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Die Registraturmaus Anna tanzt für ihr Leben gern Tango. Zu ärgerlich, dass ihr die aparte Sylvie alle Tangueros auspannt. Aber dafür gibt es eine Lösung. Die Leichenbestatterin Lara hat nur eine Leidenschaft: das Kochen. Die Latte für einen Partner liegt bei ihr verdammt hoch. Wird sich ihr Mister Right beim Special-Diner bewähren oder ...? Die Studentin Dana findet in einem Müllcontainer am Badesee eine Leiche und last but not least wäre Sebastian ein Traummann, wäre er nicht unglücklicherweise verheiratet. Siebzehn Kurzkrimis warten auf Sie. Für das Lesen zwischendurch, für das Schmöckern beim Warten auf den Liebsten oder die Liebste statt dem Stück Schokolade auf der Couch?
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Seitenzahl: 142
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Barbara Ludwig
SEEFELDERTANGO
Kurzkrimis
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ABW Wissenschaftsverlag GmbHKurfürstendamm 5710707 BerlinDeutschland
www.abw-verlag.de
© E-Book: 2012 ABW Wissenschaftsverlag GmbH
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Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://d-nb.de abrufbar.
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ISBN 978-3-86474-075-6
Produced in Germany
E-Book-Produktion: ABW Wissenschaftsverlag mit bookformer, BerlinUmschlaggestaltung: brandnewdesign, HamburgE-Book-Korrektorat: Alexandra Kellner, BerlinTitelabbildung: istockphoto .(Elvis Wilson)
P120043
Seefelder Tango
Sehnsucht ist nur ein Wort und reimt sich auf Mord
Tiefschnee
Der See
Laras „Special Diner“
Allgäuer Kässpätzle
Frauenstammtisch
Der Mars ist schuld
Zugfahrt
Besuch zum Oktoberfest
Das Treffen
Personalabbau
Das Gold
Die Kaffeefahrt
Café au Lait
Ihr Seidentuch zauberte Farbe in das dämmrige Weiß des verschneiten Waldes, sein unruhiges Auf und Ab ähnelte dem Flattern eines aufgeregten Zitronenfalters im Sommerwind. Seine Augen saugten sich für einen Moment am wippenden Gelb fest, bevor sie sich an das Nachtsichtgerät pressten. Leise summte er den Tango mit, dessen Töne in ausgefransten Fetzen zu ihm drangen. Sorgfältig und subtil hatte er das Thema ausgewählt. Diese hier wiegte und drehte sich, ebenso versunken zum drängenden Rhythmus der Musik wie die zwei anderen vor ihr. Sie schwebte geradezu über die Unebenheiten des Bodens. Er lächelte. Sein Kalkül war erneut aufgegangen.
Nachdem er sie am Waldrand abgesetzt hatte, tänzelte sie wie ferngesteuert in Richtung der Klänge. In einigem Abstand folgte er ihr. Er bewunderte ihre Grazie. Aus der Entfernung störten ihn weder ihr bereits faltiger Hals, ihr zerknittertes Dekolleté, die herben Linien um ihren Mund noch die grauen Strähnen in ihrem blondiertem Haar. Sie schien perfekt: schlank, grazil und biegsam.
Seine behandschuhten Finger begannen unruhig, auf das Fernglas zu trommeln. Wie lange würde diese Tangoprinzessin durchhalten? Er wartete auf den Showdown.
Für diese wenigen Minuten hatte er die ganzen, langen Vorbereitungen in Kauf genommen, sie verschafften ihm den Kick. Er fieberte dem Moment des Absturzes entgegen.
Endlich! Die Frau in dem langen, schwarzen, bis zum Oberschenkel geschlitzten Kleid strauchelte, der gelbe Schal sank zu Boden, sie stürzte. Aber welch einen Anblick bot sie ihm! Mit entsetzlich uneleganten Bewegungen rappelte sie sich auf, krabbelte auf die Knie. Ekel stieg in ihm hoch. Er setzte das Glas ab, zählte bis zehn, bevor er es erneut hastig vor die Augen presste. Auf keinen Fall durfte er den richtigen Moment verpassen. Er atmete auf. Gerade noch rechtzeitig. Die Frau brach zusammen, fiel malerisch zu Boden und blieb wie ein toter, schwarzer Engel im Weiß liegen. Sein Werk war vollbracht. Zufrieden ging er durch den Wald zum Auto zurück.
.„Wachtmeister Huber? Komme gleich, bin droben, auf der Leiter“, rief Anna durch die Registratur, einem großen Raum im Keller des Polizeipräsidiums, als ein Lufthauch sie streifte.
.„Sagen’s einfach Huber zu mir“, erwartete sie als Antwort und lächelte, weil sich das Spiel täglich zwischen ihnen wiederholte. Huber besaß neben Anna einen Zugangschip zum .„Hades“, wie die alte Polizeiregistratur scherzhaft genannt wurde. Verstaubte Polizeiakten türmten sich in deckenhohen Regalen. Relikte, die bald der Vergangenheit angehören würden.
Der Wachtmeister blieb ihr die Antwort schuldig. Sie zuckte die Schultern und griff sich den nächsten Ordner, um ihre Arbeit fortzusetzen. Plötzlich, wie von Geisterhand angestoßen, fingen die Regalwände an, sich zu regen.
.„Stop, wer auch immer da an den Steuerrädern dreht, hier ist noch wer“, beschwerte sie sich lauthals, sprang von der Leiter und hechtete den immer enger werdenden Gang entlang. Schließlich hatte sie wenig Lust, von den Ordnern erdrückt zu werden, einige polterten bereits hinter ihr zu Boden. Bevor sie sich in den breiten Gang, der sich vor dem riesigen Gleitschrank erstreckte, retten konnte, klang ein raues, kehliges Frauenlachen an ihr Ohr, das sie sehr wohl kannte.
.„Sylvie, was soll dieser Blödsinn! Hör sofort damit auf!“
.„Wie ich sehe, sind deine Reflexe noch in Ordnung, Schwesterherz. Ich wollte dich nur informieren: Ab heute arbeite ich über dir.“ Ihr Daumen wies zur Decke. Anna stemmte die Arme in die Taille und musterte ihre Halbschwester. Sylvies schmales Gesicht leuchtete im Neonlicht kalkig. Ein höhnisches Lächeln mit sorgfältig geglossten Lippen kerbte zwei starke Abwärtslinien und rückte das spitze Kinn in den Fokus des Betrachters. Ihr blondes Haar war im Nacken zu einem strengen Pferdeschwanz gebunden. Ihre Figur, groß und überschlank, täuschte dem Betrachter den Körper einer Zwanzigjährigen vor, obwohl Sylvie vor ein paar Jahren in den Vierzigern angelangt war. Ihre langen Beine steckten in schwarzen, engen Hosen und kniehohen Stiefeln mit Stilettos. Den mädchenhaften Oberkörper hüllte ein schwarzer Sweater ein. Ein weiblicher Zorro, nur Revolvergurt und Waffen um die Hüfte fehlten.
.„Gut, ich nehme zur Kenntnis, dass man dich nach München versetzt hat. Wunschgemäß? Warum? Sehnsucht nach mir wird es wohl kaum gewesen sein. Mutter? Oder ...?“
.„Vielleicht, um unsere Rechnung zu begleichen, wer weiß?“ Sylvies knochige Hand spielte mit einem Ordner, der in Augenhöhe stand, schob ihn ein Stück weit vor, dann zurück, bevor sie Anna mit ihren glasklaren, blauen Augen scharf musterte.
.„Solltest wieder joggen, wirst langsam fett. Tanzt du nicht mehr? Wäre perfekt, hätten wir ein Problem weniger.“
.„Alessandro? Noch immer?“
.„Du bist gewarnt. Im Dienst werden wir uns kaum begegnen, da du .„Undercover“ arbeitest“, blaffte sie hämisch. .„Bei der Milonga in Seefeld ..., du weißt, was du mir schuldig bist. Sonst ...“
Anna schwieg, blieb einfach stehen, kniff die Augen zusammen und runzelte die Stirn, wie sie es immer machte, wenn sie keinen anderen Ausweg sah, und wartete ab. Nach einer Weile hüstelte Sylvie nervös, drehte sich um und stöckelte aus dem Raum. Das Klackern ihrer Absätze klang wie das Hämmern eines Maschinengewehrs auf dem Betonfußboden.
Als die Tür ins Schloss fiel, atmete Anna erleichtert auf und rätselte, wie Sylvie es beim Eintreten geschafft hatte, geräuschlos den Raum zu durchqueren. Der Blick auf die Uhr verriet ihr, dass es auf fünf zuging. Unmöglich würde sie sich erneut auf das Aktenstudium konzentrieren können und sie beschloss, Feierabend zu machen.
Als Anna die Kaufinger Straße betrat, war der Himmel dunkel und es schneite. Sie schlug den Jackenkragen hoch und versuchte das künstliche Licht einzufangen, mit dem die Geschäfte Optimismus verbreiteten, bis sie am Stachus in den Untergrund verschwand und sich in die Reihe der grauen Gesichter am Bahnsteig einordnete.
Während der Zugfahrt nach Herrsching gelang es Anna einigermaßen, die Panik, die Sylvies Auftauchen in ihr erzeugte, in den Griff zu bekommen. Außerhalb der Stadt schmeckte die Luft kälter und frischer. Der Schnee tanzte nicht mehr, sondern trieb in geballter Form herunter, unter den Füßen knirschte er. Als sie nach zwanzig Minuten Fußmarsch das Reihenhaus erreichte, in dem sie wohnte, fühlte sie sich gut durchlüftet. Während sie nach dem Schlüssel kramte, erklang ein klägliches Maunzen. Ihm folgte ein großer, gelb getigerter Kater und rieb sich an ihren Beinen, als gäbe es nichts Schöneres auf der Welt und das Maunzen verwandelte sich in ein Schnurren.
.„Ramses, alter Rumtreiber, warum bist du nicht bei deinem Frauchen?“ Ungeachtet der Worte drängte er sich vorbei, setzte sich auf den Fußabstreifer und wartete. Anna öffnete, schüttelte sich den Schnee von den Kleidern, wand sich aus den Winterklamotten und ging auf Socken zum Kühlschrank. Der mit Katzenfutter gefüllte Teller entlockte dem Kater wenig später einen kurzen aufgeregten Laut der Zufriedenheit. Nachdem er leer geschleckt war, strich das Tier noch ein oder zweimal an ihren Beinen entlang, um anschließend geräuschlos in der Hecke zur Nachbarwohnung abzutauchen. Sie blickte ihm versonnen nach. Eine Tangomelodie wehte von irgendwoher zu ihr. Leise und samtig schlichen die Töne sich heran. Anna schloss die Augen. Piazolla, La Muerte Del Ángel, sie musste die CD irgendwo haben. Sie hob die Arme zum Tanz, machte einen Grundschritt, lauschte, und folgte mit Schritten und Drehungen dem Schluchzen der Melodie, bis die Musik jäh abbrach. Das Klingeln des Telefons riss sie aus ihrer Trance.
.„Hallo Anna, Alessandro. Sylvie ist wieder da. Ich werde dir einen anderen Tanzpartner besorgen. Du verstehst?“ .„Ja“, sagte Anna nur und legte auf. Sie starrte versonnen auf das Telefon, bis ihr der kalte Wind, der ins Haus blies, bewusst wurde. Die Hand bereits an der Türklinke der Eingangstür besann sich Anna anders und trat vor das Haus.
Eine Schneeschicht bedeckte die Stufen, nach wenigen Schritten waren Annas Socken durchweicht. Die Luft schien vor Schnee zu bersten. Das Vorgartengrün war im Weiß verschwunden und schimmerte diffus im Lichtkegel. Die Fenster der Nachbarwohnung gähnten dunkel, die Straße menschenleer. Weiter unten hörte sie einen Wagen starten.
Anna schüttelte den Kopf über ihre Unvernunft, als ihr Blick an einem schwarzen Fleck im Schnee hängen blieb. Hatte Ramses wieder eine hilfslose Amsel angeschleppt? Im Korridor streifte sie die nassen Socken von den Füssen, schlüpfte in Stiefel und stapfte in den Garten.
Der Schnee hatte sich wie ein Leintuch an der Hecke hochgezogen und war gut und gern zwanzig Zentimeter tief. Morgen könnte sie einen Schneemann bauen, ging ihr durch den Kopf und eine kleine Welle Kindheitsglück schwappte in ihr hoch. Oft hatte sie davon geträumt, während sie in tropischen Gegenden geschwitzt und die Moskitos sie umschwirrt hatten. Nur einmal war ihr Traum wahr geworden. Noch mit einem Lächeln um die Lippen bückte sie sich. Erst unter dem Licht der Eingangslampe erkannte Anna, was sie aufgehoben hatte: Den Torso einer Barbiepuppe bekleidet mit einem schwarzen, hoch geschlitzten Tangotanzkleid. Ein spitzer Dorn ragte statt des Kopfes aus dem Hals.
Anna sah, dass sie sich den Finger daran aufgerissen hatte. Blut tropfte auf den Boden und malte ein Muster in den Schnee. Erschrocken ließ Anna die Puppe fallen und knallte die Haustür zu. Schwer atmend presste sie den Rücken gegen das Holz. Erneut überfiel sie die alte Angst wie ein Ungeheuer. In ihrem Gepäck führte sie die schrecklichen Bilder des Unfalls: die Scheinwerfer, die im Dunkel auf sie zukamen, das Quietschen der Bremsen, das Schlingern des Autos, der Knall, die Splitter, das Blut, das Wegtauchen ins Niemandsland. Noch immer fehlten einige Puzzleteilchen, verschollen im Dschungel ihres Gehirns.
Anna zwang sich rational zu denken, um ihre Gefühle unter Kontrolle zu bekommen. Entschlossen öffnete sie die Tür, packte den Torso und stopfte ihn wütend in den ein paar Schritte entfernten Müllcontainer. Sylvies makabre Scherze waren wirklich eine Zumutung.
Wieder im Haus war sie versucht, nach der Cognacflasche zu greifen, als das Telefon erneut klingelte. .„Ja“, meldete sie sich atemlos.
.„Sylvie ist wieder in München. Stell dir vor, die Versetzungsrunde hat heute beschlossen, mich nochmals nach Buenos Aires zu versetzen, ist das nicht großartig? Wenn ich Zeit habe, müssen wir anstoßen, Sylvie, ich und du. Ihr könnt mich besuchen und du kannst deinen Vater mal wiedersehen. Sylvie weiß es schon, sie ist begeistert. Sie war ja gerade erst in Argentinien. Ich werde die stellvertretende Leitung des Institutes übernehmen, eine wundervolle Aufgabe. Was hältst du davon?“ Eine rein rhetorische Frage, denn bevor Anna etwas erwiderte, setzte ihre Mutter nach: .„Ich hoffe, du machst Sylvie keinen Ärger wegen Alessandro. Sie braucht nach dem Tod von Rico Zuwendung, ich bin ja so froh, dass sie wieder tanzen will und Alessandro ...“ Anna unterbrach den Redefluss ihrer Mutter.
.„Mama, ich muß Schluss machen, Vladi und Petra kommen gleich, um mich abzuholen. Ich freue mich für dich.“
.„Gut Anna, wenn du Sylvie siehst, grüß sie von mir, sie soll sich bald mal blicken lassen.“
Anna legte auf. Ihre dunklen Augen begegneten ihr im Spiegel und sie schlug die Lider nieder, weil sie die Trauer in ihnen kaum ertragen konnte. Rasch schlüpfte sie in ein schwarzes Tanzkleid, packte die Tanzschuhe und den Fächer in den Beutel und stieg in die Stiefel. Ohne einen weiteren Blick an ihr Spiegelbild zu verschwenden, zupfte sie den Rock des Kleides zurecht. Als es draußen hupte, zog sie den Wintermantel über und verließ erleichtert die Wohnung.
Schloss Seefeld lag auf einer Anhöhe. An sonnigen Sommertagen konnte man den Pilsensee unten grünlich durch die Bäume schimmern sehen. Vom Parkplatz führte eine Stahltreppe ein Stück hinauf und mündete auf der nur für Lieferwagen zugelassenen kleinen Straße, die sich in Kurven nach oben wand. Der Vorhof des Schlosses war mit einer Häuserreihe umstanden, in denen sich allerlei Läden befanden, die Erlesenes von Künstlerhand anboten, außerdem ein Kino mit Café und eine stattliche bayerische Gaststätte mit Außenbetrieb bei schönem Wetter. Heute wirkte alles öde, die Kinoreklame leuchtete matt durch den Schneefall, die geschrubbten Holztische der Gaststätte schlummerten leer vor sich hin. Hinter den hellen Fenstern des Schlosssaals im ersten Stock bewegten sich schemenhaft Tänzer.
In der Wärme angekommen, wechselte sie die Schuhe und sah kurz Vladi und Petra nach, die sich sofort unter die Tanzenden mischten. Sie besaßen ein gutes Gefühl für den Tango, stellte sie anerkennend fest. Anna blieb noch eine Weile in der Ecke des Saales stehen. Ihre Blicke hefteten sich an Sylvie und Alessandro, die traumwandlerisch in einer wahren Kaskade von komplizierten Tangoschritten über das Parkett schwebten.
Sylvies schlankes, mit einem Netzstrumpf bekleidetes, Bein, schlang sich herausfordernd um Alessandros Hüfte, vollführte anschließend Pirouetten, es folgte ein Ausfallschritt, ihre Füße schlossen sich zur Grundposition. Erneut schlossen ausladende Schritte an, ein Bruch. Sylvies blonder Kopf reckte sich stolz in die Höhe. Die Blicke der Tanzenden kreuzten sich. Sie drehte das Gesicht zur Seite. Er zog sie an sich, beugte mit seiner männlichen Kraft ihren Rücken, bis ihr Kopf fast den Boden berührte, um sie anschließend mit einer eleganten Drehung wieder in die Höhe zurückzuholen. Ihr Tanz war eine Herausforderung: Vereinigung, Verweigerung, Yin und Yang, ein Kampf der Geschlechter, Mann gegen Weib.
Nach und nach hörten die anderen Paare auf zu tanzen, bildeten einen Kreis. Als der Tango endete, applaudierten sie. Alessandro winkte ab, Sylvie sonnte sich im Beifall und lächelte.
Mit einer kleinen Handbewegung begrüßte Alessandro Anna, bevor er zum CD-Player ging, um eine neue Musikauswahl zu treffen. Sylvie wurde umringt und erzählte von ihrem Besuch in Buenos Aires und schwärmte von den Milongas.
.„Später mehr“, wehrte Sylvie ab, als Alessandro in die Hände klatschte und anordnete: .„Aufstellung in Paaren.“ Er winkte einen, Anna unbekannten, Mann zu sich, flüsterte mit ihm und zeigte auf Anna.
.„Darf ich bitten?“ verbeugte sich der Fremde einen Moment später höflich vor ihr. Graue, helle Augen musterten sie mit einem kleinen Zusammenkneifen. Ihr Tänzer war mittelgroß, in den Fünfzigern, das graue, lange Haar im Nacken zu einem Pferdeschwanz gebunden. Sein Lächeln blieb auf die Mundwinkel begrenzt. Er roch nach Orangen und ein wenig nach gedünsteten Zwiebeln bemerkte Anna, als er sie in den Kreis der Übenden führte. Seine Schuhe waren handgefertigt und glänzten. Anna zuckte zusammen, als die ersten Takte jenes Tangos von Piazolla ertönten, den sie am frühen Abend draußen vor der Wohnung gehört hatte. Als jedoch die Hand ihres Tanzpartnern in ihrem Rücken sie zwang, aufmerksam den Figuren zu folgen, die Alessandro mit Sylvie vorgab, vergaß sie ihr Unbehagen.
Ihr Partner tanzte überaus akkurat, ohne sich vollends in die Musik fallen zu lassen. Sie vermisste Alessandros flüssige Bewegungen. Immer wieder gelang es Sylvie, sich mit einer gewagten Extraeinlage Publikum zu verschaffen und Anna atmete erleichtert auf, als die Gruppe sich am Ende des Abends in die Gaststätte aufmachte. Gern wäre sie heute gleich nach Hause gefahren, aber Vladi und Petra wollten unbedingt noch das Gericht probieren, von dem alle so schwärmten, und den Abend ausklingen lassen. Ihr Partner hatte sich verabschiedet, ohne seinen Namen zu nennen.
.„T A T A A!“
Anna staunte nicht schlecht, als ihr Tanzpartner, jetzt in einer weißen Kochbekleidung, flankiert von zwei Bedienungen mit einer großen Terrine an den Tisch kam. .„Paul hat nur für uns Tafelspitz zubereitet, nach einem Rezept seiner Großmutter“, rief Sylvie, sprang lebhaft von ihrem Stuhl auf und klatschte in die Hände. Der Koch strahlte.
.„Aus argentinischem Rindfleisch, zart und mild, aus dem Land des Tangos, mitgebracht von Sylvie“, ergänzte er elegant. Alle erhoben sich, fielen in das Klatschen ein und eilten zu ihrer Schwester, um ihr ein Küsschen des Dankes auf die Wange zu hauchen. Anna blieb hocken und bewunderte einmal mehr Sylvies gelungene Selbstdarstellung. Wo sie aufkreuzte, zog sie ihre Show ab.