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April, May, June und July: Vier Monate voller rauschender Bälle. Vier Schwestern auf der Suche nach der großen Liebe. Als June und July Campbell für die Ballsaison nach London reisen, haben sie nicht damit gerechnet, auf Andrew und Henry Radcliffe zu treffen. June hasst die Brüder aus tiefstem Herzen, seit sie ihr einen grausamen Streich gespielt haben. Dass June ihn völlig ignoriert, betrachtet Andrew allerdings als Herausforderung – und wettet mit Henry um ihr Herz. Während June im Gefühlschaos versinkt, fühlt July sich zu der bezaubernden Alice hingezogen. Doch will Alice überhaupt mehr als nur Freundschaft? Band 2 der Campbell-Sisters-Dilogie: Matchmaking & Fake Dating im London der Regency-Zeit
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Seitenzahl: 439
Als Ravensburger E-Book erschienen 2024Die Print-Ausgabe erscheint im Ravensburger Verlag© 2024 Ravensburger VerlagÜbersetzung: Tamara ReisingerUmschlaggestaltung: Teresa Mutzenbach Verwendetes Bildmaterial: © vectorkat, © lisima, © More Images, © KathySG, © Olena Zaskochenko, © Master1305, © MillaF und © Depiano, alle von ShutterstockAlle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.ISBN 978-3-473-51213-3ravensburger.com
PROLOG
June
Drei Jahre vorher
June hatte sich so darauf gefreut, dass die Radcliffes sie endlich wieder mit einem ihrer früher so regelmäßigen Besuche auf dem Hof beehren würden. Vor allem die Radcliffe-Jungen hatte sie inzwischen seit nunmehr drei Jahren in Folge nicht mehr gesehen, da Andrew und Henry sich kopfüber in ihr eigenes Sozialleben gestürzt hatten. Mit all den Freunden, die es zu besuchen galt, und den gesellschaftlichen Beziehungen, die sie forcieren wollten, da sie ihnen in den kommenden Jahren von Nutzen sein könnten, hatten sie es einfach nicht geschafft – das sagte zumindest Emma, die Schwester der beiden Brüder, die die Campbells sehr mochten.
Auch wenn die Jungen in den letzten drei Jahren keine Zeit für einen Besuch gehabt hatten, war es Tante Violet und Emma dennoch wichtig gewesen, diese Tradition fortzuführen, und June und ihre Schwestern hatten sich immer auf die Besuche gefreut.
Als zwei Tage zuvor die ganze Familie Radcliffe angereist war, hatte June überrascht feststellen müssen, wie sehr die beiden Brüder mittlerweile zu jungen Männern herangereift waren. Enttäuschung hatte sich in ihr breitgemacht, denn mit fünfzehn war sie nun alt genug, um zu verstehen, was diese Veränderung bedeutete: Es war nicht länger angemessen, allein Zeit miteinander zu verbringen, wie sie es früher getan hatten.
Besonders die gemeinsame Zeit mit Andrew würde sie vermissen, er war ihr schon immer der Liebste unter den Radcliffes gewesen. Ihre verschmitzte Art ergänzte sich perfekt, und alle ihre Geschwister wussten, dass sie sich für Streiche wappnen mussten, wenn sie beide eine Weile verschwunden waren.
Als June jetzt einen Blick auf Andrew erhaschte, der trotz der übermäßigen Hitze tiefer in den Garten spazierte, dorthin, wo die Obstbäume wuchsen, kam sie nicht umhin, zu bemerken, dass seine Schultern nun breiter waren, sein Haar dichter und länger und dass Bartstoppeln seinen markanten Kiefer zierten.
Es schien kaum möglich, dass nur drei Jahre vergangen sein sollten, seit June zwölf und er fünfzehn gewesen war.
Obwohl sie in den letzten zwei Tagen alle viel Zeit zusammen verbracht hatten, gab es keinerlei Zweifel daran, dass sich etwas verändert hatte – und das ganz ohne ihr Zutun.
June unterdrückte ein Seufzen, um nicht die Aufmerksamkeit ihrer Schwestern auf sich zu ziehen, die nur unweit von ihr entfernt im Garten saßen. Für Ende April war es ungewöhnlich warm. Kein Wind strich durch die grünen Blätter oder rauschte durch die hübschen Farne, und der süße Duft des Flieders, den ihre Mutter so liebte, blieb hartnäckig an den Blüten haften.
Ihr Tagebuch lag geöffnet auf ihrem Schoß. Sie hatte versucht, lose Gedanken zu einer Geschichte zu verbinden, von der es sich lohnen würde, sie zu erzählen. Niemand außer ihrer Zwillingsschwester July wusste, was sie in ihr Tagebuch schrieb. April, die als Erstgeborene die verantwortungsbewussteste Schwester war, respektierte ihre Privatsphäre zu sehr, um sie danach zu fragen, und May – die Zweitgeborene, die keine solche Bedenken hatte – hatte möglicherweise nur am Rande bemerkt, wie sich die Seiten immer mehr füllten. Ihre Zwillingsschwester bekräftigte sie in ihrem geheimen Traum, es ihrem Vorbild Jane Austen gleichzutun und eines Tages ihren eigenen Lebensunterhalt als unabhängige Autorin bestreiten zu können. Auch wenn sie beide wussten, dass das ebenso unwahrscheinlich war wie der Gedanke, dass ihre Mutter einen der Gärtner an ihre Rosen ließ.
»Ich gehe spazieren«, sagte June, da sie den Gedanken plötzlich nicht mehr ertrug, noch eine Sekunde länger hier zu sitzen, während der Schweiß ihr über die Haut rann. »Möchte mich eine von euch begleiten?«
April blickte auf. »Ich nicht, es sei denn, du möchtest unbedingt Gesellschaft. Ich habe Mutter versprochen, vor dem Abendessen noch die Erde um die Rosensträucher zu prüfen.«
»Ich fürchte, ich ertrage den Gedanken nicht, mich auch nur einen Millimeter zu bewegen«, murmelte May. Sie wedelte sich mit ihrem Fächer etwas kühle Luft ins Gesicht, ohne dabei die Augen zu öffnen.
»July?«
»Das klingt herrlich.«
Nur wenig später schlenderte June neben ihrer Zwillingsschwester am Teich entlang, wo der Wind tatsächlich kleine Kreise auf der Wasseroberfläche zog und ihnen angenehm ins Gesicht wehte.
»Findest du, dass Andrew und Henry sich verändert haben?«, fragte June nach einem Moment des Schweigens.
Sie und July brauchten nicht viele Worte und genossen manchmal lieber eine einvernehmliche Stille.
»Sie haben sich tatsächlich sehr verändert, aber ich denke, wir machen auf sie denselben Eindruck«, erwiderte July. »Es gab bereits große Unterschiede, als wir noch zwölf und sie fünfzehn und sechzehn waren, aber mit siebzehn und achtzehn sind sie endgültig zu Männern geworden.«
»Ich weiß.« June seufzte. »Ich hatte wohl gehofft, dass unsere Vertrautheit miteinander uns noch ein letztes Mal ermöglichen würde, uns wie Kinder und nicht wie junge Erwachsene zu verhalten.«
July lächelte. »Ich denke, erwachsen zu werden, ist für alle ein wenig schmerzhaft. Aber vielleicht findet unsere kleine Gruppe neue und bessere Wege, miteinander umzugehen. Versuch also, nicht zu enttäuscht darüber zu sein, dass du nicht länger ohne Anstandsdame auf dem Grundstück herumtoben kannst.«
Nach einer Weile kehrten sie zum Haus zurück, da es vermutlich bald Zeit für das Abendessen war. Ihre Familien hatten sich bereits im Salon versammelt, wo April auf dem Pianoforte spielte, eine Aufgabe, die sie dankbar an July abtrat, sobald sie sie erblickte.
In diesem Moment fiel June ein, dass sie ihr Tagebuch im Garten hatte liegen lassen. Vermutlich hatte eine ihrer Schwestern es mitgenommen, doch sie wollte sie nicht fragen und ihre Aufmerksamkeit dadurch von dem wunderschönen Spiel ihrer Zwillingsschwester ablenken, daher beschloss sie, selbst nachzusehen. Die Bank, auf der sie gesessen hatte, war tatsächlich leer. Sie blieb kurz stehen, sog den süßen Duft des Flieders ein und lauschte dem Zwitschern der Vögel in den hoch aufragenden Eichen, ehe sie wieder ins Haus ging. Vermutlich hatte April ihr Tagebuch mitgenommen, immerhin wusste sie, wie wichtig es June war.
»Ich weiß nicht, was ich sagen oder tun soll, nun, da wir an der Schwelle zum Erwachsensein stehen. Ich weiß, es ist der Lauf der Dinge, doch ich wünschte dennoch, es gäbe eine Möglichkeit, dass sich nichts ändert.«
Junes Herz machte einen Satz, als sie ihre eigenen Worte hörte – Worte, die sie erst an diesem Nachmittag geschrieben hatte. Worte, die sie jetzt nicht länger in ihrer eigenen Stimme im Kopf hörte, sondern in Andrews tiefem, vollem Bariton.
Wie von selbst führten ihre Füße sie in den Salon, wo ihre beiden Familien saßen – abgesehen von ihrer Mutter und Tante Violet, die vermutlich noch die letzten Vorbereitungen für das Abendessen überwachten. Ihr Vater und Mr Radcliffe waren im Raum, schienen jedoch tief in ihr Gespräch vertieft und achteten daher nicht auf die Albernheiten ihrer Kinder.
Alle anderen hingegen lauschten Andrews Vortrag aus dem Tagebuch.
Ihrem Tagebuch.
Ein Großteil der Einträge waren lediglich ihre fantasievollen Versuche an Prosa, doch gelegentlich nutzte sie es auch, um ihre eigenen Gefühle zu entwirren. Genau das hatte sie auch heute im Garten getan: die neue Realität ihrer Beziehung zu den Radcliffes verarbeitet.
»Natürlich«, fuhr Andrew fort, der seine Stimme höher klingen ließ, um ihre zu imitieren, »sind die Jungen zu sehr gut aussehenden Gentlemen herangewachsen, besonders Andrew.«
Er klimperte mit den Wimpern, was Henry laut auflachen ließ und selbst May und Emma ein leises Kichern entlockte. April und July wirkten entsetzt, waren jedoch wie festgefroren und machten keinerlei Anstalten, Andrew das Buch abzunehmen.
June wusste nicht, ob sie schreien oder weinen, dieser Situation entfliehen oder sich auf Andrew stürzen wollte, um ihm ihre tiefsten Gedanken und Gefühle aus den Händen zu reißen. Sie war wie erstarrt. In ihren Ohren rauschte es, kaum ein Laut drang zu ihr durch, während Andrew noch mehr ihrer Gedanken vorlas – Gedanken über ihn, die sie in einer Million Jahre nicht in seiner Gegenwart ausgesprochen hätte.
»Ich weiß, July kann mein Gefühlschaos nicht wirklich nachvollziehen.«
Es war der Name ihrer Schwester, der ihre Schockstarre durchbrach und sie schließlich vorwärts trieb. June konnte sich nicht mehr daran erinnern, was genau sie in dem folgenden Absatz geschrieben hatte, doch eins war klar: Es gab Geheimnisse zwischen diesen Seiten, die nicht ihr gehörten.
»Gib es zurück«, verlangte sie und versuchte, die Tränen zurückzuhalten, die sich in ihren Augen sammelten.
»Aaah, gerade jetzt, wo es spannend wird«, sagte Andrew gedehnt und sah von der Seite auf, um ihren Blick zu erwidern. Ein verschmitztes Funkeln lag in seinen Augen, das jedoch von Unsicherheit überschattet wurde, als er ihren Gesichtsausdruck wahrnahm.
June konnte ihr eigenes Gesicht natürlich nicht sehen, doch angesichts der Welle an Wut, Verrat, Demütigung und Angst, die durch ihren Körper rauschte, konnte sie es sich gut vorstellen.
Andrew setzte schnell wieder eine amüsierte Maske auf und schloss das Buch. Anstatt es ihr zurückzugeben, hielt er es sich jedoch an die Brust, als würde er sich zwar damit einverstanden erklären, es nicht weiter vorzulesen, sich aber später noch genauer damit beschäftigen wollen.
Die Tränen trotzten nun doch ihren Bemühungen und rannen ihr langsam die Wangen hinunter.
Andrew wurde blass, hielt sein lockeres Halblächeln aber aufrecht, als würde er ein Theaterstück aufführen. Daran änderte sich auch nichts, als sie die Hand ausstreckte und ihre Bitte – ihre Forderung – leise wiederholte.
Die Tatsache, dass er derart abwertend die Augen verdrehte, war wie ein Schlag in den Magen. Dass dieser Junge – dieser Mann –, der einst einer ihrer liebsten Spielkameraden und engsten Freunde gewesen war, sie nun auf diese öffentliche Art und Weise demütigte und dann so tat, als wäre sie diejenige, die überreagierte, schmerzte wie nichts, was sie jemals empfunden hatte. Sie hatte bereits Auseinandersetzungen mit ihren Schwestern gehabt, Meinungsverschiedenheiten mit ihrer Mutter und mit anderen Bekanntschaften von den Höfen in der Umgebung, doch Andrew … Sie hatte gedacht, er wäre anders. Eine verwandte Seele.
Als Andrew ihr das Buch schließlich doch zurückgab, fiel die Stille im Raum in sich zusammen. Die anderen fingen an, sich leise zu unterhalten, und einen Moment später betrat der Diener den Salon und bat sie alle zum Abendessen.
Während das Geräusch von Schuhen auf dem Teppich und das Rascheln der Kleider die Luft erfüllte, wandte Andrew sich mit hochgezogener Augenbraue zu ihr um. »Du schreibst, wie sehr du erwachsen geworden bist, aber alles, was ich sehe, ist ein kleines Mädchen mit Tränen auf den Wangen.«
Er hätte sie ebenso gut schlagen können.
»Wie es scheint, habe ich mich geirrt, du bist weit davon entfernt, ein echter Gentleman zu sein«, zischte sie, als es ihr endlich gelang, den Schmerz abzuschütteln und Platz für Empörung zu machen. »Du wirst dich vermutlich nicht einmal für deinen schrecklichen Vertrauensbruch und das Eindringen in meine Privatsphäre entschuldigen.«
Andrew lachte – er lachte tatsächlich. »Es war nur ein kleiner Scherz, Junie. Ein bisschen Spaß, um die Zeit bis zum Abendessen zu vertreiben. Schließlich haben wir doch keinerlei Geheimnisse voreinander.«
Die Tatsache, dass er das Bedürfnis hatte, ihre privaten Gedanken vorzulesen, bewies das Gegenteil, doch June hielt sich nicht mit der Frage auf, warum er solches Interesse an dem hatte, was zwischen diesen Seiten stand. Hätte er nur wissen wollen, was sie geschrieben hatte, hätte er es ebenso gut allein im Garten lesen können, und niemand hätte je etwas davon erfahren.
Die Vorstellung brachte ihre Wangen zum Glühen.
Andrew lachte leise, als er ihre Hand tätschelte. June riss ihre Finger zurück und kämpfte gegen den Drang an, ihn zu schlagen. Es war eindeutig, dass er sich nicht entschuldigen würde oder nachempfinden wollte, wie sehr sein übergriffiges Verhalten sie verletzt hatte.
In nur wenigen Augenblicken zerbrach all ihre Zuneigung für ihn, all ihr Vertrauen in ihn und – wenn sie ehrlich war – auch all ihr Vertrauen in die Menschen außerhalb ihrer Familie.
Auf einmal fühlte sie sich sehr erwachsen – auf die schlimmste Art und Weise.
KAPITEL 1
June
Die Kutschfahrt zum Hochzeitsfrühstück im Garten der Radcliffes war für June eine willkommene Abwechslung, nachdem sie sich während der Zeremonie im hinteren Teil der Kirche versteckt hatte, damit Andrew und Henry Radcliffe sie nicht bemerkten.
Es war ein Schock gewesen, die beiden Brüder so unerwartet wiederzusehen, hatte sie doch gehofft, sich ganz auf den Moment konzentrieren zu können, in dem ihre liebste Freundin Emma und deren Kindheitsschwarm Edward sich das Ja-Wort gaben. June war davon ausgegangen, dass sie noch mehr Zeit haben würde, sich auf ein Aufeinandertreffen mit den Brüdern vorzubereiten, da Tante Violet gemeint hatte, ihre Söhne würden nicht rechtzeitig zur Hochzeit zurückkehren.
Immerhin hatte ihr überraschendes Auftauchen Emma zutiefst glücklich gemacht. Und nur aus diesem Grund war es June gelungen, ihre Haltung zu wahren.
Gerade so.
An diesem Tag ging es schließlich um Emma, nicht um die Demütigung, die Andrew Radcliffe ihr vor drei Jahren zugefügt hatte.
Tatsächlich war Henry, wie sie später erfahren hatte, ebenfalls an dem Diebstahl des Buches beteiligt gewesen, weshalb sich ein Teil ihrer Wut auch auf ihn richtete. Ein sehr großer Teil, um ehrlich zu sein. Schließlich sollte er die Stimme der Vernunft für seinen älteren Bruder sein – so, wie July es für June war.
Nun musste June sich auf einen Schlag damit abfinden, dass sie sowohl Henry als auch Andrew von nun an täglich sehen würde. Ihre zwei älteren Schwestern April und May wohnten bereits seit Beginn der Saison auf dem Anwesen der Radcliffes, und da sie und July den Rest der Saison ebenfalls in London verbringen würden …
»Wir haben euch beide während der Zeremonie auf euren Plätzen vermisst«, sagte April spitz und unterbrach Junes Gedanken. April sah wunderschön aus in ihrem fliederfarbenen Kleid, ein maßgeschneidertes Geschenk von ihrem Verlobten Nathaniel, und obwohl sie June jetzt eingehend musterte, konnte sie nicht verbergen, wie glücklich sie war. Ihre sonst so gleichmütige Schwester hatte in den letzten Tagen kaum aufgehört, zu lächeln.
»Hast du etwa vermisst, dass noch eine weitere Person davon schwärmt, wie wunderhübsch die Blumenarrangements sind?«, scherzte June in der Hoffnung, ihre älteste Schwester so ablenken zu können. »Ich konnte sie vom hinteren Ende der Kirche sehen, und du hast dich wirklich selbst übertroffen.«
Aprils Lächeln wurde breiter. »Es ist alles viel besser gelaufen, als ich es gedacht hätte.«
»Unsere April könnte ihr eigenes Geschäft eröffnen, wenn sie denn wollte«, fügte May hinzu, die mit April um die Wette strahlte. »Das ist die zweite Hochzeit, und jede war noch schöner, als die Braut zu träumen gewagt hätte.«
»Ich bin heute Morgen durch den Garten spaziert, bevor wir zur Kirche aufgebrochen sind«, sagte July, und ihre leise Stimme brachte etwas Ruhe in das Innere der Kutsche. »Die Arrangements beim Frühstück werden ebenfalls jeden einzelnen Gast sprachlos zurücklassen.«
»Ihr seid alle viel zu freundlich. Ich werde das Wissen, das ich mir angeeignet habe, nutzen, damit meine eigene Hochzeit – und deine, May – perfekt werden und danach meine Dienste pausieren, bis ihr beide sie braucht.« April schenkte June und July ein warmes Lächeln.
June erwiderte es, obwohl sie deutlich spürte, wie ihre Zwillingsschwester sich neben ihr versteifte. Sie tätschelte Julys Hand. »Das hoffe ich. Da ihr beide bereits so schnell solch vorteilhafte Verbindungen eingegangen seid, haben July und ich zumindest noch den Rest der Saison, um Kontakte zu knüpfen und uns einen Überblick zu verschaffen.«
May nickte heftig. »Ich denke, nicht einmal unser Onkel hätte etwas gegen diese Logik einzuwenden.«
June hatte nicht erwartet, dass April so schnell einen Verehrer finden würde – keine von ihnen hatte geahnt, dass sie Nathaniel Pembroke bereits gekannt und geliebt hatte, bevor sie in dieser Saison nach London gekommen war. Dass ihre zweitälteste Schwester ebenfalls eine Partie gefunden hatte, war genauso eine Überraschung gewesen, doch nachdem June sowohl Nathaniel als auch Matthew kennengelernt hatte, hatte sie keinerlei Einwände.
»Hätte er vielleicht schon«, wandte June ein. »Doch wir sind gerade erst nach London gekommen, und Vater und dem Hof geht es einigermaßen gut. Ich wage sogar zu behaupten, dass wir diese Saison genießen und erst nächstes Jahr ernsthaft auf die Suche gehen können.«
Es war ein Aufschub für July, jedoch keine Begnadigung.
Dennoch, es gab June ein Jahr Zeit, um nach einer Möglichkeit zu suchen, wie sie ihre Schwester vor einer lieblosen Ehe retten konnte und damit vor einer Zukunft, in der sie niemals wirklich sie selbst sein konnte.
»Unser Onkel hätte gegen alles und jeden etwas einzuwenden«, stimmte April zu. »Doch wir haben einen guten Anfang gemacht, um seine Forderung zu erfüllen.«
Ihr Onkel hatte darauf bestanden, dass die Mädchen in der Reihenfolge ihrer Geburt heirateten, um das Erbe ihrer Mutter zu erhalten, das als Mitgift für ihre Heirat zur Seite gelegt worden war und von ihm verwaltet wurde.
Eine lächerliche Bedingung, jedoch eine, die ihm seiner Meinung nach nach dem Tod ihrer Mutter zustand. Er hatte Mary Campbell nie verziehen, dass sie vor ihren älteren beiden Schwestern geheiratet und sie somit – seiner Meinung nach – zu einem Leben als einsame Jungfer verdammt hatte.
»Ich vermute, Vater würde auch nicht in Betracht ziehen, Geld von den Pembrokes oder Talbots anzunehmen, um uns aus diesem Spiel zu befreien, das keine von uns freiwillig spielt?«, fragte July leise, doch in der kleinen Kutsche hallten ihre Worte überdeutlich nach.
Die Männer, die das Herz ihrer Schwestern erobert hatten, hatten reichlich Geld, und sie waren beide großzügig genug, um den Vater ihrer Frau finanziell zu unterstützen. April und May mochten sich vielleicht nicht wohl dabei fühlen, schon so kurz nach der Verlobung darum zu bitten, doch in der Zukunft wäre es definitiv eine Möglichkeit.
May schnaubte, und June kannte die Antwort schon, bevor ihre Schwester sie aussprach: »Vater und Almosen akzeptieren? Er würde eher in einer Höhle leben und ohne jeden Penny sterben.«
April schürzte die Lippen. »Auch wenn es keinen Grund gibt, es derart bildhaft und schmerzvoll zu beschreiben, muss ich zustimmen. Nathaniel und Matthew würden Vater sofort unterstützen, und May und ich haben bereits darüber gesprochen, Vater zu bitten, den Hof zu verkaufen und bei uns zu wohnen, sobald wir uns niedergelassen haben. Doch schließlich kamen wir darin überein, dass er nichts davon würde hören wollen.«
June hatte schon geahnt, dass es nicht so einfach werden würde. Nicht, dass es einfach wäre, gute Partien für vier Töchter aus eher bescheidenen Verhältnissen zu finden, doch immerhin sah ihr Vater das rechtmäßige Erbe ihrer Mutter nicht als Almosen. Es war für seine Töchter, und auch wenn es ihm nicht gefiel, er würde ihre Hilfe nicht ausschlagen, wenn sie darauf bestünden.
Die Kutsche hielt vor dem Anwesen der Radcliffes, wo schon ein Dutzend weiterer Kutschen versammelt war und Kutscher und Diener auf ihren Einsatz warteten, während sie sich um die Pferde kümmerten oder sich in der Spätvormittagssonne unterhielten.
Als die Schwestern aus der Kutsche stiegen, zog April June zur Seite und ließ die anderen vorgehen.
»Denk nicht, ich hätte vergessen, dass du und July bei der Zeremonie am hinteren Ende der Kirche herumgeschlichen seid. Warum seid ihr nicht zurückgekommen?«
June seufzte. Sie wusste, dass es keinen Sinn hatte, ihre große Schwester anzulügen, die nahtlos in die Fußstapfen ihrer Mutter getreten war. »Ich hatte nicht damit gerechnet, Andrew und Henry zu sehen.«
»Ja, das war für alle eine Überraschung. Für Emma eine besonders freudige.« April legte die Stirn in Falten. »Du bist immer noch gekränkt wegen dem, was bei ihrem letzten Besuch vorgefallen ist?«
»Ja.« June wusste nicht, was sie sonst hätte sagen sollen. Ihr wurde bewusst, dass es für alle anderen keine große Sache war, dass Henry ihr Tagebuch gestohlen und Andrew daraus vorgelesen hatte, doch der Schmerz über ihren Vertrauensbruch saß tief, wie ein Holzsplitter, der nie herausgezogen wurde.
»Ich kann es dir nicht verübeln. Unsere innersten Gedanken sollten privat bleiben, und ich weiß, du hast Andrew als Freund gesehen und ihm vertraut.«
»Danke für deine Worte.« Drei Jahre war es inzwischen her, und June war überrascht, dass sich beim Gedanken daran noch immer Tränen in ihren Augen sammelten. Sie verfingen sich hartnäckig in ihren Wimpern, selbst als sie versuchte, sie wegzublinzeln. »Ich sollte darüber hinwegkommen, doch …«
»Ohne Entschuldigung?« April lächelte wissend, als June ihren Blick einfing, ehe sie einen Arm um ihre Schultern legte und sie sanft drückte. »Lass es dir von jemandem sagen, der diese Lektion ebenfalls noch lernt: Du musst nicht immer diejenige sein, die vergibt. Manchmal verdient die andere Person es einfach nicht.«
Sie schritten durch die opulente Eingangshalle der Radcliffes, und zum ersten Mal, seit June die Brüder auf der Hochzeit gesehen hatte, hatte sie das Gefühl, ihnen tatsächlich gegenübertreten zu können. Sie war inzwischen drei Jahre älter, und selbst mit fünfzehn war sie schon erwachsener gewesen als Andrew. Er schien sich nicht verändert zu haben, doch sie schon.
Dieses Mal würde er sie nicht weinen sehen.
Obwohl sich June schon bei dem Gedanken unwohl fühlte, den Radcliffe-Brüdern erneut nahe zu sein, würde sie keine Szene machen. Sie würde ihrer lieben Freundin Emma nicht die Aufmerksamkeit stehlen, nicht heute. Sie würde sich von Andrew und Henry Radcliffe nicht dazu hinreißen lassen, sich ebenso unsensibel und egoistisch zu verhalten, wie die beiden es vor drei Jahren getan hatten.
Daher hakte sie sich bei April unter und trat mit erhobenem Kopf in den üppigen Garten. Sie setzten sich zu ihren Schwestern an einen Tisch, der für acht Personen gedeckt war, wobei die anderen Stühle noch frei waren.
June konzentrierte sich auf die Blumenarrangements und den Garten anstatt auf die anderen Gäste. Sie ließ den Blick über die hellgrünen Blätter und die unglaublich farbenfrohen Blüten schweifen. Es war erstaunlich, wie der Garten zu etwas geworden war, das direkt aus einem der Märchen entsprungen sein könnte, die sie in ihrer Kindheit so sehr geliebt hatte.
Ihr entging Aprils zufriedener Gesichtsausdruck nicht, während sie auf Emma und Edward warteten, und sie drückte Aprils behandschuhte Hand. »Das ist der wunderschönste Garten, den man sich vorstellen kann, April. Dein Talent ist in der Blumenauswahl eindeutig zu erkennen.«
April wurde rot, und Freude funkelte in ihren haselnussbraunen Augen. »Danke. Ich kann nur hoffen, dass meine eigene Hochzeit ohne den außergewöhnlichen Garten der Radcliffes zumindest halb so schön wird.«
June hörte auch das, was zwischen den Zeilen mitschwang: dass Aprils Hochzeit ohne das Geld der Radcliffes auch nicht annähernd so groß werden würde.
Ihr eigener Garten war genauso wunderschön wie dieser, wenn nicht sogar noch schöner, aber ihr bescheidener Hof war kein Ort für die feine Gesellschaft. Aprils Verlobter war zwar durchaus vermögend, doch wegen des schlechten Verhältnisses zwischen ihm und seiner Schwägerin war April unsicher, ob sie ihre Hochzeit auf seinem Anwesen auf dem Land, auf dem sie sich kennengelernt hatten, feiern konnten.
Im Garten wurde es still, als Emma erschien. Sie strahlte nach wie vor, und ihr Kleid stand ihr einfach perfekt. Sie sah aus wie ein Engel, als sie auf den Tisch vor einer riesigen violetten Hortensie zutrat, der für sie und Edward reserviert war. Die Blüten und Gräser in ihrem Haar standen für Liebe, Glück und Zufriedenheit und für die Hoffnung auf gesunde Erben in ihrer gemeinsamen Zukunft mit Edward.
Der Bräutigam war ebenfalls adrett gekleidet, und er schien an keinem Ort der Welt lieber sein zu wollen als hier. Seine Augen glänzten feucht, als er seine Braut betrachtete, und das Lächeln auf seinem Gesicht war ansteckend. Der Garten erwachte unter der Vormittagssonne zum Leben, der Tau trocknete auf den grünen Farnwedeln und zarten Blüten, bis alles in strahlende Farben getaucht und vom süßen Duft der unterschiedlichen Sommerblüten umhüllt wurde.
Der wunderschöne Augenblick trieb June nun ebenfalls die Tränen in die Augen. Ein Teil ihrer Emotionen war der Freude darüber geschuldet, dass Emma endlich die Liebe ihres Lebens geheiratet hatte. Ein Teil dem Wissen, dass ihre älteren Schwestern es ihr bald gleichtun würden, und ein kleiner Teil galt ihrem eigenen Herzen, das sich zwar danach sehnte, in ihre Fußstapfen zu treten, doch nach wie vor nicht wusste, ob da draußen dasselbe Glück auch auf sie wartete.
Andrew hatte ihr vor drei Jahren die Fähigkeit genommen, anderen zu vertrauen, und das würde ein Hindernis werden, wenn es darum ging, jemandem ihr Herz zu öffnen.
Noch mehr schmerzte es June allerdings, in was für eine Lage das Ultimatum ihres Onkels ihre Zwillingsschwester zwang. Sie tastete nach Julys Hand und verschränkte ihre Finger mit ihren, und die beiden hielten einander so fest, dass June nicht umhin kam, sich zu fragen, ob die Gedanken ihrer Schwester in die gleiche rührselige Richtung gewandert waren wie ihre eigenen. Oft waren die Schwestern intuitiv in einer ganz ähnlichen Gedankenwelt unterwegs, weshalb sie keine Worte brauchten, um einander zu verstehen.
Als June den Kopf hob, um ihre wehmütigen Gedanken abzuschütteln, sah sie, dass Henry gerade auf sie zukam. Ein schüchternes Lächeln lag auf seinen Lippen.
»Die Campbell-Schwestern«, sagte er und verbeugte sich kurz. »Es freut mich sehr, euch hier in London wiederzusehen.«
»Vielen Dank, Henry«, erwiderte April, die ihn bereits mit einem Lächeln erwartet hatte. »Uns freut es ebenso.«
»Ja, Tante Violet meinte, du und Andrew würden es nicht schaffen, rechtzeitig zur Hochzeit zurückzukehren«, fügte May hinzu.
Die herzliche, warme Begrüßung, mit der ihre älteren Schwestern Henry in Empfang nahmen, machte June deutlich, dass sie tatsächlich die Einzige war, die sich noch an die Demütigung von damals klammerte. An den Vorfall in ihrer Jugend, der bei ihr die tiefsten Narben hinterlassen hatte, während alle anderen ihn lediglich als unbedeutendes Ereignis sahen, das June nicht ganz so amüsant gefunden hatte.
Einen Augenblick später trat auch Andrew zu ihnen und zog den Stuhl neben Henrys zurück. Waren sie für diesen Tisch zugeteilt worden, oder war das bloß ein schrecklicher Zufall?
Andrew brauchte einen Moment, um sie wiederzuerkennen, immerhin waren Jahre vergangen, seit sie einander das letzte Mal gesehen hatten, und alle hatten sich sehr verändert. June hätte ihn jedoch überall wiedererkannt, selbst wenn ein Jahrhundert vergangen wäre, die kalte Wut und der heiße Stich der Demütigung, der sie durchzuckte, waren unverkennbar.
»Ah, wenn das nicht die vier Campbell-Schwestern sind, ihr seid ganz schön erwachsen geworden«, sagte er und setzte ein Lächeln auf, das so entwaffnend war, dass es sicherlich jede Frau verzaubert hätte, die seinen Charakter noch nicht kannte. »Welch eine Freude, dass wir rechtzeitig nach Hause zurückgekehrt sind, um unsere Bekanntschaft wieder aufleben zu lassen.«
»Andrew«, erwiderte May höflich. »Welch angenehme Überraschung.«
Genau wie June hatte auch May in ihrer Kindheit Andrew näher als seinem Bruder gestanden. Alle drei hatten dazu geneigt, Unruhe zu stiften und den anderen Sorge zu bereiten, wenn mal wieder niemand wusste, wo sie sich aufhielten und was genau sie vorhatten.
June biss die Zähne aufeinander, als die Brüder es sich bequem machten. Sie hatten eindeutig vor, an ihrem Tisch zu essen. Sie sah sich um, musterte die anderen Gäste, die umherschlenderten und das Grundstück bewunderten oder sich leise unterhielten, während sie versuchte, sich zu beruhigen. Sie durfte jetzt nicht die Fassung verlieren. Nicht, wenn sie beweisen wollte, wie erwachsen sie geworden war. Und nicht, wenn sie ihm nicht die Genugtuung geben wollte, dass sie nach all den Jahren nach wie vor an das dachte, was er getan hatte.
Andrews Blick wanderte über die Schwestern und kam schließlich auf ihr zu liegen. »Das kann unmöglich die kleine Junie sein. Du hast dich … verändert.«
Sie konnte nicht verhindern, dass sich ihre Lippen missbilligend verzogen. Der Kosename war ihr bereits unliebsam gewesen, bevor er – mit einer einzigen Tat – nicht nur ihren allerletzten Rest Vertrauen in andere, sondern auch ihr einstiges Vorhaben, ihr Leben dem Schreiben von Romanen zu widmen, zerstört hatte.
»Das möchte ich doch hoffen. Es sind immerhin beinahe drei Jahre vergangen, Andrew.« Sie musterte ihn abwägend, wobei sie sich weigerte, anzuerkennen, dass sein Kiefer noch markanter geworden war, seine Schultern noch breiter, ganz zu schweigen davon, wie er sogar im Sitzen um einiges größer war als Henry, der selbst alles andere als klein war. »Doch wie mir scheint, bist du immer noch der Gleiche.«
Henry lachte auf, woraufhin er einen vernichtenden Blick von seinem Bruder erntete. June bemerkte hingegen, dass May sie neugierig musterte. Ihre Stirn hatte sich in Falten gelegt, als versuchte sie, sich daran zu erinnern, ob es einen Grund dafür gab, warum June zu den Söhnen ihrer Gastgeber so unhöflich war.
»Nun, ich hoffe, du und July seid gewillt, den Rest der Saison etwas Zeit mit mir zu verbringen«, sagte Henry mit einem freundlichen Lächeln. »Wir sind so spät zurückgekehrt, dass ich nicht sicher bin, ob noch viele Damen einen freien Platz auf ihrer Tanzkarte haben.«
»Einige werden schon noch einen haben«, erwiderte Andrew. Seine unbeschwerte Miene verriet, dass er Junes Kommentar bereits vergessen hatte.
Seine Unbeschwertheit erregte erneut ihren Unmut. »Wir werden sehen. July und ich sind gerade erst angekommen, und wir wollen die verlorene Zeit aufholen.«
Andrews Blick verhakte sich mit ihrem. Ein überraschter Ausdruck lag in seinen Augen, der noch größer wurde, als er die Herausforderung in ihrer Miene wahrnahm. Vermutlich erinnerte er sich nicht mehr daran, was mit ihrem Tagebuch vorgefallen war, oder er ging einfach davon aus, dass die Zeit ihre Wunden geheilt hatte und der Vorfall erledigt war. Wie dem auch sei, sie würde ihm weder die Genugtuung geben und ihm ihre Gefühle zeigen, noch würde sie erneut den Fehler begehen, ihm zu vertrauen.
Sobald June sich mit der Ausrede, die blühenden Rosen sehen zu wollen, vom Frühstück loseisen konnte, flüchtete sie tiefer in den Garten hinein. Das Essen war weiterhin in vollem Gange, niemand wollte den Kreis aus Freude und Freundschaft, den die Radcliffes geschaffen hatten, als Erstes verlassen.
Die Rosen leuchteten in einem tiefen Rot und in den verschiedensten Rosatönen, ihre hellen und weichen Blüten hoben sich deutlich von den rauen Rändern der grünen Blätter und braunen Dornen ab. Die blassrosanen, die sie sonst nur aus dem Garten ihrer Mutter kannte, waren ihr schon immer die Liebsten gewesen.
»June?«, erklang eine tiefe Stimme hinter ihr.
Sie wirbelte herum, das Herz schlug ihr bis zum Hals, und sie presste eine Hand an ihre Brust. Es war bloß Henry, doch wieso sie ihn nicht hatte kommen hören, war ihr ein Rätsel.
»Meine Güte«, sagte sie. »Du hast mich erschreckt.«
»Verzeihung. Ich wollte mich nicht anschleichen.« Eine Sorgenfalte erschien zwischen seinen Augenbrauen. »Ich wollte dir bloß sagen, dass ich mich immer schlecht gefühlt habe, weil ich mich nie für den Vorfall damals entschuldigt habe. Ich war jung, und es war unbedacht von mir, dein Tagebuch ungefragt zu nehmen.«
June presste die Lippen aufeinander. Sie konnte keine Spur von Spott in seiner ernsten Miene erkennen. Er erwiderte ihren Blick, und in seinen blauen Augen lag nichts als Reue. Er schien keinerlei Erwartung zu haben, wie sie auf seine Entschuldigung reagieren sollte. Und er schien ehrlich zu bedauern, welche Rolle er bei ihrer Demütigung gespielt hatte.
Die angemessene Reaktion wäre, ihn von seiner Schuld freizusprechen. Doch ihr war nicht danach zumute. Trotzdem, der Großteil ihrer Wut hatte immer Andrew gegolten – und das zurecht, wie ihr schien. Also seufzte sie, konzentrierte sich darauf, dass es Henry tatsächlich ernst meinte mit seiner Entschuldigung, und setzte ein Lächeln auf. »Danke für deine Worte. Es ist lange her.«
»Da gebe ich dir recht.« Er wirkte erleichtert, als er ihr seinen Arm anbot. »Würdest du mich zu einem Spaziergang durch den Garten begleiten, bevor wir zur Feier zurückkehren? Es ist heute nicht so warm wie gedacht.«
June nahm Henrys Einladung mit einem Nicken an, ehe sie sich bei ihm unterhakte und sich tiefer in den Garten führen ließ.
»Wie waren deine Reisen im Ausland, Henry?«, fragte sie einen Moment später, um etwas zu haben, worüber sie sich unterhalten konnten.
Natürlich hatten sie beide einander als Kinder gekannt, doch sie hatten nie so viel gemeinsam gehabt. Allerdings waren sie tatsächlich deutlich erwachsener geworden. Möglicherweise fanden sie ein interessantes Gesprächsthema und es würde dieses Mal anders sein als damals.
Henry war nicht so groß und breit gewachsen wie sein Bruder, doch diese Tatsache schmälerte seine Attraktivität nicht im Geringsten. Sein weniger arrogantes Auftreten und seine Bereitschaft, für seine Fehler Verantwortung zu übernehmen, machten ihn in Junes Augen sogar noch attraktiver als Andrew.
»Es war eine wahre Freude, aus London hinauszukommen und mehr von der Welt zu sehen«, erwiderte er, auch wenn sein fröhlicher Ton nicht ganz seine Augen erreichte. »Wir haben unterwegs viele neue Freundschaften geschlossen und gleichzeitig etwas über die Geschäftsinteressen unserer Familie gelernt.«
»Das klingt nach einer ergiebigen Reise. Und wie schön es sein muss, mit seinem Bruder reisen zu können. Ich würde mit July auch sehr gern mehr von der Welt sehen, wenn ich die Möglichkeiten dazu hätte.«
»Und deine Schwester? Wäre sie eine gewillte Reisebegleitung?«
June warf ihm einen prüfenden Blick aus ihren haselnussbraunen Augen zu, während sie sich fragte, worauf er hinauswollte. Doch in seiner Miene lag nichts als ehrliche Neugier.
»Ich nehme es an. Es ist ihr großer Wunsch, einmal die Welt zu sehen. In erster Linie, um herauszufinden, wo am meisten Hilfe benötigt wird.« Ein Lächeln zupfte an ihren Mundwinkeln, trotz ihrer Entschlossenheit, Henry nur die nötigste Höflichkeit entgegenzubringen. »Es wäre natürlich schöner, wenn alle meine Schwestern mitkommen könnten, doch wie es scheint, werden uns April und May bald verlassen.«
July war schon immer ihre engste Vertraute gewesen, ebenso wie umgekehrt. An ihrer Beziehung würde sich auch nie etwas ändern. Denn June würde keinen Verehrer akzeptieren, der es July nicht erlaubte, Teil ihrer neuen Familie zu werden und in ihrem neuen Zuhause zu kommen und zu gehen, wie es ihr beliebte. Auf diese Weise würde sie ihre Schwester davor bewahren, eine Lüge leben zu müssen: ein Leben, in dem sie so tun müsste, als wäre sie mit einem Mann an ihrer Seite glücklich, obwohl sie das nur mit einer Frau sein könnte.
»Es muss sehr schön sein, eine so enge Beziehung zu seinen Geschwistern zu haben.« Henrys Stimme nahm einen wehmütigen Ton an, der Junes Neugier weckte.
»Hatten du und Andrew einen Streit? Soweit ich mich erinnere, wart ihr als Kinder wie Pech und Schwefel.«
Zumindest waren sie das gewesen, als es um die harmlosen und zugegebenermaßen amüsanten Streiche gegangen war, die die beiden ihr bei ihren Besuchen auf dem Land gespielt hatten. Junes Mutter hatte angemerkt, dass ihre Freundschaft eines Tages zu mehr werden könnte, doch June hatte es nicht verstanden.
»Aber Mama, warum sollten wir etwas anderes sein wollen? Ich mag es, dass wir Freunde sind.«
»Ja, ich weiß. Und eines Tages wirst du erkennen, dass die besten Beziehungen genau so beginnen, mein kleiner Schatz. In der Zwischenzeit ignorier die Jungen, wenn ihre Streiche dich ärgern. Es wird ihnen guttun.«
»Ich versuche es.« June sah aus dem Fenster und beobachtete April, die Unkraut im Garten jätete, während May ausgestreckt auf der Bank lag und einen Roman las.
Ihre Mutter legte die Hand auf Junes Kopf, und das vertraute Gewicht hatte eine beruhigende Wirkung auf sie. Ebenso wie das sanfte Ziepen, als ihre Mutter mit den Fingern die Knoten entwirrte, die der Wind in ihre Haare gedreht hatte.
»Zerbrich dir nicht dein hübsches Köpfchen über die Radcliffe-Jungen, nicht heute und auch nicht morgen, mein Schatz. Geh und spiel mit deinen Schwestern. Sie sind diejenigen, die dein ganzes Leben für dich da sein werden.«
»Was ist mit meinem Ehemann?«, fragte June, während ihre Gedanken bereits zu ihrem Tagebuch wanderten und zu der Frage, ob sie über den heutigen Tag eine Geschichte schreiben konnte, die sie die Schikanen der Jungen vergessen ließ.
»Dein Ehemann wird sein Bestes tun, mein Schatz. Aber an den Tagen, an denen das nicht ausreicht, wirst du immer deine Schwestern haben.«
June hatte die Wahrheit in den Worten ihrer Mutter geahnt, sie jedoch abgetan, denn auf sie würden sie nicht zutreffen. Sie hatte fest daran geglaubt, einen Ehemann zu finden, der nicht nur attraktiv und wohlhabend war, sondern der sie auch so sehr liebte, dass er für sie ans Ende der Welt gehen würde, wenn sie ihn darum bat. In ihrer Vorstellung hatte nichts als seliges Glück auf sie gewartet.
Wie unglaublich naiv sie doch gewesen war.
»Andrew und ich sind uns nicht mehr so nahe wie früher«, sagte Henry leise. »Und doch kann ich mich als Reisebegleitung nicht über ihn beschweren.«
Die Antwort klang geübt und leer und so, als hätte Henry eigentlich sehr viele Beschwerden über seinen Bruder. Er schien jedoch erkannt zu haben, dass June und er einander nicht mehr gut genug kannten, um sich damit wohlzufühlen, sie laut auszusprechen.
June fand ebenfalls, dass sie einander nicht nahe genug standen, um ihn nach der Wahrheit fragen zu können, und trotz seiner Entschuldigung und ihrer Bereitschaft, höflich zu ihm zu sein, war sie nicht gewillt, auch nur einem der beiden Radcliffe-Brüder wieder näherzukommen. Es freute sie jedoch zu hören, dass Henry mit Andrew unzufrieden war, denn es bestätigte sie in ihrem Glauben, dass ihr Urteil gegenüber seinem älteren Bruder gerechtfertigt war. Es war beinahe, als würde Henry ihr erzählen, dass Andrew sich nicht verändert hatte – nicht in seinem tiefsten Inneren zumindest, wo es zählen würde.
»Worauf freust du dich am meisten in London?«, fragte Henry, während sie langsam durch den Garten schlenderten. »Die Saison ist zwar schon vorangeschritten, doch es gibt noch genug Aktivitäten, um sich die Zeit zu vertreiben.«
June spürte wieder dieselbe Begeisterung wie am Abend ihres erstes Balles in sich aufsteigen. »Oh, auf alles, denke ich. Nun da April und May glücklich und verlobt sind, sollte der Rest der Saison eine gute Möglichkeit sein, erste Erfahrungen zu sammeln, Kontakte zu knüpfen und die Zeit zu genießen.«
Er nickte. »Sehr weise. Wirst du deinen Schwestern dabei helfen, ihre Hochzeiten vorzubereiten?«
»Ja. Darauf freue ich mich ebenfalls sehr, auch wenn ich nicht so viel für die Hochzeitsplanung übrig habe wie April oder July.« Ihre Wangen wurden warm bei dem Geständnis, und sie zuckte mit den Schultern. »Ich bevorzuge das Endergebnis gegenüber der Detailarbeit.«
Henry lachte, und das lockere, tiefe Lachen erweckte in ihr das Bedürfnis, ebenfalls zu lächeln. »Es braucht alle möglichen Arten von Menschen, damit die Welt sich dreht, June Campbell. Und wenn es jene nicht gäbe, die die Feiern genießen wollen, wozu bräuchte es dann jene, die sie gern planen?«
June stimmte gegen ihren Willen in sein Lachen ein. Und aus irgendeinem Grund war sie erleichtert darüber, dass er sie nicht für oberflächlich hielt. Er schien sie zu »verstehen«, und vielleicht war dies ein Zeichen dafür, dass sie Henrys Gesellschaft dieses Mal der seines Bruders vorziehen würde.
Als sie noch Kinder gewesen waren, war sie May überallhin gefolgt, und wenn die Radcliffes zu Besuch gewesen waren, war May Andrew überallhin gefolgt, weshalb June den ruhigeren Henry nicht so gut hatte kennenlernen können.
Und nun schlenderten sie Seite an Seite durch den Garten, während die Luft um sie herum wärmer wurde. June war noch nicht ganz bereit, wieder zu den anderen zurückzukehren, doch als sie von den üppigen Pflanzen wegtraten und sich der Feier näherten, blieb Henry stehen.
June löste ihren Arm aus seinem, und als sie sich ihm zuwandte, lag wieder ein ernster Ausdruck auf seinem Gesicht.
»Danke, dass du so gnädig warst und meine Entschuldigung angenommen hast. Der Wunsch, mich zu entschuldigen, hat mich all die Jahre begleitet.«
Wenn das stimmte und es ihn tatsächlich derart gequält hatte, hätte er auch schreiben können. Doch vielleicht sagte das bloß die nachtragende Stimme in ihr.
Henry kehrte zur Feier zurück, nachdem er sich mit einem Kuss auf ihren behandschuhten Handrücken verabschiedet hatte, während June zurückblieb und über das Gespräch nachdachte, in dem Henry durchaus aufrichtig gewirkt hatte.
Tatsächlich war sie überraschenderweise sogar bereit, Henry für seine Rolle in allem zu vergeben. Sie hatte ihn nie so sehr dafür verurteilt, ihr Tagebuch gestohlen zu haben, wie Andrew dafür, daraus vorgelesen zu haben.
Als sie zu den anderen Gästen zurückkehrte, entdeckte sie den älteren Radcliffe-Bruder mitten im Getümmel, wo er sich lachend mit einem anderen Mann unterhielt, während er ein Glas umklammert hielt.
Die heiße Anspannung kehrte sofort in ihren Bauch zurück, und sie stellte fest, dass sie ihm nicht so schnell verzeihen würde, falls er sie jemals um Vergebung bitten sollte. Wenn überhaupt.
Dazu müsste wohl erst ein Wunder geschehen.
KAPITEL 2
Andrew
Es war Henry gewesen, der zu einer früheren Rückkehr nach London gedrängt hatte, damit sie Emmas Hochzeit noch beiwohnen konnten. Andrew hatte immer gedacht, Hochzeiten existierten nur, um die Frauen in seinem Leben zu beglücken, weshalb es ihn überraschte, wie viele Gefühle die Ehe seiner Schwester bei ihm auslösten.
Da war Stolz auf ihre ausgezeichnete Wahl sowie Freude darüber, einen Schwager wie Edward bekommen zu haben, aber er spürte auch einen Hauch von Wehmut, wenn er daran dachte, was Emmas Schritte in die Welt hinaus nun für seine eigene Zukunft bedeuteten.
Er konnte sich wohl nicht länger auf seinen Reisen verstecken und die Tatsache ignorieren, dass sie alle längst keine Kinder mehr waren. Schlimmer noch, er war jetzt gezwungen, sich mit dem Gedanken abzufinden, dass von ihm schon bald erwartet werden würde, ebenfalls die gesellschaftliche Rolle eines Erwachsenen einzunehmen.
Und dieser Gedanke weckte in ihm den Wunsch, sich ein weiteres Glas Bourbon einzuschenken.
Er trat zu Henry an die Bar, wo sein Bruder gerade einen Bourbon mit Wasser und Eis verdünnte. Andrew bevorzugte seinen eigenen Whiskey pur, aber wegen des warmen Wetters hatte er sein erstes Getränk vorhin ebenfalls mit Eis gekühlt. Diesen Fehler würde er kein zweites Mal machen. Besser, er verbannte alle Gefühle – die guten wie die schlechten –, um wenigstens den Nachmittag genießen zu können.
Also Bourbon pur.
»Henry«, begrüßte er seinen Bruder, der, wie er jetzt erkannte, leicht schwitzte. Andrew rümpfte die Nase. »Du wirkst etwas durchnässt.«
Henry verdrehte die Augen und nahm einen extra langen Schluck. »Dessen bin ich mir bewusst. Im Garten war es zu warm für einen Spaziergang, doch die Möglichkeit, mit June allein zu sprechen, war es allemal wert.«
Andrews Augenbrauen wanderten bei der Erwähnung von June Campbell nach oben. In seiner Erinnerung war sie immer lebhaft gewesen und hatte bei seinen Streichen durchaus mithalten können, doch nun wirkte sie einfach nur noch anstrengend und nachtragend. »Warum willst du bloß mit einer derart launischen jungen Dame allein sein? Ehrlich, Henry, es ist, als würdest du es genießen, dich selbst zu bestrafen.«
Sein Bruder verzog das Gesicht auf diese missbilligende Art, die Andrew seit letztem Sommer nur zu gut kannte – seit er seinem Bruder eine harte, aber notwendige Lektion über Frauen und ihre Erwartungen erteilt hatte.
Am meisten ärgerte es ihn, dass Henry seitdem so tat, als wäre er ihm moralisch überlegen. Da sich an diesem Verhalten ihm gegenüber seit Monaten nichts geändert hatte, hatte er den Groll zwischen ihnen einfach akzeptiert, zumindest für den Moment. Er hatte nichts Falsches getan. Und Henry würde das mit der Zeit auch erkennen und ihm dann vielleicht sogar dankbar für die Lektion mit der Schauspielerin sein.
»Ich habe mich dafür entschuldigt, wie sehr wir sie bei unserem letzten Besuch gedemütigt haben.«
»Wovon sprichst du?«
»Du erinnerst dich vermutlich nicht mehr daran.«
Andrew durchforstete seine Erinnerungen und fand schließlich eine, die ein vorgelesenes Tagebuch und daran geknüpfte Tränen und verletzte Gefühle beinhaltete. Kaum etwas, worüber man sich Jahre später noch Gedanken machen müsste.
»Ehrlich, Henry. Das war nichts weiter als einer unserer Versuche, uns auf dem Land zu vergnügen. Inzwischen haben es sicher alle vergessen, genau wie ich, bis du es wieder zur Sprache gebracht hast. June ging es vermutlich genauso, bis du aufgetaucht bist und um Gnade gewinselt hast.« Da fiel ihm noch etwas anderes ein. »Wie dem auch sei, wir sind keine Kinder mehr. Die Tatsache, wie sehr June erwachsen geworden ist, sollte der beste Beweis dafür sein.«
Sie war ein nettes Mädchen gewesen, mit rotem, geflochtenem Haar, ein paar vereinzelten Sommersprossen auf ihrer Stupsnase und dem gleichen intensiven Blick wie ihre Schwestern. Er hatte es nie geschafft, Junes Augenfarbe genau zu definieren, da sie sich je nach Laune, Licht oder Jahreszeit zu verändern schien. Als wäre sie eine Fee oder etwas in der Art.
Nun war der Rotton ihrer Haare einem kräftigem Kastanienbraun gewichen, ihr Körper war herangereift, um selbst ihre Kleider aus zweiter Hand auf eine Weise auszufüllen, die schwer zu übersehen war, und sie trug ein Selbstbewusstsein zur Schau, das selbst Andrew bewundern musste.
»Was?«, fragte er, als ihm auffiel, dass sein Bruder ihn nicht bloß finster ansah, sondern auch etwas rosa um die Ohren war. »Ist es dir nicht aufgefallen? Man muss schon halb tot sein, um es nicht zu bemerken.«
»Das ist nicht …« Henry hielt inne und schien sich zu sammeln. »Der Punkt ist, Andrew, egal, wie du unser letztes Treffen in Erinnerung hast, sie ist nach wie vor verletzt wegen dieser Sache.«
»Woher willst du das wissen? Hat sie sich dir nach einem einzigen kurzen Spaziergang bereits anvertraut?«
»Nein. Aber einige von uns geben sich die Mühe, zwischen den Zeilen zu lesen.«
Andrew winkte ab. »Nun, wenn sie aus dieser Sache ein Drama machen möchte, bitte. Es gibt genug andere hübsche Mädchen, mit denen wir uns den Rest der Saison die Zeit vertreiben können, bevor wir zurück an die Universität gehen.«
Sein Bruder sagte nichts, doch das war alles andere als ungewöhnlich, selbst auf ihren Reisen hatte er oft vor sich hin geschwiegen. Andrew hatte gedacht, Henry würde früher oder später zu schmollen aufhören, aber nun hielt er schon so lange an seiner Wut und Verbitterung fest, dass er zu einem wahren Langweiler geworden war.
»Im Gegensatz zu dir werfe ich alte Bekanntschaften nicht so einfach weg.« Henry presste die Lippen zusammen. »Ich kann nur hoffen, dass June meine Entschuldigung für ehrlich befindet und mir während der Saison auch weiterhin die Möglichkeit gibt, ihr zu beweisen, dass ich es ernst meine.«
Die Worte klangen in Andrews Ohren fast wie eine Herausforderung – und das war nichts, was er so einfach ignorieren konnte, vor allem nicht, wenn sie von seinem Bruder kam.
»Du denkst also, die erwachsene Version deiner Kindheitsfreundin wird sich in dich verlieben?«
Henrys Ohren liefen rot an und verrieten sein Interesse sofort, obwohl er es mit einem nonchalanten Schulterzucken abzutun versuchte. »Ich denke, sie wird sich eher in mich verlieben, als je wieder mit dir zu sprechen.«
»Ist das so …?« Andrew verzog die Lippen, um sein Grinsen zu verbergen. Das könnte ein Spaß werden. »Lust, es interessant zu machen?«
Henrys Blick zuckte zu ihm hoch. »Nach allem, was du in der Vergangenheit getan hast, und nachdem du gerade den Gedanken, dass sie immer noch verletzt sein könnte, einfach gefühllos abgetan hast, denkst du ernsthaft, auch nur irgendeine Chance zu besitzen, dass sie dir verzeiht? Geschweige denn sich in dich verliebt? Du bist echt …«
»Was bin ich, Henry?«, fragte Andrew, als die Stille zwischen ihnen einen Herzschlag zu lang andauerte.
»… das Letzte«, beendete Henry den Satz.
»Wenn du dir so sicher bist, sie für dich gewinnen zu können, dann willst du doch bestimmt die Bedingungen hören, oder?«
Henry hielt inne, aber seine hochgezogenen Augenbrauen zeigten, wie überrascht er über den Vorschlag war. »Ich bin mir nicht sicher, sie für mich gewinnen zu können, vielmehr bin ich sicher, dass du dir selbst ein Loch gegraben hast, aus dem du unmöglich wieder herauskommen kannst.«
Beim Gedanken an eine so vergnügliche Ablenkung – und dann auch noch an eine Wette – spürte Andrew ein vertrautes Hochgefühl in sich aufsteigen. Was gab es Besseres, um sich von der Tatsache abzulenken, dass er in London festsaß und gezwungen war, der verbleibenden Saison beizuwohnen?
»Worüber sollen wir wetten, mein liebster Bruder? Denn ich bin mir ebenso sicher, ihre Meinung in den kommenden Wochen ändern zu können.«
»Es ist nicht ihre Meinung, die du ändern musst.«
»Wie dem auch sei.« Andrew zuckte mit den Schultern. »Ich denke, der Preis für denjenigen, der das Herz von Miss June Campbell erobert, sollte Mitternacht sein.«
Die Augenbrauen seines Bruders schossen noch höher. »Ein Pferd? Du willst ein Pferd setzen, anstatt die Liebe einer wunderschönen junge Dame als den wahren Preis zu sehen?«
Verwirrt runzelte Andrew die Stirn. »Natürlich. Wir müssen um etwas wetten, das wir wirklich wollen, wo bliebe sonst der Reiz?«
»Wie wäre es dann damit? Wenn June sich bis zum Ende der Saison damit einverstanden erklärt, dass ich ihr offiziell den Hof mache, hältst du dich nächstes Jahr aus meinen Angelegenheiten heraus. Wir reisen nicht zusammen, du lässt mich meine Freunde selbst aussuchen, ohne dich uns anschließen zu wollen, und du lässt mich meine eigenen Entscheidungen treffen, ohne dich einzumischen.«
»Du meinst wohl, ich soll dich deine eigenen Fehler machen lassen«, spottete Andrew, dem bei den Worten seines Bruders heiß geworden war.
»Ja, die auch.«
»Und wenn ich gewinne?«, erwiderte er gereizt. Er konnte sich nicht erklären, warum er sich auf einmal so unausgeglichen fühlte. »Was bekomme ich?«
»Das Pferd.«
Mitternacht war der prachtvollste Hengst im Stall ihres Vaters, und Andrew war grün vor Neid geworden, als ihr Vater ihn Henry zum sechzehnten Geburtstag geschenkt hatte. Dennoch, nun da sein Bruder seine Bedingungen vorgebracht hatte, hatte er das Gefühl, mehr als nur ein Pferd verlangen zu müssen.
»Das Pferd und du verzeihst mir meine angeblichen Verfehlungen im letzten Jahr, damit wir das alles hinter uns lassen können und es zwischen uns wieder so sein kann wie früher.«
Früher hatte Andrew immer mühelos erkennen können, was sein Bruder dachte, aber in letzter Zeit hatte er nur noch raten können. Er vermutete, dass Henry in diesem Moment irgendetwas zwischen traurig, wütend und resigniert war – und nichts davon hob seine Laune.
»Okay, Andrew«, sagte Henry schließlich mit leiser Stimme. »Das Pferd und meine Vergebung. Allerdings kann ich dir nicht versprechen, dass es zwischen uns wieder so wird wie früher. Wir sind inzwischen andere Menschen, oder nicht?«
Andrew fand nicht, dass er selbst sich so sehr verändert hatte, aber er konnte nicht leugnen, dass Henry es sehr wohl getan hatte. Jeder musste irgendwann erwachsen werden und die Wahrheit über die Liebe und das Leben in der Londoner Gesellschaft erkennen. Henry konnte noch so wütend auf ihn sein, weil er derjenige war, der ihm diese Lektion erteilt hatte, aber es wäre früher oder später sowieso passiert. Auch ohne seine Hilfe.
Andrew streckte die Hand aus, und Henry schlug ein. Sein Griff war fest, und Andrews Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. »Ich weiß, du liebst dieses Pferd wirklich.«
»Er ist ein ausgezeichneter Hengst«, gab Henry zu und ließ ein leises Lächeln zu. »Und ich weiß, wie sehr du ihn eines Tages in deinem Stall haben willst. Das reicht mir als Motivation.«
»Die Wette gilt also«, verkündete Andrew, und sie ließen die Hände sinken.
»Und ob«, stimmte sein Bruder zu, und in seinen blauen Augen lag ein Funkeln, das Andrew zu gut kannte, um es zu übersehen. Schließlich liebten sie beide eine gute Herausforderung.
KAPITEL 3
June
In den wenigen Tagen, die seit ihrer und Julys Ankunft in London vergangen waren, war alles drunter und drüber gegangen. April war damit beschäftigt gewesen, bei den Vorbereitungen für Emmas Hochzeit zu helfen, und May hatte Matthews entfernte Verwandtschaft kennengelernt, die in der Stadt zu Besuch war. Die Konsequenz daraus war, dass June und July in die Gesellschaft hineingestoßen worden waren, ohne dass ihnen jemand im Hause der Radcliffes viel Aufmerksamkeit geschenkt hatte.
Allerdings konnte sich June nicht über mangelnde Unterhaltung beschweren, und sie hatte sowohl ihren ersten Ball als auch Emmas Hochzeitsfeierlichkeiten sehr genossen. Die Gäste waren bereits vor einiger Zeit aufgebrochen, und kurz darauf hatten sie auch Edward und Emma zur Kutsche begleitet, in der sie ihre Hochzeitsreise durch Europa antraten, ehe sie sich in ein paar Wochen in ihr Haus am Meer zurückziehen würden. Der Tag war nur so an June vorbeigerauscht, und dennoch hatte sie nichts so sehr zum Lächeln gebracht wie der Moment, in dem sie mit einer Tasse Tee zurück in ihr Zimmer kam und ihre Schwestern auf ihrem Bett vorfand.
Sie und July teilten sich ein Zimmer am anderen Ende des Flurs, auf dem auch April und May schliefen. Emma war nun auf Reisen, doch June nahm an, dass Andrew und Henry den Rest der Saison hier bei ihren Eltern verbringen würden. Und Tante Violet hatte auch etwas von Edwards Cousine erwähnt, einer jungen Witwe, die nun, da die Hochzeit vorbei war, einige Wochen hier bleiben würde. Sie war auch auf der Hochzeitsfeier gewesen, doch sie hatten noch keine Gelegenheit gehabt, sich einander vorzustellen.
»Komm und setz dich«, sagte April und klopfte auf ein Stück Decke zwischen ihren und Mays Füßen.
Ihre zweitälteste Schwester hatte es sich zwischen ein paar Kissen gemütlich gemacht und sich an July gekuschelt, die ziemlich erschöpft aussah.
June biss sich auf die Zunge, um ihre Zwillingsschwester nicht schon wieder zu fragen, ob es ihr wirklich gut ging. July hatte ihr bereits versichert, dass sie sich nicht kränklich fühlte, nur müde nach den jüngsten Anstrengungen. Was, wie June widerwillig einsehen musste, nach so vielen Monaten, die sie krank zu Hause verbracht hatte, wohl zu erwarten gewesen war.
»Ich dachte, ihr würdet zu müde sein, um noch rüberzukommen«, sagte June, während sie sich zwischen ihre Schwestern kuschelte und deren Nähe genoss. »Es ist schon spät.«
»Das stimmt«, gestand April, »doch ich habe mich so sehr danach gesehnt, wieder mitten in der Nacht mit euch zu reden, so, wie wir es zu Hause dauernd getan haben.«
»Wir haben euch beide vermisst«, fügte May hinzu und stieß June liebevoll mit dem großen Zeh in die Rippen.