11,99 €
April, May, June und July: Vier Monate voller rauschender Bälle. Vier Schwestern auf der Suche nach der großen Liebe. Die Campbell-Schwestern April, May, June und July haben nur eine Chance auf eine Mitgift: Sie müssen in der Reihenfolge ihrer Geburt heiraten. Doch April, die Älteste, hat bei ihrer letzten Ballsaison nicht nur ihr Herz, sondern auch ihren guten Ruf verloren – und schuld daran ist Nathaniel Pembroke. May will ihre Schwester unbedingt verkuppeln, während sie selbst mit Lord Richard flirtet. Doch dann kehrt Nathaniel nach London zurück und plötzlich machen erneut Gerüchte über April die Runde … Band 1 der sinnlichen Campbell-Sisters-Dilogie: Matchmaking & Fake Dating im London der Regency-Zeit In Band 1 geht es um die beiden älteren Campbell-Schwestern April und May, in Band 2 geht es um die beiden jüngeren Campbell-Schwestern June und July.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 453
TRIGGERWARNUNGDieses Buch enthält Themen, die potenziell triggern können. Hinten befindet sich ein Hinweis zu den Themen.ACHTUNG: Dieser enthält Spoiler für die gesamte Handlung.
Als Ravensburger E-Book erschienen 2023Die Print-Ausgabe erscheint im Ravensburger VerlagOriginalausgabeText © 2023 by Lyla Payne© 2023 Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 RavensburgÜbersetzung: Tamara ReisingerUmschlaggestaltung: Teresa Mutzenbach Verwendetes Bildmaterial: © vectorkat, © lisima, © More Images, © KathySG, © Darya Komarova und © Depiano, alle von ShutterstockAlle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.ISBN 978-3-473-51184-6ravensburger.com
PROLOG
April
April konnte seit Wochen kaum still sitzen, so aufgeregt war sie wegen ihrer ersten Londoner Ballsaison. Ihre Mutter und sie waren bereits einen Monat vor dem offiziellen Beginn angereist, um Violet, die Freundin ihrer Mutter und Aprils Patentante, und deren Tochter Emma wiederzusehen.
Zu Aprils großer Freude hatte sie entscheiden dürfen, welche Anwesen sie in diesen Wochen besuchen wollten, und sie hatte ausschließlich die Herrenhäuser mit den schönsten Gärten ausgesucht. Ihr Vater hatte ihr ein neues Notizbuch und einen Kohlestift für ihre Zeichnungen geschenkt, und als sie nach Rose Hall fuhren, das mehr als eine Stunde außerhalb von London lag, warteten die leeren Seiten bereits darauf, mit Skizzen gefüllt zu werden.
Während Tante Violets Kutsche über den Weg ruckelte, sah April aus dem Fenster. Sie genoss die kühle Frühlingsbrise und den Anblick der Sonnenstrahlen, die sich in den vereinzelten kleinen Seen spiegelten.
Ihre Vorfreude galt vor allem der versprochenen Wiese voller Purpur-Knabenkraut. Diese Wildorchideenart war in England recht selten, und obwohl April Abbildungen davon aus Pflanzenkundebüchern kannte, hatte sie diese Blume noch nie in echt gesehen. Rose Hall war zwar nach seinen weitläufigen Rosengärten benannt worden, doch ihre Mutter hatte selbst wunderschöne Rosen zu Hause. April hatte das Pembroke-Anwesen daher nur wegen der seltenen Orchideen ganz oben auf ihre Liste gesetzt.
Schließlich erreichten sie Rose Hall. Tante Violet hatte die gesamte Fahrt kerzengerade auf ihrem Platz gesessen, und Aprils Mutter hatte in einer Ecke der Kutsche ein wenig vor sich hin gedöst. Es sah ihrer Mutter überhaupt nicht ähnlich, tagsüber zu schlafen, dachte April. Doch als ein Angestellter von Rose Hall die Kutschentür öffnete und sie begrüßte, war dieser Gedanke wie fortgewischt.
Das Herrenhaus erhob sich gewaltig und eindrucksvoll vor April, doch die Blumen und Büsche, die den langen Kiesweg zur Eingangstür säumten, verliehen ihm etwas Freundliches. April kam aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. Ein Blick zu ihrer Mutter bestätigte, dass auch sie ähnlich überwältigt war, nur Tante Violet wirkte, wie immer, gänzlich unbeeindruckt von dieser Pracht.
»Wer sind die Pembrokes?«, wollte ihre Mutter leise wissen, und April wurde bewusst, dass sie sich keine Sekunde lang gefragt hatte, wem die wunderschönen Gärten überhaupt gehörten, die sie besuchen wollte.
»Eine Familie mit vielen Ländereien. Nicht adelig, doch ich glaube, sie waren es einmal. Ihnen gehören mehrere Landsitze, und sie haben auch noch anderweitige Geschäfte, die scheinbar florieren.« Tante Violet wandte sich ab, vermutlich um nach jemandem Ausschau zu halten, der ihnen eine Führung durch die Gärten gab. »Sie haben drei Kinder. Ihr ältester Sohn ist vielleicht Anfang oder Mitte zwanzig, und dann gibt es noch die Zwillinge, einen Jungen und ein Mädchen, die ein paar Jahre jünger sind.«
Die Zwillinge waren also in ihrem Alter. April fragte sich, ob sie bereits beide in die Gesellschaft eingeführt worden waren und ob sie sie möglicherweise sogar auf einer der kommenden Veranstaltungen in London kennenlernen würde. Der Gentleman war vermutlich zu jung, um viel Interesse an der Liebe oder an einer Heirat zu haben, aber das Mädchen war sicher ebenso aufgeregt wie April über die Chancen, die sich ihnen nun boten.
»Interessant«, murmelte Aprils Mutter, während eine der Hausangestellten auf sie zukam.
»Guten Tag«, begrüßte sie die Frau. »Ich nehme an, Sie möchten eine Führung durch unsere wunderschönen Gärten?«
»Ja«, sagte April, die ihre Begeisterung nicht länger in Zaum halten konnte. »Ist das Purpur-Knabenkraut in Blüte?«
Die Frau lächelte. »Die äußeren Gärten sind normalerweise nicht Teil unserer Führung, aber wie ich sehe, kennen Sie sich mit Pflanzen aus. Soweit ich gehört habe, steht das Purpur-Knabenkraut in voller Blüte. Ich kann Ihnen gern nach der offiziellen Führung den Weg erklären, dann können Sie sich selbst davon überzeugen.«
April lächelte dankbar und trat von einem Fuß auf den anderen. Sie hoffte, die Führung würde bald losgehen. Je schneller sie sie hinter sich brachten, desto früher konnte sie sich entschuldigen und nach den Orchideen suchen.
Die Frau führte sie durch die Rosengärten und vorbei an unzähligen Lilien, während sie den Besucherinnen allerlei Fakten über die Gärten erzählte: wann sie angelegt worden waren, wie man sie pflegte und welche Auswirkungen bestimmte Wetterbedingungen auf die Blüte haben konnten. April hörte aufmerksam zu und war trotz ihrer Ungeduld fasziniert. Einige Ratschläge konnten ihr zu Hause sicher nützlich sein.
Als die Führung vorbei war, schienen sich ihre Mutter und ihre Patentante nach einer Erfrischung im Haus zu sehnen, bevor sie in die Stadt zurückkehrten.
Die Angestellte wandte sich an April. »Wenn Sie die Orchideen sehen wollen, folgen Sie diesem Weg zwischen den Bäumen hindurch. Wenn Sie den Teich erreichen, sind Sie zu weit gegangen.«
»Vielen Dank«, sagte April und blickte zu den Bäumen.
»Bist du sicher, dass du allein zurechtkommst?«, fragte ihre Mutter besorgt. »Wir können dich begleiten.«
»Nein, das ist nicht nötig. Ich werde die frische Luft und – um ehrlich zu sein – auch die Einsamkeit genießen, und ich weiß, weder du noch Tante Violet werden sich so über die Orchideen freuen wie ich.«
Ihre Mutter liebte Blumen und verbrachte reichlich Zeit im Garten, aber ihre Leidenschaft galt allein den Rosen. Ihr Interesse an anderen Blumen kam mit großem Abstand an zweiter Stelle.
Ihre Wege trennten sich, und April winkte ihrer Mutter noch ein letztes Mal beruhigend zu, ehe sie sich abwandte und den schmalen, schmutzigen Pfad entlangeilte. Der Saum ihres Reisekleides und ihre Schuhe würden zerstört sein, wenn sie heute Abend nach London zurückkehrten, aber sicher hatten Tante Violets Dienstmädchen eine Idee, wie man sie reinigen konnte.
So, wie es finanziell um ihre Familie stand, sollte April vermutlich achtsamer mit ihrer Kleidung sein. Doch der Schaden war bereits angerichtet, daher konnte sie sich auch ohne schlechtes Gewissen das ansehen, weshalb sie hergekommen war.
Hinter den Bäumen lag eine grüne Lichtung. Das Purpur-Knabenkraut war nicht schwer zu finden, doch April hätte die wilden Orchideen auch dann sofort entdeckt, wenn sie nicht nach ihnen Ausschau gehalten hätte. Die violetten Blüten wirkten im Sonnenlicht beinahe fuchsienfarben, und die weiß gefleckten Stängel leuchteten regelrecht. April stockte einen Moment der Atem, ehe sie hinüberlief, um die Blumen genauer in Augenschein zu nehmen.
Das Purpur-Knabenkraut war wunderschön und einzigartig, wie nichts, was sie je zuvor gesehen hatte. April verbrachte einige Zeit damit, die Orchideen vor ihr genau zu betrachten, ehe sie sich wieder aufrichtete und sich im Kreis drehte, um den ganzen Garten in sich aufzunehmen.
Doch zu ihrer Überraschung stand hinter ihr unerwartet ein junger Mann – er war ziemlich groß, und in seiner dunklen Hose und der hellen Jacke, deren Schöße leicht im Wind flatterten, wirkte er beinahe einschüchternd. April hob den Blick. Er hatte große dunkle Augen, die von dichten Wimpern umrahmt wurden, und volle Lippen, die sich zu einem Hauch von einem Lächeln verzogen.
Er war gut aussehend, dachte April, und ihre Wangen wurden bei dem Gedanken warm.
»Guten Tag«, sagte er und schien ebenso überrascht darüber zu sein, sie hier im Garten zu sehen, wie sie ihn.
April erwiderte den Gruß. Ihr war deutlich bewusst, dass sie allein waren.
»Darf ich erfahren, was Sie in meinem Garten suchen? Ich hatte nicht erwartet, eine Unbekannte so weit vom Anwesen entfernt anzutreffen.«
April spürte, wie ihr Gesicht noch wärmer wurde. Bestimmt waren ihre Wangen inzwischen leuchtend rot. Er hatte »in meinem Garten« gesagt – er war also einer der Pembroke-Söhne.
»Verzeihen Sie mir bitte, dass ich in Ihren Garten eingedrungen bin. Ihre Hausangestellte meinte zwar, das Purpur-Knabenkraut wäre nicht Teil der Führung, aber ich wollte es unbedingt sehen.« April senkte den Kopf. »Nun habe ich es gesehen und kann wieder gehen.«
»Bitte«, sagte er und hielt sie auf, bevor sie die Flucht ergreifen konnte. Die Sanftheit in diesem einen Wort ließ April an Ort und Stelle verharren. »Betrachten Sie die Orchideen, so lange Sie möchten. Sie zählen auch zu meinen Lieblingsblumen, und sie blühen nicht sehr lange.«
April sah erneut zu den Blumen. Ihr Herz schlug schneller, als der junge Mann an ihre Seite trat und sich nach den violetten Knospen bückte.
»Ich bin übrigens Nathaniel Pembroke«, sagte er und deutete eine leichte Verbeugung an.
Aprils Erziehung ließ sie in einen einstudierten Knicks gehen. »April Campbell. Ich besuche meine Patentante für diese Saison in London.«
»Wie interessant. Ich werde auch zu einigen der Veranstaltungen gehen.«
April hatte diesen Mann gerade erst kennengelernt, aber sie wusste augenblicklich, dass sie ihn gern wiedersehen würde. Das Wissen, dass er an der Saison teilnehmen würde, löste ein Kribbeln in ihrem Innern aus.
Er lächelte, als sie zu ihm aufsah, und ihr blieb regelrecht die Luft weg.
»Müssen Sie sofort zurückkehren?«, fragte er. »In der Nähe leben Füchse, vielleicht würden sie sie gern sehen – mindestens zwei haben im Moment Welpen, und man kommt nahe genug an sie heran, um sie zu beobachten.«
Die Einladung kam überraschend und war sehr direkt, doch ebenso erschütternd war, dass April »Ja, gern« sagte.
Sie nahm den Arm, den er ihr anbot, und obwohl die Stimme in ihrem Kopf ihr zurief, dass sie eine Anstandsdame brauchten, folgte sie ihm.
KAPITEL 1
April
Ein Jahr später
»Sorg bitte dafür, dass die Pfingstrosen zurückgeschnitten werden, sobald sie verblüht sind. Ich weiß, die Rosen brauchen zu dieser Jahreszeit die meiste Aufmerksamkeit, aber ich möchte nicht, dass die Pfingstrosen deswegen vernachlässigt werden.«
»Natürlich, Miss«, erwiderte Charles.
Die geknickte Stimme des Gärtners ließ April innehalten. Sie wusste, dass ihre Mutter ihm jahrelang genau erklärt hatte, wie er die Blumen pflegen solle – seit er seine Ausbildung begonnen hatte, um genau zu sein, und er war damals sogar noch jünger gewesen als April jetzt. Doch sie wollte unbedingt sicherstellen, dass alles den Wünschen ihrer Mutter entsprach.
Ihr Tod war unerwartet gewesen, die Krankheit so zügig vorangeschritten, dass ihnen nicht viel Zeit geblieben war, darüber zu reden, wie es nach Mary Campbells Ableben weitergehen sollte. Aber April sah es als ihre Pflicht an, dafür zu sorgen, dass sich für ihre Schwestern so wenig wie möglich änderte.
Anstatt Charles zu antworten, beugte sie sich über die Schwertlilien, deren Knospen sich nach und nach öffneten, und strich mit den Fingerspitzen über die kräftig lilafarbenen Blüten, die ihre Mutter gezüchtet hatte. In anderen Teilen des Gartens blühten auch blassblaue und leuchtend gelbe Sorten, doch diese hier waren Marys Lieblingslilien gewesen.
»Die Schwertlilien sehen wundervoll aus«, murmelte April. Ihr war nur zu bewusst, dass sie zu streng mit Charles gewesen war. Ihre Mutter war im Umgang mit den Angestellten stets sanftmütig gewesen, und April wusste, dass der Gärtner sie ebenfalls vermisste.
Das Klappern von Pferdehufen, gefolgt von dem Knirschen der Räder einer Kutsche, die über den Kiesweg holperte, brachte ihre Gedanken zurück in die Gegenwart. Doch April ignorierte die Unterbrechung und trat auf die grünen Sträucher zu, die in wenigen Monaten in dem von ihrer Mutter so sehr geschätzten Rosengarten blühen würden. Als aufgeregte und freudige Rufe aus dem Haus drangen und sich zu den Geräuschen der Kutsche gesellten, runzelte April die Stirn. Wie es schien, hatten ihre Schwestern die Ankunft des Gastes ebenfalls bemerkt.
»Denk bitte daran, sie jeden Tag zu gießen und zu düngen, unabhängig davon, ob sie bereits blühen«, sagte sie. Charles würde wissen, dass sie die Rosen meinte. »Sobald die Knospen sich öffnen, schneide die verblühten Blüten zurück, sodass neue, kräftigere Triebe nachwachsen können und die Rosen den ganzen Sommer über blühen.«
Nirgendwo blühten die Rosen länger und schöner als bei den Campbells, und April würde in jedem Fall dafür sorgen, dass es auch weiterhin so blieb, selbst wenn sie nach London gehen musste. Es war Charles zugutezuhalten, dass er weiterhin schwieg, während April ihm Dinge erklärte und auftrug, die er bereits wusste – wenn nicht sogar besser als sie selbst. Er schwieg auch noch, als sich Tränen in Aprils Augen sammelten, hinter ihren Lidern brannten und drohten, ihre Worte gänzlich zu ersticken. Sie war hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, im Garten zu bleiben, und dem Wissen, dass ihre Mutter nur eine einzige Sache noch mehr geliebt hatte als ihre Rosen: ihre Töchter.
Fröhliche, aufgeregte Stimmen wehten über die bereits blühenden Blumen, die Gräser und das Unkraut, das gezupft werden musste. April wusste, dass sie die Ankunft des Gastes nicht länger ignorieren konnte. Aus dem Augenwinkel sah sie ihre Schwester May auf sich zukommen – mit einem Federn in jedem Schritt und einem Lächeln auf den Lippen.
April war nun für ihre jüngeren Schwestern verantwortlich. Auch wenn sich bei der Vorstellung, die Saison in London zu verbringen, etwas in ihrem Innern schmerzhaft verknotete, sie wusste, dass sie gehen musste. Ihre Mutter hätte es so gewollt. Und nun, da sie von ihnen gegangen war und ihr reicher Bruder darauf beharrte, dass seine Nichten in der Reihenfolge ihrer Geburt heirateten, war es an April, ihren jüngeren Schwestern eine sorgenfreie Zukunft zu ermöglichen.
Sie verstand zwar, warum eine weitere Saison in London notwendig war, aber sie konnte sich nicht so sehr darauf freuen wie May. Tatsächlich bezweifelte sie, dass sie auch nur einen einzigen Moment der Freude in London erleben würde. Das vergangene Jahr hatte ihr gezeigt, dass sie niemals dem Beispiel ihrer Eltern folgen und eine Verbindung aus echter Liebe eingehen würde.
»Die Kutsche ist da«, verkündete May, als wäre April seit dem Frühstück taub geworden. Aprils Schwester, die ihr altersmäßig am nächsten war, war so schnell gelaufen, dass sie nun trotz der kurzen Strecke vom Haus in den Garten außer Atem war.
Es hatte einmal eine Zeit gegeben, als May ihr nicht nur im Alter am nächsten gewesen war. Doch Aprils letzte Saison in London hatte diese Nähe ebenso leicht gestohlen, wie ein gewisser Gentleman ihr Herz gestohlen hatte – wie auch ihren guten Ruf. Dennoch versuchte sie sich an einem Lächeln. »Ich habe es gehört. Ich möchte nur noch kurz nach den Glyzinien sehen, bevor wir aufbrechen.«
May drehte sich zu dem Zaun, der den Garten begrenzte und an dem prächtige Glyzinien über das abblätternde Holz wuchsen. Der Zaun verlangte förmlich nach neuer Farbe, doch durch die unzähligen violetten Blüten war der verwahrloste Zustand leichter zu ignorieren. Die finanzielle Situation ihrer Familie, die für das aufgerissene Holz und die rostigen Nägel verantwortlich war, lastete plötzlich noch viel schwerer auf April. Denn das war der Grund, weshalb sie und May sich auf den Weg nach London machten.
Heirat.
Der Gedanke hinterließ einen schalen Geschmack in Aprils Mund, und sie gab ihr Bestes, sich nichts anmerken zu lassen, doch Mays gerunzelte Stirn zeigte deutlich, dass sie darin kläglich versagte. Während May die wahre Liebe nach wie vor als eine Selbstverständlichkeit betrachtete, hatten Aprils bisherige Erfahrungen ihr ohne Zweifel bewiesen, dass so etwas nicht – oder nur sehr selten – existierte.
»Mutter hat Charles bei der Pflege der Blumen vertraut. Du solltest dasselbe tun«, sagte May, als der Gärtner durch das Tor in Richtung Scheune davonging.
»Es geht mir nicht um die Blumen«, murmelte April, obwohl es ihr doch genau darum ging, ein wenig zumindest.
»Ich vermisse sie auch.« May schwieg einen Moment. »Aber das hier ist genau das, was sie sich für uns gewünscht hätte. Kannst du nicht wenigstens versuchen, dich halb so sehr darauf zu freuen wie jede andere junge Frau? Wir gehen nach London! Wir werden die schönsten Bälle besuchen! Mit gut aussehenden Fremden tanzen! Uns vielleicht sogar verlieben …«
April gelang es nur mit Mühe, nicht die Augen zu verdrehen. Sie hatten diese Unterhaltung bereits unzählige Male geführt – und in den meisten Fällen hatte es in einer Auseinandersetzung geendet. Natürlich würde May sie vermutlich besser verstehen, wenn April und ihre Mutter ihr anvertraut hätten, was vor einem Jahr wirklich geschehen war. Ihre Mutter hatte Aprils Schwester allerdings nicht damit belasten wollen und war der Überzeugung gewesen, dass ein Skandal am schnellsten in Vergessenheit geriet, wenn man so tat, als hätte es ihn nie gegeben.
Doch dann war sie innerhalb von wenigen Monaten nach ihrer Rückkehr aufs Land gestorben, und nun war es an April, ihre Schwester im Dunkeln zu lassen. »Ich bin mir sicher, all das klingt wundervoll für dich.«
»Vor einem Jahr hätte all das für dich wundervoll geklungen«, gab ihre Schwester mit gerunzelter Stirn zurück. »Es klang auch wundervoll für dich, wenn ich mich recht erinnere. Da ich jedoch nicht weiß, warum du dich seither so zurückgezogen hast, könntest du wenigstens so tun, als würdest du dich für mich freuen?«
April zwang sich zu einem Lächeln. »Ich freue mich für dich, May. Die Saison ist ein einzigartiges Erlebnis, das dir bestimmt gefallen wird.«
»Während es dir gefällt, meine Chancen auf ein glückliches Leben zu zerstören, weil du dich so sehr dagegen wehrst, selbst die Liebe zu finden.« May verschränkte die Arme und blickte weiterhin zu den Glyzinien. Vor einem Jahr noch hätten sie an einem warmen Frühlingsmorgen dort ihre Mutter mit einem Buch vorgefunden.
Es gab keine Antwort, die ihre Schwester zufriedenstellen würde. Nach allem, was während ihrer letzten Saison in London vorgefallen war, wusste April nur zu gut, dass ihre Chancen auf ein glückliches Leben sehr gering waren – selbst wenn sie einen Ehemann fand. Wut stieg in ihr auf, und ihre Hände ballten sich zu Fäusten, als sie an den Mann dachte, der ihr diese grausame Lektion erteilt hatte.
Schnell schob sie ihre Gefühle beiseite. Ihr eigenes Glück war nebensächlich. Sie war die Älteste, und um ihren jüngeren Schwestern eine glückliche Zukunft zu ermöglichen, musste sie in die Gesellschaft zurückkehren und die Rolle einer Ehefrau annehmen. Nur so hatten ihre Schwestern Aussicht auf ein gutes Leben.
May mochte in Hinsicht auf die Liebe falschliegen, doch sie hatte recht damit, dass es genau das war, was ihre Mutter sich mehr als alles andere gewünscht hätte.
»Ich werde mich bei der Köchin wegen des Essens erkundigen«, brach sie schließlich Mays wütendes Schweigen. »Tante Violet wird bald zurückfahren wollen.«
April warf einen letzten Blick zu den Rosenbüschen, die sie erst zum zweiten Mal in ihrem Leben nicht würde blühen sehen. Es überraschte sie, dass auch May die Rosen betrachtete – Tränen schimmerten in ihren haselnussbraunen Augen, als sie sich von dem Ort verabschiedeten, der sie mehr als alles andere an ihre Mutter erinnerte, die sie viel zu früh verloren hatten.
Das Essen beruhigte Aprils Nerven etwas. Tante Violet – sie war keine blutsverwandte Tante, sondern seit Kindertagen die beste Freundin ihrer Mutter und zudem Patentante der Mädchen – war einer der Menschen, die April am liebsten hatte. Seit dem Tod ihrer Mutter war Tante Violet auch eine der wenigen, die es schafften, Aprils Trauer in den Hintergrund treten zu lassen, ebenso wie die Angst, dass ihre Mutter bald in Vergessenheit geraten würde. Sie war außerdem die Einzige, die neben ihrem Vater noch wusste, was letzten Sommer vorgefallen war.
Abgesehen natürlich von dem Mann, der den Skandal verursacht hatte.
Am Tisch war ein Platz frei, da Aprils jüngste Schwester July sich nicht wohlfühlte und ihnen daher beim Essen nicht Gesellschaft leisten konnte. Ihr anhaltendes Unwohlsein und der beschwerliche Husten bedeuteten, dass weder July noch ihre Zwillingsschwester June die älteren Mädchen zum jetzigen Zeitpunkt nach London begleiten konnten.
Nach dem Essen machte sich April auf die Suche nach den Zwillingen, um sich von ihnen zu verabschieden, und fand beide im Bett im obersten Stock ihres alten Hofs. Junes Wangen leuchteten in einem gesunden Rot, das Julys Blässe noch deutlicher hervortreten ließ als sonst, doch der enttäuschte und traurige Ausdruck auf ihren Gesichtern war identisch.
»Verlasst ihr uns schon?«, fragte July, wobei die Frage in ein Husten überging, das mehrere Sekunden andauerte. So schlimm es auch klang, der Hausarzt der Familie war sich sicher, dass die Krankheit nicht ansteckend war und dass July sich mit der Zeit wieder erholen würde. Dennoch konnte April nicht anders, als ihre kleine Schwester für einen Moment zu bemuttern: Sie legte ihr die Hand an die Stirn, vergewisserte sich, dass ausreichend Wasser neben dem Bett stand, und zog die Decke über ihren schlanken Armen hoch.
»Mach dir keine Sorgen.« July lächelte, und April hatte den Eindruck, dass ein Funkeln in ihre grün-braunen Augen getreten war. »Mir geht es gut, abgesehen vom Neid natürlich.«
»Es gefällt mir nicht, so früh aufbrechen zu müssen, aber Tante Violet möchte noch heute Abend in London sein. Emma hat morgen eine Kleideranprobe.«
»Ich bin so neidisch, dass du Emma bei den Hochzeitsvorbereitungen helfen darfst.« June schob die Unterlippe vor, doch die Tatsache, dass sie sich näher an ihre Zwillingsschwester kuschelte, zeigte deutlich, dass nichts und niemand sie von ihr trennen konnte, bevor July nicht vollständig genesen war. »Es ist so aufregend, dass sie Edward nach all den Jahren endlich heiratet.«
Violets einzige Tochter Emma war für die Campbell-Schwestern eine ebenso gute Freundin, wie Violet es für ihre Mutter gewesen war. Emma und Edward waren bereits als Kinder unzertrennlich gewesen, daher hatte es niemanden überrascht, als sich zwischen ihnen romantische Gefühle entwickelten. Darauf folgte natürlich die unvermeidbare Verlobung. Es war, als hätte das Universum diese Verbindung von langer Hand geplant.
Ein unerwarteter Schmerz breitete sich in Aprils Brust aus, und ihr Herz zog sich heftig zusammen. Ihre eigenen Erfahrungen mit der Liebe – das, was sie für Liebe gehalten hatte – hatte sie in viel kürzerer Zeit gesammelt. Es waren nur wenige Wochen gewesen, doch damals hatte es sich so angefühlt, als würde sie ihn ebenfalls schon seit Ewigkeiten kennen.
Eine Täuschung des Herzens, mehr nicht. Eine, auf die sie kein zweites Mal hereinfallen würde.
April würde nach London gehen. Sie würde nach einem Ehemann suchen, denn das war es, was die Gesellschaft von ihr verlangte und was ihr Onkel von allen vier Schwestern verlangte, wobei April als Erste ihre Pflicht erfüllen musste. Es spielte keine Rolle, wonach ihr Herz sich sehnte – zumal sie gar nicht sagen konnte, was das überhaupt war.
April zwang sich zu einem Lächeln und setzte sich auf die Bettkante. Sie zog die Zwillinge in eine lange Umarmung. »Wir schreiben euch ganz oft, damit ihr keine Details verpasst«, versprach sie. »Und July wird bald wieder gesund. Dann könnt ihr nachkommen. Auf jeden Fall noch rechtzeitig zur Hochzeit.«
Die Zwillinge nickten, beide schienen nach wie vor traurig zu sein, doch auch ein wenig hoffnungsvoller. Vor allem July brauchte in ihrem aktuellen Zustand etwas, worauf sie sich freuen konnte. April ließ die Rosen nur ungern in Charles’ Händen, doch noch mehr hasste sie es, ihre kranke Schwester zurückzulassen – auch wenn es nirgendwo eine hingebungsvollere Krankenpflegerin gab als June.
Die beiden hatten im Abstand von wenigen Stunden das Licht der Welt erblickt – nach langen Wehen und einer schwierigen Geburt. June wurde in den letzten Stunden einer nebeligen Juninacht geboren, während July begleitet von einem Donnergrollen, das stürmisch den Juli einläutete, auf die Welt kam. Die beiden unterschieden sich auch in ihrer Persönlichkeit wie Tag und Nacht. Während June laut und ungestüm war und bei jeder Veranstaltung sofort im Zentrum der Aufmerksamkeit stand, war July eher in sich gekehrt und fühlte sich mit ihrem Pianoforte oder einem guten Buch ebenso wohl wie mit den meisten Menschen. Die beiden waren keine eineiigen Zwillinge, doch wie alle Campbell-Töchter sahen sie sich so ähnlich, dass sie immer als Schwestern erkannt wurden.
April hatte sich oft gefragt, wie ihre Eltern July genannt hätten, wären die Zwillinge mit weniger Abstand und im selben Monat auf die Welt gekommen. Doch jedes Mal, wenn sie nachfragte, hatten ihre Eltern bloß einen Blick gewechselt und gelächelt, ehe sie antworteten, dass sie nie auch nur den Hauch eines Zweifels gehabt hatten, wie ihre Familie sich entwickeln würde.
Mary Campbell hatte den Frühling und den Sommer geliebt, da ihre Gärten in diesen Monaten am schönsten waren. April fand, es wäre eine ebenso wundervolle Hommage an diese beiden Jahreszeiten gewesen, hätte sie ihre Töchter nach Blumen benannt, doch ihre Mutter hatte darauf bestanden, ihre Kinder nach ihrem Geburtsmonat zu taufen.
Auf dem Weg die Treppe hinunter in den Salon, wo ihr Vater darauf wartete, sich von ihr zu verabschieden, dachte April darüber nach, wie unwahrscheinlich es war, dass ihre Eltern das alles vorausgeahnt hatten. Sicher hatten sie Marys zu frühen Tod nicht kommen sehen, ebenso wenig die finanziellen Schwierigkeiten, die ihre Familie in den letzten Jahren geplagt hatten, oder das merkwürdige Ultimatum, das ihr Onkel und Wohltäter als Bedingung für das Erbe der Schwestern gestellt hatte. Seine Nichten mussten nun in der Reihenfolge ihrer Geburt heiraten, wenn sie die versprochene Mitgift erhalten wollten – nur weil er Mary die Schuld am Unglück ihrer Schwester gab. Wie konnte Mary sich auch erdreisten zu heiraten, bevor ihre ältere Schwester überhaupt offiziell in die Gesellschaft eingeführt worden war – und noch dazu unter ihrem Stand, was die Chancen der übrigen Geschwister gefährdete?
April hatte ihren Onkel immer gemocht, doch da seine Anordnung sie am meisten betraf, hatte ihre Zuneigung für ihn seit der offiziellen Verkündung etwas nachgelassen.
»Papa.« April betrat den Salon. Sie strich ihren Rock glatt und presste die Lippen fest zusammen, als sie den rauen Stoff unter ihren Fingern fühlte. Sie trug nur ein einfaches Musselinkleid mit einem unscheinbaren Streifenmuster. Ihre kleine Auswahl an Seidenstoffen – gebrauchte Kleider von ihrer Mutter, die mit weitaus mehr aufgewachsen war, als sie im Moment besaßen – durfte April nur zu den elegantesten Bällen tragen.
Ihr Vater wandte sich zu ihr um. Hinter ihm fiel Sonnenlicht durch die Fenster, die dringend geputzt werden mussten. Sie hatten die Unterstützung durch Angela, ihr tüchtigstes Dienstmädchen, auf einen Tag die Woche kürzen müssen, und obwohl April und May es durchaus versuchten, war es schwer, sich um alles zu kümmern. Dennoch war der Salon gemütlich und sauber. Neue Vorhänge und Tapeten würden den Raum allerdings deutlich aufhellen und ihm wieder mehr Glanz verleihen.
Plötzlich bemerkte April, wie weiß die Haare ihres Vaters geworden waren, seit ihre Mutter letzten Herbst gestorben war, und wie schwach das Lächeln in seinem sonst so lebensfrohen Gesicht. Er war oft mit den täglichen Arbeiten auf dem Hof beschäftigt und eher pragmatisch, was die Vaterpflichten gegenüber seinen Kindern betraf. Aprils Mutter hatte es jedoch stets geschafft, ihn aus der Reserve zu locken und ihm ein Lächeln auf die Lippen zu zaubern.
April spürte wieder ein Ziehen im Herzen. Eins, das sie wünschen ließ, sie könnte wie ein kleines Kind in die Arme ihres Vaters laufen und sich von ihm versichern lassen, dass am Ende alles gut ausgehen würde. Sie war inzwischen allerdings zu alt, um noch daran zu glauben, daher erwiderte sie lediglich sein Lächeln und ergriff seine ausgestreckte Hand.
»Ah, meine älteste Tochter macht sich erneut auf die Reise nach London, um dort ihr Glück zu suchen.« Sein Lächeln verblasste etwas. »Ich werde dich hier vermissen, das weißt du, oder? Du bist die Einzige, die sich noch darüber freut, wenn ich abends vor dem Feuer vorlese.«
»July liebt es, wenn du etwas vorliest«, widersprach April. »Und ich denke, sie wird sich bald wohl genug fühlen, um herunterzukommen. Vielleicht köderst du sie dieses Mal mit einem Roman.«
»Das ist sicher eine gute Idee.« Er hielt kurz inne. »Da wir beim Thema Fantasie sind: Du solltest ein wachsames Auge auf deine Schwester haben. Mays Herz ist zu groß, und sie hat den Kopf meist in den Wolken und errichtet Luftschlösser. Eine gefährliche Kombination, wie dir, mein Kind, durchaus bewusst ist, nicht wahr?«
Aprils Wangen brannten, als ihr Vater sie daran erinnerte, was während ihrer letzten Saison vorgefallen war, als sie dem Charme eines Fremden erlegen war. Sie hatte sich mehr wie die Heldin aus einer von Mays Liebesgeschichten verhalten, als sie zuzugeben bereit war.
»Das werde ich, Papa.«
April sprach leise, und ihr Vater mahlte mit dem Kiefer. »Es gefällt mir nicht, dir diese Bürde aufzuerlegen, auch wenn du die Älteste bist. Dein Onkel beharrt zwar darauf, dass ihr Mädchen in der Reihenfolge eurer Geburt heiratet, bevor ihr eure Mitgift, euer Erbe erhaltet. Doch ich würde viel lieber sehen, wie ihr vier euch mit Männern zusammentut, die euch wirklich etwas bedeuten – unabhängig vom Geld.«
Bei diesen Worten senkte ihr Vater die Stimme, ebenso wie den Blick.
April wusste, dass er solche unangenehmen Themen nicht angesprochen hätte, wenn er nicht wirklich besorgt um ihre Zukunft gewesen wäre. Ihr Vater hatte so etwas bisher nie erwähnt, jedenfalls nicht ihr gegenüber, aber ihre Mutter hatte ihr genug anvertraut. April war sich sicher, dass es nur eine Möglichkeit gab, wie das Zuhause ihrer Familie gerettet werden konnte – und zwar durch eine vorteilhafte Heirat.
Ihr wurde schwer ums Herz. »Ich weiß, Papa.«
Seufzend rieb er sich mit einer Hand übers Gesicht, bevor er näher trat und einen Arm um ihre Schultern legte. Wärme breitete sich über Aprils Rücken aus. Sie schmiegte sich in seine Umarmung, genoss den Halt, den er ihr gab und der ihr in London so sehr fehlen würde. Tante Violet war wundervoll. Die Schwestern hätten sich keine liebenswertere, aufmerksamere Patentante wünschen können. Emma war eine gute Freundin, und May war einmal Aprils engste Vertraute gewesen. Doch die Liebe eines Elternteils hatte etwas an sich, was April nie richtig wertgeschätzt hatte, bis sie ihre Mutter verloren hatte.
Ihre Wut darüber, was während ihrer letzten Saison passiert war, war mit der Zeit nicht geringer geworden, und ihr Herz hatte den Verlust ihrer Mutter noch nicht verwunden. Doch ihre Familie brauchte sie, und deshalb würde sie ihren Mut zusammennehmen, sich der Gesellschaft stellen und hoffentlich einen anständigen Ehemann finden.
»Du hast keinen Grund, anders als mit erhobenem Kopf in die Gesellschaft zurückzukehren«, flüsterte ihr Vater. »Du hast nichts falsch gemacht. Sich zu verlieben, ist kein unverzeihliches Verbrechen. Vergiss diesen Unsinn, vergiss vor allem diesen ehrlosen Jungen, und gestatte dir selbst die Möglichkeit, glücklich zu werden.«
Aprils Kehle schnürte sich zu, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie blinzelte sie weg und klammerte sich einige Sekunden lang fester an ihren Vater, ehe sie sich von ihm löste, zurücktrat und nicht vorhandene Falten in ihrem blassgrauen Reisekleid glatt strich. Der Musselinstoff war keine feine Seide, aber auf dem Kleid würden weder Schmutz noch Staub von den Straßen sichtbar sein, und es würde nicht durch stundenlanges Sitzen in der Kutsche verknittern.
»Vielen Dank, Papa. Ich werde mein Bestes geben, um dich stolz zu machen.« April schaffte es nur mit Mühe, die Worte an ihren Emotionen vorbeizupressen.
Er gab ihr einen Kuss auf die Schläfe. »Das tust du doch schon.«
Als April sich zu May und Tante Violet in die Kutsche setzte, schaffte sie es beinahe, daran zu glauben, dass in den Worten ihres Vaters ein Körnchen Wahrheit steckte.
KAPITEL 2
April
Sie hatten etwa die Hälfte der Strecke zurückgelegt, als May in der Kutsche einschlief. Ihr Kopf kippte zur Seite, in Richtung des Fensters, und der Wind brachte die Locken durcheinander, die ihr Gesicht umrahmten. April beneidete ihre Schwester darum, ausgerechnet jetzt schlafen zu können – ohne jegliche Sorgen und stattdessen erfüllt mit nur einem einzigen Gefühl: Begeisterung über die Reise und die anschließende Saison.
»Ich bin sehr froh, dass ihr uns für diese Saison besucht. Ich vermisse eure Mutter sehr, und Zeit mit euch Mädchen zu verbringen, euch bei der Suche nach einer glücklichen Zukunft helfen zu dürfen, gibt mir das Gefühl, ihr nach wie vor etwas geben zu können.« Tante Violets Stimme durchbrach Aprils Selbstmitleid.
Zum Glück.
»Vielen Dank, Tante Violet. Wir wissen deine Großzügigkeit wirklich sehr zu schätzen und wir freuen uns darauf, Emma bei ihren Hochzeitsvorbereitungen zu helfen.«
Ihre Patentante tätschelte ihr die Hand. »Emma ist überglücklich, dass sie euch endlich wiedersieht und ihr bei uns wohnen werdet. Ihr seid wie Schwestern für sie.«
Sie fuhren einige Minuten schweigend weiter, und April schluckte den Kloß in ihrer Kehle hinunter.
»Wie viel weiß deine Schwester über die Ereignisse der letzten Saison?« Tante Violet sah mit einem liebevollen Lächeln auf den Lippen zu May, die immer noch schlief.
»Ich denke, sie weiß oder ahnt zumindest, dass es einen Skandal gab, der mich und einen jungen Gentleman betraf, und dass unsere Mutter Sorge um meine Aussichten hatte. Aber sie kennt sicher keine Details.«
»Sie kennt nicht die Identität des Gentlemans?«
April schüttelte den Kopf. »Bestimmt nicht. Mutter hielt es für das Beste, den Skandal unter den Teppich zu kehren und darauf zu hoffen, dass er dort bleiben würde.«
»Eine weise Entscheidung ihrerseits, denke ich. Ich habe ebenfalls dafür gesorgt, dass Emma über die Einzelheiten im Dunkeln geblieben ist. Da sie bereits ihren zukünftigen Mann gefunden hatte, war sie nicht auf vielen Bällen, wo derlei Klatsch verbreitet wird.« Tante Violet hielt inne und warf erneut einen Blick zu May, als wollte sie sichergehen, dass sie wirklich schlief. »Ich würde vorschlagen, dieses Vorgehen beizubehalten. Je weniger Menschen wissen, was geschehen ist, desto geringer ist die Chance, dass der Skandal erneut zum Gesprächsthema wird.«
Die Tatsache, dass Emma nicht Bescheid wusste, kam überraschend. Sie war zwar schon vor zwei Jahren in die Gesellschaft eingeführt worden und hatte einen Großteil der letzten Saison bei Verwandten außerhalb von London verbracht, doch sie und Edward waren bestimmt auf der ein oder anderen Veranstaltung als Paar aufgetreten. Zudem hatte Edward mit Aprils ehemaligem Verehrer in Cambridge studiert, und wenn sie sich nicht irrte, waren die beiden zusammen rudern und gelegentlich auch auf der Jagd gewesen. Der Gedanke an die Jagd ließ sie automatisch an Füchse denken, und wie jedes Mal kamen dadurch die Erinnerungen an die eine Person hoch, die April am liebsten vergessen würde.
Am Tag ihres Kennenlernens hatten April und Nathaniel den Fuchsbau besichtigt und waren danach zum Anwesen zurückgekehrt. Aprils Mutter fühlte sich nicht wohl, weswegen sie die Einladung von Nathaniels Schwester Anne annahmen und blieben, bis Mary Campbell sich kräftig genug zum Reisen fühlte.
April war überrascht, dass sie nicht im Geringsten traurig darüber war, dass der geplante Ausflug zu einem anderen Anwesen, den sie in vier Tagen hatten unternehmen wollen, ausfallen musste. Es lag lediglich an der Gelegenheit, die Gegend um Rose Hall genauer zu erforschen, redete sie sich ein, und nicht etwa an der Vorstellung, Nathaniel Pembroke würde sie auf weitere private Ausflüge mitnehmen.
Die Art und Weise, wie er sie an diesem ersten Abend beim Essen anlächelte, bevor seine Schwester sie zu einem vertraulichen Gespräch an den Kamin zog, erfüllte sie mit weitaus mehr Wärme, als die Flammen es vermochten.
Am nächsten Tag traf er sie bei einem Spaziergang durch die Rosengärten und führte sie zu einer weiter entfernten Lichtung, wo unzählige Glockenblumen wuchsen.
»Wenn Sie noch ein Stück weitergehen möchten, die Klippen am Rande des Grundstücks bieten einen einzigartigen Blick über das Meer.«
April wusste, dass sie ablehnen sollte, dass sie beide zurückgehen sollten, bevor jemand sie vermisste, doch sie tat nichts dergleichen.
»Das klingt wundervoll.«
Während sie über die grüne Wiese spazierten und die warme Frühlingsluft einatmeten, wurde April zunehmend bewusst, dass es nicht der Ausblick war, nach dem sie sich sehnte. Sie sehnte sich danach, noch mehr Zeit in Nathaniels Gesellschaft zu verbringen.
»Genießen Sie Ihren Aufenthalt auf dem Land?«
April lachte. »Ich lebe auf dem Land, und wir sind gerade einmal einen Tag hier. Aber ja. Es ist wunderschön hier.«
Sie unterhielten sich freundschaftlich über ihre Familien und ihre Lieblingsblumen, tauschten Ratschläge, wie die Hortensien gepflegt werden mussten, um in den prächtigsten Farben zu erblühen, und diskutierten, welche Rosensorten nicht ausreichend gewürdigt wurden, als April zehn Minuten später endlich den versprochenen Ausblick wahrnahm. Sie wusste nicht, ob die unendliche Weite des tiefblauen Meeres oder die Nähe ihres Begleiters ihr den Atem raubte, doch die Kombination ließ sie schwindelig werden.
»Nun, was sagen Sie?«, fragte er mit weicher Stimme, während er sie aus dunklen Augen ansah.
April lachte, und es klang so atemlos und aufgeregt, wie sie sich fühlte. Sie hatte das Meer nicht mehr gesehen, seit sie ein kleines Mädchen gewesen war. »Ich denke, ich bin gefährlich nahe daran, mich in diesen Landsitz zu verlieben. Sie können sich glücklich schätzen. Haben Sie als Kind viel Zeit hier verbracht?«
Sein Lächeln war bei ihren Worten breiter geworden, und zum ersten Mal nahm April den Hauch eines Grübchens in seiner linken Wange wahr. »Allerdings. Rose Hall war schon immer einer meiner Lieblingsorte. Meine Geschwister und ich haben viele Tage und Nächte damit verbracht, über diese Wiesen zu laufen. Ich vermute, es gibt nicht einen Zentimeter auf diesem Grundstück, den ich noch nicht mit eigenen Augen erforscht habe.«
»Ihre Eltern lieben es hier bestimmt auch.«
»Mein Vater ist gestorben, als wir noch jung waren, aber früher hat er hier immer gern gejagt. Meine Mutter liebt es hier ebenfalls, doch sie fühlt sich seit einigen Jahren nicht mehr wohl genug, um die Gegend mit uns zu erkunden.«
»Es tut mir leid, das zu hören«, murmelte April. »Bessert sich ihr Zustand denn?«
Sein Lächeln verschwand, als er den Blick auf den Horizont richtete. »Leider nicht. Der Arzt sagt, sie wird Weihnachten nicht mehr bei uns sein, dennoch hoffe ich, sie beweist ihm das Gegenteil.«
Es gab nichts, was April darauf erwidern konnte, weshalb sie schwieg, während sie beide die Wellen beobachteten, die unter ihnen gegen die Felsen schlugen. Nathaniel verlagerte das Gewicht, wodurch er auf einmal so nah stand, dass sie die Hitze spüren konnte, die von seinem Körper ausging. Wärme durchströmte April vom Kopf bis zu den Zehen, und sie hatte Mühe, sich auf etwas anderes als auf seinen Duft zu konzentrieren. Als sie den Blick hob, musterte er sie mit einem seltsamen Ausdruck, der ihr Innerstes weich werden ließ.
»Ich befinde mich in einer befremdlichen Situation. Ich bin froh, dass Ihre Mutter sich nicht wohl fühlt, da es bedeutet, dass Sie noch eine Weile bleiben werden, doch gleichzeitig hoffe ich sehr, dass Ihre Mutter sich bald erholt.« Er lächelte, und das Grübchen blitzte wieder auf. »Jedoch nicht zu bald.«
April lachte, da sie genau wusste, was er meinte. »Mir geht es genauso. Es gibt mir mehr Zeit, Ihr Anwesen zu erkunden.«
»Ich würde mich freuen, Sie herumführen zu dürfen.«
Ihr Gesicht wurde heiß. »Sie haben bestimmt Besseres zu tun, als mit mir durch Ihren eigenen Garten zu spazieren.«
»Ganz im Gegenteil.«
»April?«
Tante Violets ungeduldige Stimme brachte April zurück in die Gegenwart, in die holpernde Kutsche und zu dem leisen Schnarchen ihrer Schwester.
»Hm?«, erwiderte sie, da ihre Patentante ihr sicher eine Frage gestellt hatte, vermutlich sogar mehr als nur einmal. Doch April konnte sich nicht von der Erinnerung lösen: Sie hatte ihm zugestimmt, dass es schön wäre, wenn ihre Mutter noch eine Weile unpässlich wäre. Natürlich hatten sie vor einem Jahr nicht wissen können, dass die Kraftlosigkeit ihrer Mutter, die sie zu einem längeren Aufenthalt in Rose Hall zwang, erst der Beginn einer Krankheit war, die April nur wenige Monate später ihrer Mutter berauben sollte. Dennoch zerrten Schuldgefühle an ihrem Herzen, entzogen ihr sämtliche Zuversicht, die sie zu Hause noch mühsam zusammengenommen hatte.
»Ich habe dich gefragt, ob du weißt, dass dieser Mann, der deinen guten Ruf geschädigt hat, seit einigen Monaten auf Reisen ist. Er ist nach dem Tod seiner Mutter aufgebrochen und wird in naher Zukunft nicht zurückerwartet.« Violet rümpfte die Nase. »Seiner Schwester werden wir in dieser Saison vermutlich nicht aus dem Weg gehen können, doch immerhin müssen wir uns um ihn keine Sorgen machen.«
April befeuchtete ihre Lippen. Ihr Mund war trocken geworden bei dem Gedanken, Anne zu meiden. Sie war immer freundlich zu ihr gewesen.
»Hältst du es für absolut notwendig, diese Verbindung ebenfalls zu beenden?« Sie dachte an die Briefe, die Anne ihr im vergangenen Jahr geschrieben hatte – alle blieben unbeantwortet. Zuerst hatte Aprils Mutter sie abgefangen, und nach ihrem Tod war April von der Trauer über ihren Verlust zu überwältigt gewesen, um sich darum zu kümmern. »Sie war eine gute Freundin, und es tut mir leid zu hören, dass sie ebenfalls ihre Mutter verloren hat.«
»Ich halte es für das Beste, wenn du so wenig wie möglich mit dieser Familie zu tun hast.«
April wusste, dass es so am besten war und dass ihre Patentante recht hatte. Sie hatte keinerlei Verlangen danach, Nathaniel jemals wiederzusehen, wobei das über kurz oder lang vermutlich unumgänglich sein würde, doch sie vermisste Annes offenherzige und bedingungslose Freundschaft an jedem einzelnen Tag.
»Ich bin froh, dass Mr Pembroke während dieser Saison nicht in London sein wird.« Allein bei dem Klang seines Namens aus ihrem Mund stieg erneut Wut in ihr auf. Die Lippen, die sich vor nicht allzu langer Zeit noch nach seinen Küssen gesehnt hatten, würden ihn nun am liebsten verfluchen. Umso besser, wenn April es fürs Erste vermeiden konnte, sein Gesicht zu sehen.
»Ich auch.« Tante Violet tätschelte Aprils Knie. »Es wird alles gut. Niemand wird dir das, was geschehen ist, vorhalten.«
April bezweifelte das zwar, doch es blieb ein Hoffnungsschimmer. Vielleicht gab es für jeden Menschen, der die ganze Wahrheit kannte, zumindest zehn weitere Menschen, die nichts von alledem wussten. Die Londoner Gesellschaft hatte bestimmt Besseres zu tun, als sich über einen Skandal auszulassen, der vor einem Jahr geschehen war.
»Ich wünsche es keinem anderen jungen Paar, dass es in eine prekäre Lage gerät und damit zum Gesprächsthema wird, doch es würde durchaus einige unserer Probleme lösen.« Tante Violet lächelte. »Sei einfach du selbst, bezaubernd und liebenswürdig wie sonst auch, meine Liebe, und ich bin mir sicher, es werden schon bald ausreichend Verehrer vor unserer Tür stehen.«
Schweigen breitete sich aus, als jede von ihnen aus einem Fenster sah und beobachtete, wie die Landschaft langsam der Stadt wich. April hoffte, dass Tante Violet recht hatte und es zumindest keine neuen Dramen geben würde, die diese Saison für sie noch weniger erträglich machten.
Es würde schwierig werden, May weiterhin über die Einzelheiten des Vorfalls im Dunklen zu lassen, und noch schwerer, Emma davon abzuhalten, ihrem Verlobten Edward Fragen zu stellen.
April würde jedoch, wie bei allen anderen Herausforderungen in ihrem Leben, ihr Bestes geben. Sie würde alles für ihre Familie tun, selbst wenn sie dafür Opfer bringen musste.
KAPITEL 3
Matthew
Schweiß rann in Matthews Augen, als er Edward half, ihr Boot am Steg festzubinden. Die Hose klebte ihm an den Beinen, und seine schweißnassen Hände rutschten über das Holz, obwohl es erst April war und die wahre Sommerhitze noch auf sich warten ließ. Nicht zum ersten Mal fragte er sich, was ihn dazu bewogen hatte, einen Sport auszuüben, den er nicht mochte.
Immerhin hatten sie bei dem Rennen heute Oxford geschlagen, das sollte seine Kameraden bis zum nächsten Wettkampf zufriedenstellen. Und bald würden sowohl Matthew als auch Edward ihren Abschluss machen und das Vermächtnis der Ruderer von Cambridge in die fähigen Hände jüngerer Studenten übergeben. Der Gedanke gefiel ihm. Eine weitere glückliche Fügung, die wie von selbst eine der kleinen Unannehmlichkeiten des Lebens beseitigte.
»Nun, das wäre erledigt«, verkündete Edward. Sein blondes Haar, das von Flusswasser und Schweiß feucht war, fiel ihm immer wieder in die Augen. Er strich es erneut zur Seite, wobei er einen Streifen Schlamm auf seiner Stirn hinterließ. Matthew konnte nicht sagen, ob sein Freund sich auf die vernichtende Niederlage bezog, die sie Oxford beigebracht hatten, oder auf das Boot, das am Steg festgebunden war, doch es spielte auch keine Rolle.
»Ich möchte mich noch waschen und umziehen, bevor ich mich verabschiede«, erwiderte er. »Ich bin später mit meinem Vater verabredet. Es geht natürlich ums Geschäftliche.«
Matthews Vater hatte keine Ahnung, dass sein Sohn das Interesse an dem landwirtschaftlichen Besitz der Familie im Ausland nur vortäuschte. Auch ihre politischen Einstellungen lagen weiter auseinander, als der alte Graf wissen konnte, doch Matthew musste den Schein wahren. Das war zum einen eine Frage des Anstandes und zum anderen wichtig für eine Angelegenheit, die ihm sehr am Herzen lag. Eines Tages würde er Titel und Einfluss erben und beides in den Dienst der guten Sache stellen. Er hoffte, er würde den Fortschritt, den er damit herbeiführen wollte, noch miterleben.
Edward nickte und ging voraus in Richtung der Umkleideräume, die nicht weit vom Fluss entfernt lagen. Dort entledigten sie sich ihrer Hemden und benutzen die Schüsseln mit kaltem Wasser, um sich Schweiß und Schmutz von Gesicht und Händen zu waschen.
Nun, da Matthew sich etwas frischer fühlte, setzte er sich auf eine Holzbank, um durchzuatmen. Das Rennen war anstrengend gewesen, und sein Körper schmerzte auf eine Weise, die zwar nicht unbefriedigend war, in ihm jedoch den Wunsch weckte, den Nachmittag im Garten zu liegen, anstatt sich für ein Geschäftsessen zu kleiden.
»Hilf mir auf die Sprünge, wie lange bist du noch ein freier Mann?«, zog er Edward auf.
Edward und seine Kindheitsliebe Emma Radcliffe würden bald heiraten, was weder enge Freunde noch Bekannte des glücklichen Paares überrascht hatte. Das schützte Edward allerdings nicht vor gut gemeinten Neckereien seiner Freunde – und erst recht nicht vor Matthews Scherzen, der Edwards und Emmas langjähriges Verhältnis insgeheim romantisch fand. Würde er die Gelegenheit, seinen alten Freund aufzuziehen, ungenutzt verstreichen lassen, wäre sein Neid auf ihre Beziehung zu offensichtlich.
»Nur noch wenige Wochen«, erwiderte Edward. Seine Wangen röteten sich, und er konnte ein Lächeln nicht zurückhalten. »Wir heiraten Ende Mai.«
In den nächsten Wochen standen Bälle, Gartenfeste, Promenaden und dergleichen an, auf denen die feine Londoner Gesellschaft vertreten sein würde. Für Matthew und die anderen jungen Männer im heiratsfähigen Alter bedeutete dies vor allem, den Verkupplungsversuchen von Tanten und Müttern in ganz London aus dem Weg zu gehen. Für jene, die nach einer vorteilhaften Partie suchten, war es jedoch die Gelegenheit, um die geeigneten Damen zu umwerben und am Ende des Sommers eine Verlobung zu feiern.
»Ah, natürlich. Eine weitere Saison voller rauschender Bälle, großer Romantik und Abendessen, bei denen ihr euch heimliche Blicke über den Tisch hinweg zuwerft, bevor ihr für immer ein spießiges altes Ehepaar werdet.«
Edward verdrehte die Augen. »Ich verstehe nicht, wie die Hochzeit Emma und mich altern lassen wird. Und die Saison bietet sowohl für Verheiratete als auch für Unverheiratete einen Zeitvertreib.«
Bis ein Kind kam, oder zwei.
Matthew sprach diesen Gedanken nicht laut aus, sondern griff nach einem Tuch, um seine kastanienbraunen Haare zu trocknen. »Kommt Emma mit den Vorbereitungen einigermaßen gut zurecht?«
»Das tut sie. Vor allem, da sie bald die lang erwartete Unterstützung bekommt. Ihre Freundinnen vom Land, April and May Campbell, reisen heute an.«
Matthews Herz schlug ihm plötzlich bis zum Hals. In seinem Alter blieb einem Gentleman der Name einer jungen Dame nur selten im Gedächtnis. April Campbell jedoch war mehr als nur ein einfacher Name. Es war der Name der jungen Dame, die das Leben seines Freundes Nathaniel Pembroke gehörig durcheinandergebracht hatte – und das auf eine Weise, die keiner seiner Freunde erneut miterleben wollte.
»April Campbell ist zurück in London?«
»Allerdings, obwohl ich sie noch nicht mit eigenen Augen gesehen habe.« Edward, der bereits wieder seine Tageskleidung trug, bückte sich, um den Schaft seines Stiefels gerade zu rücken – eine alte Angewohnheit, die Sorge ausdrückte. »Ich vermute, irgendwann muss man sich dem Unausweichlichen stellen. Keine junge Dame kann sich für immer auf dem Land verstecken.«
»Das ist für Miss Campbell auch keine Option. Nicht mit drei jüngeren Schwestern, die ungeduldig darauf warten, in die Gesellschaft eingeführt zu werden.«
»Richtig.« Edward ächzte leise, während er seinen Fuß in den zweiten Stiefel schob.
Matthew hätte nie gedacht, dass er mit einem seiner ältesten Studienfreunde – oder überhaupt mit irgendjemandem – tratschen würde wie eine gelangweilte ältere Dame, doch nun tat er genau das. Die Campbell-Schwestern füllten seine Gedanken. Vor einem Jahr hatte er April Campbell als liebenswürdig und klug erlebt, wenngleich etwas reserviert in der Öffentlichkeit. Unwillkürlich fragte er sich, ob ihre jüngere Schwester ihr diesbezüglich ähnlich oder ganz anders war.
»Pembroke wird bis zum Ball der Blakes zurück sein«, sagte Matthew und bemerkte zu spät, dass Edward seinem Gedankengang, der von April Campbell direkt zu Nathaniel Pembroke führte, wahrscheinlich nicht würde folgen können. Edward hatte an der letzten Saison kaum teilgenommen, immerhin wusste er zu diesem Zeitpunkt bereits, dass er Emma einen Antrag machen würde. Zudem war er den Großteil der Saison geschäftlich auf Reisen gewesen. Soweit Matthew wusste, hatte Edward keine Ahnung von Nathaniels und Aprils früherer Verbindung, und es stand Matthew nicht zu, jetzt darüber zu reden. Nathaniel hatte England verlassen, in der Hoffnung, die Sache zu vergessen – und damit andere dasselbe tun konnten.
»Ah, sehr schön. Wir bekommen also noch mehr Unterstützung, um Oxford zu schlagen«, erwiderte Edward. »Ich war überrascht, dass er nicht schon für die Hochzeit seines Bruders mit Isabella Martin zurückgekehrt ist.«
»Mhm«, machte Matthew und betrachtete betont aufmerksam sein Spiegelbild, anstatt zu antworten. Es überraschte ihn nicht im Geringsten, dass Nathaniel nicht zur Hochzeit gekommen war, denn Isabella Martin war diejenige, die seine geplante Zukunft mit Miss Campbell ruiniert hatte.
Obwohl Edward wusste, dass es einen Skandal gegeben hatte, kannte er keine Einzelheiten, und er war zu höflich, um nachzufragen. Nichtsdestotrotz, der Skandal, der die Pembroke-Familie getroffen hatte, war im gesamten letzten Jahr das Gesprächsthema gewesen. Isabella Martin war damals Nathaniels Auserkorene gewesen – ein Wunsch seiner Eltern, zweifelsohne nicht sein eigener. Matthew wusste, dass Nathaniel die Hoffnung hatte, Miss Martins Heirat mit jemand anderem würde ihn vor einer weiteren Verurteilung durch die Gesellschaft schützen, selbst wenn dieser Jemand sein eigener Bruder war. Nun befürchtete Matthew jedoch, dass Miss Campbells Rückkehr den gegenteiligen Effekt haben würde.
»Hoffen wir, diese Saison verläuft für ihn besser als die letzte», fügte er hinzu und wünschte April Campbell insgeheim dasselbe. Er war schließlich nicht nachtragend, obwohl die Tatsache, dass sie seinem Freund das Herz gebrochen hatte, sie in seinen Augen nicht gerade glänzen ließ. »Wie schön, dass die Campbell-Schwestern deine Verlobte bei den Hochzeitsvorbereitungen unterstützen werden.«
Edward hatte endlich aufgehört, an seinen Stiefeln herumzuziehen, und richtete sich auf. »Emma hat sich Sorgen um Miss Campbell gemacht. Sie hat wohl ein schweres Jahr hinter sich, und Emma und ihre Eltern hoffen, dass sie das hinter sich lassen und sich auf ihre eigene glückliche Zukunft konzentrieren kann.«
Matthews Mundwinkel zuckten bei diesen Worten. »Hoffen wir für deine Auserkorene, dass alles nach ihren Vorstellungen verläuft. Wir alle kennen Emma Radcliffes Hang zur Dramatik – und wir wissen, dass es dein Ohr ist, das sie am liebsten abkaut, wenn etwas schiefgeht.«
»Ach, sei doch still, Talbot. Eines Tages wirst du verstehen, dass es nichts Schlechtes ist, wenn einem eine junge Dame das Ohr abkaut – nämlich sobald eine junge Dame einen Weg in dein rebellisches Herz findet.«
Matthew wollte antworten, doch jemand kam ihm zuvor. »Ach, wenn unser Lord Talbot doch bloß in irgendeiner Weise für eine respektable junge Dame geeignet wäre.«
Matthew musste sich nicht erst umdrehen, um zu erkennen, wem dieser dröhnende Bariton gehörte. Lord Richard Beaumonts Kommentare hatten ihn durch ihre gemeinsame Studienzeit verfolgt.
Beaumont ging nach Oxford, nicht nach Cambridge, doch ihre Väter waren seit ihrer Jugend befreundet. Dass sie Rivalen im Rudern waren, machte sie nicht gleich zu Feinden, Tatsache war jedoch, dass Richard Beaumont schon immer ein niederträchtiger Mistkerl gewesen war. Es gehörte sich für einen Gentleman natürlich nicht, einen anderen Gentleman so zu bezeichnen, doch Beaumont führte einen eindeutig in Versuchung.
Seit Beaumont von Matthews politischen Ansichten erfahren hatte, war ihre Beziehung noch um einige Grade kühler geworden. Matthew befürchtete, dass ihre Meinungsverschiedenheiten schon bald zu einem unangenehmen Ende führen würden. Die geschäftlichen Interessen der Beaumont-Familie waren eng verknüpft mit denen seiner eigenen Familie, und beide würden Schaden nehmen, sollten Matthews Pläne in die Tat umgesetzt werden. Das allein könnte Beaumont genügen, um dieses Wissen an Matthews Vater weiterzugeben.
»Welch eine Schande, Lord Beaumont«, sagte Matthew, der die Doppeldeutigkeit in seinen Worten betonte. Er zog an seinen Stiefeln, während er den Blick nach unten richtete, um die direkte Konfrontation so lange wie möglich hinauszuzögern. »Edward und ich wollten gerade aufbrechen.«
»Deswegen müsste es eigentlich offensichtlich gewesen sein, dass wir nicht mit Ihnen sprechen«, fügte Edward hinzu, jedoch mit leiser Stimme.
Dennoch entging Beaumont keine einzige Silbe.
»Sie haben sich in einem öffentlichen Umkleideraum unterhalten, das macht, denke ich, Ihre Worte hinfällig.«
»Diese Umkleideräume gehören zu Cambridge, sie sind also nicht unbedingt öffentlich«, widersprach Edward.
Als Matthew aufsah, machte Beaumont eine wegwerfende Handbewegung, als könnte die Geste jegliche Feindseligkeit zwischen ihnen beiseitewischen. Richard Beaumont wurde nicht von allen gehasst – selbstverständlich fanden ihn die Damen verwegen und charmant. Doch in Matthews Augen konnten weder seine blonden Locken noch seine hochgewachsene Statur verbergen, dass sein Lächeln bloß eine Fassade war. Matthews Herz schlug zwar ebenfalls vor allem für die Politik, doch immerhin war es nicht voller Gier und Gehässigkeit.
Beaumonts Gesichtsausdruck erinnerte ihn an ein Raubtier: lauernd, beobachtend, jederzeit zum Sprung bereit. Und obwohl keine Beute anwesend war, machte sich Unbehagen in Matthews Brust breit.
»Ich möchte damit bloß sagen, dass jemand mit Talbots Einstellungen nicht darüber nachdenken sollte, eine anständige junge Dame mit sich in die Gosse zu ziehen. Sobald alle von Ihren sentimentalen Philosophien erfahren, werden Sie in der feinen Gesellschaft vermutlich nicht mehr als heiratswürdiger Junggeselle angesehen. Wie kann ein Vater schließlich zulassen, dass sein Sohn das Erbe erhält, wenn dessen Ansichten in direktem Konflikt mit den Interessen der Familie stehen?«
»Ich werde dieses Austausches langsam genauso überdrüssig wie Ihres Gesichtes, Beaumont«, sagte Matthew, auf den die altbekannten Drohungen kaum noch eine Wirkung hatten.
Beaumont lächelte bloß. Es schien, als wären sie beide an Beleidigungen gewöhnt. »Gehe ich recht in der Annahme, dass ich auf dem Ball der Blakes das Vergnügen Ihrer Gesellschaft haben werde?«
»In der Tat.«
Beaumont nickte und wusch sich übertrieben das Gesicht und die Hände, ehe er Matthew und Edward sich selbst überließ.
»Richard Beaumont mag vielleicht ein Lord sein, aber er ist nur des Ranges wegen ein Gentleman«, bemerkte Edward, sobald sie wieder allein waren.
»Ich bezweifle, dass irgendjemand, der ihn wirklich kennt, dir da widersprechen würde.« Matthew stand auf. »Sollen wir aufbrechen?«
Edward nickte. Er wirkte, als wollte er noch etwas über Beaumont oder über ihr Gespräch sagen, doch schließlich entschied Matthews Freund sich für einen Themenwechsel. »Bist du heute bereits zum Abendessen verabredet? Begleite mich doch zu den Radcliffes.«
Matthew überlegte kurz, ehe er zustimmte. Zeit mit Edwards Verlobter und ihrer Familie zu verbringen, war stets eine willkommene Abwechslung. »Mit Vergnügen.«
Matthews Vater nahm sein Mahl meistens in seinem Arbeitszimmer ein, und nach ihrer Verabredung würde er bis zum Abendessen Matthews bestimmt überdrüssig sein. Zudem würde niemand ihre Köchin als außergewöhnlich bezeichnen. Und tatsächlich konnte Matthew nicht leugnen, dass er neugierig darauf war, April Campbell nach ihrer langen Abwesenheit wiederzusehen – wenn auch nur, um zu beurteilen, ob sie für seinen Freund, der bald nach London zurückkehren würde, ein Problem darstellen könnte.
Matthew und Edward trennten sich an der Straße, und Matthew machte sich auf den Weg zu den Geschäftsräumen seines Vaters in der Nähe des Hyde Park. Er musste seine gesamte Willenskraft aufbringen, um keinen Umweg durch die Gärten zu nehmen, wo die Pfingstrosen langsam erblühten.