Seerosen von Monet - Louis Geras - E-Book

Seerosen von Monet E-Book

Louis Geras

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Beschreibung

Als sich Felicitas Hope und Pierre Rodin an der einsamen Küste der Normandie treffen, sind sie beide auf der Flucht: Felicitas vor einer schockierenden Vergangenheit und Pierre vor einer beängstigenden, ungewissen Zukunft. Obwohl sie sich sofort zueinander hingezogen fühlen, vermeiden sie anfänglich jeden Kontakt. Erst ein schicksalhaftes Zusammentreffen am Strand, während dem Felicitas Hope Pierre Rodin das Leben rettet, lässt sie ihre Entscheidung überdenken. Für eine gemeinsame Zukunft nehmen sie den scheinbar aussichtslosen Kampf gegen ihre Ängste und ihr Schicksal auf.

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Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen und realen Instituten, sowie mit tatsächlichen Ereignissen sind rein zufällig und unbeabsichtigt.

Buch

Als Felicitas Hope und Pierre Rodin an der Küste der Normandie aufeinandertreffen, sind beide auf der Flucht: Felicitas vor einer bedrückenden Vergangenheit und Pierre Rodin vor einer ungewissen beängstigenden Zukunft. Aber erst ein schicksalhaftes Zusammentreffen der Beiden am Strand und der Wunsch auf eine gemeinsame Zukunft lässt sie den Kampf gegen ihre Ängste aufnehmen.

Inhaltsverzeichnis

Albtraum in Kehl

Träume

Sehnsuchtsort Venedig

Erkenntnisse in Mailand

Flucht aus Nizza

Madame Millet

Sturmflut

Dieppe

Mount St. Michel

Charles Verdun

Weihnachtsstürme

Rückkehr nach Kehl

Leon Duvall

Basler Bank

Dr. Imberg

Pierre Rodin

Paris

Epilog

Ein Meer von Diamanten lag zu ihren Füßen. Zumindest erschien es ihr so. Die Sonne brach sich in den unzähligen Wassertropfen des ans Ufer schlagenden Meeres. In Erinnerungen versunken stand sie da und blickte auf die unendliche Weite der Nordsee. Leise rauschte das Meer. Die Möwen stießen ihre schrillen Schreie aus und schwebten scheinbar mühelos über der Felsklippe, die hinter ihr aufragte.

Nichts hatte sich verändert … und doch alles. Das Meer, die Küste, der Strand lagen unverändert vor ihr. Und doch erschien ihr alles anders – denn sie hatten ein neues Leben erhalten...

Als sie ihn ihren Namen rufen hörte, wandte sie sich um. Er eilte die letzten steinernen Stufen zur Bucht herunter und trat neben sie. Zärtlich legte er seinen Arm um ihre Taille. Eine Weile schwieg er, während er seinen Blick in die Ferne richtet. Dann schloss er für einen Moment die Augen, atmete den würzig-salzigen Geruch des Meeres tief ein und ließ seinen Atem langsam genussvoll entweichen. Als er seine Augen schließlich wieder öffnete, lag ein befreites Lächeln auf seinem Antlitz. Dann sah er sie an. In seinen Augen spiegelte sich der Himmel, seine Liebe und ihre Zukunft…

Albtraum in Kehl

Als die Tür hinter Felicitas Hope ins Schloss fiel, zuckte sie erschrocken zusammen. Sie wankte leicht. Nach Halt suchend streckte sie ihre Hand nach dem Geländer aus und tastete sich vorsichtig die letzten Stufen der hinunter. Am Treppenabsatz blieb sie stehen und krümmte sich zusammen. Für einen Moment schloss sie die Augen. Ihr Blut rauschte in ihren Adern. Nur mit Mühe schaffte sie es ein- und auszuatmen. Sie stolperte noch ein paar Schritte weiter und lehnte sich schließlich im düsteren Parterre mit dem Rücken an die Wand. Immer wieder zwang sie sich die abgestandene Luft einzuatmen. Nach und nach ließ die Panikattacke nach. Ihr Herzschlag normalisierte sich. Ihr Atem wurde ruhiger und der Schwindel legte sich. Sie spürte, dass ihre Bluse am schweißnassen Rücken klebte. Gleichzeitig kroch die Kälte an ihren Beinen hoch, obwohl es draußen immer noch sommerliche achtundzwanzig Grad hatte.

Erst vor einer Stunde war sie die Stufen zu Dr. Moreaus Ordination hinaufgeeilt. Man hatte sie ersucht noch einmal in der Praxis des Arztes vorzusprechen, da sich Ungereimtheiten bei der letzten Untersuchung ergeben hatten. Atemlos öffnete sie zehn Minuten zu spät die Tür zum Eingangsbereich. Eine Kundschaft im Geschäft hatte sie aufgehalten. Frau Kerten, die Arztassistentin, blickte sie tadelnd über ihre randlose Brille an. Dann schob sie die Brille an ihren Platz und nahm die dargebotene Versicherungskarte mürrisch entgegen. „Nehmen Sie noch etwas Platz, Frau Hope. Der Herr Doktor wird Sie dann aufrufen“, sagte sie brüsk und wandte sich wieder ihrem Computer zu, auf dessen Tastatur sie hektisch einzuschlagen begann. Felicitas hängte ihre Jacke auf und setzte sich in den Warteraum. Unruhig blickte sie immer wieder auf die Uhr. Die Sekunden krochen dahin und erschienen ihr wie eine Ewigkeit. Schließlich ergriff sie eine der Zeitschriften, die auf einen Tisch im Zentrum des Raumes lagen, und blätterte die Seiten um, ohne diese tatsächlich zu betrachten. Sie war die einzige Patientin. Trotzdem dauerte es mindestens noch zwanzig Minuten, ehe Dr. Moreau erschien. Er wischte sich mit dem Handrücken ein paar Krümel vom Kinn und setzte dann sein vertrauenerweckendes Lächeln auf. Er begrüßte Felicitas im väterlichen Tonfall und diese folgte ihm in seinen Behandlungsraum. Kaum hatte Felicitas sich gesetzt, als der Arzt nachdenklich die Patientenakte heranzog, aufschlug und ein ernstes Gesicht aufsetzte. Dr. Moreau, den Felicitas schon viele Jahre kannte und der auch schon ihre Mutter betreut hatte, blickte sie schließlich nachdenklich an. Felicitas spürte, wie ein kalter Schauer ihr über den Rücken lief. Ihr Herz schlug heftig und nervös begann sie ihre Hände aneinander zu reiben. „Du weiß warum ich dich hergebeten habe, Felicitas?“, begann er schließlich im vertraulichen Tonfall und legte seine Hände aneinander, als wolle er eine unsichtbare Mauer zwischen ihnen aufbauen. Eine unbewusste Geste, die dazu diente eine gewisse Distanz zu seinen Patienten zu wahren. Felicitas schluckte mühsam. Ihr Hals fühlte sich plötzlich trocken an. Sie ahnte, was nun kommen würde. Es war vorhersehbar gewesen. Ihre Mutter war noch nicht lange tot und die Erinnerung daran quälte sie jede Nacht aufs Neue. Eine äußerst aggressive Krebsart hatte man damals diagnostiziert. Fast zwei Jahre lang hatte sie das langsame Sterben ihrer Mutter miterlebt. Die Ängste mit ihr durchlebt, die Hoffnungen geteilt und mitgelitten, wenn sie zerstört wurden bei der nächsten Untersuchung. Aber vor allem hatten sich die quälenden Krebstherapien, die Übelkeit, die schrecklichen Schmerzen und der körperliche Verfall in ihren Verstand eingebrannt. Die letzten zwei Monate hatte ihre Mutter im Bett verbracht und Felicitas hatte sie Tag und Nacht gepflegt. Es war ein langes qualvolles, Morphium bestimmtes Sterben gewesen. Als sie dann starb, hatte Felicitas es als Erlösung für ihre Mutter empfunden. Aber auch für sie selbst, die die unendlich langen, schweigenden, einsamen Stunden am Bett ihrer Mutter ertragen hatte. Ihre Hilflosigkeit war das Schwierigste gewesen. Zusehen zu müssen und nichts tun zu können, als zu warten.

Felicitas Blick fiel auf ihre Hände. Sie waren vom Reiben inzwischen Rot. Sie wartete, dass Dr. Moreau endlich fortfahren würde. Ihre Augen brannten. Die Angst vor dem, was kommen würde, schnürte ihr die Kehle zu. Endlich schaffte sie es Doktor Moreau wieder anzusehen. Sein Schweigen dauerte ihr schon zu lange. Aber es fiel ihm wahrscheinlich auch nicht leicht die nächsten Worte auszusprechen. Trotz der vielen Jahre war er immer noch nicht so weit abgestumpft, dass er eine solche Nachricht - die für Felicitas nichts anderes als ein Todesurteil war - unbeeindruckt aussprechen konnte. Er räusperte sich mehrmals. Als er Felicitas angsterfüllten Augen auf sich gerichtet sah, fuhr er jedoch beschwichtigend fort: „Der Test war nicht eindeutig, Felicitas. Es tut mir leid, aber wir müssen ihn wiederholen. Nur um sicher zu gehen. Du solltest dir deshalb aber keine allzu großen Sorgen machen. Es ist nur eine reine Vorsichtsmaßnahme.“ Felicitas, die in den letzten Jahren so viele Beschwichtigungen und wohlgemeinte Halbwahrheiten gehört hatte, nickte nur wie betäubt. Längst hatte sie selbst das Urteil über sich gesprochen. „Tot“ lautete es. Felicitas wusste, dass Kinder von Eltern, die an Krebs gestorben waren, ein vielfach höheres Risiko hatten daran ebenfalls zu erkranken, als andere. Monatelang hatte sie sich mit nichts anderes beschäftigt. Sie kannte alle Spielarten des Krebses, seine Vorgehensweise, seine Wahrscheinlichkeit wieder aufzutreten. Aber vor allem kannte sie die Wahrscheinlichkeit der Heilung dieser Krebsform. Die meisten Erkrankten starben innerhalb von wenigen Monaten - am Krebs oder an Folgeerkrankungen. Sie spürte den Knoten in ihrer Magengegend. In ihrer Vorstellung breitete sich der Krebs bereits aus. Fraß sich in ihre Eingeweide. Gierig, unersättlich, unaufhaltsam. Sie hatte Röntgenaufnahmen vor Augen. Die schwarzen Flecken, die sich ausbreiteten. Anfangs vereinzelnd und im zunehmenden Stadium immer mehr, größer, bedrohlicher. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Plötzlich war ihr kalt. Als hätte sie bereits der Hauch des Todes berührt. Sie roch den kalten Grabgeruch, die feuchte Erde und die langsam verfaulenden Kränze, die auf dem Grab lagen. Und den Geruch nach brennenden Kerzen. Unwillkürlich zog sie ihre Bluse fester um die Schultern. Sie brachte keinen Ton heraus. Starrte den Arzt nur voller Furcht an. „Felicitas, sie brauchen sich wirklich keine Sorgen zu machen“, sagte er eindringlich, „Ich mache jetzt den Abstrich und in zwei Wochen spätestens wissen wir mehr. Nur weil ihre Mutter diese Krankheit hatte, heißt das noch lange nicht, dass sie auch betroffen sind. Und sollte es sich bewahrheiten, stehen ihre Chancen gut, da er in so frühen Stadium festgestellt wurde. Es besteht zurzeit kein dringender Verdacht darauf. Es ist wirklich nur eine Vorsichtsmaßnahme. Kommen sie!“ Felicitas nickte gehorsam. Sie war wie hypnotisiert und folgte dem Arzt in den Behandlungsraum. Gehorsam zog sie sich aus und setzte sich auf den Stuhl. Die Prozedur war kurz. Dr. Moreau schüttelte ihr zum Abschied die Hand und betonte noch einmal, dass es eine reine Vorsichtsmaßnahme wäre. Betäubt von der Angst und der Hilflosigkeit mit dieser Situation verließ Felicitas Hope die Praxis.

Und nun stand sie am Fuß der Treppe mit dem Rücken zur Wand und zitterte am ganzen Leib. Die Augen geschlossen und die Arme um die Brust geschlungen. Endlich nach einer viertel Stunde hatte sie sich so weit unter Kontrolle, dass sie das Wohnhaus, in dem sich auch die Praxis befand, verlassen konnte. Ziellos lief sie den Gehsteig entlang. Ihre Gedanken kreisten um die Krankheit und um den Tod ihrer Mutter vor fast zwei Jahren. Sie wollte das alles nicht noch einmal erleben. All diese verzweifelten Versuche das Leben festzuhalten. Sie erinnerte sich an die wütende Raserei ihrer Mutter wegen der Ungerechtigkeit des Lebens. Sie wollte die vielen Versprechen und Tröstungen nicht noch einmal hören. Um im selben Atemzug doch zu wissen, dass es nichts anderes als Lügen waren. Gut gemeinte Lügen, aber trotzdem Lügen. Wie oft hatten sie gehofft, die Krankheit besiegen zu können. Und im nächsten Moment mussten sie diese Hoffnungen in Grund und Boden gestampft sehen. Dieses qualvolle Auf und Ab der Gefühle. Hoffnung und Verzweiflung waren so nahe beieinander. Felicitas schüttelte den Kopf. Sie wollte das nicht. Sie wollte leben, nichts anderes. Einfach nur leben.

Irgendwann – der Abend brach bereits an - erreichte sie ihre Wohnung und öffnete die Tür. Sie hätte nicht sagen können, wie sie sie erreichte, welchen Weg sie gegangen war, oder wie lange sie gebraucht hatte. Sie stand im Flur und ließ die Tür hinter sich zufallen. Minutenlang stand sie nur da. Starrte stumpf auf den Teppich zu ihren Füßen. Dann streifte sie erschöpft ihre Schuhe ab. Unbeachtet blieben sie im Flur liegen. Langsam durchwanderte sie die einzelnen Räume. Alles in ihr war taub. Gefühllos. Ohne Empfindung. Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen. So fand sie sich selbst Stunden später auf ihrem Sofa sitzend vor. Inzwischen hatte sich die Dunkelheit der Nacht über Kehl gelegt. Draußen vor dem Fenster waren die hellerleuchteten Auslagenscheiben, die Straßenlaternen und Fenster der Nachbarwohnungen zu erkennen. Felicitas starrte aus ihrem unbeleuchteten Zimmer hinaus in die Finsternis. Sie sah Menschen die Straßen entlanglaufen, in der Straßenbahn sitzen, oder ihre Schatten hinter den Vorhängen vorbeihuschen. Gerade öffnete jemand ein Fenster ihr gegenüber und ein Mann beugte sich hinaus und sah hinunter. Er rief jemanden auf der Straße etwas zu. Felicitas konnte es nicht verstehen, aber der Mann lachte und winkte. Eine Frau trat hinter ihn heran und legte ihre Arme um seine Brust. Dann küsste sie ihn zärtlich hinterm Ohr. Er schloss die Augen und lächelte. Dann wandte er sich ihr zu und nahm sie in den Arm. Sie verschwanden in einen dahinter liegenden Raum. Die Vorhänge fielen zu und verbargen ihre Liebe. Ein Stich in Felicitas Herz. Sie würde nie mehr die Möglichkeit dazu haben. Sie würde nicht mehr die Zeit haben einen Freund zu finden. Es gab niemanden, der sie so liebte, wie sie war. Ohne Wenn und Aber. Kein Mann nahm sie zärtlich in den Arm, küsste und führte sie in das Zimmer dahinter. Langsam begannen die Tränen zu fließen. Zuerst kullerte nur eine Träne die Wange hinunter. Dann gesellten sich immer mehr dazu. Sie hob nicht die Hand um sie wegzuwischen. Sie ließ es einfach geschehen. Stumm starrte sie die Vorhänge der gegenüberliegenden Wohnung an. Sie stellte sich vor, wie der Mann die Frau küsste, wie er sie liebte, wie er sie begehrte. Sie konnte ihr leises lustvolles Stöhnen hören, ihre Bewegungen spüren, ihre Erregung fühlen und den Geruch der schwitzenden Leiber riechen. Minutenlang war sie in ihrer Vorstellung gefangen. Sosehr sehnte sie sich danach.

Als die Erkrankung ihrer Mutter sie zwang immer mehr Zeit bei dieser zu verbringen, hatte sich ihr damaliger Freund verabschiedet. Er konnte den Geruch nach Krankheit und Verfall - aber vor allem - die ständigen Klagen und Vorwürfe ihrer Mutter nicht länger ertragen. Er sagte, sie Felicitas würde den Gestank förmlich ausströmen. Alles roch danach. Ihre Wohnung, ihre Kleidung und ihr Körper. Auch konnte er die allgegenwärtige Präsenz ihrer Mutter nicht mehr ertragen, die ständig nach ihr verlangte und ihr keine Luft mehr ließ. Er ging und ließ sie allein. In dieser schwierigen Situation. Gerade als sie ihn am meisten brauchte, packte er seine Sachen. Sie sah sein Bedauern in seiner Miene, sein schlechtes Gewissen, welches er empfand, weil er sie in Stich ließ, aber auch die Unabänderlichkeit seines Entschlusses. Sie ließ ihn gehen. Sie hatte zu diesem Zeitpunkt nicht mehr die Kraft um für diese Beziehung zu kämpfen. So schloss sie nur leise die Tür hinter ihm. Kein Wort des Vorwurfs, keine Tränen und keine Bitten, er möge bleiben, brachte sie damals hervor. Sie hatte die Energie nicht mehr dafür. Monate später sah sie ihn wieder. An seiner Seite eine neue Frau. Blond, jung, hübsch. Sie lachten miteinander. Da verließ Felicitas das Lokal, obwohl sie gerade bestellt hatte. Sie konnte den Anblick nicht ertragen. Es war nicht sein schneller Neuanfang, der sie schmerzte, sondern der vermeintliche Verrat, den er an ihr begangen hatte, als er sie verließ und sie beneidete das Paar um die Unbeschwertheit ihres Lebens. Seit damals hatte sie kein Mann mehr berührt. Weder physisch noch psychisch. Sie ertrug deren Gegenwart nicht mehr. Unbewusst empfand sie jeden Mann als Verräter. Ihr Vater hatte sie als Kind genauso verlassen, wie später ihr Freund. Obwohl sie Sehnsucht nach einer Beziehung hatte, schaffte sie es nicht Vertrauen aufzubauen und Nähe zuzulassen. Ihr Herz trug tiefe Narben.

Irgendwann versiegten die Tränen. Die letzten fielen auf ihre Hände, die in ihrem Schoß lagen. Erschöpft sank sie zur Seite. Sie zog die Beine an und lag stumm zusammengekrümmt auf der Couch. Minuten später schlief sie ein.

*

Sie Sonne brannte ihr ins Gesicht als Felicitas erwachte. Sie blinzelte gegen das grelle Licht und drehte den Kopf zur Seite. Ihr Blick fiel auf die Uhr. Schon kurz vor Mittag. Trotzdem war sie wie gelähmt. Jede Bewegung war eine Qual. Sie blieb einfach liegen und starrte gegen die Wand. Irgendwo in ihren Hinterkopf sagte etwas, dass sie aufstehen sollte. Man erwartete sie in der Arbeit. Aber sie schaffte es nicht. Wiederum schloss sie die Augen und fiel in diesen betäubten Zustand. Ihr Telefon schrillte penetrant in der Stille. Sie bewegte sich nicht. Die Sonne wanderte weiter und das Zimmer versank im Dämmerlicht.

Gegen fünf Uhr Nachmittag schrillte die Türglocke laut auf. Immer wieder und wieder. Aber Felicitas reagierte nicht. Erst als jemand heftig an die Tür hämmerte und immer wieder ihren Namen rief, rappelte sie sich auf. Sie schleppte sich zur Tür und öffnete sie. Mia stand davor.

Mia Petrovic betrachtet ihre Freundin mit blitzenden Augen. Mia war groß und schlank. Sie hatte ihre langen blond gefärbten Haare hochgesteckt und mit bunten Bändern umwickelt. Enge Jeans und High Heels, die sie immer trug, betonten ihre perfekte Figur. Gerade stemmte sie verärgert die Hände in die Seite und blaffte Felicitas an: „Was ist denn mit dir los? Warum machst du nicht auf und schwänzt die Arbeit? Ich hatte alle Mühe ‚Mister Supercool‘ zu beruhigen, damit er sich nicht schon wieder bei der Geschäftsleitung über dich beschwert.“ Dann verstummte sie und betrachtete das verstörte Gesicht ihrer Freundin. „Du siehst furchtbar aus. Bist du krank? Ich habe mehrmals versucht dich zu erreichen. Warum gehst du nicht ans Telefon?“ Als sie bemerkte, dass Felicitas Augen sich mit Tränen füllten, verstummte sie abermals und musterte diese nun ernsthaft besorgt. Die schwarzen Spuren des verronnenen Kajalstifts zogen sich über die Wangen von Felicitas. Die brünetten Haare hingen wirr und zerzaust auf ihre Schultern. Der zerknitterten Kleidung sah man die unruhige Nacht auf der Couch an. Ohne weiter zu zögern, trat Mia endgültig ein und zog ihre Freundin in ihre Arme. So hielt sie sie eine Weile fest. Felicitas schlang ihre Arme um Mia und heulte. Es dauerte lange ehe es in Schluchzen überging und schließlich abebbte. Mia führte ihre Freundin ins Wohnzimmer, dabei strich sie ihr tröstend über den Rücken. Sie fühlte sich hilflos in ihrer Rolle als Seelentrösterin, umso mehr sie nicht wusste, warum Felicitas weinte. Unsicher schwieg sie. Im Wohnzimmer drückte sie die Schluchzende auf das Sofa und setzte sich neben sie. Sie wartete schweigend darauf, dass Felicitas zu erzählen begann, den Arm um deren Schulter. Schließlich kramte Felicitas ein Taschentuch aus ihrer Hosentasche und schnäuzte sich. Erst jetzt erkundigte Mia sich bei Felicitas, was passiert sei und sah ihre Freundin fragend an. Felicitas schüttelte nur verzweifelt den Kopf und schniefte in ihr Taschentuch. Mia tätschelte ratlos deren Hand und überlegte, ob Felicitas vielleicht einen Freund hatte, von dem sie, Mia, nichts wusste. Männer brachten jeden zum Heulen. Da Felicitas offensichtlich noch nicht bereit war über ihre Probleme zu reden, stand Mia auf und ging in die Küche wo sie Wasser für Tee aufsetzte. Sie trug zwei Tassen ins Wohnzimmer und stellte eine vor Felicitas hin. „Du solltest dir das Gesicht waschen gehen, Feli“, sagte sie mütterlich und stupste sie sanft an. Felicitas gehorchte automatisch. Sie fühlte sich, wie ein verwirrtes Kind, froh, dass jemand die Führung übernahm.

Sie trottete ins Bad und sah sich im Spiegel an. Ein hässlicher Harlekin blickte sie mit geröteten Augen aus dem Spiegel an. Ihr Gesicht war unnatürlich weiß und die schwarze Schminke hatte sich um ihre Augen verteilt. Sie beugte sich übers Waschbecken und wusch sich mehrmals mit eiskalten Wasser. Mit dem Handtuch in der Hand kehrte sie ins Wohnzimmer zurück, wo Mia gerade die Tassen mit heißen Tee füllte. Felicitas beobachtete sie. Sie beneidete Mia um ihr fröhliches unbeschwertes Wesen. Selbst jetzt wirkte ihr Gesicht entspannt und um ihren Mund lag ein friedvolles Lächeln. Nun hob diese den Blick und sah Felicitas besorgt entgegen. „Komm setzt dich“, forderte Felicitas Freundin sie auf und klopfte auf dem Platz neben sich, „Ich habe auch eine kleine Jause angerichtet. Du solltest etwas essen. Du wirkst, als könntest du eine Stärkung gebrauchen.“ Vor ihr auf dem Tisch stand ein Teller mit belegten Broten. Aber Felicitas verspürte keinen Hunger nur unendliche Müdigkeit. Trotzdem setzte sie sich gehorsam zu Mia. Sachte stieß diese sie an. „Nun?“, forschte Mia, als Felicitas schweigend zum Fenster hinaus sah. In der Wohnung gegenüber ging das Licht wieder an. Die Frau vom Vortag stand am Fenster und zupfte die Vorhänge zurecht. Felicitas wusste, dass bald der Freund der Nachbarin kommen würde. Wie hypnotisiert starrte sie zu ihr. Sie musste sich zwingen ihren Blick von ihr abzuwenden. Sie seufzte auf und sagte kaum hörbar: „Ich war gestern bei Dr. Moreau.“ Das war alles. Dann verstummte sie wieder, als wäre damit alles gesagt. Ihre Augen wanderten wieder zum gegenüberliegenden Fenster. In diesem Moment tauchte der Mann auf und gab der Frau einen Kuss auf den Nacken. Sie lachte auf und wandte ihr Gesicht dem Mann zu. Felicitas Augenbrauen zogen sich schmerzhaft zusammen, als sie sah, wie er seine Arme um ihre Taille legte. Mit Tränen in den Augen senkte sie den Blick auf ihre Hände. Mia hingegen sah sie bestürzt an. Die unheilvollen Worte hingen zwischen ihnen. Ihre Freundin hatte die schlimmste Zeit in Felicitas Leben miterlebt. Sie wusste sofort, wovon Felicitas sprach. „Er hat gesagt, sie müsste noch einmal den Test machen um sicher zu gehen“, fuhr sie leise fort, „Nur zur Vorsicht.“ Felicitas lachte kurz bitter auf und schüttelte verzweifelt den Kopf. Sie blinzelte und kämpfte vergebens gegen die aufsteigenden Tränen an. Mia hatte sich zu ihr gebeugt und ihre Hand ergriffen. „Vielleicht ist es ja wirklich nur eine Vorsichtsmaßnahme“, begann sie zögernd mit den Versuch Felicitas Ängste zu zerstreuen. Aber Felicitas schüttelte heftig den Kopf. „Das haben sie bei Mama auch gesagt“, flüsterte sie kaum hörbar, „Das haben sie bei ihr auch gesagt.“ Felicitas unglücklicher Blick wanderte zu Mia, blieb dort aber nur einen Moment hängen und schweifte weiter zum Fenster.

Auf der gegenüberliegenden Häuserseite beugte sich der Mann gerade über das Gesicht der Frau. Seine Hände fuhren durch ihr volles Haar und krallten sich sachte darin fest. Die Augen der Frau schlossen sich genussvoll, während sich gleichzeitig ihr voller Mund leicht öffnete. Felicitas konnte jedoch nur daran denken, dass durch die Chemotherapie ihre Haare büschelweise ausfallen würden. Sie hielt es nicht länger aus. Daher stand sie auf und ließ das Rollo herunter. Der Anblick der Liebenden war ihr unerträglich. Sie stand auf und setzte sich mit dem Rücken zum Fenster wieder hin. „Was soll ich nur tun?“, fragte sie dann unglücklich und sah Mia flehend an. Sie wusste natürlich, dass Mia ihr nicht helfen konnte. Trotzdem wiederholte sie die Frage: „Was soll ich tun, Mia?“ Mia schüttelte mitleidig den Kopf. Sie wusste nicht, was sie auf diese Frage antworten sollte. Sie erinnerte sich daran, wie schwer die letzten Jahre für Felicitas gewesen waren. Jedes Wort schien ihr oberflächlich und unangebracht. Beschwichtigungen und Schönfärberei. Hilflos zuckte sie die Schultern. Langsam schob sie Felicitas die Teetasse zu. „Trink und iss“, sagte sie schließlich, „Ich wünschte, ich könnte dir etwas anderes sagen, aber das einzige, dass du zur Zeit tun kannst, ist den Befund abzuwarten und jede Sekunde deines Lebens zu genießen. Solange es möglich ist.“

Vielleicht war es die brutale Ehrlichkeit, die Felicitas aus ihrer Erstarrung löste. „Das Leben genießen, solange man noch kann“, murmelte sie leise vor sich hin. Sie nahm die Tasse Tee in die Hand und legte die Finger der anderen um die Schale. Felicitas spürte die Hitze. Trotzdem umkrallten ihre Finger die Tasse. Sie wollte etwas spüren. Selbst Schmerz war besser, als diese Gefühllosigkeit. Der Schmerz in ihrer Hand verstärkte sich. Endlich zog sie sie weg und rieb die Handfläche an ihrer Hose bis der Schmerz abflaute. Sie nickte leicht. Vorsichtig nahm sie einen Schluck. Der starke Tee wärmte sie von innen. Ihr Magen knurrte. Zögernd griff sie zu einen Brot und biss hinein. Genussvoll kaute sie. Ihre Augen hatte sie geschlossen. Sie spürte das Salz auf der Zunge, die Säure der Essiggurke und den würzigen Geschmack des Brotes ungewöhnlich intensiv. Sie leckte sich mit der Zunge über die Lippen. Wie herrlich schmeckte das Leben.

Plötzlich fiel ihr etwas ein. Sie sprang auf und eilte ins Schlafzimmer, wo sie einige Schachteln mit Erinnerungsstücken von ihrer Mutter aufbewahrte. Sie nahm den obersten Karton und öffnete ihn. Sie wühlte darin herum. Fand jedoch nicht das Gesuchte. Schließlich stellte sie ihn auf die Seite und öffnete den nächsten. Dort setzte sie die Suche fort. Nach einigen Minuten gab sie auf und setzte sich aufs Bett. Eine Weile überlegte sie angestrengt. Dabei ließ sie ihren Blick nachdenklich durchs Zimmer schweifen. Mia war ihr gefolgt und beobachtete sie von der Tür aus. Mit der Tasse in der Hand lehnte sie am Türrahmen und ließ Felicitas Zeit. Sie stellte keine Fragen, sondern wartete ab, was geschehen würde. Felicitas aber achtete nicht auf ihre Freundin. Ihr Blick blieb schließlich am Kasten hängen. Sie sprang auf und öffnete die Schiebetür. Suchend sah sie sich darin um. Schob immer wieder Schachteln und Kleiderstöße zur Seite und öffnete schließlich die zweite Tür. Wiederum wanderte ihr Blick über die Regale. Gerade wollte sie sich ergebnislos abwenden, als sie mitten in der Bewegung innehielt und sich im nächsten Moment nach dem obersten Regal streckte. Ihre Finger ertasteten einen Gegenstand, ergriffen ihn und zogen und zerrten daran. Schließlich fiel ein abgewetzter Lederbeutel herunter. Felicitas hob ihn vom Boden auf und schüttelte ihn vorsichtig aus. Ein paar Lavendelblüten fielen auf den Boden. Die Staubpartikel kitzelten Felicitas in der Nase und sie nieste mehrmals. Dann kehrte sie ins Wohnzimmer zurück, wobei sie sich an Mia vorbeiquetschte und diese ihre Tasse rasch außer Reichweite von Felicitas brachte. Am Sofa angekommen, leerte Felicitas den Inhalt des Beutels darauf und wühlte in den Sachen. Endlich hielt sie das Gesuchte in der Hand. Mit einer Hand strich sie sorgfältig über den abgegriffenen Umschlag eines kleinen Buches. Ohne den Blick zu heben, sagte sie mehr zu sich, als zu Mia: „Das ist das Tagebuch meiner Mutter. Ich habe es beim Ausräumen der Wohnung gefunden und noch nicht gelesen. Ich …“, Felicitas schluckte mühsam ehe sie weitersprach, „… konnte noch nicht. Sie hatte kein aufregendes Leben. Sie hat viel zu früh geheiratet, weil sie schwanger wurde. Nach meiner Geburt musste sie feststellen, dass sie nicht die einzige war, die ein Kind von meinen Vater bekam. Und irgendwann verschwand er dann einfach. Er hinterließ meiner Mutter einen Berg von Schulden für die sie aufkommen musste. Jahrelang hat sie zwei Jobs gemacht und nebenher auch noch mich versorgt. Sie hat sich ganz auf mich konzentriert. Neben mir hatte kein anderer Mensch Platz. Kein Mann, keine Freunde. Ihre Arbeit und ich waren alles, wofür sie lebte. Arbeiten und Kind. Arbeiten und Kind. Jahrelang. Dabei hatte sie sicher auch viele Träume, als sie jung war. Sie hat mir erzählt, dass sie nach Venedig, Rom, Madrid wollte. Sie wollte Reisen. Ausbrechen aus der Enge dieser Stadt. Aber als ich endlich alt genug war, um alleine klar zu kommen, wurde sie krank. Sie hat dann jahrelang dagegen angekämpft. Wochenlang lag sie in diversen Sanatorien und Krankenhäusern und ertrug die verschiedenen Therapien. Letztendlich ist sie dann trotzdem gestorben. Trotz all der leeren Versprechen und hoffnungsvollen Versprechen der Ärzte und Pfleger. Kurz bevor sie starb, sagte sie zu mir, ich solle nicht die gleichen Fehler, wie sie begehen. Ich denke, sie meinte, ich soll nicht so früh heiraten und Kinder kriegen. Sondern ich soll meine Träume leben. Es hat mich traurig gemacht, dass sie mich gewissermaßen als Fehler gesehen hat.“ Felicitas sah Mia erwartungsvoll an. Als diese sie jedoch eher verständnislos anblickte und die Schultern zuckte, fuhr sie eindringlich fort: „Verstehst du nicht. Ich werde diese Träume nicht hinausschieben. Sondern ich werde überall dort hinfahren, wo sie hinwollte. Man kann das Leben nicht immer aus der Warteschleife betrachten. Sondern man muss es leben, solange man kann.“ „Okay“, sagte Mia gedehnt und fuhr dann nach einer Nachdenkpause fort, „Ich denke, ich verstehe. Du willst ein paar Tage Urlaub machen. Das finde ich eine großartige Idee.“ Mia lächelte erleichtert, weil sie sah, dass Felicitas Pläne machte und somit in die Zukunft blickte. Offensichtlich hatte sie ihr Tief schneller überwunden, als erwartet. Es konnte ihr nur Recht sein. Vielleicht schaffte sie es doch noch rechtzeitig zu ihrem Treffen mit Ron, ihrem neuen Freund. Felicitas aber schüttelte heftig den Kopf. „Nein“, sagte sie, „Nein, nicht ein paar Tage Urlaub. Sondern ich werde den Rest meines Lebens noch dazu nutzen, mir so viel anzusehen, wie ich nur kann. Ich werde meinen Job kündigen, meine Wohnung verkaufen und einfach wegfahren.“ Mia starrte ihre Freundin entgeistert an. Das konnte doch nicht ihr ernst sein! Nur auf den Verdacht hin, krank zu sein, konnte man doch nicht alles hinschmeißen. Verärgert schüttelte sie den Kopf. „Unsinn“, begann sie dann, „Bist du verrückt. Du weißt doch noch gar nicht, ob du überhaupt krank bist. Mach einfach ein paar Tage Urlaub. Entspann dich. Lass dich verwöhnen. Dann wirst du dich besser fühlen und alles wird sich wieder einrenken. Du wirst schon sehen. Eine Reise wird dir gut tun. Sie wird dich ablenken, auf andere Gedanken bringen. Und dann … kannst du wieder vernünftig denken.“ Der bestimmte Tonfall verfehlte seine Wirkung nicht. Felicitas sah verunsichert ihre Freundin an. Sie zögerte. Vielleicht hatte Mia ja Recht. Vielleicht … sollte sie zuerst den Befund abwarten. So schnell konnte sie ohnedies nicht weg. Sie hatte eine dreimonatige Kündigungsfrist und jemanden zu finden, der ihre Wohnung kaufen würde, würde auch nicht so einfach sein. Für ein paar Tage konnte Mia sicher darauf achten und ihre Blumen versorgen. „Wahrscheinlich hast du Recht, Mia. So plötzlich aufzubrechen wäre ziemlich dumm“, lenkte sie daher ein und nickte zustimmend. „Gut“, sagte Mia sichtlich erleichtert, das ihre Freundin wieder zur Vernunft gekommen war. „Es war ein harter Tag. Alleine, ohne dich, ist die ganze Arbeit an mir hängen geblieben. Kann ich dich jetzt alleine lassen? Ich bin verdammt müde. Wir sehen uns dann morgen. Soll ich dich abholen in der Früh?“ Mia sah ihre Freundin fragend an. Felicitas lächelte mühsam. Die Vorstellung alleine zu bleiben, erschreckte Felicitas, aber sie war immer die Starke gewesen in ihrer Gemeinschaft. Daher erhob sie sich und begleitete Mia bis zur Tür. Dort umarmte sie Mia noch einmal. „Bist du dir sicher, dass ich doch nicht bleiben soll?“, erkundigte sich Mia nun doch etwas besorgt und blickte dabei verstohlen abermals auf ihre Armbanduhr. Ihr Freund wartete bereits zu Hause. Sie hatte ihm gesagt, sie würde spätestens um neun Uhr zu Hause sein. Inzwischen war es fast zehn. Felicitas öffnete die Tür und sagte: „Geh nur. Danke, dass du da warst. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Und ja, hol mich morgen früh ab.“

Sie winkte Mia nach, die erleichtert die Stufen hinuntersprang. Bevor sie aus ihrem Blickfeld verschwand, sah sie noch einmal zu Felicitas hoch und winkte ihr. Dann hörte Felicitas sie die letzten Stufen bis zur Haustür hinunterlaufen und die Tür zufallen. Sie kehrt in ihre Wohnung zurück und drehte den Schlüssel im Schloss um.

Träume

Felicitas setzte sich wieder aufs Sofa. Sie nahm das Tagebuch in die Hand und begann darin zu blättern. Ihre Mutter Amalie Hope hatte alle wichtigen und weniger wichtigen Ereignisse festgehalten. Von einigen Ereignissen hatte sie sogar Fotos dazu geklebt. Bilder vom ersten Tanz, von Ausflügen und später von Felicitas im Kinderwagen, ein Erinnerungsfoto von Felicitas Erstkommunion und ihrer Firmung und von ihrer Abschlussprüfungsfeier. Einige Bilder aber hatte sie zu Felicitas Verwunderung auch wieder entfernt. Stattdessen knallte ihr das kalte Weiß des Papierblattes entgegen. Felicitas nahm an, dass es jene waren, die ihren Vater zeigten. Auf manchen Seiten waren die Buchstaben verschwommen. Tränen hatten die Tinte verlaufen lassen. Auf einem Blatt waren deutlich die schmierigen Fingerabdrücke einer kleinen Hand zu sehne. Dass mussten Felicitas Fingerabdrücke sein. Immer wieder las sie einzelne Absätze unter Fotos. Fröhliche, traurige und wütende. Ihre Mutter hatte all ihren Kummer und ihre Sorgen festgehalten. An mache Situation erinnerte sich Felicitas sogar noch. An jene Nacht als sie sich heimlich hinausschlich aus dem Haus um auf eine Party zu gehen. Ihre Mutter hatte es ihr verboten. Als sie zurückkehrte – es war gegen vier Uhr früh – saß ihre Mutter zusammengekauert auf ihrem Bett. Sie erwachte, als sie durchs Fenster stieg. Ihr Blick war eiskalt und abweisend. Sie sprach fast zwei Wochen lang nicht mehr mit ihr. Im Buch aber hatte sie all ihren Ärger, ihre Sorge und ihren Zorn darüber niedergeschrieben. Das Schweigen ihrer Mutter schmerzte sie wesentlich mehr, als wenn sie geschrien hätte. Denn sie hatten ein sehr intensives Verhältnis. Nun da sie darüber nachsann, fiel ihr auf, dass sie in erster Linie berichtet hatte. Ihre Mutter aber schwieg meistens. Nach diesem Vorfall veränderte sich ihr Verhältnis grundlegend. Ihre Mutter, die bis zu diesem Moment sie wie ein Kind behandelt hatte, sprach nun mit ihr, wie mit einer Erwachsenen. Von da an musste Felicitas Verantwortung übernehmen. Für sich, für ihre Entscheidungen und für ihre Fehler. Und mit Zwanzig auch die Verantwortung für ihre ständig kränkelnde Mutter. Den letzten Eintrag den sie las endeten mit der Krebsdiagnose. Ihre letzten geschriebene Worte waren: Ich habe Krebs!!! Sie hatte die Linien wieder und wieder nachgezogen. Solange bis das Papier einriss. Man spürte die Wut und Verzweiflung, die ihre Mutter gefühlt hatte.

Felicitas starrte darauf. Plötzlich war wieder alles da. Die Angst, die Verzweiflung, die Hoffnungslosigkeit. Mit zitternden Händen schlug sie das Buch zu und legte es auf den Couchtisch. Langsam erhob sie sich, machte ein paar Schritte. Blieb stehen und schlang die Arme um ihren Körper. Die Hände schob sie unter die Achseln um sie zu wärmen. Sie waren plötzlich eiskalt. Totenkalt. Felicitas trat ans Fenster und starrte hinauf in den Nachthimmel. Einzelne Sterne blinken am schwarzen Firmament. Sie sah das Blinken der Lichter eines Flugzeugs. Es bewegte sich verhältnismäßig schnell über den Himmel. Dann streifte ihr Blick das beleuchtete Fenster auf der anderen Straßenseite. Der Mann von vorhin stand am Fenster und rauchte. Sein Blick war in die Ferne gerichtet. Die eine Gesichtshälfte wurde vom Licht aus der Wohnung beschienen. Er sah Felicitas nicht. Felicitas betrachtete ihn genauer. Er war nicht schön. Seine Haare fielen bereits aus. Wenn er den Kopf senkte, konnte man eine kahle Stelle am Hinterkopf erkennen. Akne-Narben zerfurchten seine Wangen. Um seinem Mund lag ein bitterer unzufriedener Zug. Seltsam, dass ihr das noch nie aufgefallen war. Sie lebte seit dem Tod ihrer Mutter in dieser Zweizimmerwohnung und hatte schon oft das Paar beobachtet. Aber es war ihr noch nie aufgefallen, dass der Mann nicht schön war. In diesem Moment trat die Frau zu ihm. Das kalte künstliche Licht ließ auch sie älter wirken. Ihre Gesichtszüge waren von Falten durchzogen. Als sie nun lächelte, zeigte sie gelbliche Zähne. Ihre Haare waren wirr und wirkten strähnig. Felicitas schloss die Augen. Aber das Bild hatte sich nicht verändert, als sie sie wieder öffnete. Das Leben war hässlich.

Langsam trat sie einen Schritt zurück und flüchtete zurück in die Dunkelheit ihrer Wohnung. Sie holte sich ein Glas warme Milch aus der Küche. Sie schaltete das Licht ein und setzte sich wieder auf das Sofa. Mit dem warmen Glas in der Hand betrachtete sie ihre Wohnung. Im Licht der matten Lampe erschien alles alt und schäbig. Den alten Kasten im Eck hatte sie auf einen Flohmarkt erstanden. Der Bezug des Sofas wurde schon fadenscheinig und der Tisch wackelte. Die billigen Drucke an den Wänden wirkten vergilbt und der Teppich war - dort wo sie häufig ging - ergraut. Obwohl sie gerademal fünfundzwanzig war, erschien ihr plötzlich ihr ganzes Leben schmutzig und düster. Sie hüllte sich in eine Decke. Eine Ecke war ausgefranzt. Mehrere Fäden hingen herunter. Felicitas zupfte daran. Schließlich griff sie wieder zum Tagebuch. Der mit Blumen verzierte Umschlag war genauso schäbig und abgegriffen, wie ihre Wohnung. Ihre Mutter hatte ihn mit Klebeband mehrmals überklebt. Felicitas schlug dieses Mal die erste Seite auf und las die erste Zeile. ‚Mein Leben‘ stand da in verschnörkelter Schrift eines Teenagers. Was war das Leben ihrer Mutter? Nichts als Kummer und Sorgen. Keiner ihrer Träume war in Erfüllung gegangen. Der Traum von der großen einzigen Liebe war zu einem Albtraum geworden. Der Traum vom Eigenheim ein ständiger Kampf um jeden Cent und die Furcht alles zu verlieren. Die glückliche Familie bestand aus einem schwierigen Einzelkind. Und ihr Traum vom Reisen endete in einer Odyssee von Krankenhaus zu Krankenhaus. Und sie, Felicitas? Hatte sie mehr erreicht? War einer ihrer Wünsche, ihrer Träume in Erfüllung gegangen? Felicitas überlegte. Ihre Wünsche? Ihre Träume? Hatte sie einen Wunsch? Einen Traum? Felicitas fiel nichts ein. Wann hatte sie aufgehört sich etwas zu wünschen oder zu erträumen? Hatte sie jemals etwas in dieser Art besessen? Sie versuchte sich an ihre Kindheit zu erinnern. Natürlich hatte sie sich als Kind gewünscht ihr Vater käme zurück. Aber ihre Mutter hatte ihn gehasst und dieses Gefühl ihrer Tochter jeden Tag aufs Neue eingeimpft. Trotzdem blieb die schuldbewusste Sehnsucht. Sie hatte sich schöne Kleider gewünscht, aber ihre Mutter hatte ihr erklärt, dass schöne Kleider oder allgemein Schönheit, Dekadenz bedeutete. Und daher verwerflich und nicht wünschenswert war. Felicitas trug meistens Jeans und T-Shirts und verzichtete auf jeden ‚Firlefanz‘. Kein Schmuck, kein Makeup keine Designerstücke befanden sich in ihrer Wohnung. Sie hatte eine Lehre gemacht - beim Supermarkt um die Ecke - obwohl man ihrer Mutter nahelegte sie weiter in die Schule gehen zu lassen, da sie intelligent war. Jeden Tag saß sie seit damals an der Kasse, oder stapelte die Waren in die Regale. Das erste Jahr putzte sie. Den Boden, die Fenster, die Regale, den Boden, die Fenster… Tag für Tag. Als sie die Lehre begann, hoffte sie auf ein besseres Leben. Sie sparte das Geld um sich einen neuen Pullover oder neue Schuhe kaufen zu können.

Aber dann wurde ihre Mutter das erste Mal krank. Depressionen lautete die Diagnose. Amalie Hope verlor ihre Arbeit. Von da an reichte das Geld gerade noch für die Ratenzahlungen und die nötigsten Dinge des täglichen Bedarfs, für die Felicitas aufkommen musste. Sie schaffte es nicht mehr irgendetwas von ihrem Geld zurückzulegen. Als sie ausgelernt hatte, glaubte sie für eine Weile, sich endlich aus diesen tristen Verhältnissen befreien zu können. Doch dann diagnostizierte man Krebs bei Amalie Hope. Von da an zahlte sie die Medikamente, die vielen Therapien und Kuraufenthalte. Überall musste Felicitas einen Anteil zahlen. Die Schulden wuchsen. Wuchsen ihr über den Kopf. Noch immer – zwei Jahre nach Amalies Tod - zahlte sie die Kredite zurück, die sie aufgenommen hatte, um die Krankheit ihrer Mutter zu finanzieren. Sie würde noch Jahre damit zubringen sie zurückzuzahlen. Nebenbei musste sie auch noch die Raten für die Wohnung berappen. Vom Geld, welches sie verdiente, blieb nichts übrig, trotz der vielen Überstunden, die sie leistete.

Und nun würde sie dasselbe Schicksal erleiden. Irgendwo zerbrach in ihrem Inneren etwas. In ihrem Kopf hämmerte es: ‚Mach nicht den gleichen Fehler! Mach nicht den gleichen Fehler! ‘, schrie es förmlich in ihr. Mit dem Buch in der Hand erhob sie sich. Die Decke rutschte zu Boden, wo sie achtlos liegen blieb. Eine Weile stand sie bewegungslos da. Dann legte sie das Buch auf den Tisch und ging langsam ins Schlafzimmer. Dort begann sie einen Koffer zu packen. Sie beschränkte sich auf das Wesentlichste. Zuletzt legte sie ihre geringen Ersparnisse hinein, ebenso den wenigen Schmuck, den sie noch besaß. In den Lederbeutel gab sie das Sparbuch und ihre Papiere und ihre Geldbörse. Danach setzte sie sich an den Schreibtisch und begann einen Brief an ihre Freundin zu schreiben. ‚Liebe Mia!‘, begann sie. Zögernd hielt sie inne und kaute nachdenklich am hinteren Ende des Stiftes. Wie sollte sie fortfahren? So vieles hätte sie noch gerne ihrer Freundin gesagt. Aber würde sie es verstehen? Schließlich schrieb sie:

‚Wenn du das liest, bin ich bereits unterwegs. Versuch erst gar nicht mich anzurufen mit der Absicht meinen Entschluss zu ändern. Es wird dir nicht gelingen. Ich habe dir den Wohnungsschlüssel beigelegt. Bitte kümmere dich darum. Gleichzeitig mit diesem Brief schreibe ich auch einen Brief an meinen Anwalt Dr. Imberg. Ich beauftrage ihn meine Wohnung zu veräußern. Also wundere dich nicht, wenn plötzlich Möbelpacker aufmarschieren. Auf dem Küchentisch stelle ich einen Karton mit mir wichtigen Dingen. Ich weiß, du hast nicht viel Platz, aber trotzdem bitte ich dich, ihn für mich aufzubewahren. Ich werde ihn, sobald als möglich, abholen. Wenn du etwas aus der Wohnung brauchen kannst, nimm es dir. Ich werde es nicht mehr benötigen. Bis bald, Felicitas‘

Felicitas betrachtete das Schreiben. Für einen Moment zögerte sie, dann steckte sie den Brief in das Kuvert und beschriftete es. Anschließend schrieb sie ihren Anwalt Dr. Imberg und beauftragte ihn die Wohnung zu verkaufen und mit dem Erlös ihre Schulden zu begleichen. Den Rest, abzüglich seines Honorars und aller Unkosten, sollte er auf ihr Konto überweisen.

Sie vertraute ihm vorbehaltslos. Er besaß eine weitreichende Vollmacht, die sie erst vor kurzen wieder erneuert hatte. Jahrelang hatte er sämtliche Angelegenheiten ihrer Mutter erledigt und für Felicitas die Erbschaft geregelt. Beinahe wöchentlich besuchte Dr. Imberg ihre Mutter, als sie durch ihre Krankheit nicht mehr in der Lage war, ihn aufzusuchen. Er gehörte für Felicitas zur Familie.

Felicitas entleerte einen der Kartons mit den Habseligkeiten ihrer Mutter auf ihr Bett und füllte ihn mit den Dingen, welche ihr in diesem Augenblick wichtig erschienen. Papiere, Unterlagen und einige persönliche Dinge wanderten hinein. Anschließend beschriftete sie ihn und stellte ihn gut sichtbar auf den Küchentisch, damit Mia ihn fand. Danach legte Felicitas sich angezogen aufs Bett und versuchte zu schlafen.

*

Als der Wecker gegen sechs Uhr früh schrillte, stand Felicitas bereits unter der Dusche. Sie hatte sich stundenlang im Bett herumgewälzt und war letztendlich aufgestanden. Nach einem schnellen Frühstück packte sie die letzten Dinge in den Lederbeutel und sah sich noch einmal in der Wohnung um. Seltsamerweise empfand sie keine Trauer. Die Wohnung war schon lange zu einer Kette geworden. Sie wollte nicht an diesem Ort gefangen sein. Mit dem Erlös aus dem Wohnungsverkauf würde sie einige Monate gut leben können. Sie würde keine Therapien machen, die ihr jede Kraft raubten und das unvermeidliche Sterben nur in die Länge zogen. Sobald die Schmerzen unerträglich wurden und sie nicht mehr von einem Ort zum anderen ziehen konnte, würde sie sich ein Zimmer nehmen und mit Hilfe von starken Schmerzmitteln auf das Ende warten. Sie schätzte, dass sie ohne die notwendigen Therapien vielleicht noch zehn Monate lebte. Das war der Durchschnittswert der verbleibenden Lebensdauer. Dafür reichte das Geld auf alle Fälle. Zumindest hoffte sie das.

Mit dem Koffer in der Hand verließ Felicitas ein letztes Mal die Wohnung und sperrte ab. Der Koffer stammte von ihrer Mutter. Immer wenn sie zu einen ihrer längeren Krankenhausaufenthalten fuhr, legte sie ihre Habseligkeiten hinein. Felicitas erinnerte sich, dass sie nachdem sie zurückkehrte, die unbenützten Kleidungsstücke wieder in den Kasten räumte. Die Aufenthalte waren so anstrengend, dass sie die mitgenommene Kleidung nicht benötigte, da sie das Bett vor Schwäche nicht verlassen konnte. Da Felicitas kein Auto besaß - und auch nicht das nötige Geld mit dem Zug zu fahren - war es ihr nicht möglich gewesen, ihre Mutter in den Kliniken zu besuchen. Aber Dr. Imberg, der Anwalt ihrer Mutter nahm die Mühe auf sich, sie abzuholen und in die diversen Krankenhäuser zu bringen, die nie in Kehl oder in der näheren Umgebung lagen.

Felicitas seufzte bei der Erinnerung leise auf. Anschließend steckte sie den Schlüssel in das Kuvert an den Anwalt und klebte es zu. Sie würde den Brief in den nächsten Briefkasten werfen. Den Brief an Mia aber stellte sie auf den Hausbriefkasten. Gut sichtbar für ihre Freundin, die sie an diesem Morgen abholen wollte. Wenn Felicitas eine Nachricht für Mia hatte, stellte sie sie immer dort hin. Felicitas war sich sicher, dass Mia ihn erhalten und auf die Wohnung achten würde. Einen Zweitschlüssel besaß sie ohnedies. Danach ging sie.

*

Der Bus ins Zentrum wartete bereits. Im letzten Augenblick erreichte sie ihn und sprang hinein, bevor er abfuhr. Die Tür schloss sich hinter ihr. Sie setzte sich und wandte den Kopf nicht mehr um, denn sie fürchtete, doch noch umzukehren, wenn sie zurück sah.

Eine halbe Stunde später betrat sie den Schalterraum ihrer Bank. Sie steuerte auf Frau Heinzer, ihre Bankbetreuerin, zu. Diese Grüßte sie mit einem freundlichen Lächeln. Felicitas nickte ihr zu und legte das Sparbuch auf die Marmorplatte. Dann bat sie Frau Heinzer dieses vollständig aufzulösen. Überrascht betrachtete die Frau Felicitas. Sie kannten sich schon viele Jahre. Als sie jedoch Felicitas Koffer sah, nahm die Bankerin das Sparbuch mit einem Lächeln entgegen. „Sie machen wohl eine Reise?“, erkundigte sie sich freundlich. Felicitas nickte nur, wobei sie dachte: „Ja, meine letzte Reise.“ Zur Frau selbst jedoch sagte sie: „Ja, Venedig. Es soll so schön dort sein.“ Felicitas ließ einen Teil des Geldes auf ihr Girokonto legen. Den Rest gab sie in ihre Geldbörse. Danach verabschiedete sie sich von Frau Heinzer, wobei sie ihr unvermittelt die Hand reichte und ihr alles Gute für die Zukunft wünschte. Frau Heinzer blieb verblüfft zurück. Erst später wurde ihr bewusst, dass die Art und Weise des Abschieds sich so Endgültig angefühlt hatte. Auch wenn sie sich diese Empfindung nicht erklären konnte.

Der Bahnhof war nicht weit entfernt. Nachdem sie ein Ticket nach Venedig erstanden hatte, wartete sie auf den nächsten Zug. Eine Stunde später verstaute sie ihren Koffer in der Gepäckablage und setzte sich auf einen leeren Fensterplatz. Nur noch wenige andere Fahrgäste stiegen zu. Bald darauf setzte sich der Zug ächzend in Bewegung. Die vertrauten Straßen und Häuser bewegten sich am Fenster vorbei und blieben zurück. Das wellige Land breitete sich ungehindert vor ihr aus. Wälder, Felder und kleine Orte huschten am Fenster vorbei. Gelegentlich erhaschte sie einen Blick auf den Rhein, dem die Geleise folgten. Gleichmäßig ratterte und schaukelte der Zug dahin.

Felicitas Hope versank in ihren Gedanken. Warum hatte sie Venedig als Ziel gegenüber Frau Heinzer angegeben? Bis zu diesem Augenblick, als sie es aussprach, hatte sie noch keinen wirklichen Plan besessen, wohin die Reise gehen sollte. Nur, dass sie wegfahren würde. Sie entnahm ihrem Lederbeutel das Tagebuch ihrer Mutter und schlug es auf. Sie fand die Seite, auf der ihre Mutter ihre Sehnsucht nach Venedig, Mailand und Madrid Ausdruck verlieh. Venedig war der erste Ortsname im Tagebuch und Felicitas erinnerte sich, dass ihre Mutter ihr einmal davon erzählt hatte. Sie hatte die Stadt beschrieben, als wäre sie schon dort gewesen. Aber wahrscheinlicher war, dass sie einen Bericht darüber im Fernseher gesehen hatte, denn wie hätte sie sich dies leisten können mit ihrem geringen Gehalt? Ihre Mutter hatte sie stets angehalten sparsam zu sein. Jede Kleinigkeit, die sie erstehen wollte, wurde missmutig beäugt und die Ausgabe kritisch begutachtet. Nur das Nötigste wurde gekauft. Bei den Erinnerungen seufzte Felicitas traurig auf.

Unbewusst hatte sie jenen Ort für den Beginn ihrer Reise gewählt, der für Amalie Hope offenbar sehr wichtig gewesen war. Ihre Reise sollte eine Hommage an ihre Mutter sein. Aus dem Tagebuch hatte Felicitas entnommen, dass ihre Geburt schuld daran gewesen war, dass ihre Mutter nicht mehr die Gelegenheit gehabt hatte, Venedig zu sehen. In gewisser Weise war sie es ihrer Mutter schuldig. Sie wollte deren Träume noch leben, ehe sie starb. Sie würde einen Sehnsuchtsort nach den anderen aufsuchen. Venedig war die erste Station.

*

Der Zug überquerte die Grenze zur Schweiz. Die gewaltigen Gebirgsmassive türmten sich vor den Abteilfenster. Felicitas kannte sie nur aus Büchern oder Berichten im Fernseher. Luzern am Vierwaldstättersee erreichten sie gegen Mittag. Die Felswände ragten am gegenüberliegenden Ufer steil empor. Das niemals schmelzende Weiß auf den Spitzen der Berge leuchtete ihr entgegen. Immer höher stieg der Zug die alten Trassen empor, bis sie den nicht enden wollenden Gottharttunnel erreichten und der Berg sie verschluckte. In Bellinzone musste sie wegen einer Baustelle den Zug verlassen und die Reise mit dem Bus fortsetzen. Sie passierten Lugano und erreichten erst am späten Nachmittag den Comosee. In einer Pension fand sie nach längerer Suche ein bescheidenes Zimmer.

Obwohl Felicitas Hope müde von der langen Reise war, ging sie zum See und schlenderte die bevölkerte Uferpromenade entlang. Die Nacht brach herein. Nur die Laternen erhellten den Weg. Felicitas setzte sich auf eine Bank und lauschte den unbeschwerten Lachen der Menschen um sie herum. Sie beneidete sie darum. Sie konnte sich nicht erinnern, ihre Mutter jemals so lachen gehört zu haben. Amalie Hope blickte bereits am Morgen griesgrämig und der Tag verbesserte ihre Laune nicht. Ihren Frust ließ sie an Felicitas aus. Felicitas versuchte diese Gedanken zu verdrängen. Sie suchte nach glücklichen Momenten in ihrer Vergangenheit. Doch es wollte ihr nicht wirklich gelingen.

Nur ungern verließ Felicitas Como. Doch sie wollte das Zugticket nicht verfallen lassen. Als der Zug ratternd den Bahnhof hinter sich ließ, bedauerte Felicitas ihre Entscheidung. Der Schaffner begrüßte sie mit einen Lächeln und verlangte das Ticket. Nur wenige Reisende waren im Zug. Sie hatte schlecht geschlafen. Blicklos starrte sie hinaus. Das gleichmäßige Schaukeln wiegte sie in einen unruhigen Schlaf.

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