das nennt man einen Roach Clip«, sagte Will in seinem üblichen heiseren Tonfall und plötzlich klang es überhaupt nicht mehr »üblich« und er klang wie ein Fremder, wie einer, der das Leben in Armut kannte, die Straße und ihre Gefahren und schmutzige Hinterhöfe, Pfandleihen und die Brücken, unter denen man in abbruchreifen Wellblechhütten überlebte.
Nick lehnte sich zurück, verschränkte die Knie und schüttelte den Kopf.
»Es heißt eigentlich ›Jefferson Airplane‹ und bevor man sie in den Head Shops mit Zigarettenpapier und Clips kaufen kann, dreht man eben ein Streichholz auf den Kopf und schlitzt es auf.«
Ich blinzelte: Das war typisch Nick, der Bescheid weiß, der Navigator, der uns durch die komplexe Welt des Erwachsenenwerdens navigierte. Ich stellte ihn mir in seinem Rollkragenpullover vor, wie er an seinem Rollschreibtisch in seinem Zimmer zu Hause saß, wie er in den Stapeln von spiralförmigen Notizbüchern wühlte, die um ihn herum auf dem Boden lagen, jeder Band mit Erklärungen gespickt, und er darüber mit den Haaren in den Augen und zwischen den verkniffenen Lippen hervorlugender Zungenspitze.
Und ja! Bestimmt stand da auf jedem Notizbuch – »die Tricks für das nächste Jahr«. Das Leben war eine Reise wie auf einem Rummel und wir liebten sie – ich nannte das Funhouse.
Das Wort Funhouse schien mir im Gedächtnis haften zu bleiben, und ich sah, wie die Buchstaben wie Filmtrailerblut vor meinem geistigen Auge heruntertropften. Will schaute mich an und grinste, alle Zähne zusammengebissen, während er wie ein Bauchredner zu uns sprach.
»Alles in Ordnung, Mikey? Du siehst aus, als hättest du was Schlechtes gegessen.«
»Du siehst aus wie ein Funhouse«, antwortete ich, erstaunt darüber, was ich Spontanes sagte und was ich im Vergleich zur Komplexität dessen, was ich gerade gedacht hatte, in einem einzigen Wort von mir gab – ein Wort das in dem geschlossenen Raum umher zu hüpfen schien.
Nick schaute zu ihm hinüber. »Er sieht wirklich wie eine Bude auf einem Rummelplatz aus, Mikey.«
Und dann fingen wir an zu lachen, weil Will genau wie eine Figur aus einem Funhouse aussah.
Nach etwa zwanzig Sekunden hatte ich Bauchschmerzen, aber jedes Mal, wenn ich zu einem meiner Freunde aufsah, kam ein weiterer Anfall, vor allem, weil ich immer wieder daran denken musste, dass Will kein Gangster war, sondern ein schwarzer Jugendlicher, der in der Vorstadt von einer alleinerziehenden Mutter aufgezogen wurde, die von ihrem Ex-Mann, der Notarzt im Kinderkrankenhaus von Philadelphia war, Alimente erhielt.
Und Nick war kein »Lenker«. Er war nur ein etwas verschlagen wirkender Junge, wie mich meine Mutter immer wieder mahnte, einer, der aus einer großen Familie stammte und deshalb allen möglichen Unsinn erfand, um Aufmerksamkeit zu erregen.
Unser Lachen verstummte und ich leckte mir die Lippen, obwohl ich wusste, dass sie drei Wochen lang rissig sein würden, wenn ich das in der Kälte tat. Mein Mund war plötzlich ganz trocken und schmeckte irgendwie fischig. Ha!
»Das ist guter Shit«, brummte ich und das war der Startschuss für die nächste Runde, welche Stunden zu dauern schien. Irgendwann verschränkte Nick seine Arme über der Brust und schien nachdenken zu wollen.
»Warum nennen wir gute Sachen überhaupt Shit?«, fragte er. »Sind wir von unseren Arschlöchern besessen oder so?«
»Halt einfach weiter die Klappe«, sagten Will und ich beide gleichzeitig.
»Jinx«, sagte ich aus alter Gewohnheit, ein erfundenes Wort aus unserer Kindheit.
»Double Blackout«, antwortete Will mechanisch, während er an der Unterseite seines Turnschuhs rieb.
Niemand lachte und ich war sofort traurig, als wäre ein Schalter umgelegt worden, als hätte mich plötzlich etwas an der Wirbelsäule gepackt und durch einen dunklen Tunnel gezogen, so dass ich mich plötzlich wieder so fühlte, als ich noch ein kleiner Junge war, als wir Dinge wie »Jinx« sagten und »Double Blackout« oder »Olly-Olly Oxen Free« und all meine Sorgen bestanden darin, in wessen Haus ich übernachten durfte und ob Ma Mini-Hotdogs und Sauerkraut kochen würde, egal wie ungesund diese Leibspeise auch für Kinder war.
Plötzlich dachte ich an die Zeit zurück, als Pa noch Lehrer an der High School war und wie er die ganze Zeit glücklich schien, wenn er vor Ma seine komplizierten Unterrichtspläne wie ein Maestro auf dem Esstisch ausbreitete.
Mir wurde schmerzlich bewusst, dass wir heute in dem kalten Drecksloch saßen, seinem »neuen Büro« und Will vor Vaters »Thron«, der sonst unter der Bank seine Füße wärmte, nachdem er den ganzen Tag Gräber ausgehoben hatte, nur damit wir die Zahlungen für das Haus aufrechterhalten konnten.
Ich dachte plötzlich daran, wie er so schnell vom selbstbewussten Akademiker zu einem Häufchen Elend eines Mannes geworden war, der manchmal so sprachlos war, dass er den ganzen Tag im alten kastanienbraunen Bademantel im Haus saß, auf den Boden oder auf den Kaffeetisch starrte, auf den er seine nackten Füße stützte, und freundliche, aber distanzierte Antworten gab, wenn man ihn endlich aus seiner Benommenheit befreit hatte. Doch gleich danach schien er wieder in die Sicherheit des Mutterleibes, in seine Höhle zurück zu schlüpfen, sich langsam in eine fetale Position zusammenzurollen, in die Lage, in der er sich kurz vor dem Eintritt in die Welt befunden hatte, in einer klaren Vorbereitung, sie eher früher als später zu verlassen.
Wohl alles wegen dieses rassigen Liebesromans, den er geschrieben hatte, und wegen des Rohentwurfs, den er einigen seiner Studenten zeigte.
Ich weinte, meine Arme verschränkten sich wie bei einer indianischen Pow-Wow Sitzung über meinen spitzen Knien, und als ich schnüffelte, schmeckte ich Salz. Ich mochte es nicht, high zu sein. Ich mochte es nicht ein einziges verdammtes bisschen.
Da war eine Hand auf meiner Schulter und dann noch eine weitere.
»Es ist ok, Mikey«, sagte Will. »Er wird ein Come-back machen.«
»Ja«, sagte Nick. »Es ist vorbei, Mann. Ich meine, es ist ja nicht so, als hätte jemand die Zeitungsausschnitte oder so aufbewahrt.«
Ich stieß einen dumpfen Seufzer aus. Für eine Sekunde schätzte ich, dass das Gras mich dazu gebracht hatte zu glauben, dass es zwischen uns tatsächlich eine telepathische Übertragung gab, aber ich schätze, ich lag mit meiner Vermutung nicht falsch, dass sie annahmen, ich würde wieder über meinen Vater grübeln, darüber, dass er gefeuert wurde, dass gegen ihn ermittelt wurde und dass er schließlich vom Staat für fünf Jahre suspendiert worden war, alles für die Scheiße, von der er kläglich, aber beständig behauptete, sie sei übertrieben und dass er seither als Bösewicht galt.
Ich hob den Kopf und wischte die Tränen mit dem Handrücken ab. Ich schnüffelte hart und spürte einen Klumpen, der an meinem Gaumen lag. Ich hatte ganz sicher nicht vor, ihn auf den Boden des Arbeitsbereichs meines Vaters zu spucken, also schob ich mich hoch und ging zur Tür. Nick und Will traten zur Seite. Ich drehte den kalten Griff, zog die Tür auf und spie in den Wind.
»Es bringt Unglück, auf einem Friedhof zu spucken«, meinte Will. Ich drehte mich um. Beide waren zu ihren Sitzen zurückgekehrt.
»Ja«, sagte ich. »Und man muss auch den Atem anhalten, wenn man im Auto an einem Friedhof vorbeifährt, aber damit haben wir alle vor Jahren aufgehört.«
»Du hast aufgehört?«, fragte Nick.
Wir kicherten alle, aber nur kurz. Die Männergespräche hatten sich erst vor kurzem in die Tiefe verlagert, und obwohl das meiste davon nur unter der Oberfläche weiterging, blieben die Nachwirkungen bestehen.
»Schließ die Tür«, mahnte Will. »Oder lebst du in einer Scheune?« Er lächelte.
Nick grinste ebenfalls schief, und ich nickte in Anerkennung der verspäteten Wiederholung des Comebacks. Alles würde wieder in Ordnung kommen. Ich schloss die Tür wieder und jetzt war ich derjenige, der ein Grinsen aufsetzen musste. Ich hatte es geschafft, dass die Tür knarrte, wie in einem alten Horrorfilm, genau wie ich wollte. Meine Augen folgten meiner Hand, und ich sprach mit meiner besten mystischen Voodoo-Stimme.
»Würdest du dir nicht in die Hose machen, wenn jetzt, kurz bevor Tür zufällt, eine Hand von der anderen Seite mit den Fingern um die Türkante greifen und sie zurückschieben würde?«
»Ja«, sagte Will und griff meinen Tonfall auf. »Eine Hand mit langen Fingern und verfaulter Haut.«
Ich blickte hinüber, meine Hand immer noch auf der Türklinke, und ihre Augen waren große, lächelnde Monde. Beängstigend war gut. Furchterregend war richtig gut.
Und dann traf es mich, wie ein Lottogewinn.
Wenn man bedenkt, wo wir uns befanden und zu welchen Informationen hinter den Kulissen ich standardmäßig Zugang hatte, bestand hier die Chance – nein, eine echte Gelegenheit -, das ultimative Gruselszenario, die beängstigendste Geschichte, die je erzählt wurde, genau hier, live und vor Ort zu enthüllen.
Mit Requisiten.
Mit echten Requisiten.
Für einen Moment dachte ich darüber nach, was ich wagen sollte, und mein Mut drohte fast zu schwinden. Ich musste das perfekt hinbekommen, wobei all die Halblügen wie Wahrheiten aussehen mussten, die sich gegenseitig unterstützten wie ein abgefucktes Kartenspiel. Ich musste auch ein Verbrechen begehen, oder zumindest dachte ich, es könnte eines sein; wenn schon nicht gegen den Staat Pennsylvania, so doch eines, das sich als schwarzer Fleck auf Gottes Punktestandtafel abzeichnen würde.
Damals hatte ich ein genaues Bild von Pa, als er, einen Meter tief in einem länglichen Grab, das er in einem kalten Regen in die Friedhofserde buddelte, das Gesicht schmutzig, die Haare verfilzten an seinem Schädel, Schmutz strömte auf beiden Seiten seines angespannten Nackens herunter, einen nasse Haufen Erde hochschaufelte.
Gott hatte damit nichts mehr zu tun.
»Ihr Schwuchteln versteht beide nicht, worum es geht«, sagte ich.
»Wovon redest du?«, meinte Will, der offensichtlich ein wenig sauer darüber war, mit Nicks üblichem kleinen Intellekt in einen Topf geworfen zu werden. Ich ging langsam zurück zu meinem Reifen und setzte mich drauf. Ich zögerte, um mehr Wirkung zu erzielen.
»Das darf ich nicht sagen.«
»Okay«, stellte Will mit leuchtenden Augen fest: »Jetzt musst du es erzählen.«
Nick lehnte sich nach vorne, und ich ließ meine Stimme zu einem Flüstern verkommen, so dass sie gezwungen waren, sich noch näher heran zu lehnen, um mich zu verstehen.
»Das ist ein Betriebsgeheimnis«, sagte ich. »Die Mitarbeiter auf dem Hof, der Bestattungsunternehmer und der Pastor versuchen alle, es geheim zu halten, also müsst ihr beide schwören, dass ihr nicht petzen werdet.«
»Das werden wir nicht«, sagte Will.
»Schwöre auf deine Mutter.«
»Kann ich bei Nicks Mutter schwören«, meinte Will und ich warf ihm einen unwilligen Blick zu. Es gab eine Zeit und einen Ort für alles, sogar für Späße, doch dies war weder die Zeit noch der Ort.
»In Ordnung«, gab er nach, nachdem er meinen Blick richtig gedeutet hatte. »Ich schwöre auf meine Ma, meinen Cousin und meine Bierdosensammlung. Was ist das große Geheimnis?«
Ich schaute auf meine Finger. »Es hat ein Problem gegeben.«
»Was für ein Problem?«, flüsterte Nick. Die Heizung brummte. Draußen blies ein Windstoß auf und peitschte mit einem dramatischen Stöhnen durch die Schuppentür.
»Alice Arthur«, flüsterte ich.
»Sie ist hier begraben?«, wollte Will wissen.
»Wer ist Alice Arthur?«, fragte Nick.
Will lehnte sich zurück und seine Stimme kam aus dem Flüstermodus heraus. »Du machst Witze, oder?«
»Nein, ich weiß es wirklich nicht!«, verteidigte sich Nick.
Wills Stimmlage wurde mit jedem Wort höher. »Springfield Junior High? Ende des vergangenen Sommers? Unten an der Küste?«
Beide Hände von Nick schossen zum Mund, die Augen blickten fast starr weit über ihnen und es sah einen Moment so aus, als vergesse er das Atmen.
Will war tatsächlich erschüttert. »Atme, Dummkopf!«
Nicks Hände kamen langsam herunter. »Ja, ich habe von ihr gehört«, flüsterte er schließlich.
»Jeder hat von ihr gehört«, antwortete Will.
»Aber es gibt verschiedene Versionen.«
»Richtig«, warf ich ein. »Einige behaupten, sie sei mit einem Board in einer abgelegenen Bucht geschwommen und der Sog habe sie ins Meer hinausgezogen, erst ganz langsam, dann in weniger Minuten war sie nur noch ein Punkt am Horizont. Man sagt, dass ihre Mutter die ganze Zeit an Land war, dösend, sonnenbadend in einem dieser langen Strandkörbe direkt am Ufer des Ozeans, ein wenig im Sand versunken, so dass das Wasser bei jedem Wellengang ihre Füße umspülte.