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Die bayerische Hauptstadt im September. Weiß-blauer Himmel. Die Vorbereitungen für das Oktoberfest laufen auf Hochtouren. Ulla ist in Italien und macht dort Urlaub mit ihrem Freund Enno. Ihre beste Freundin Julia, die in München lebt, bekommt Besuch von ihrem Berliner Neffen Ludwig. Auch ein alter Bekannter kündigt sich an: Commissario di Flavio. Als Experte in Mafiaangelegenheiten soll er in einem Fall recherchieren, hinter dem mafiöse Verbindungen vermutet werden: die Wahl für einen neuen Wiesn-Wirt steht an. Die Kandidatur treten die Italienerin Claudia Fioretti und der Wurstfabrikant Ochshammer an. Sind unlautere Mittel und Manipulation am Werk? Ein Mord geschieht. Ludwig ist in die Sache verwickelt: schuldig oder unschuldig? Julia setzt alles daran, den Fall so schnell wie möglich zu lösen und ihren Neffen zu entlasten. Diese E-Book-Version entspricht der überarbeiteten Printausgabe von 2015.
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Seitenzahl: 405
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Dienstag – noch vier Tage bis zur Wiesn.
Mittwoch – noch drei Tage bis zur Wiesn.
Donnerstag – noch zwei Tage bis zur Wiesn.
Freitag – noch einen Tag bis zur Wiesn.
Endlich: Wiesn-Samstag.
Wiesn-Sonntag.
Montag – während der Wiesn.
Mittwoch – während der Wiesn.
Donnerstag – während der Wiesn.
Nachwort und Dank
Barbara Ludwig
TATORT OKTOBERFEST
Die Geschichte ist frei erfunden.
Die Erweiterung des Oktoberfestes und ein solcher Wettbewerb wie geschildert sind reine Fiktion.
Das riesige Bierzelt ragte halb fertig in den weißblauen Himmel. Ludwig stand unschlüssig davor. Voll krass det Ganze, fand er. Die überlebensgroßen Holzrösser, die vor dem Zelt warteten, um oberhalb des Zelteingangs an den Start gebracht zu werden, langweilten ihn. Noch ein viertes Mal die Pferdegruppe zu umrunden, wäre öde, ebenso wie die weiße Farbe weiter abzublättern oder seine Hand in die überproportional aufgeblähten Nüstern zu zwängen. Das Innere der riesigen Holzzelte näher in Augenschein zu nehmen, besäße eine neue Dimension. Er zögerte, in der Angst, die Arbeiter würden „Schleich di“ rufen und ihn rausschmeißen, wie in dem anderen Zelt. Verlegen scharrte er mit dem Fuß Kiesel auf dem Weg zusammen, bis sie ein Häufchen auf dem angrenzenden Asphalt bildeten. Ab und an streifte sein vorsichtiger Blick zum Eingang des Bierzeltes. Mit einer Rolle verlieh ein Maler dem Holz dunkle Patina.
„Hinten geht’s eini“, bedeutete er dem Jungen und wies mit der Hand zur Seite des Zeltes.
Ludwig fühlte ich ertappt. Er nickte verschämt, ehe er mit roten Ohren betont unbeteiligt in den schmalen Weg einbog. Über der Tür prangte ein Schild mit der Aufschrift: Eingang für Prominente. Die Tür stand offen und er ging hinein. Auf den Dielen des halb fertigen Festzeltes sammelte sich zusammengeknülltes Papier. Ludwig schnappte sich mit dem Fuß einen Papierball und kickte ihn vor sich her. Der improvisierte Ball rollte über den schmutzigen Boden, an den Reihen der in Plastikfolie eingeschweißten Bierkrüge und an den zu Türmen übereinandergestapelten Biertischen vorbei, bis er vor dem Berg mit Girlanden aus frischem Hopfen liegenblieb. Ludwig bückte sich, brach einen Zweig aus dem dunkelgrünen Gewirr und zerrieb eine Dolde zwischen den Fingern. Würziger Geruch stieg ihm bitter in die Nase.
Unter dem Schirm seiner Kappe schielte er zu den Arbeitern hinüber, die in den seitlichen Boxen bohrten und hämmerten. Sie beachteten ihn zum Glück nicht. Er drückte sich weiter in das Zelt, tappte in der halb fertigen Dekoration herum. Sonnenstrahlen fielen durch die verschlungenen Rahmen der riesigen Fenster über dem Haupteingang und malten ein Spinnennetz auf den Boden. An der Wand lagerten Bierfässer. Über einem noch verwaisten Ausgabetresen baumelte ein Schild mit der Aufschrift: Schenke.
Er versenkte die Hände in den Hosentaschen und schlich sich vorsichtig in Richtung der Fässer. Blankgeputzte Schankhähne aus Messing schauten ihm auffordernd entgegen. Ob ihnen bereits Bier zu entlocken war? Er drehte an ihnen herum, aber die Hähne blieben trocken.
Eine halb geöffnete Tür neben den Fässern reizte seine Neugier. Vergessen lehnte eine Leiter am Rahmen. Niemand kümmerte sich um ihn, stellte er rasch sicher, ehe er den abgeteilten Raum betrat.
Kabel hingen von der Decke herunter und versperrten ihm den Weg. Er drückte sie zur Seite und stolperte über weitere Kabelrollen, die überall auf dem Boden verteilt lagen. Mausgraue Gasbehälter stapelten sich in einer Ecke. Eine Wand glänzte in grellem Rot, die ihr gegenüberliegende war Neon-Grün gestrichen. Beide Farben stachen in die Augen. Bei näherer Untersuchung entdeckte Ludwig einen verriegelten Zugang im Neon-Grün. Mit Holzlatten war eine Kammer abgeteilt worden, an der ein in Augenhöhe ein gelbes Schild warnte:
Warnung vor Gasansammlungen
- Erstickungsgefahr -Beim Betreten des Raumes Tür offen lassen
Ludwig rüttelte an dem Riegel. Er ließ sich nicht öffnen. Das Geheimnis der Gasansammlungen blieb hinter der Tür verborgen. Er wandte sich wieder den Gegenständen des Raumes zu, in dem er sich befand. Hinter ihm standen mehrere riesige Behälter aus Edelstahl. Wie Raumkapseln erschienen ihm die glänzenden Monster. Seine Fantasie malte sich aus, dass Außerirdische …, bis die Vernunft die Oberhand übernahm. Der Spiegel des Stahls zeigte ihm, lang gezogen, schmaler und größer als in Wirklichkeit, einen jungen Burschen vor dem Hintergrund einer grünen Tür. Irgendwie fremd und voll de luxe, fand er, summte einen Song von Abroo vor sich hin und rappte ein paar Schritte. Die Bewegungen verzerrten sein Bild, zogen es unnatürlich in die Breite oder in die Höhe. Er schüttelte sich vor Lachen.
„Aber Hallo, übst wohl für Deutschland sucht den Superstar?“, störte ihn eine raue Männerstimme. Ludwig schreckte zusammen, als sich hinter ihm plötzlich die Gestalt eines Arbeiters spiegelte. Ein langgezogener Geist mit dunklen Haaren, bräunlicher Haut, der in einer Latzhose und einem karierten Hemd steckte. Unwillkürlich duckte Ludwig sich, als würde er durch das Abtauchen und das Unterlaufen des Spiegels unsichtbar werden. Zwecklos. Er versuchte, sich seitlich an dem Arbeiter vorbei durch die Tür zu drücken und abzuhauen. Aber der Mann stand grinsend im Türrahmen und versperrte den Ausgang.
„Keine Panik“, beruhigte er ihn. „Interessiert dich, wie das Bier aus dem Behälter nach draußen kommt?“ Seine Finger beschrieben einen Kreis von den Edelstahlbehältern hin zu den unsichtbaren Fässern in der Schenke. „Ich bin nämlich der Meister, der dafür sorgt, dass das Bier letztlich aus dem Holzfass sprudelt.“
Ludwig nickte besänftigt, sein Interesse war geweckt. Der Techniker stellte seinen Werkzeugkasten auf den Boden, nahm einen Schraubenzieher sowie ein Messingverbindungsstück heraus, griff nach einem der fingerdicken, durchsichtigen Schläuche, die aufgewickelt an der Wand hingen.
„Komm mit und pass auf“, forderte er und ging in den Schankraum. Mit Hilfe eines Mittelstücks verband er den Schlauch mit einem in Taillenhöhe aus der Wand ragenden, um ihn dann bis zum Fass zu legen und anzuschließen. Ludwigs zeigte auf die unzähligen noch übrigen Leitungen: „Die auch?“ Der Mann lachte.
„Einige. Andere sind für das Licht, die Spülmaschinen, die Pumpe bestimmt. Ist noch ein Stück Arbeit. Die Elektriker müssen sich sputen.“ Ludwig betrachtete skeptisch die durchsichtigen Schläuche, die von drinnen nach draußen führten. Bis er dahinterkam, dass sich in den Holzfässern kein Bier befand, sondern das Bier aus den Edelstahlbehältern floss. Nicht verwunderlich, dass der Hahn trocken geblieben war. Seine Gedanken standen ihm wohl auf der Stirn geschrieben.
„Keine Angst, niemand merkt den kleinen Schwindel. Alle Besucher glauben, das Bier befände sich im Fass. Wird mit Dekoration aufgemöbelt, so dass die Illusion erhalten bleibt. Technik fasziniert dich, nicht wahr? Wie heißt du eigentlich?“ Ludwig blickte verlegen zu Boden.
„Ich bin übrigens der Luigi. Und du bist ein Junge ohne Namen, auch gut.“
Ohne weiter auf Ludwig zu achten, erklärte Luigi, wie die Zuleitungen funktionierten. Ab und an benützte er Fachausdrücke, die Ludwig fremd waren und die er gern hinterfragt hätte. Aber er traute sich nicht, stattdessen verfolgte er aufmerksam jeden Handgriff des Mannes.
„Nur im Augustiner Zelt wird aus den Holzfässern direkt ausgeschenkt, alle anderen Bierzelte verwenden Edelstahlbehälter. Sind dir die Container auf dem Gelände aufgefallen? Weiß oder Blau, jede Brauerei hat ihre eigene Farbe. In unseren hier kann man sich spiegeln.“ Bei seinen Worten streifte er Ludwig mit einem raschen Seitenblick und lächelte.
Ludwig entspannte sich. Er fand Luigi nett. Sicher war er Italiener. Wie der Italiener, bei dem sie zu Hause in Berlin Pizza essen gingen.
„In der Wiesn-Zeit kommen nachts die Tankwagen mit Bier und füllen die Container auf. Etwa eine und eine viertel Stunde dauert es, bis die gesamten 12.000 Liter mit einer Pumpe durch einen 65-Millimeter-Schlauch vom Brau-Laster in den Container umgefüllt sind. Die Auslieferungstemperatur beträgt etwa 0,8 Grad, damit das Bier auch am Abend noch kühl ist. Der Tankwagen muss zwei- bis dreimal zurück zur Brauerei, um Nachschub zu tanken. Harte Arbeit. Wie alt bist du eigentlich, siebzehn, achtzehn?“
Am liebsten würde Ludwig sich sofort wieder verdrücken. Er hasste es, Fragen zu beantworten. Und er hasste es, mitleidige Blicke zu ernten, wenn er zu reden begann mit seiner eingeschränkten Fähigkeit und erklären musste, warum es ihm an Sprachfluss mangelte. Unweigerlich musste er von dem Unfall erzählen, bei dem seine Eltern umkamen. Ach so, ein Depp, dachten die meisten und wandten sich verlegen ab. Er kannte das. Ganz schlimm waren die Mädchen. In ihren Augen konnte er lesen: Ein Behinderter! Würde sich Luigi ebenfalls abwenden?
Er würgte heraus: „Ludwig, neunzehn.“
„Also Ludwig, dann sind wir ja Namensvettern, Luigi, Ludwig, bene. Und neunzehn? Oha.“
Ludwig atmete auf, seine Bedenken zerstreuten sich. Luigi fragte nicht weiter nach. Ludwig war nicht gezwungen, ihm mühsam zu erklären, dass er zu Besuch bei seiner Tante Julia weilte und sonst in Berlin in einer betreuten WG lebte. Dass er ein praktisches Jahr absolvierte und nicht wusste, was er werden wollte. Dass er keine Freundin hatte, obwohl er gut Break Dance tanzen konnte und Rap mochte. Sollte er Luigi sein Interesse am Bayernkönig stecken? Aber sicher hielt er ihn dann für eitel. Wenn er, wie alle meinten, dem Kini wirklich ähnlich sah, würde Luigi dies bestimmt bemerken.
„Schau, wenn das Bier zu warm ist, gibt es zu viel Schaum und kann nicht richtig eingeschenkt werden, ist es zu kalt, gibt es keinen Schaum und das ist auch nicht in Ordnung. Die Temperatur muss stimmen. Alles muss stimmen. Die Gläser müssen richtig gespült werden, auch das ist enorm wichtig. Sind Rückstände vorhanden, entwickelt sich der Schaum ebenfalls nicht richtig. Stell dir vor, 10.000 Liter und mehr werden am Tag ausgeschenkt. Es muss schnell gehen. Darum ist der Druck enorm wichtig.“
Als Luigi erneut begann, Verbindungen zu legen, beugte Ludwig sich über das Gewirr der Schläuche und folgte aufmerksam den Erklärungen. Als Luigi den Schraubenzieher in die Bauchtasche seiner Hose steckte und sich den Schweiß von der Stirn wischte, lachte er Ludwig zu.
„Heute ist es nicht einmal besonders heiß. Beim Hochbetrieb herrscht hier eine Bullenhitze. Früher war ich während der Wiesnzeit vor Ort. Konnte zupacken, falls mal was ausfällt oder schief geht. Ist alles durch die Hightech-Anlagen weggefallen. Wenn jetzt was passiert? Sieht es schlecht aus für den Wirt. Er muss sein Zelt schließen, weil er ohne Bier dasteht. Oder muss uns ganz schnell mit dem Hubschrauber einfliegen lassen.“
„Abgespaced“, grinste Ludwig.
„Freut mich, dass dir das Ganze gefällt.“ Er klopfte ihm mit der Hand auf die Schulter. „Ich bin hier fertig. Morgen komme ich mit meinem Trupp und wir gehen den Rest an. Na dann, Ludwig. Siehst übrigens fast aus wie der Kini.“
Ludwig schaute ihm nach, wie er durch das Zelt ging und den anderen Handwerkern zuwinkte. Als Luigi aus seinem Blickfeld verschwunden war, stromerte Ludwig noch ein wenig in dem hinteren Schankraum herum. Aufmerksam studierte er eine Betriebsanleitung, ebenfalls auf einem gelben Schild angebracht. In ihr wurde der Umgang mit Druckgasbehältern von Getränkeschankanlagen erklärt. Er las etwas von Achtung Lebensgefahr! Völlig unlogisch in seinen Augen. Die Beschreibung klang nach seinem Verständnis idiotensicher. Als er durch das Zelt zurück zum Ausgang ging, schüttelte er skeptisch den Kopf. Der Typ und sein Hubschrauber, alles Bullshit.
*
Kleine bayerische Löwen mit Hüten in weißblauem Rautenmuster quollen aus einem riesigen Karton. Ludwig schaute zu, wie seine Tante Julia und die Besitzerin des Standls, Traudl, die Stofftiere auspackten und an ihren Bändern sorgfältig auf einen Ständer hängten.
„Meinst nicht, hinter der Scheibe wär‘s besser präsent?“
„Nein, die Bagage will alles anfassen. Der Platz ist goldrichtig, glaub mir. Oh, hallo Ludwig, bist wieder zurück? Hab grad mit deiner Tante Julia gredt, weil‘s doch so ausschaugst wie der Kini, da könnst mit der Nadine …“ „Was ist mit mir?“
Zwei lange Beine in engen Röhrenjeans, darüber ein Kapuzenshirt, weiter oben ein glattes, rosiges Mädchengesicht mit blondem Haarschopf, tauchten wie aus dem Nichts auf. Während Mutter und Tante stürmisch umarmt wurden, konnte Ludwig diese Nadine ungestört betrachten. Klasse Braut, lebendig, kleiner als er, trug coole Jeans und im Bauchnabel ein Piercing. Unter dem weißen T-Shirt zeichneten sich geile Brüste ab. Sofort schoss ihm Röte ins Gesicht, und in seiner Hose bewegte sich was. Er lenkte seinen Blick rasch zu einem Gegenstand auf der anderen Seite der Schaustellerstraße.
„Nadine, des is der Ludwig, der Neffe von Julia aus Berlin. Was sagst? Stecken wir ihn in eine Ludwig-Uniform? Nimmst ihn mit in die Zelte. Er bekommt den Bauchladen umgeschnallt und du kassierst.“
„Meinst?“ Nadine wand Ludwig lachend die Kappe vom Kopf und pfiff durch die Zähne. „Mei, du schaugst ja tatsächlich aus wie der Kini, herzig.“
Ludwig brach am ganzen Körper Schweiß aus, er stand da, wie ein durchweichter Kater.
„Aber schüchtern?“
„Komm, jetzt lass den Ludwig, er soll sich die Sache noch überlegen. Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist“, mischte sich Julia ein. Sie schaute zu Traudl, murmelte: „Du weißt doch …“
Die Kappe wieder auf dem Kopf, schob Ludwig seine Hände tief in die Taschen seiner Baggs.
„Ludwig, ist eh besser, du redst nicht arg viel, sonst merkt gleich jeder, dass d’a Preiß bist.“ Notgedrungen hob er den Kopf. Nadine warf ihm einen schelmischen Blick zu und klimperte mit ihren langen Wimpern. Ihre Augen waren lavendelblau, stellte er fest. Um sich aus dem Zustand der Verwirrung zu befreien und seine verräterisch geröteten Wangen zu verbergen, stammelte er: „Und wat is mit de Kohle?“
„Ludwig!“, rief Julia empört.
„Lass mal, der Bua ist ganz richtig. Geschäft ist Geschäft. Auf achtzig bis hundert kimmst scho.“
„Achtzig Mäuse für vierzehn Tage?“
„Nein, nicht für vierzehn Tage, pro Tag natürlich, Ludwig.“ Nadines glucksendes Lachen brachte ihn erneut in Verlegenheit, aber die Aussicht auf so viel Verdienst beeindruckte ihn.
„Bombe.“ Und leiser fügte er in Richtung seiner Tante hinzu: „Bitte.“ „Das Geld könnte Ludwig wirklich gut gebrauchen. Er will seinen Führerschein machen“, klärte Julia Traudl auf und zu Ludwig gewandt: „Also einverstanden, Ludwig. Ich spreche mit dem Leiter deiner Gruppe. Aber vorher muss mir Nadine versichern, dass sie ein Auge auf dich hat. Wenn ihr nur nachmittags und am frühen Abend längstens bis 21 Uhr unterwegs seid, erhebe ich keine Einwände.“
„Julia, Nadine ist zweiundzwanzig und kennt sich aus. Ich instruiere sie entsprechend. Passt scho. Heuer ist nicht ihr erstes Jahr als Sisi und sie ist mit der Wiesn aufgewachsen. I sieg da koa Problem.“
Ludwig hörte nur noch mit halbem Ohr zu. In seinem Schädel brummte es: Nadine, Nadine …
„Magst hier Wurzeln schlagen? Jetzt kimm scho, lang mit an. Wenn deine Hosen oder Baggs dir nicht gleich vom Hintern rutschen?“, forderte sie ihn auf und schleppte einen Karton heran. Er beeilte sich, anzupacken. Als sie zusammen die Sachen aus ihrer Plastikummantelung befreiten, stieg ihm ihr Duft in die Nase. Süß, besser als Himbeereis, keine Frage, ging ihm durch den Sinn.
Auf dem Flug von Mallorca nach München saß Commissario di Flavio eingezwängt in einer Chartermaschine inmitten gut gelaunter Urlauber. Obwohl der Schalter in seinem Kopf bislang nicht auf Deutsch umgestellt war, gelang es dem Wort Oktoberfest, an sein Ohr zu dringen. Voll fiebriger Erwartung schwangen die vier Silben, einem bunten Luftballon gleich, durch die Kabine.
Normalerweise würde ihn die Aussicht auf das Fest berauschen. Aber? War dies ein Normalfall? Nein. Ein außerplanmäßiger Diensteinsatz rief ihn in die Stadt an der Isar, zwang ihn, seinen Urlaub in Kalabrien zu verschieben. Er fluchte leise vor sich hin. Das ganze Jahr über hatte er geträumt, Ende September in Tropea mit einem Glas Wein und einer Portion frischer Muscheln nahe am Meer zu sitzen. Sich vorgestellt, das Glitzern der Wellen und den unendlichen Horizont zu beobachten. Sergio beim Ausladen des Fischfanges zuzuschauen, durch die alten, verwinkelten Gässchen seines Heimatstädtchens zu schlendern oder auf der Piazza Ercole im Café Roma mit alten Freunden zu schwatzen. Schließlich brauchte jeder einmal im Jahr Urlaub. Bald würde er nicht mehr wissen, wie es in seiner Heimat aussah und den kalabresischen Zungenschlag verlernen. Er besaß genügend Neider, die wie seine Vorgesetzten der Meinung waren, er schiebe in Mallorca eine ruhige Kugel. Natürlich. Palma de Mallorca war ein gefragter Dienstort. Zumal er als EU-Beamter wesentlich besser entlohnt wurde als im normalen Polizeidienst. Aber was änderte dies, Herrgottnochmal, an der Tatsache, dass er urlaubsreif war und an Heimweh litt?
Er liebte seinen Schulungsjob. Alle drei Wochen saßen neue junge, fragende Gesichter vor ihm und er brachte ihnen die Gefahren eines EU-Einsatzes und die komplizierte Gesetzeslage anhand der weit verzweigten Tätigkeiten der Mafia, der ‘Ndrangheta oder der Camorra, nahe. Machte ihnen klar, dass Geduld bei der Verbrecherjagd als Grundtugend unverzichtbar war. In letzter Zeit hatte es ihm an Geduld gemangelt. Es war ihm von Tag zu Tag schwerer gefallen, auf die neugierigen Fragen und die forsche Art des Wir wissen alles besser nicht gereizt zu reagieren. Ein- zweimal war er regelrecht aus der Haut gefahren, ein Umstand, der wenig zu ihm passte. Selbst seine Frau Erica hatte seine Anspannung mit der Bemerkung quittiert: „Normalerweise bist du doch geduldig wie ein Lamm!“ Wohlweislich hatte er verzichtet, sich zu rechtfertigen. Die langen Ehejahre hatten ihn gelehrt, dass er auf Verständnis für sein Heimweh nach Kalabrien von ihr als Mailänderin vergeblich hoffte.
„Ich versteh dich nicht, Tino. Sieh München als Auszeichnung. Sei froh. Alle Welt möchte zum Oktoberfest.“ Vermutlich hatte sie in diesem Punkt Recht. Er sollte dankbar über die Berufung sein.
Noch immer beschäftigte ihn das Warum. Welcher Grund bewegte die Münchner Kollegen, gerade ihn zum Oktoberfest anzufordern? Er konnte nur rätseln: Benötigte man einen Beamten mit seinen Sprachkenntnissen? Oder versprach man sich von seiner Teilnahme am Einsatz in Duisburg Verbindungen? Aber waren in der Duisburger Ermittlungskommission außer ihm nicht weitere neunzehn Beamte im Einsatz gewesen? Hätte man nicht einen von ihnen …? Mischte die ‘Ndrangheta etwa beim Oktoberfest mit? Aus seinem Kollegen – Hauptkommissar Wimmer – hatte er am Telefon nichts Gescheites herausbekommen.
Warum forderte man einen alten Esel wie ihn an, anstelle eines jüngeren Beamten? Weshalb meinten seine Vorgesetzten, hatte er sich den Unterrichtsjob ausgesucht? Nur wegen Erica? Mitnichten. Gut, vielleicht zu einem Teil, aber doch nicht ausschließlich. Er hatte dem Dunstkreis der ‘Ndrangheta entfliehen wollen. Er hatte alles satt: die Schutzgelderpressungen, die Brutalitäten, die Strohmänner mit der weißen Weste, den Waffenhandel, die Geldwäsche und die Vendetta. Aber es gab anscheinend kein Entrinnen aus der Endlosschlaufe, die aus Verbrechen, Gefälligkeiten und Bestechungen bestand. Immer drehte es sich darum, einen Mann, der für die Organisation arbeitete, an die Stelle zu bugsieren, wo er der Organisation von Nutzen war. Gelang dies nicht mit normalen Mitteln, setzte die Mafia Gewalt ein. Erinnerungen an lange, mühsame Ermittlungen, verzweifelte Gänge zu Katasterämtern und Banken, endlose Gespräche mit redeunwilligen Personen, stundenlanges Mithören von Telefonmitschnitten, mit am Aufwand gemessenen klitzekleinen Erfolgen, trugen nicht zu seiner guten Laune bei. Müde der belastenden Gedanken winkte di Flavio die Stewardess zu sich, die gerade vorbeischwebte.
„Könnten Sie mir einen Whiskey servieren?“ Die Vorstellung, mit einem weichen irischen Whiskey alle Unannehmlichkeiten herunterzuspülen, tröstete. Der Gedanke an den leicht rauchigen Geschmack beseelte.
„Bedaure, unser Service ist bereits geschlossen. Bitte schnallen Sie sich an, wir landen in Kürze.“ Schon war sie mit ihrem prüfenden Blick zwei Reihen weiter. Enttäuscht sank di Flavio in den Sitz zurück. Keine Rettung aus seiner Bluesstimmung!
Er starrte angestrengt auf den Tragflügel des Flugzeuges, widmete sich eingehend dem Motorengeräusch. Der Versuch der Ablenkung scheiterte kläglich. Ericas ständiges Nörgeln fiel ihm ein. Gipfelte ihre Beschwerde bei seinem Einsatz in Duisburg noch in dem Satz: „Nie bist du hier, wenn ich dich brauche.“, verlangte sie dieses Mal, ihn zu begleiten!
DasBrauchen beschränkte sich bei Erica üblicherweise auf den Umstand, ihn zu mallorquinischen Sommerpartys mitzuschleppen und ihn irgendwelchen Leuten vorzustellen: „Das ist mein Mann, er ist EU-Beamter.“ Ansonsten ließ sie sich von ihm hin und her chauffieren. Welche Erleichterung, als sich für diese Minnedienste im Sommer ein gerade geschiedener Rechtsanwalt anbot. Er gönnte Erica diesen Spaß. Nie hatte Erica auch nur eine Sekunde den Gedanken erwogen, ihn in Duisburg zu besuchen. Bei diesem Auftrag war sie plötzlich versessen darauf, mit nach München zu fliegen! Eine Hundertachtzig-Grad-Wende. Erstaunt über ihr unerwartetes Interesse, wagte er die Frage: „Wieso?“ Ihre Antwort hatte ihn in Alarmbereitschaft versetzt. Dabei müsste er sie ja eigentlich kennen. „Frau X meint, in der Maximiliansstraße könnte man wundervoll einkaufen und München hat so viel Ähnlichkeit mit meiner Heimatstadt Mailand. Außerdem sei das Oktoberfest ein Treffpunkt für alle wichtigen Leute aus ganz Europa, meint Señora Y.“
Aus taktischen Gründen hatte er geschwiegen und auch in der Folgezeit wohlweislich das Thema nicht angeschnitten. In der Hoffnung, Erica würde über ihre enorm wichtigen gesellschaftlichen Verpflichtungen, wie üblich, rasch alle Belange, die seinen Dienst betrafen, vergessen. Überaus blauäugig von ihm, wie sich bald herausstellte. Es verging keine Stunde, in der sie ihn nicht an München und das Oktoberfest erinnerte. Seinen launigen Hinweis, dass im Oktober und nicht, wie in München, bereits Mitte September, eine Miniausgabe des Oktoberfestes in Mallorca stattfinden würde, quittierte sie verschnupft.
„Man hat mir die einschlägigen Adressen zugesteckt und Albert, ich weiß nicht, ob ich euch schon einander vorgestellt habe, bietet uns einen Platz in seiner Box an. Du glaubst nicht, wie schwierig es ist, einen Platz in einem der Zelte zu bekommen. Er hat natürlich einen Tisch beim Käfer reserviert, mit Prominentenstatus, versteht sich. Allerdings soll ich mir unbedingt ein Original-Dirndl kaufen, weil man nur zünftig gekleidet Einlass erhält. Ach ja, er will dich unbedingt kennenlernen. Er ist der irrigen Meinung, es wäre interessant, einen echten Kriminalkommissar zu treffen. Okay, ich habe ihn in dem Glauben gelassen.“
Selbst dieses Statement hatte er stoisch ertragen und auf jegliche Reaktion verzichtet. Bis eine Sekunde vor Abflug, hatte er mit einem Anruf gerechnet, der den Einsatz abblies und inständig gehofft, seinen verdienten Urlaub antreten zu können. Letztendlich hatte er sich von Erica verabschiedet mit dem für ihn großzügigen Angebot: „Das Oktoberfest beginnt am Ende der Woche. Flieg halt, wenn es unbedingt sein muss, mit deinen Bekannten einen oder zwei Tage nach München. Ich kann dir jedoch nicht zusagen, dass ich Zeit erübrigen kann.“
„Vielleicht schließe ich mich Albert und seiner Frau an. Aber, wenn wir im Zelt sind, musst du schon kurz vorbeischauen und denk dran, zieh dich angemessen an. Dein Kollege wird dich sicher beraten können.“
Er hätte ihr an jenem Tag jedes Versprechen gegeben, obwohl er wusste, dass die Einhaltung in den Sternen stand. Die Vorstellung, dass Erica i h n, wirklich i h n, in einen Partylöwen verwandeln wollte, belustigte ihn und besserte seine Stimmung.
Noch als er geduldig am Laufband auf seine Reisetasche wartete, schmunzelte er. Er bemühte sich, den rauen Klang der deutschen Sprache um ihn herum aufzufangen und sich darauf einzustellen. Hinter der Absperrung erkannte er den Münchner Hauptkommissar Hans Wimmer und an seiner Seite den jungen Kollegen Georg Heimstetten. Sie verhandelten mit dem Beamten von der Passkontrolle, ehe sie mit einem breiten Grinsen im Gesicht auf ihn zueilten.
„Grüß Gott, Tino. Guter Flug? Wir waren in der Nähe und dachten, wir lesen dich auf“, begrüßte ihn Wimmer und versetzte ihm einen kumpelhaften Schlag auf die Schulter.
„Guten Tag, Hans“, erwiderte di Flavio.
Der Commissario kannte den Münchner aus grauer Vorzeit. Beide hatten sich, noch jung die ersten Sporen im Polizeidienst verdient. Er in Mailand kurz nach der Ausbildung und Wimmer als Austauschbeamter in der Questura. Damals waren sie vom Aussehen fast als Brüder durchgegangen. Beide dunkelblond, mit blaugrünen Augen und von gleicher Größe. Heute schimmerte das Haupthaar des Münchners, im Gegensatz zu dem des Commissarios, bereits in silbrigem Grau. Und während Wimmer schlank wie eine Pappel war, hatte di Flavio Format zugelegt. Wimmers gebräuntes, von Wind und Wetter gegerbtes Gesicht, glich einer Schnitzarbeit mit Faltenwurf, di Flavios Wangen waren glatt und gut gepolstert.
Zwei alte Kämpen waren sie im Gegensatz zu Heimstetten. Ein Junge fast noch, dynamisch, immer mit einem Lachen im offenen, glatten Gesicht. Dazu lang und schlaksig, so dass die Stühle im Schulungsraum in Mallorca für ihn zu klein gerieten. Die braunen Haare nach der neuesten Mode kurz und in verschiedene Richtungen geschnitten und geföhnt. Als er sich jetzt di Flavios Tasche vom Laufband krallte, zwinkerte er ihm verschwörerisch zu. Der Commissario stöhnte innerlich. Ihm hatte er also seine Berufung zu verdanken. Das Oktoberfest war offensichtlich als Dankeschön zu werten. Er streckte ihm die Hand entgegen: „Come sta?Tutti bene?“
„Grüß Gott Commissario di Flavio. Wie geht es in Palma? Schön Sie in München zu sehen. Freuen Sie sich schon auf das Oktoberfest? Samstag ist es soweit.“
„Zum Feiern habt ihr mich also angefordert?“, scherzte er etwas später, als Wimmer sich, in einiger Entfernung zu ihnen, mit einem Zollbeamten unterhielt.
„Das wäre übertrieben“, wand sich Heimstetten „Folgen Sie mir. Der Boss wird Sie über den Grund Ihres Einsatzes aufklären.“ Heimstetten lotste ihn geschickt durch die Gänge zum Ausgang des Flughafens und zu einem Dienstwagen. „Ich habe Ihnen mein Appartement im Olympiazentrum geräumt. Ein idealer Ausgangspunkt. Er gestattet, alles bequem mit der U-Bahn zu erreichen. Zur Wiesn-Zeit geht mit dem Auto eh nichts“, bedeutet er ihm mit Gönnermiene, während sie auf Wimmer warteten. „Wenn Gefahr im Verzug ist, schicken wir Ihnen einen Streifenwagen, versteht sich.“
Als sie auf der Autobahn an der Allianz-Arena vorbeirauschten, hoffte di Flavio auf eine Erläuterung zum Grund des Einsatzes. Aber stattdessen kommentierte Wimmer die Gegend und wies auf alle Bauten hin, die seit di Flavios vorigem Aufenthalt in München hinzugekommen waren. Sein Finger wies auf das beachtliche Stadion am Rande der Autobahn: „War die Allianz-Arena bei deinem letzten Besuch bereits fertig?“ „Nein.“
„Vermutlich die BMW-Welt ebenfalls Neuland?“, warf Heimstetten lachend etwas später ein. „Warten Sie, wir fahren für Sie eine Ehrenrunde.“ Di Flavio musterte interessiert das rechts neben der Stadtautobahn liegende imposante Bauwerk.
„Meine Wohnung, jetzt ihr Domizil, befindet sich in unmittelbarer Nähe“, klärte Heimstetten auf.
„Seit meinem letzten München-Aufenthalt hat sich offenbar einiges getan“, stöhnte di Flavio und mühte sich, bei der Weiterfahrt alle größeren Neubauten zu mustern. Ein Autohaus fesselte seinen Blick. Wie Spielzeugfahrzeuge standen die Autos in den vielen Fenstern des Hochhauses neben der Brücke und bildeten ein Fassadenmuster besonderer Art. Leider flogen die meisten Gebäude zu rasch am Autofenster vorüber, als dass di Flavio sie sich hätte einprägen können. Er atmete erleichtert auf, als sie das Präsidium in der Innenstadt erreichen.
Als sich Wimmer und Heimstetten kurz entschuldigten und er allein im Raum zurückblieb, trat er ans Fenster. Sein Blick suchte die Frauenkirche und ihre beiden Zwiebeltürme. In dem Ausschnitt der Fußgängerzone, den er überblickte, hasteten Menschen hin und her, beladen mit Einkaufstüten. Di Flavio fielen die düsteren Prognosen der letzten Zeit über eine Rezession ein, die Schließungen von Kaufhäusern. Offensichtlich war die Kaufingerstraße in München nicht betroffen. Wimmers Auftauchen hinderte ihn, weitere tiefschürfende Überlegungen anzustellen.
„Wir können.“
Di Flavio folgte Wimmer in einen mittelgroßen Besprechungsraum. Unterlagen stapelten sich auf einem ovalen Tisch und verdeckten seine glänzende Oberfläche aus Mahagoniholz fast vollständig. Er zog sich einen der acht Stühle heran.
„Kaffee? Cappuccino können wir noch nicht bieten. Bei deinem nächsten Besuch – wir sind dran.“
Di Flavio nickte und lächelte. Heimstetten stellte eine geblümte Tasse mit Kaffee und einen Plastikbecher mit Kaffeesahne vor ihm ab. Der Commissario verzichtete auf den besserwisserischen Hinweis, dass in Italien nur morgens Cappuccino getrunken und ansonsten eher Espresso bestellt wird. Aber vielleicht war in Italien inzwischen alles ganz anders? Die Jugend besaß ihre eigenen Marotten und sein letzter Besuch lag drei Jahre zurück. Er nippte vorsichtig und war versucht zu grinsen. Wie vermutet: Bürokaffee, stark und bitter, etwas abgestanden, den man so nebenbei in sich rein schüttet, ohne ihn zu schmecken, weil man mit den Gedanken woanders ist. Er setzte die Tasse ab, wartete darauf, dass Wimmer zur Sache kam.
„Die Wiesn wird mehr und mehr von den Medien entdeckt. Die ersten Jahre waren nur die Bayern-Programme mit kleineren Beiträgen dort. So nach dem Motto, Oma feiert ihren 100.Geburtstag im Festzelt oder Oberbürgermeister Reiter geht mit seinem Schulfreund beim Schichtl vorbei. Aber das ist Vergangenheit. Jetzt überschlagen sich alle. Ob RTL, München TV oder sogar das Erste, alle wollen dabei sein, wenn Paris Hilton – oder wie die Sternchen heute heißen – den Maßkrug an den Mund setzt oder die schwedische Prinzessin Riesenrad fährt. Selbst arte und 3sat finden noch Themen auf der Wiesn: Kunst auf der Geisterbahn oder so etwas in dieser Art. Dies macht unsere Wiesn zwar interessant, aber alles verkommt zum Spektakel.“ Er räusperte sich und zögerte einen Moment. „Entschuldige. Meine persönliche Meinung. Sollte eigentlich nicht so stark mit einfließen.“ In seiner Stimme schwang ein bitterer Unterton.
Di Flavio wiegelte ab. „Capito.” Er konnte sich gerade noch bremsen. Beinahe hätte er eingeflochten, dass sogar seine Frau es unumgänglich fand, mit ihren reichen Freunden aus Mallorca zur Wiesn zu jetten.
„Aufgrund des enormen Ansturms hat der Stadtrat beschlossen, die Wiesn-Fläche im nächsten Jahr zu erweitern. Ein neues Zelt soll hinzukommen. Der Stadtrat entscheidet im Januar, wem das neue Zelt überantwortet und wem die Ehre eines neuen Wiesn-Wirts zuerkannt wird. Das wäre nicht weiter tragisch und ist nicht unser Bier. Doch die Medien haben bereits in diesem Jahr einen Wettbewerb angezettelt. Eine Art Vorausscheidung, unter dem Motto: München sucht seinen SuperwiesnWirt.
Zwei Bewerber sind im Wettbewerb und müssen diverse Prüfungen bestehen. Die eingesessenen Wirte, die Gäste im Zelt und natürlich die Fernsehzuschauer werten über eine Hotline. Es gibt eine Spezial-App! Vier Tage lang läuft jeden Tag eine Sendung. Das Ergebnis des Vortages wird groß und breit eingeblendet, fast wie bei einer Weltmeisterschaft, mit viel Brimborium drum herum, versteht sich.“
Di Flavio schüttelte ungläubig den Kopf. „Dio!“ Wimmer fühlte sich verpflichtet nachzuschieben: „Der Bewerber arbeitet eine Weile beim Ausschank oder beim Service, reinigt die Abtritte, spült Gläser, so jedenfalls stand es in den Medien zu lesen. Eben halt so Unsinn, den Fernsehleute sich ersinnen.“
„Capito, sozusagen Bewährung im Oktoberfestdschungel?“, warf di Flavio lachend ein.
„Ich finde diesen Zirkus zum Auswachsen. Als echtem Münchner geht mir der Hut hoch. Ich frage mich, ob die Stadträte sich nicht, entgegen der Tradition, verpflichtet fühlen, Stellung zu beziehen. Sie sind zwar an die Auswahl nicht gebunden, aber es entsteht öffentlicher Druck.“ Wimmer goss sich etwas von der auf dem Tisch stehenden Giftmischung in seine Tasse und würgte das schwarzbraune Gesöff mit ein paar Schlucken runter. Seine Wangen waren vor Eifer gerötet und seine hellen Augen blitzten vor Ärger. Mit einem Poltern stellte er die Kaffeetasse auf den Tisch. Die restliche Flüssigkeit schwappte auf die polierte Tischplatte und rann Richtung Unterlagen. Heimstetten beeilte sich, den Schaden mit einem Tempotaschentuch zu beheben und entsorgte das vollgesogene Teil in einem Papierkorb in der Ecke. Mit gefasster Stimme setzte Wimmer die Einweisung fort.
„Keine Angst, ich bin gleich am Punkt. Uns interessieren die beiden Bewerber. Ein Mann und eine Frau. Die Bewerberin, jung und fesch, ist, obwohl in München geboren, italienischer Abstammung. Sie besitzt die deutsche Staatsangehörigkeit. Ihre Mutter ist Deutsche. Ihr Vater ist Italiener der ersten Generation. Inhaber zweier Nobelrestaurants, wo, na, wo unsere Reichen und Schönen sich ein Schickimicki-Stelldichein geben. Also hat unsere Schöne die Medien geschlossen hinter sich, denn natürlich hat sie ihre wöchentliche Koch-Show und kennt sich mit PR bestens aus. Die Pressefritzen können gar nicht genug von ihr bekommen. Sie überschlagen sich, von wegen der Einmaligkeit …, und Migration sei wichtig und so weiter, und so weiter. Sie ist fünfunddreißig, noch zu haben und alle Männerherzen schlagen höher, wenn sie die Bühne betritt.“
„Und der andere ist ein richtiger Bajuware durch und durch?“
„Allerdings. Ihm gehört eine Wurstfabrik und so ziemlich die gesamte Wurst, die beim Oktoberfest gegessen wird, stammt aus seiner Fabrik.“
„Nun, da könnte ihm die Sache doch wurscht sein? Verzeih, kleiner Scherz am Rande, die deutsche Sprache hat manchmal so herrliche Verquickungen.“
Das bislang ernste Gesicht von Hans Wimmer verzog sich zum ersten Mal zu einem Lachen. Di Flavio konnte sich nicht verkneifen zu fragen: „Und warum will der Wurstfabrikant sich den Stress mit einem Wiesn-Zelt antun? Das ist mir unklar. Die Frau, nun gut. Sie will ihrem Vater imponieren, rate ich mal.“
„Keinen Schimmer, warum er den Hals nicht vollkriegen kann. Denke, es geht ihm um die gesellschaftliche Anerkennung, die mit dem Posten einhergeht: die Kutsche beim Wiesn-Umzug und alles, was sonst dazugehört. Aber das ist für uns unwichtig und geht uns nichts an. Für uns wichtig ist eine Information, die besagt, dass die Mafia bzw. die ‘Ndrangheta unauffällig mitmischen will. Aus diesem Grund haben wir dich als Spezialisten angefordert. Wir können uns einfach nicht erlauben, dass auf dem Oktoberfest etwas passiert.“
„Eine Italienerin und sofort ist die Mafia im Spiel? Seid ihr da nicht voreilig? Entschuldige Hans, aber … Sind die Informationen gesichert? Natürlich könnte ich mir vorstellen, dass die ehrenwerte Gesellschaft liebend gern an dem großen Business Oktoberfest mitverdienen möchte. Aber das Ganze scheint mir weit hergeholt.“
„Wir müssen übervorsichtig sein, versteh doch Tino. Dir muss ich nach dem Vorfall in Duisburg nichts erklären. Es steht einfach zu viel auf dem Spiel. Vielleicht reagieren wir über, aber besser so, als anders. Wir möchten halt alle Möglichkeiten abklopfen und bitten dich um Hilfe.“
„Natürlich haben wir überlegt, ob nicht die Gegenseite mit ihren traditionsbewussten Leuten ebenso ihre Hände im Spiel haben könnte. So ganz harmlos sind die Machenschaften mancher Leute aus diesem Lager in der Vergangenheit ebenfalls nicht gewesen, nicht wahr, Chef?“, meldete sich Heimstetten zu Wort.
„Aus welcher Quelle stammen die Informationen? Aus Italien? Was wissen Sie von meinen Leuten über Telefonaufzeichnungen? Besteht Kontakt?“
„Nicht konkret. Wir haben einen Hinweis, mehr nicht. Die Quelle ist geheim. Wir besitzen keine Möglichkeiten der Telefonüberwachung. Ihr seid in Italien besser dran. Uns sind die Hände gebunden, ein einfacher Verdacht reicht nicht aus. Trotzdem. Ich stelle mir vor, das Umfeld der Dame vorsichtig zu eruieren. Wenn du dazu deine Kontakte einsetzt … Du verfügst über die entsprechenden Kanäle.“
„Heimstetten wird dir helfen. Reisekosten und Aufwand werden nach den Reisekostenrichtlinien Ausland abgerechnet. Die Spesen sind bei den EU-Beamten recht großzügig, habe ich mir sagen lassen. Sieh die Berufung als Auszeichnung an. Heimstetten hat sich für dich starkgemacht.“ In Wimmers Stimme schwang eine Spur Neid.
„Ich soll in euren Nobelschuppen essen gehen? Hört sich verlockend an. Zwar kann ich mir nicht erlauben zuzulegen, aber bei einem guten Essen vergesse ich meine Vorsätze.“
Wimmer warf ihm einen abschätzigen, aber auch belustigten Blick zu und frotzelte: „Stimmt, du rangierst über dem Limit. Die Nachteile des Schulungsjobs?“ Di Flavio beließ es dabei, er verspürte wenig Lust, seine Figur-Probleme an dieser Stelle auszuwalzen.
„Unsere Bewerberin gibt heute einen Empfang auf der Roseninsel. Wir haben überlegt, dich einzuschleusen. Aber die Zahl der Gäste ist klein gehalten. Morgen beim Bankett von Ochshammer, so heißt unser Wurstfabrikant, lache nicht, kannst du dich umsehen. Als Veranstaltungsort wurde die BMW-Welt ausgewählt. Erinnere dich, wir sind daran vorbeigefahren. Ein Highlight für alle München-Besucher. Man bietet dir gleich noch Sightseeing.“
„Ich hasse Empfänge, ebenso wie Sightseeing.“
Wimmer lachte laut. „Wir sind uns einig? Heimstetten ist vor Ort und gibt dir unauffällig Hinweise. Informiert dich über das who is who. Hier“, er nahm eine Mappe mit Papieren vom Tisch und reichte sie di Flavio, „vorab die wichtigsten Dossiers, außerdem Presseartikel aus den letzten Tagen, zum Einlesen.“
„Hilfe! Mein Deutsch ist eingerostet. Heimstetten soll mir das Wichtigste zusammenfassen. Ich schaue mir die Fotos an und checke die Fakten.“
„Viel Spaß. Ich schicke dir den Jungen, sag ihm selbst, was du brauchst. Er hat übrigens viel bei dir gelernt, ich bin sehr zufrieden mit ihm. Pfüadi.“
„Sie haben mir also München und das Oktoberfest eingebrockt, Heimstetten“, sagte der Commissario mit einem Lächeln, als Heimstetten mit den Erläuterungen zu den Fotos und den Fakten durch war.
„Commissario, Sie haben stets vom Oktoberfest geschwärmt. Sie wissen schon“, seine Hände deuteten frauliche Formen an, „von den offenherzigen Ausschnitten der Madln. Ich dachte, Sie sind begeistert. Etwa nicht?“
Di Flavio verdrehte die Augen. „Kalt erwischt! Erzählen Sie das mit den Rundungen nicht meiner Frau. Sie plant einen Besuch mit Freunden zum Oktoberfest. Allora, dann werden wir die Sache mal angehen. Womit ich nicht an das Sichten der offenherzigen Dekolletees denke.“
Heimstetten hob den Daumen zum Einverständnis. „Deal? Sie nehmen mich mit zu den Edelitalienern?“
„Spüren wir die Mafia bei einer Linguine mit Trüffeln oder bei einem Lachscarpacchio auf, abgemacht. Wann geht es morgen in die Startlöcher? Um 21.00 Uhr oder später?“
„Wir sind nicht in Italien. Wesentlich früher, gegen 19.00 Uhr, aber 19.30 Uhr reicht. Warten Sie, ich gebe Ihnen gleich Ihre Einladungskarte. Treffen wir uns unten an der Garderobe, jede volle Stunde?“
„Na gut, Herr Heimstetten, hier sind Sie der Boss. A domani.“ Er zwinkerte dem jungen Kollegen zu und wandte sich zum Gehen. Heimstetten drückte ihm die Schlüssel seiner Wohnung in die Hand, erklärte ihm nochmal den genauen Weg zur Nadistraße. Zum Schluss steckte er ihm eine Streifenkarte zu.
Als der Commissario Richtung Marienplatz ging, fiel ihm Luigi ein. Falls Luigi noch bei der Brauerei arbeitete, könnte sich der Kontakt als hilfreich erweisen. Unter Umständen ersparte er sich mit einem Gespräch das ganze idiotische Rumstehen beim Bankett. Aber natürlich wollte er Heimstetten seine Rolle nicht vermiesen. In Zukunft würde er vorsichtiger mit seinen Äußerungen gegenüber den jungen Kollegen sein.
*
Ludwig war blind für seine Umgebung. Sein Blick brannte ein Loch in den blank gefegten Boden des Friseursalons. Verlegen trat er von einem Bein auf das andere. Wütend auf sich selbst und auf seine Tante. Er hätte ihren Vorschlag ablehnen sollen. Wie einen Affen im Zoo gafften ihn die Frauen an, am liebsten würde er stiften gehen. Keine Chance. Er musste das Ding durchziehen. Die Friseurmeisterin und seine Tante beugten sich über eine Abbildung des jungen Kini. Die Salonbesitzerin nickte. „Ja, das können wir machen, die Haarlänge könnte hinkommen, ein paar Zentimeter weniger vielleicht?“ Eine der anderen Friseusen umrundete ihn, als wäre er aus Bronze und ein Standbild. Sie schloss sich dem Urteil ihrer Vorgesetzten an: „Ja, einen Zentimeter werden wir wegnehmen müssen. Schneiden Sie, Chefin, oder soll ich?“
Sie behandelten ihn wie eine Puppe. Demütigend. Er fluchte innerlich. Je rascher sie anfingen, desto schneller konnte er wieder raus aus diesem vermaledeiten Laden. Hoffentlich verschandelten sie seine Frisur nicht vollends. Kein Ende in Sicht! Julia stellte ihn überall als ihren Neffen vor und ältliche Frauen, unter Hauben oder mit Alufolien im Haar, gafften ihn an. Fehlte nur noch, dass sie ihm über das Haar strichen! Oberpeinlich. Er machte einige Schritte rückwärts und schaute demonstrativ weg. Die Chefin des Salons nahm ihn beim Arm.
„Ich erlöse dich, komm mit.“ Sie führte ihn in einen kleineren Nebenraum. „Nimm Platz, wir sind in der Herrenabteilung.“
Die beiden Männer, die vor den Spiegeln saßen, lasen weiter in ihren Zeitschriften und schauten nicht auf. Ludwig atmete auf. Haarwäsche. Eine junge, türkische Friseuse lächelte und massierte gekonnt seinen Kopf. Er entspannte sich allmählich. Anschließend begann die Chefin, sein Haar zu schneiden.
„Ich stamme aus Berlin“, erzählte sie im Plauderton, „seit ein paar Jahren wohne ich in München. Hast du mit deiner Tante schon den Fernsehturm besichtigt und …“ Wie Wasser über verschieden große Steine plätscherte ihre muntere Stimme mal laut mal leise und erläuterte ihm, welche Sehenswürdigkeiten München bot. Ihr Redefluss entband ihn, selbst einen Beitrag zu liefern.
Hin und wieder musterte er sich vorsichtig im Spiegel. Noch sahen seine – jetzt nassen – Haare normal aus. Er atmete auf und lehnte sich beruhigt zurück. Fön und Lockenstab riefen sein Misstrauen wieder auf den Plan. Sein Abbild veränderte sich mit jeder Drehung der Bürste. Er scheute sich mehr und mehr, in den Spiegel zu schauen. Er ignorierte, was mit seinen Haaren angestellt wurde.
Sein Blick streifte den Platz draußen und die ihn umgebenden Hochhäuser. Bei seiner Ankunft hatte ihm Tante Julia alles gezeigt. Siebziger Jahre Betongrau ragte in hohen Türmen um den Platz. In Kübeln dekoriertes Grün vor einem Café und einem griechischen Restaurant, Caféhausstühle und Tische, Bücher vor einem Buchladen, Modezeug an einem Ständer vor einem Geschäft mit Geschenken. Mit seiner Bemerkung: „Voll krass, det is ja ‘n richtiges Getto. Aber nich so ville Bemalung, wie bei uns überall“, hatte er sich einen Rüffel eingeheimst.
„Es ist eine Hochhausanlage und hier wohnen sehr viele Menschen, stimmt. Doch wir achten halt auf unsere Nachbarschaft. Ein Getto oder Ghetto, im übertragenen Sinn, ein sozial desolates Viertel, kann dadurch nicht entstehen“, hatte sie ihn verschnupft und schulmeisterlich zurechtgewiesen, so dass er seither keine Stellung mehr bezogen hatte. Dann eben keen Getto, dachte er, und daran, dass, wenn diese Friseurquälerei erledigt sein würde, er in dem Laden mit den Computern nebenan abtauchen würde. Schauen, was die Kisten so drauf haben. Hoffentlich war es dort nicht zu teuer. Bei allen Dingen, so sein Eindruck, musste er mehr löhnen, als zu Hause. Gut, dass seine Tante nicht kleinlich war.
„So, Ludwig, jetzt sind Sie wirklich der Ludwig“, sagte die Friseuse in seine Tagträumereien hinein und trat einen Schritt zurück.
Ein vorsichtiger Blick Richtung Spiegel. Ein Schrei.
„Nee, wirklich. Det bin nich Icke.“
Fremd und jung starrte ihm ein helles längliches Gesicht entgegen, mit blauen, erschreckt blickenden Augen unter dunklen Brauen. Das ebenso dunkle Haar lag am Oberkopf gescheitelt an, um sich dann an den Seiten in Locken bis zum Ohr zu bauschen. Seine erste Reaktion war, sofort zu verschwinden, den Kopf unter Wasser halten und den alten Zustand wieder herzustellen.
„Jeeht det och wieder wegzumachen“, fragte er hilflos.
„Ja klar, aber ich denke, du wolltest …“
Ludwig presste den Mund zusammen und überlegte. Ja doch, er wollte mit Nadine als Ludwig über die Wiesn gehen. Also murmelte er nach einer Weile schicksalsergeben: „Einverstanden, ick sehe aus wie der Ludwig auf dem Foto. Geht in Ordnung.“
Rasch befreite er sich aus dem Stuhl und eilte mit gesenktem Kopf hinaus. Irgendeinen Kommentar könnte er jetzt schwer ertragen. Erleichtert registrierte er, dass seine Tante im Hauptsalon nicht auf ihn wartete. Ohne sie hielt sich das Interesse an ihm in Grenzen. Er war froh, dass ihn in München so gut wie niemand kannte. Wenn seine Kumpels in Berlin ihn derartig aufgerüscht sehen würden, würden sie in einen Lachkrampf verfallen. Während er in den Internetcafé ging, drückte er sich rasch die Kappe über die Haare.
*
Als Ludwig am Abend mit Nadine auf der Roseninsel eintraf, wand er sich. Am liebsten würde er einen Rückzieher machen oder sich auch jetzt seine Kappe über die Haare stülpen und die Hände in die Hosentaschen versenken. Aber das war unmöglich. Die geliehene Uniform gestattete nichts dergleichen. Sie saß eng am Körper, umspielte seine schlanke Taille und war von oben bis unten mit runden Metallknöpfen verschlossen. Die eigentlich dazugehörenden weißen Strumpfhosen hatten jeden Muskel betont.
„So wat ziehe ick nich an“, hatte er sich entrüstetet und sich geweigert, das Ding überzustreifen. Beinahe wäre sein Einsatz gescheitert, hätte Nadine nicht von irgendwo noch eine normale weiße Hose aufgetrieben. Sie war es auch, die ihm eingeredet hatte, er solle einfach so tun, als wäre er ein Schauspieler.
„Such dir einen aus. Di Caprio? Die stellen sich auch nicht an, sondern mimen in der entsprechenden Ausstattung einfach den König oder wen auch immer.“ Dem konnte er nichts entgegenhalten.
Er betrachtete nachdenklich Nadine. Sie glich in dem Sisikleid dieser Schauspielerin, für die Oma Herrmann immer schwärmte. Vielleicht sollte er sich den Schmarrn mal reinziehen, wenn er wieder in Berlin war. Ob die Sisi damals so gut gerochen hatte wie Nadine? Es war einfach schön, so nah bei ihr zu stehen, wenn es ihn auch ab und an in Verlegenheit brachte.
„Komm, wir stellen uns hier an die Tür. Ludwig denk dran, halt den Mund. Ich antworte. Wir gehen später zwischen den Leuten herum. Es ist ein Stehempfang und lächle einfach, dann bist du umwerfend. Hoffentlich wollen dich nicht alle Frauen mit nach Hause nehmen.“ Sie lachte und ihr Lachen klang hell, wie die kleinen Glöckchen, die damals um den Hals seines Lieblingsschmusetieres baumelten. „Wenn sie uns fotografieren wollen, dann stellst du dich neben mich, oder wenn gewünscht, einfach neben die Person. Nochmal: Denk dran: Schweigen ist Gold.“
Langsam trudelten die ersten Gäste ein. Sie kannten sich offenbar und es setzte ein, in seinen Augen unnatürliches, allgemeines Bussi-Bussi ein. In dem nicht übermäßig großen Raum könnten sie sich ja auch gar nicht aus dem Weg gehen, höchstens auf die beiden Terrassen könnten sie ausweichen, stellte er fest. Ein unbeschreiblich wohltuender süß-lieblicher Duft flutete durch die offenen Türen und berauschte ihn. Dass Rosen so schön riechen konnten, das sollten sie sich hier patentieren lassen. Die hereinströmenden Frauen und Männer begeisterten Ludwig weniger. Er fand, sie sahen auf eine gewisse Art alle irgendwie gleich aus und erschienen ihm, von ein paar Ausnahmen abgesehen, uralt, unnatürlich gepudert und aufgedonnert wie zu einem Jahrmarkt zu sein. Zwischen ihnen wieselten Fotografen hin und her. Sowie bei einem von ihnen eine Kameralinse auftauchte, unterbrachen sie ihre Gespräche und posierten. Wenn sie ihn oder Nadine sahen, stießen sie kleine spitze Schreie aus. Anfangs hatte er jedes Mal einen Heidenschreck bekommen. Wenn Nadine ihm nicht so lieb zugezwinkert hätte, hätte er wohl schon mal den Mund aufgemacht und ihm wäre ein: „Wat soll denn dat? Bleiben Se doch cool“, herausgerutscht.
„Ist er nicht süß und herzig, unser Ludwig?“, behaupteten sie stets. „Woher wissen die meinen Namen?“, mokierte er sich noch beim ersten Frager etwas dümmlich. „Scherzkeks, du bist doch Ludwig II.“, lachte ihn Nadine aus.
Inzwischen genoss er seine Rolle. Zwar hatte er bei einer Schulaufführung den Bayernkönig spielen dürfen und von seinem Thron würdevoll den Untertanen zugewunken. Aber dafür hatte es weder Kohle gegeben, noch war ein Mädchen wie Nadine im Spiel gewesen.
Er hielt sich auf der Roseninsel auf! Unfassbar! Auf der Insel, die sein Idol, der richtige König Ludwig, über alles geliebt hatte. Er konnte den König voll verstehen. Die Insel gefiel ihm von Minute zu Minute besser. Und überhaupt, eine Insel zu besitzen, das war der Supergau. Eine Insel in der Havel, käme ihm persönlich mehr zu pass. Im Sommer könnte er seine Freunde zum Baden und Grillen einladen. Im Augenblick stand er wie ein vergessenes Theaterrequisit herum, während Nadine im Raum herumturnte. No problem. Er schaute sich im kleinen Saal um, in dem die Veranstaltung stattfand. Sollten die auf die wassergrünen Wände gemalten Figuren alte Griechen oder Römer darstellen? Ludwig trat einen Schritt vor, um die halb nackten Gestalten eingehender zu betrachten. Eine angenehme Stimme überraschte ihn von hinten:
„Na, bewundert der König die Götter? Dionysos, den Weingott, Hermes als Entenjäger, Aphrodite mit den Perlen oder über dem schönen Kamin aus Keramik von Villeroy & Boch, Zeus, den Göttervater mit Hera seiner Frau und auch seiner Schwester, ja bei den griechischen Göttern war alles möglich. Oben im eigentlichen Speisesaal findet Ihre Majestät noch ein paar mehr Abbildungen und den Schreibtisch mit dem Geheimfach, in dem Ihre Majestät, die Kaiserin von Österreich manchmal Briefe oder Gedichte für Sie versteckte.“ Bei diesen Worten zwinkerte die Besitzerin der Stimme ihm verschwörerisch zu und ihre Augen lächelten, ob des Scherzes.
„Ick weeß schon, det mit Griechenland und dem bayerischen König da, det habe ick gelesen und och det mit de Gedichte von der Sisi, Adler und Möwe und so.“
„Ah, unser Ludwig kennt sich aus, obwohl er ein waschechter Berliner ist, sieh an.“ Ludwig drehte den Kopf in Richtung der Stimme. Am liebsten würde er die ältere Dame mit den weißen Haaren, die so gut Bescheid wusste, bitten, ihm mehr über die Götter und das Haus zu erzählen. Sie fragen, aus welchem Grund die Zeichnung etwas mit Pompeji zu tun hatte. Aber sie verschwand so plötzlich, wie sie gekommen war. An ihrer Stelle erschien Nadine und stupste ihn in die Seite. Alle Gespräche versiegten. Die Augen der Anwesenden richteten sich auf die sich öffnende Flügeltür. In ihrem Rahmen erschien eine überirdisch schöne junge Frau. Sie blickte lächelnd auf die Menge.
„Die Gastgeberin, ich bin mit ihrer Cousine in die gleiche Klasse gegangen. Aber ich habe sie ewig nicht mehr gesehen, nur im Fernsehen, bei ihren Shows. Sie heißt Claudia“, flüsterte ihm Nadine hinter vorgehaltener Hand zu und reckte den Hals. Unnötig. Im nächsten Moment stand diese Traumfrau direkt neben ihnen.
*
„Lächeln Claudia, ja, so ist‘s gut, ja, und jetzt, drehen und jetzt, etwas zurück, ja, ja, wundervoll, das wird gut, du kommst einfach Klasse rüber.“
Claudia schmunzelte. Natürlich kam sie gut rüber, kein noch so winziges Detail war dem Zufall überlassen worden: Ein Kleid von Rena Kurzer, trachtig, aber nicht Tracht, mit einem Ausschnitt, der alles zeigen würde, würde nicht Gaze die Schicklichkeit wahren. Schuhe von Manolo Blahnick – bereits eingelaufen. Ihre Frisur nach Kaiserin Sisis Vorbild gestaltet. Ihre Friseuse, der Schatz, hatte sie überredet, die halblangen Haare mit falschem Haar zu verflechten und mit Sternchen zu befestigen. Sie hatte Wert darauf gelegt, weder süßlich noch übermäßig rausgeputzt zu erscheinen. Wichtig war ihr, eine sorgfältig hergestellte Natürlichkeit auszustrahlen. Sie wollte gewinnen und sie würde gewinnen! Ihr Plan: Alles sollte leicht aussehen, vergleichbar einem guten Gericht. Man sah ihm die stundenlange Arbeit für seine Herstellung nicht an. Im Gegenteil, das Essen schien einfach und locker. Es zerging auf der Zunge und entfaltete Aromen im Gaumen. Es besaß Suchtpotential.