Jana Kosic - - Louis Geras - E-Book

Jana Kosic - E-Book

Louis Geras

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  • Herausgeber: united p.c.
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2015
Beschreibung

"Die Wahrheit ist gefährlich!", schrie Ivan Kosic seiner Tochter Jana entgegen, "Die Wahrheit tötet alle!"... Die Journalistin Jana Kosic recherchiert gerade über Waffenhandel im ehemaligen Ostblock, als ihr Vater überraschend stirbt. Er hinterlässt ihr ein Paket und einen Brief - ein Stück verborgener Vergangenheit. Doch die Vergangenheit ist mit der Gegenwart verflochten und sie muss erkennen, dass ihr Vater recht hatte. Der Spur der Wahrheit zu folgen ist gefährlich!!!

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EPUB

Seitenzahl: 399

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Inhalt

Impressum

Der Wahrheit verpflichtet Ivan Kosic März 1998

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

Epilog

Zur Autorin

Impressum

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

Für den Inhalt und die Korrektur zeichnet der Autor verantwortlich.

© 2015 united p. c. Verlag

ISBN Printausgabe: 978-3-7103-0456-9

ISBN e-book: 978-3-7103-2002-6

Umschlagfoto: Louis Geras

Umschlaggestaltung, Layout & Satz:united p. c. Verlag

www.united-pc.eu

Der Wahrheit verpflichtetIvan Kosic März 1998

Die Sonne senkte sich dem Horizont entgegen, als Jana das alte, an manchen Stellen bereits verrostete Gittertor zögernd aufdrückte, um endlich Frieden mit Ivan zu schließen. Scheppernd fiel es hinter ihr wieder ins Schloss. Leise knirschten die Kieselsteine unter ihren Sohlen, während sie den einsamen Pfad langsam, gedankenverloren, entlang schritt.

In den langen Schatten der hohen Ulmen lagen mit Herbstblumen geschmückte Gräber. Kerzen flackerten in ihren roten Hüllen und sandten ihr warmes, von Minute zu Minute stärker werdendes Licht, tröstend aus. Vereinzelt zwitscherten in den Heckenbüschen noch Vögel ihr abendliches Lied. Ansonsten herrschte Stille.

Nur die Seelenkapelle, die links von Jana ein wenig erhöht auf einen Hügel stand, wurde noch von der untergehenden Sonne bestrahlt. Die Dämmerung legte sich schleichend über den Totenacker.

Die wenigen Gestalten in den entfernten Ecken des Friedhofs waren mit sich, ihren Gedanken über den Tod und den Gräbern beschäftigt. Niemand achtete auf Jana. Sie war alleine mit sich und ihren Gedanken. Und das war gut so, denn die Gefühle, die in ihr aufstiegen, schnürten ihr die Kehle zu.

Ihr Mund fühlte sich trocken an. Sie schluckte mehrmals mühsam und räusperte sich unbehaglich, einen Klos in ihren Hals bekämpfend. Selbst jetzt fiel es ihr noch schwer, diesen Weg zu gehen.

Ein halbes Jahr war seit Ivans Tod vergangen und sie hatte diesen Ort gemieden.

Zu viele Ungereimtheiten und Lügen lagen zwischen ihnen. Aber vor allen Angst. Angst vor der Wahrheit, die er ihr verschwiegen, vorenthalten hatte und die sie seit seinem Tod gesucht hatte. Stück für Stück legte sie die Wissensstücke aneinander. Wie ein Puzzlespieler fügte sie mit jeden Teil, das sie fand, ein Bruchstück der Wahrheit zusammen.

Nun endlich lag die ganze Wahrheit - zumindest nahm sie es an - vor ihr, mit all ihren Sonnen- und Schattenseiten. Die vielen offenen Fragen waren geklärt. Die Angst war einem Gefühl der Erleichterung gewichen.

Jetzt war sie zurückgekehrt in ihre Heimat, um mit ihrer Vergangenheit, und vor allem mit Ivan, Frieden zu schließen.

Sie wich einem tiefhängenden Ast einer Silbertanne aus, der sich über den schmalen Weg streckte, als wolle er nach den wenigen lebendigen Besuchern die Hand ausstrecken, sie packen und mit sich in die Tiefe zerren.

Die seitliche Bewegung ließ sie zusammenzucken. Ein stechender Schmerz bohrte sich in ihre Schulter.

Für einen Moment musste sie stehen bleiben um das dumpfe Pochen durch langsames gleichmäßiges Ein- und Ausatmen abklingen zu lassen. Sie legte ihre Hand auf den Verband unter ihrer Bluse und schloss die Augen. Langsam ebbte der Schmerz ab.

Drei Wochen war es her seit die Kugel ihre linke Schulter durchschlagen hatte. Und noch immer wachte sie nachts auf.

Vor Schmerz, wenn sie unbeabsichtigt sich auf die falsche Seite drehte. Aber vor allem aus Angst.

Und wie so oft in den letzten Wochen sah sie auch jetzt vor ihrem geistigen Auge das kalte Aufblitzen des Zündungsfeuers.

Rasch öffnete Jana wieder die Augen. Schüttelte ihren Kopf um das erschreckende Trugbild zu vertreiben und fuhr sich über, die blassen Wangen.

Es würde noch lange dauern, bis sie diesen Albtraum nicht mehr ständig vor sich sehen würde. Aber mit jedem Tag würde es besser werden. Zumindest hoffte sie es. Mit der Zeit würden die Erinnerungen verblassen.

Trotz aller Geschehnisse der letzten Monate würde sie sich wieder auf die Suche nach der Wahrheit machen.

Dessen war sie sich sicher.

Erst vor fünf Tagen hatte man sie aus dem Krankenhaus entlassen. Da sie noch nicht arbeiten durfte und der Arzt unbedingte Schonung verordnete, war sie gemeinsam mit Frank Liebermann nach Erfurt gekommen. In das kleine Haus, das Ivan Kosic ihr hinterlassen hatte. Die ersten zwei Tage hatte sie sich in den Garten gesetzt. Hatte versucht ihre Gefühle zu ordnen. Hing ihren Erinnerungen an eine unbeschwerte Kindheit nach. Dann aber war die Unruhe wieder in ihr aufgestiegen.

Die erzwungene Untätigkeit fiel ihr schwer und zerrte an ihren Nerven. Sie war nicht leicht, wenn sie krank war.

Frank bekam das zu spüren.

Sie bewunderte ihn für seine Gelassenheit.

So hatte sie schließlich begonnen die Schubladen im Haus auszuräumen.

Sie waren angefüllt mit Erinnerungen. Stapeln von ausgeschnittenen Zeitungsberichten die Ivan in den letzten Jahrzehnten gesammelt hatte.

Sie alle hingen, direkt oder indirekt, mit seiner Vergangenheit zusammen und zeigten, wie sehr er sich nach seiner alten Heimat gesehnt hatte. Und - dass er keinesfalls die Erinnerungen daran und seine Mitverantwortung von sich geschoben hatte.

Gestern nun hatte sie, in einer Schublade von Ivans Schreibtisch eine Nachricht von ihm gefunden. Ein Kuvert, mit ihren Namen versehen, lag versteckt ganz hinten im untersten Fach.

Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sie nicht gewusst, ob sie ihn je am Friedhof besuchen würde können. Zu zwiespältig waren ihre Gefühle gewesen.

Aber diese wenigen einfachen Zeilen auf dem schon leicht vergilbten Papier hatten ihre Meinung schlagartig geändert.

Noch am selben Tag - es war bereits später Nachmittag - rief sie bei der Friedhofsverwaltung an, um sich die Nummer des Platzes seines Urnenschreines geben zu lassen. Sie hatte Glück, denn der Verwalter war noch anwesend.

Nummer 2349 ….. lautete seine Auskunft.

Nun suchte sie danach. Der abgeteilte Bereich für Urnengräber war leicht zu finden gewesen. Vorbei an den vielen Platten, die mit Namen, Geburts- und Todestag beschriftet waren, suchte sie nach Ivan Kosic, ihren Vater.

Der Weg führte vorbei an kahlen Steinplatten der Vergessenen. Nur hin und wieder kam sie an einem blumenbegrenzten Urnengrab vorbei, dem man ansah, das der Tote traurige Herzen zurückgelassen hatte.

… 1569…. 1980…. 2067 ….

las Jana murmelnd von den kleinen Messingplaketten ab, während sie an den vielen unbekannten Inschriften auf den Tafeln entlang ging. Ihre Gedanken schweiften wieder ab.

Wie hatte sie nur an Ivan zweifeln können?

E Rwar ihr Vater – zwar nicht physisch, aber dafür mit jeder Faser seines Herzen und mit jeden Gedanken seines Verstandes.

Alles was sie in den letzten Monaten über ihn erfahren hatte, hatte ihr bewusst gemacht, wie ähnlich sie sich im Grunde ihres Wesens gewesen waren. Und sie hatte erkannt, dass seine Weigerung ihr von der Vergangenheit zu erzählen, einzig und alleine dem Zweck diente, sie zu beschützen.

Er hatte am eigenen Leib erfahren, wie gefährlich es war die Wahrheit zu suchen und so versuchte er sie davor zu bewahren….

Sie schob ihre Hand in die Jackentasche. Das zerknitterte Briefblatt raschelte leise, als sie es heraus zog um es noch einmal zu lesen. Seine vertraute Schrift gab ihm etwas Beruhigendes.

Unbewusst blieb sie mitten auf dem Weg stehen. Ihre Augen folgten den Zeilen und jedes seiner geschriebenen Worte tröstete sie und gab Jana Zuversicht, den richtigen Weg eingeschlagen zu haben.

In seiner sorgfältigen Schrift stand da geschrieben:

Ich bin mir sicher, wenn du diesen Brief findest, bist du mit deinen Recherche am Ende und weißt über alles Bescheid.

Was immer du jetzt empfindest, ichmöchte, dass du weißt, dass ich dich immer wie meine Tochter geliebt habe und es auch immer tun werde. Du warst mein Halt. Ich bereue nichts.

Ivan

Nachdem sie geendet hatte, faltete sie den Brief bedächtig zusammen und sah mit tränennassen Augen hoch. Sie stand unmittelbar vor der rötlichen Marmorplatte, die sie gesucht hatte.

Eingemeißelt in harten Stein und mit Goldfarbe ausgemalt, stand darauf geschrieben:

Ivan Kosic

Gestorben 12. Feb. 1998

Der Wahrheit verpflichtet.

Jana lächelte. Selbst hier an seinem Grab forderte er sie förmlich dazu auf die Wahrheit zu suchen. Er hatte gewollt und gehofft, dass sie alles herausfand. Dessen war sie sich sicher.

Er war ein besonderer Mann gewesen. Alles was sie in den letzten Monaten über ihn in Erfahrung gebracht hatte, hatte ihr gezeigt, dass er für die Wahrheit sehr viel geopfert hatte. Nicht nur das Leben, das er in Wohlstand hätte führten können, sondern auch seine Familie und Freunde.

Nur eines war er nicht bereitgewesen herzugeben: Sie und ihre Liebe.

Darum hatte er geschwiegen. Hatte versucht sie von der Wahrheit fernzuhalten, aus Angst sie zu verlieren.

Gestern war ihr das bewusstgeworden.

Nun, während sie noch darüber nachsann und die Vergangenheit noch einmal Revue passieren ließ, spürte sie endlich wie ihr die Tränen, die all die Monate nicht geweint werden wollten, über die Wangen liefen. Nun konnte und wollte sie sie auch nicht mehr zurückhalten. Sie trauerte um den einzigen Menschen, den sie je als Familie empfunden hatte.

Leise flüsterte sie, als könnte er sie hören: „Es tut mir leid! Ich hätte dich rechtzeitig besuchen sollen. Es tut mir so schrecklich leid, Ivan, dass ich an dir gezweifelt habe.“

Die Ulmen, unter denen die Urnengräber lagen, wiegten sich leicht im Wind. Das Rauschen der Blätter hörte sich wie Raunen an, als würde Ivan ihr tröstend antworten.

Sie legte die mitgebrachte Rose aus seinem Garten vor seinen Gedenkstein, strich mit den Fingern liebevoll verabschiedend über den eingemeißelten Namen und ließ die Hand darauf liegen.

Schweigend verharrte sie so noch eine Weile, ehe sie sich langsam, mit einem leisen Seufzer, abwandte und den Weg zurück ging, den sie gekommen war.

Sie fühlte sich befreit, als hätte sie eine schwere Last abgelegt. Nun konnte sie in die Zukunft blicken.

Die Altlasten der Vergangenheit hinter sich lassen.

Dem Neuen entgegengehen.

Vor der leicht erhöhten Weggabelung zum Ausgang des Friedhofs sah sie dann die vertraute Gestalt wartend stehen.

Mit besorgtem Gesichtsausdruck blickte Frank Liebermann mit zusammengekniffenen Augen in ihre Richtung. Die letzten Sonnenstrahlen, die sich zwischen den Bäumen hindurch stahlen, blendeten ihn. Die Hände in die Taschen seiner Jeans vergraben mit aufgekrempelten Ärmeln stand er da. Franks hohe Gestalt und seine breiten Schultern strahlten Kraft und Sicherheit aus. Und wie so oft in den letzten Wochen empfand sie große Erleichterung, als sie ihn erblickte.

Sie blieb stehen und mit einen Lächeln wandte sie sich noch einmal zu Ivans Urnengrab um und murmelte leise: „Danke, Ivan. Wie du siehst brauchst du dir um mich keine Sorgen zu machen. Ich bin nicht allein.“

Sich wieder umwendend, lächelte sie der wartenden Gestalt entgegen, während sie die letzten Schritte, die sie noch trennten, zuversichtlich zurücklegte.

Behutsam legte er seinen Arm um ihre Schultern. Für einen Moment hielt er sie fest und ein Blick in ihr Gesicht sagte ihm, dass seine Besorgnis unbegründet gewesen war.

Jana schmiegte sich vertrauensvoll an ihn. Gemeinsam verließen sie den Friedhof, über den sich bereits die Dunkelheit gelegt hatte….

1. Kapitel

Frühjahr 1969

Drohend türmten sich die dunklen Wolken am fernen Firmament auf, während sich die Sonne endgültig dem Horizont näherte. Langsam wurden die Schatten immer länger und die Dämmerung senkte sichüber den Auwald.

Heftig keuchend hielt eine Gestalt im dichten Gestrüpp der Weidenfür einen Momentinne. Angespannt lauschend verharrte der Mann gebückt. Sein Atem kam stoßweise aus seinem leicht geöffneten Mund. Mehrere Minuten lang rang er so nach Luft. Der Schweiß rann über sein angespanntes schmutziges Gesicht.

Dann kämpfte er sich Schritt für Schritt mühsam weiter durch das Gehölz.

Bemüht wenig Lärm dabei zu machen, schob er die langen dünnen Weidenstämme sorgsam zur Seite. Er achtete darauf sie nicht zu knicken, denn es sollten so wenig Spuren, wie nur irgendwie möglich, zurückbleiben.

Seit Tagen war er unterwegs. Ständig voller Angst entdeckt zu werden. Müde von den stundenlangen Märschen durch unwegsames Gelände.

Hungrig.

Verzweifelt auf der Suche nach einen Ausweg. Und im Gedanken gefangen in einem Albtraum, der nicht zu enden schien.

Die tiefen Furchen, die sich in den letzten Tagen seit er auf der Flucht war, in sein Gesicht gegraben hatten, ließen ihn um Jahre gealtert erscheinen. Sie zeugten von dem Leid, das er mit sich trug. Unfähig es abzuschütteln, oder es rückgängig machen zu können.

Aber bald würde er sein Ziel erreicht haben. Er wusste instinktiv, dass nur noch eine kurze Strecke Weges vor ihm lag, die er ungesehen – unentdeckt – heil - zurücklegen musste. Dann hatte er es geschafft.

Hatte er es wirklich geschafft?

War er seinen Ziel, seinen Hoffnungen,näher gekommen?

Nun - er würde sein Ziel erreichen. Ja. Aber seine Hoffnungen auf ein glückliches befreites Leben hatte er verloren. Noch nicht seit Langen - aber unabänderlich.

Die Strapazen waren um sonst gewesen. Doch umzukehren war ebenfalls unmöglich geworden.

S I E suchten ihn.

Seit Tagen hörte er das Hundegebell. Scheinbar kam es aus allen Richtungen. Manchmal waren sie schon sehr nahe.

Sie, die Jäger, die getreuen Diener des Volkes.

Wie ein Hohn klang diese Formulierung in seinem müden Hirn.

Auch ER war einmal ein Getreuer gewesen - ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft, wie es so schön heißt.

Unwillkürlich zeichnete sich ein bitteres Lächeln um seine aufgesprungenen Lippen.

Doch vor einigen Jahren - vor ewigen Zeiten, schien es ihm - fing er an, über Dinge, die um ihn herum geschahen, nachzudenken. Dinge, die er sah, die alle sahen.

Aber ….aber nur er fing an Fragen zu stellen.

Unerwünschte Fragen.

Gefährliche Fragen.

Die Keiner hören wollte und …… noch weniger beantworten.

Gab es überhaupt eine Antwort? Immer wieder fragte er sich in den letzten Jahren dies. Oder waren seine Fragen nur rebellischer Egoismus.

Immer und immer wieder.

Wie ein Karussell drehten sich seine Gedanken im Kreis.

Kein Anfang.

Kein Ende.

Aber er fand keine Antworten.

Dann vor einigen Monaten hatte er sie gesehen. Die dunklen, schemenhaften Gestalten, die sich im Schatten der Nachbarhäuser herumdrückten.

Und sie kamen näher.

Mit ihnen kam auch die Angst. Leise schleichend. Doch von Tag zu Tag nahm die Furcht zu, setzte sich in seinem Inneren fest. Krallte sich mit eisigen Fingern um sein Herz, bis er glaubte, daran zu ersticken.

Nachts wachte er schweißgebadet auf, stand auf und spähte heimlich aus den Fenstern in die Dunkelheit. Und sie waren immer da. Immer. Als würden sie auf Etwas lauern.

Draga, seine Frau und Jana, seine Tochter, schliefen ahnungslos, tief und fest in ihren Betten. Sorgenvoll sah er auf sie hinunter und ermahnte sich.

Er durfte keine Fragen mehr stellen.

Er musste schweigen, um ihrer Willen.

Erst vor Kurzen war einer der Männer aus dem Dorf nachts verschwunden. Abgeholt von mehreren Soldaten - Sondereinheit - flüsterten die Leute hinter vorgehaltenen Händen. - Noch flüsterten sie. Aber auch das würde verstummen.- Und niemand wusste wohin sie ihn gebracht hatten.

Wer war der Nächste?

War er der Nächste?

Hatten sie schon genug Gründe ihn abzuholen?

Brauchten sie überhaupt einen Grund?

Er konnte die Bedrohung förmlich fassen. Sie lag greifbar in der Luft. Ständig gegenwärtig. Spürbar bis ins Knochenmark. Nicht mehr ignorierbar.

Sein Entschluss in dieser Nacht zu flüchten kam plötzlich. Mitten in der Nacht, nachdem er einige Zeit die Schatten beobachtet hatte.

Hastig weckte er seine Frau, nachdem er alles bereitgelegt hatte. Papiere, Geld und etwas Proviant.

Er hatte sich in den letzten Monaten alles gut überlegt. Er kannte den Weg. Er hatte ihn sich eingeprägt mit Hilfe alter Karten. Und er wusste den richtigen Zeitpunkt. Kurz vor Morgengrauen verschwanden sie für einen Moment. Er hatte es die letzten Wochen immer wieder gesehen.

Er wusste, nur wenige Tage trennten sie von der Freiheit.

Oder - dem Tod?

Er war sich dessen bewusst. Und auch Draga wusste es. Er sah es ihr an. Sah die Angst in ihren Augen. Trotzdem folgte sie ihm. So - wie sie es immer tat.

Schweigend, vertrauensvoll, widerspruchslos.

Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn sie wenigstens dieses Mal ‚Nein‘ gesagt hätte.

Vielleicht würden sie und das Kind noch leben.

Vielleicht wäre nichts passiert und sie hätten weitergelebt.

Vielleicht ….

Müde strich er sich über seine heiße Stirn. Strich den Schweiß und die qualvollen Gedanken weg. Bemüht sich auf das zu konzentrieren, das jetzt wichtig war.

Plötzlich wurde ihm schlagartig bewusst, was er seit geraumer Zeit vermisste.

Das Hundegebell. Es war verstummt.

Hatte er seine Verfolger abgeschüttelt?

Oder wurden die Spürhunde nicht mehr gebraucht?

Saß er bereits in der Falle, ohne dass er es gemerkt hatte?

Warteten sie hinter dernächsten Flusskehreauf sein Kommen?

Wie ein wildes, verängstigtes Tier blieb er abermals stehen, witternd und um sich sehend. Lauschend, hielt er den Atem an. Aber nichts war zu hören. Nur das Rauschen des nahen reißenden Flusses, der Freiheit oder Tod für ihn bedeutete, war zu vernehmen.

Das abschüssige, wildverwachsene Ufer war schon durch das Laub der Weiden zu sehen. Nur noch die Böschung lag zwischen ihm und dem Fluss.

Geduckt hockte er sich nieder. Wartend auf die bald einsetzendeDämmerung, in deren Schutz er es wagen konnte sich dem Wasser zu nähern, verharrte er.

Bewegungslos versank er grübelnd wieder in seine, sich ständig im Kreis drehenden, Gedanken. ….

Seit er sich entschlossen hatte, seinem Land, seiner Heimat, den Rücken zu zukehren, war er ein Verräter. Nichts konnte ihn mehr retten. Es gab nur noch diesen Ausweg. Er kannte keinen, der es geschafft hatte. Aber er wusste, dass es viele versucht hatten.

Ihre angespülten Leichen wurden oft erst durch den süßlichen Gestank der Verwesung gefunden. Und man brachte sie ins Dorf.

Zum Beerdigen.

Als Zeugnis ihres Verrats.

Aber vor allem.. zur Abschreckung…..

Nun gab es kein Zurück mehr vor dem tückischen Gewässer, welches selbst den Toten oft die Freiheit verwehrte, indem es sie zurückwarf in ihr Gefängnis aus dem sie zu fliehen versucht hatten.

Endlich setzte die Dämmerung ein. Sie tauchte die unwirkliche Landschaft in gleichmäßiges Grau.

Ohne noch länger zu zögern, bahnte er sich seinen Weg durch das Gestrüpp zum Fluss. Er achtete nicht mehr darauf keinen Lärm zu machen oder keine Spuren zu hinterlassen. Er hastete vorwärts und erreichte die Böschung.

Dann unvermittelt setzte das Gewehrfeuer ein.

Sie hatten ihn erwartet.

Nein. E s hatte ihn erwartet. Kalt und laut hallten die Schusssalven über den schmalen Uferstreifen.

Er rannte im Zick Zack über den schmalen kahlen Sandstreifen.

Er wusste: ‚Stehenbleiben, bedeutete den sicheren Tod‘.

Also rannte er geduckt weiter, angetrieben von den Kugeln, die in unmittelbarer Nähe einschlugen.

Dann spritzte das Wasser unter seinen Füßen hoch. Das Zischen einer Kugel nur wenige Millimeter neben seinen Kopf ließ ihn sich nach vorne werfen, hinein in die braune, tosende Flut.

Er versank unter der Oberfläche und wurde augenblicklich von der starken Strömung mitgerissen. Er kämpfte sich mit den Armen heftig rudern an die Oberfläche. Schnappte nach Luft, tauchte wieder unter, wobei er mit seinen kräftigen Armen verzweifelt die tosenden kalten Wassermassen teilte.

Doch die Kraft des Wassers war überwältigend. Sie wirbelte ihn herum, wie ein Stück Treibholz.

Sein letzter Gedanke, bevor er mit großer Wucht gegen einen Felsen geschleudert wurde, (ob verzweifelt oder erleichtert, konnte er später nicht mehr sagen), war: „Es ist vorbei.“

Der Aufprall betäubte ihn……

Als er erwachte, lag er ausgestreckt auf einer Sandbank. Erschöpft blieb er mit geschlossenen Augen liegen. Spürte, wie seine Beine vom kalten Wasser umspült wurden. Lauschte in die Nacht hinaus, unfähig sich zu rühren.

Er fror. Sein Kopf schmerzte. Bleiern war die Erschöpfung.

Wie lange lag er schon da?

Hatte er es geschafft?

Oder trieb der Fluss ein übles Spiel mit ihm?

Er wusste es nicht.

Erst ein ungewöhnliches Geräusch ließ ihn aus seiner Erstarrung erwachen, zwang ihn mühsam seine Augen zu öffnen. Blinzelnd versuchte er seine Umgebung wahrzunehmen.

Wo war er?

Hatte ihn die tosende Frühjahrsflut zurückgeworfen? Oder war sie gnädig gewesen?

Und dann schien ihn sein Albtraum, der ihn seit Tagen verfolgte, einzuholen.

Er starrte auf die zarte Frauenhand unmittelbar vor seinem Gesicht. Weiß und reglos lag sie da.

Er schloss seine Augen wieder um das Bild auszulöschen. Er musste sich irren. Seine Fantasie spielte ihm einen bösen Streich. Quälte ihn dafür, dass er Draga in den Tod geführt hatte. Strafte ihn für seinen Verrat an ihr und seinem Kind. An dem System. An seinem Land.

Doch als er die Augen wieder öffnete, war die Hand immer noch da.

Eine feingliedrige Hand. Weiß, ohne Schwielen. Nicht wie Dragas Hand, die von der schweren Arbeit auf dem Feld hart geworden war.

Er stemmte sichmühsamhoch. Zitternd lehnte er sich an einen der großen Felsen, die am Ufer verstreut lagen. Starrte auf die unbekannte Tote, die neben ihm lag. Ihre leeren Augen waren gegen den Himmel gerichtet.

Sie konnte noch nicht lange da liegen. Zu frisch und rein sah sie noch aus.

Sie war noch jung, vielleicht etwas über zwanzig Jahre. Dichtes nasses Haar lag, wie ein Fächer um ihren Kopf ausgebreitet da. Der Mund war leicht geöffnet. Er sah ihre ebenmäßigen Zähne, die im Licht des Vollmondes wie Perlen schimmerten.

Er zwang sich seine Augen von ihr abzuwenden. Suchend sah er sich um.

Der Vollmond, der groß als silberne Scheibe am Firmament stand,hüllte alles in einkaltes Licht. Nur noch einzelne Wolkenfetzen zogen vorbei.

Überall waren Schatten. Und doch war das Gefühl beobachtet zu werden, dass ihn monatelang begleitet hatte, verschwunden.

Die Schatten hatten ihre Bedrohung verloren. Erleichterungüberschwemmte ihn. Er war sich plötzlich sicher die Freiheit errungen zu haben. Aber zu welchen grausamen Preis.

Krampfhaft fingen seine Schultern zu zucken an, während Tränen über seine Wangen liefen und er das Schluchzen zu unterdrücken versuchte.

Er war auf der anderen Seite des Flusses. In Sicherheit. Und… er hatte überlebt.

Sein trüber tränennasser Blick wanderte wieder zurück zu der toten Frau.

‚Wie lange lag sie schon da? ‘, fragte er sich.

War sie auch geflüchtet, aber gescheitert? - So wie Draga und Jana, seine Tochter.

In diesem Moment nahm er aus den Augenwinkeln eine flüchtige Bewegung wahr.

Ein Tier, das sich an der Leiche zu schaffen macht, dachte er. Eines dieser widerlichen Nager, die gierig ihre Zähne in alles schlugen, dessen sie habhaft wurden. Ein Leichenfledderer.

Plötzlich empfand er eine sinnlose Wut auf dieses Tier. Die Vorstellung, dass auch Draga womöglich von Tieren angefressen würde, steigerte sie ins Unermessliche.

Er fühlte einen Stein unter seiner Hand. Seine Finger umkrallten ihn, um damit den vermeintlichen Leichenschänder zu töten.

Langsam hob er die Hand, um den todbringenden Stein mit aller Wucht auf den Kopf des Tieres zu schlagen. Um ihn zu zermalmen, in seiner verzweifelten Wut. Aber in diesem Moment hob das Wesen seinen Kopf….

Das Mondlicht fiel darauf und Ivan ließ erschrocken den Stein fallen. Er presste seine Hand, mit der er gerade noch den Totbringer gehalten hatte, zitternd an den Mund um den Schrei, der sich aus seiner Kehle stehlen wollte, zu unterdrücken.

Schließlich stieß er gepresst den angehaltenen Atem aus. Und starrte mit brennenden Augen in die entsetzt aufgerissenen Augen eines Kindes, das ihn angstvoll anstarrte….

Februar 1998

Jana fuhr schweißgebadet aus den unruhigen Schlaf. Das quälende Gefühl keine Luft zu bekommen, ließ sie keuchend nach Atem ringen. Panik erfasste sie und verzweifelt schlug sie um sich, nach sicherem Halt suchend. Endlich erkannte sie ihre Umgebung. Wusste nun, dass sie in Sicherheit war und ihre Angst unbegründet.

Mühsam setzte sie sich auf, umfing, in ihrer Qual, ihren Polster mit den Armen und presste ihn an sich. Es war nicht das erste Mal, dass sie mit dieser unbestimmten Angst nachts erwachte.

Betont langsam atmete sie tief ein und aus, so wie sie es als Kind gelernt hatte. Schließlich ebbte das beklemmende Gefühl ab. Löste sich der Knoten in ihremHals und ihr Atmen wurde ruhiger.

Trotzdem blieb sie aufrecht in ihrem Bett sitzen. Es war lange her, dass sie nachts keuchend aufgewacht war. Minuten verstrichen und schließlich zog sie fröstelnd ihre Decke um ihren schweißnassen Körper. Das dumpfe Gefühl hilflos, allein zu sein, blieb jedoch zurück.

Sie sah sich um in ihrem dunklen Zimmer. Durch den Vorhang schimmerte das Licht der Straßenbeleuchtung herein. Die vertrauten Möbel waren schemenhaft zu erkennen. Es war nichts zu hören. Nur hin und wieder fuhr ein Auto unterhalb ihres Fensters auf der Straße vorbei.

Alles war wie immer. Es gab keinen vernünftigen Grund sich zu fürchten und doch konnte sie das unbestimmte Gefühl nicht loswerden, dass etwas nicht stimmte.

‚Es ist alles nur Einbildung! ‘, versuchte sie sich selbst zu beruhigen.

Mit einem Seufzer schlug sie die Decke zurück und schlüpfte aus dem Bett. Vorsichtig tastete sie sich zur Tür. Umrundete dabei den Stuhl auf dem sie vor dem Zubettgehen ihre Kleidung abgelegt hatte. Dann zog sie die Tür auf und durchquerte leise den schmalen Vorraum. Alles war ruhig. Nichts begründete ihre innere Unruhe.

In der Küche suchten ihre Finger den Schalter an der Wand. Das Licht flackerte unruhig auf und erhellte mit seinem drüben Licht den Raum.

‚Ich muss endlich die Glühbirne wechseln‘, dachte sie und wusste im selben Moment, dass sie es morgen wieder vergessen haben würde.

Sie nahm ein Glas aus dem Schrank und füllte es mit kaltem Wasser. Dann setzte sie sich an den runden Tisch in der kleinen Küche und grübelte über den Traum nach.

Seit Tagen quälte sie dieser Traum. Wie ein böses Omen schien er über allem zu liegen.

Schon als Kind verfolgte er sie. Das Gefühl keine Luft zu bekommen, zu ertrinken und verzweifelt nach Luft zu schnappen.

Sie war sogar deswegen in Behandlung gewesen. Danach wurde es besser. Lange Zeit hatte er sie nicht mehr verfolgt.

Aber nun war er wieder da. Quälte sie jede Nacht aufs Neue, so dass sie sich jeden Abend davor fürchtete ins Bett zu gehen.

Sie stand auf um im Apothekenschrank nach einer Schlaftablette zu suchen. Sie öffnete die Tür und fing an einzelne Packungen herauszunehmen. Las den Schriftzug und legte sie nach einander zur Seite.

In diesem Moment schrillte das Telefon im Vorraum. Unnatürlich laut zerriss der metallische Ton die Stille der Nacht.

Jana blickte auf die Uhr. Es war kurz vor halb Zwei. Wer konnte das sein? Um diese Zeit? Wahrscheinlich war es wieder einer dieser Spinner, die dann stöhnend am anderen Ende der Leitung saßen und einen belästigten.

Sie ließ es läuten. Wühlte in den Schachteln mit Tabletten und zählte jedes Aufkreischen des Telefons.“ …….dreizehn, vierzehn, fünfzehn…..“,murmelte sie vor sich hin.

Schließlich stürmte sie wütend zum Apparat, um den ungebetenen Anrufer ihre Meinung zu sagen.

Sie riss den Hörer von der Gabel und bellte ein kurzes ‚Ja? ‘ hinein, ohne sich vorzustellen.

Für einen Moment herrschte Stille am anderen Ende der Leitung.

Dann räusperte sich jemand und endlich erklang eine tiefe Männerstimme. „Entschuldigen sie bitte die Störung“, sagte er, „Hier spricht Doktor Werthmann aus dem Klinikum West in Erfurt. Spreche ich mit Frau Kosic? Jana Kosic?.“

Irritiert lauscht Jana dem Klang der fremden Stimme nach. Schließlich bestätigte sie dies und der Sprecher fuhr fort. „Es tut mir leid sie um diese Uhrzeit anzurufen, aber einer meiner Patienten hat mich gebeten, mit ihnen in Kontakt zu treten. Sein Name ist Ivan Kosic. Er gab mir diese Telefonnummer. Er liegt seit einigen Tagen hier in der Klinik. Sein Zustand ist sehr kritisch.“

Er schwieg und schien auf eine Antwort zu warten.

Als keine erfolgte, sprach er drängend weiter. „ Er möchte sie sehen, Frau Kosic. Er hat nicht mehr viel Zeit. Genaugenommen gar keine mehr…. Er liegt im Sterben. Ich weiß, nicht was zwischen ihnen vorgefallen ist, aber sollten sie sich dazu entschließen ihn doch noch aufzusuchen, müssen sie sich beeilen. Es kann jederzeit zu Ende gehen.“

Er verstummte.

Jana stieß ein Keuchen aus. Wie betäubt stand sie da. Versuchte das Gehörte zu erfassen.

Ivan Kosic war ihr Vater.

Noch vor kurzem hatte sie mit ihm gesprochen. Fassungslos schüttelte sie den Kopf, obwohl der Anrufer sie nicht sehen konnte.

Dann als könnte sie, damit das Vernommene ungeschehen machen, stammelte sie: „Sie müssen sich irren. Mein … mein Vater hat mich vor wenigen Tagen angerufen. Er hat nichts davon gesagt, dass er krank ist. Das … das kann nicht sein!“

Der Anrufer antwortete mit Bedauern in der Stimme: „Es tut mir leid, aber es ist so, wie ich gesagt habe. Er ist seit mehreren Monaten hier in Behandlung und liegt nun in der Onkologie, Zimmer 210. Er hat Lungenkrebs im Endstadium. Werden sie kommen? Es scheint ihrem Vater sehr wichtig zu sein.“

Janas Hand fing zu Zittern an. Ihre Beine fühlten sich plötzlich wie Gummi an und drohten nachzugeben. Verzweifelt hielt sie sich an der Kommode, auf dem das Telefon stand, fest.

Ihr Mund fühlte sich unangenehm trocken an. Mühsam schluckte sie. Sie versuchte ihre Fassung wieder zu finden. Schließlich räusperte sie sich mehrmals und brachte krächzend heraus: „Ja, natürlich. Ich werde kommen. Ich fahre gleich los.“

Nachdem Dr. Werthmann sich verabschiedete hatte, ließ sie den Hörer sinken. Eine Zeit lang ertönte das langgezogene Tuten der unterbrochenen Leitung in der Stille, die sie umgab. Wie erstarrt stand sie da, unfähig das Gesagte zu begreifen.

Erst nach einigen Minuten schaffte sie es sich aufzuraffen. Langsam, wie automatisiert, legte sie den Hörer auf die Gabel.

Dann herrschte Todesstille.

Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Während sie sich über die Stirn strich, begann sie über das Gehörte nachzudenken.

Konnte das wirklich sein?

Lag ihr Vater im Sterben?

Noch immer konnte sie es nicht glauben. Zu unwirklich erschien ihr alles.

Sie dachte an das letzte Mal, als sie ihn gesehen hatte, zurück.

Das war vor fast drei Jahren gewesen. Er stand kurz vor seiner Pensionierung. Damals war er ein kräftiger Mittsechziger gewesen. Er hatte immer noch diese Energie besessen, die sie seit ihrer Kindheit an ihm beobachtet hatte. – Und wofür sie ihn bewunderte.

Diese Energie hatte ihr immer das Gefühl gegeben, nichts könnte ihr geschehen, solange er bei ihr war.

An jenem Tag hatte sie ihn, wie schon so oft gedrängt, ihr mehr aus seiner Vergangenheit zu erzählen. Und wie jedes Mal zuvor hatte er sie abgewiesen.

Es war keine schöne Erinnerung. Sie hatten gestritten, wie so oft in den letzten Jahren.

Sie versuchte sich zu erinnern, wann sie angefangen hatten - diese ständigen Streitereien?

‚Wahrscheinlich mit meiner Berufswahl‘, dachte sie.

Damals als sie ihm voller Begeisterung erzählt hatte, dass sie Journalistin werden wollte, hatte er nur missbilligend den Kopf geschüttelt.

Er sagte nichts. Aber es war deutlich an seinen Gesichtsausdruck zu erkennen, dass es ihm missfiel.

Damals dachte Jana, dass es mit der Unsicherheit, die dieser Beruf mit sich brachte zu tun hätte. Oder mit den ständigen Reisen. Oder einfach, weil sie erwachsen wurde und er es als ihr Vater nicht ertragen konnte, dass sie selbständig wurde. Vielleicht auch, dass er Angst hatte sie zu verlieren.

Aber, wie sie bald feststellte, irrte sie sich darin.

Es waren die ständigen, bohrenden Fragen, die ihn störten.

Er sagte es ihr an jenen verhängnisvollen Tag. Nein, er schrie es ihr entgegen. Schleuderte es ihr förmlich an den Kopf, dass es genau diese Fragen waren, die er an diesem Beruf so sehr hasste.

Wie so oft in den vergangenen Jahren versuchte Jana ihm zu erklären, wie wichtig es war, die Wahrheit herauszufinden und diese auch anderen mitzuteilen.

Aber er schüttelte nur wütend den Kopf, ballte seine mächtigen Fäuste und schrie: „Die Wahrheit! Die Wahrheit ist gefährlich. Sie tötet. Sie zerstört alles.“, stieß er gepresst hervor. „Willst du alles zerstören, Jana?“

Noch nie hatte sie ihn so aufgeregt erlebt. Er stand zitternd vor unterdrückten Emotionen leicht nach vorn gebückt mit geballten Fäusten und hochroten Kopf vor ihr, wie ein wütender Boxer.

Drohend. Kampfbereit.

Bereit seine Meinung notfalls mit Gewalt zu verteidigen. Damals hatte sie das erste Mal in ihrem Leben Angst.

Angst vor ihm.

Bis zu diesem Tag kannte sie ihn nur als liebevollen Vater. Oft schweigsam, aber immer bereit für sie alles zu tun.

Nun erkannte sie ihn fast nicht mehr. Sie verstand die Aufregung nicht. Begriff nicht warum er sich so benahm.

Sie wusste natürlich von seiner Flucht. Davon wie schwer es gewesen war im Asyl, in einem fremden Land, neu zu beginnen. Sie wusste, dass ihre Mutter tot war. Sie war auf der Flucht gestorben. Ertrunken!

Es war für ihn sicher schwer gewesen mit einem kleinen Kind sich durchzuschlagen.

Er hatte die Sprache schnell erlernt, auch lesen und schreiben. Er wusste, dass er nur dadurch hier, fern seiner Heimat, wirklich etwas erreichen konnte. Nur wenn er sich anpasste, würde er es schaffen.

Er erhielt eine Arbeitserlaubnis. Und fand Arbeit. Sein Fleiß und sein Einsatz ermöglichten ihn den Aufstieg zum Polier in der Baufirma, bei der er arbeitete.

Sie wusste alles, aber erst ab den Zeitpunkt seiner gelungenen Flucht.

Aber nicht mehr.

Keine Details von früher. Nichts über ihre Familie. Nichts über ihre Heimat oder dem Ort wo sie geboren wurde.

Und je mehr sie fragte, umso mehr zog er sich zurück. Baute eine Mauer des Schweigens um sich und sein Wissen auf, deren übersteigen er zu verhindern wusste.

Wahrscheinlich war dies genau der Grund, warum sie diesen Beruf gewählte hatte. Sie wollte mehr in Erfahrung bringen.

Über ihre Mutter.

Über das Leben dort, woher sie gekommen waren.

Über mögliche Verwandte.

Und natürlich, warum er geflohen war.

Aber nicht nur er war an diesem Tag wütend.

Sie war es auch.

Sie war überzeugt, dass er nicht das Recht habe ihr die Vergangenheit zu verweigern.

Sie hatte das Recht alles über ihre Familie, die vielleicht noch irgendwo im Osten lebte, zu erfahren.

Die Zeiten hatten sich schließlich verändert.

Nun waren die Grenzen offen. Nun konnte sie ihre Wurzeln erforschen. Es gab keinen Eisernen Vorhang mehr.

Doch…. er war so verbohrt in dieser Hinsicht.

Er weigerte sich darüber zu reden. Er wollte ihr sogar verbieten nachzuforschen.

Sie verstand ihn nicht.

So verließ sie ihn. Voller Zorn. Wütend warf sie die Tür hinter sich zu und rannte aus dem Haus. Seit damals hatte sie ihn nicht mehr gesehen.

Dann, vor wenigen Wochen, hatte er angerufen.

Als sie seine Stimme am Telefon erkannte, war sie vollkommen überrascht gewesen.

Er hatte sie noch nie seit diesem Vorfall angerufen.

Er sagte nur, dass er sie vermisste, dass es ihm Leid täte und dass er sie gerne sehen wollte.

Zögernd hatte sie zugesagt bei nächster Gelegenheit bei ihm vorbeizuschauen.

Aber sie hatte es immer wieder verschoben.

Obwohl es Gelegenheiten gegeben hätte, hatte sie sich gescheut zu ihm zu gehen. Noch immer hatte sie nicht seine Ablehnung und Wut verkraftet, mit der er ihre Fragen abgewehrt hatte.

Nun da sie daran zurückdachte, fiel ihr auf, dass die Alpträume, die sie als Kind so oft gehabt hatte, zu dieser Zeit wieder begannen.

Sie hatte es ignoriert. Dieses Gefühl, dass etwas nicht in Ordnung war.

Genau dieses Gefühl, dass ihr in ihrem Beruf so oft den richtigen Weg zeigte, wo sie ihre Stories suchen musste.

Wo sie mit der Suche beginnen sollte.

Wo es sich lohnte zu graben und wo nicht.

Sie hätte wissen müssen, dass etwas Schwerwiegendes passiert war. Ansonsten hätte ihr Vatersie nicht angerufen.

Sie waren beide stur.

Sie ging in ihr Zimmer und fing an sich anzuziehen. Wahllos griff sie in ihren Kasten, während sie sich fragte, warum er es ihr verschwiegen hatte.

Früher – vor ihren Streit - hatte er ihr alles anvertraut. Sie wusste immer was er dachte und fühlte. Sie war sein Ein und Alles. Seine Familie.

Er hatte immer versucht Vater und Mutter für sie zu sein.

Auch sie hatte ihm alles anvertraut.

Und dann hatten sie in der Schule den Kalten Krieg und den Eisernen Vorhang durchgenommen.

Und sie hatte angefangen Fragen zu stellen. Sie wollte alles wissen. Aber er weigerte sich darüber zu reden. Anfangs dachte sie, er wolle nicht darüber reden, weil ihre Mutter bei der Flucht gestorben war. Sie wusste, dass er sich deshalb Vorwürfe machte. Dass er immer noch darunter litt.

Aber mit der Zeit erschien ihr, dass dies nicht der einzige Grund war. Sie versuchte mehr zu erfahren. Aber je mehr sie fragte, umso mehr zog er sich zurück.

Baute diese unsichtbare Mauer um sich herum auf, durch die sie nicht mehr zu ihm vordrang.

Nachdem sie Journalistin geworden war, fing sie an zu recherchieren. Heimlich, damit er es nicht erfuhr. Aus ihren Papieren, die ihr Vater bei der Flucht mitgenommen hatte, erfuhr sie woher sie stammten.

Sie fand heraus, dass das Dorf aus dem ihr Vater geflohen war nicht mehr existierte. ‚Umgesiedelt‘ hieß es im Bericht, den man ihr gab.

‘ Wohin? ‘, hatte sie die zuständigen tschechischen Beamten, mit denen sie Verbindung aufgenommen hatte, gefragt. Sie bekam nur ein Schulterzucken. Niemand schien etwas Genaueres zu wissen.

Es gab keine Antworten auf ihre Fragen.

Und ihr Vater schwieg, als könnte nach so vielen Jahren die Wahrheit immer noch Unheil anrichten.

Sie starrte in den Spiegel im Badezimmer. Die blauen Ringe unter den Augen und die Blässe ihres Gesichts wurden durch das kalte Licht verstärkt. Die ersten Falten zogen bereits Furchen – zumindest erschien es ihr in diesen Moment so - in die Haut. Sie fühlte sich alt und müde. Die letzten schlaflosen Wochen hatten ihre Spuren hinterlassen.

Sie schaltete das Licht über dem Badezimmerspiegel aus. Nur noch ein schemenhafter Umriss blieb von ihr.

Oft fühlte sie sich auch so. Als wäre sie nur ein Umriss und die Füllung fehlte. Wenn ihr Vater starb, bevor sie mit ihm gesprochen hatte, würde sie immer so bleiben. - Eine leere Hülle.

Sie hatte es plötzlich eilig. Sie überwand ihre Müdigkeit. Rasch zog sie ihren alten Mantel über und verließ, nachdem sie ihre Tasche mit Papieren und Autoschlüssel ergriffen hatte, ihre Wohnung.

Ihre Absätze klapperten die Stufen hinunter, während sie darüber nachsann, wie wichtig für sie war, noch rechtzeitig zu kommen, damit sie sich mit ihm aussprechen konnte. Nur noch dies erschien ihr wichtig.

Am Parkplatz angekommen warf sie ihre Tasche ins Auto, setzte sich hinters Lenkrad und fuhr los.

Um drei Uhr morgens waren die Straßen noch leer. Nur vereinzelt kamen ihr Autos entgegen. Während sie durch die dunklen Straßen der schlafenden Stadt fuhr, fühlte sie sich einsam und verloren. Endlich erreicht sie die Autobahn. Sie trat das Gaspedal stärker durch, so dass der Motor ihres Citroëns laut aufheulte. Langsam entspannte sie sich, während sie Kilometer für Kilometer zurücklegte.

Ihre Gedanken schweiften in ihre Kindheit zurück.

Sie dachte an früher. Als sie ein Kind war, schien ihr alles so einfach.

Sie liebte ihren Vater. Und er liebte sie.

Obwohl er nicht viel verdiente, schaffte er es ein kleines Haus zu bauen.

Etwas außerhalb des eigentlichen Vorortes. Am Ende eines Weges lag es geschützt von einem kleinen Hain.

Solange sie sich zurück erinnern konnte, sah sie ihn in seiner Arbeitskleidung, ständig dabei das Haus zu verschönern. Er arbeitete viel um sich seinen Traum vom eigenen Heim zu erfüllen. Er sagte immer: „ Es soll für dich sein. Damit du es gut hast, wenn es mich einmal nicht mehr gibt.“

Trotz seiner Unermüdlichkeit schien er immer für sie Zeit zu haben. Er war einer der wenigen Väter, der immer anwesend war, wenn es in der Schule eine Aufführung gab. Dann saß er in seiner besten Kleidung unter den anderen Eltern und applaudierte begeistert, wenn sie etwas vortrug, oder bei einem Theater mitspielte.

Aber sie sah auch die heimlichen, abschätzenden Blicke der anderen Eltern.

Mit seinen kohlrabenschwarzen Haaren und der dunklen Gesichtsfarbe stach er aus der Menge hervor. Er war und blieb ein Fremder, trotz seiner Versuche sich anzupassen.

Nach der Vorstellung nahm er sie an der Hand und ging mit ihr nach Hause. Und wieder folgten ihnen die Blicke. Zu unterschiedlich war ihr Äußeres.

Im Gegensatz zu ihrem Vater besaß Jana rostbraune Haare und einen hellen Teint….

Abrupt bremste sie ab. Zum Glück fuhr niemand hinter ihr. Fast hätte sie die Ausfahrt Richtung Erfurt übersehen. Sie riss ihr Fahrzeug auf den Ausfahrtfahrstreifen und verließ die Autobahn. Wegweiser zeigten ihr den Weg zum Klinikum.

Bald darauf sah sie den riesigen Krankenhauskomplex vor sich. Glasfronten ragten in den dämmrigen Himmel. Kalt und bedrohlich erschienen sie ihr.

Sie parkte ihr Auto in das dazugehörende Parkhaus. Nachdem sie den Motor abgestellt hatte, blieb sie noch eine Weile sitzen.

Was erwartete sie hier?

Was sollte sie ihrem Vater sagen?

Plötzlich überkam sie die Angst.

Was wenn sie bereits zu spät kam?

Sie durfte keinen Moment mehr verlieren.

Hastig stieg sie aus, klemmte sich ihre Tasche unter den Arm und rannte die Stufen hinunter, da sie nicht auf den Lift warten wollte.

Plötzlich erschien ihr jede Verzögerung unerträglich. Eine Tafel erklärte ihr, wo sie die Informationsstelle fand.

Sie erreichte das niedrige Gebäude und erkundigte sich beim diensthabenden Portier nach der Onkologie.

Der Mann hinter der Glasfront sah sie mit müden Augen an. Man sah ihm an, dass er nur noch nach Hause wollte. Trotzdem erklärte er ihr freundlich den Weg, wobei er sie mit wissenden Augen mitleidig ansah. Er sah nur allzu oft die Zurückbleibenden, die zum letzten Besuch eilten, nachdem man sie angerufen hatte. Er erkannte sie sofort an ihrem hektischen aufgelösten Gebaren, ihren rotumränderten Augen, ständig knapp daran loszuheulen. Ein Taschentuch zwischen den nervösen Fingern.

Doch sie achtete nicht darauf. Stattdessen nickte sie ihm kurz dankend zu und rannte den Weg, den er ihr beschrieben hatte, entlang.

Vorbei an erleuchtete Glasfronten, die steril in den Himmel ragten. Stumm und unfähig die Gefühle der Vorbeieilenden wahrzunehmen.

Immer wieder musste sie innehalten um sich an dem Labyrinth an Informationstafeln zu orientieren.

Endlich stand sie vor dem Eingang der gesuchten Abteilung.

Im Hintergrund rötete sich der Morgenhimmel. Tauchte die Wolken in Farbe. Wie blutige Wattebauschen standen sie am Firmament. So als wollten sie den Betrachter auf das Unvermeidliche hinweisen, dass ihn hier erwartete.

Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Sie zögerte, die letzten entscheidenden Schritte zu machen. Doch sie straffte ihre Schultern und zwang sich langsam auf die Türe zu zugehen.

Sie ahnte bereits, dass sie zu spät kam.

Die Schiebetüren schoben sich lautlos zur Seite und ließen Jana ein.

Suchend sah sie sich im vor ihr liegenden langen Gang um.

Das frühmorgendliche geschäftige Treiben, das in jedem Krankenhaus gleich ablief, war bereits im vollen Gange. Metallene Wagen, beladen mit Unmengen von Tablettes mit Frühstück, wurden durch die Gänge geschoben. Emsige Schwestern begrüßten ihre Patienten mit einem zwanghaft fröhlichen Lächeln und bemühten sich damit das Wissen um den nahen Tod zu überdecken. Es roch nach Sterilisationsmittel und körperlichen Ausscheidungen.

Das Klappern der Tabletts auf den eilig vorgeschobenen Beistelltischen erklang aus den Zimmern, während Jana sich auf die Suche nach dem Zimmer 210 an den offenen Türen vorbeistahl.

Niemand achtete auf sie. Niemand interessierte sich für sie. Zu groß war das Krankenhaus. Zu anonym die Menschen, die hier lagen und hofften und bangten.

Endlich entdeckte sie das Zimmer. Durch die halbgeöffnete Tür sah sie einen Mann, der sich scheinbar über jemanden in einem Bett beugte. Die Beatmungsmaschine ließ ihr gleichmäßiges klagendes Seufzen ertönen, während das ständige Piepen des Herzschlages, das eine Maschine von sich gab, heraus auf den Gang drang.

Die Stimme murmelte beruhigen vor sich hin, gleich einem Singsang, wie man es auch bei Kindern macht, um sie zu beschwichtigen oder zu trösten.

Zögernd klopfte Jana an die halboffene Tür. Dann schob sie die Tür vollständig auf um das Zimmer zu betreten.

Die Gestalt im weißen Kittel richtete sich auf und wandte sich ihr zu.

Ein Mann im mittleren Alter – offensichtlich ein Arzt - betrachtet sie fragend…. Oder war sein Blick durch die randlose Brille kritisch?

Dann schien er sich an Etwas zu erinnern. Er trat mit ausgestreckter Hand auf Jana zu und fragte: „Frau Kosic?“

Als Jana nickte, schüttelte er ihr die Hand und stellte sich vor: „Ich bin Dr. Werthmann. Ich habe sie heute Nacht angerufen, wenn sie sich erinnern. Es tut mir leid, aber ich fürchte sie kommen zu spät. Seit zwei Stunden hat Herr Kosic das Bewusstsein nicht mehr erlangt… und ich fürchte ….. er wird auch nicht mehr aufwachen.“

Jana starrte ihn nur an. Sie brachte kein Wort heraus. Sie schluckte und zwang sich zu nicken. Ihre Augen wanderten zum Bett auf dem ihr sterbender Vater lag. Widerstrebend trat sie am Arzt vorbei und näherte sich leise der liegenden Gestalt.

Betroffen registrierte sie, wie sehr sich ihr Vater, seit ihrem letzten Treffen, verändert hatte.

Der einst kräftige, stattliche Mann war förmlich zusammengeschrumpft. Wie die Schale eines verdorrten Apfels wirkte die bleiche wächserne Haut die den Körper ihres Vaters überzog. Seine einst fülligen, schwarzen Haare waren fast weiß und spärlich. Die tiefliegenden Augen waren geschlossen und der Atem ging röchelnd. Der Mund wurde vom Atemgerät bedeckt. Seine abgemagerte Hand lag bewegungslos auf der weißen Decke. Über eine Kanüle war er mittels eines Schlauches mit einem Plastikbeutel verbunden, über den eine Infusionslösung - sie nahm an ein starkes Schmerzmittel - tropfenweise in die Blutbahn gelangte.

Der Tod war spürbar und in unmittelbarer Nähe.

Tränen stiegen Jana in die Augen. Aufschluchzend beugte sie sich über ihren Vater. „Verzeih mir“, flüsterte sie „Verzeih mir, dass ich mich nicht gemeldet habe. Ich hätte wissen müssen, dass du nicht einfach so anrufst. Ich weiß ja, wie du bist.“

Nachdem er ihr den Stuhl bereitgestellt hatte, verließ Dr. Werthmann, eine Entschuldigung murmelnd, leise das Zimmer.

Sie war allein.

Die Verzweiflung, die sie plötzlich empfand, schwappte wie eine Welle über sie hinweg. Riss sie mit in einen Strudel der Gefühle und zog sie in eine trostlose Tiefe.

Sie war wirklich vollkommen alleine. Es gab niemanden mehr, den sie zu ihrer Familie zählen konnte. Niemanden, der sie tröstend umarmte. An den sie sich hätte klammern können, wie an ein rettendes Floß.

Sie saß da und weinte, bis keine Tränen mehr kamen. Die Zeit verrann und sie konnte zusehen, wie das Leben langsam aus dem Körper entwich. Gegen Mittag hörte das nervenaufreibende Piepen auf und ging in einen langanhaltenden quälenden Ton über.

Eine Schwester eilte herein. Ihr folgte ein Arzt, der nur noch sachlich den Tod und den Todeszeitpunkt feststellte und notierte. Wie aus weiter Ferne nahm Jana alles unnatürlich klar war. Aber es schien ihr, als wäre nicht sie es, die hier saß, sondern jemand anderes.

Sie fühlte nichts.

Sie konnte keinen Gedanken fassen.

Sie fühlte sich leer, vollkommen leer.

Sie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. Unfähig noch eine Träne zu vergießen, strich sie immer wieder über ihr erschöpftes, verzweifeltes Gesicht.

Sie wusste nicht, wie lange sie so dagesessen hatte. Waren es nur Sekunden oder doch Minuten? Sie konnte es nicht sagen. Sie hatte jegliches Zeitgefühl verloren.

Erst eine behutsame Berührung an der Schulter holte sie aus ihrer unnatürlichen Erstarrung.

Sie sah blinzelnd hoch in das Gesicht einer jungen Schwester. „Wollen sie sich noch in Ruhe von ihm verabschieden, bevor man ihn in die Pathologie verlegt?“, fragte sie mit mitleidigem Blick.

Als Jana mühsam nickte, verließen alle, auf einen Wink der Schwester hin, den Raum und Jana blieb alleine zurück.

Man hatte inzwischen sämtliche Schläuche und Kabeln der Überwachungsgeräte entfernt, so dass sie das ganze vertraute Gesicht sah. Schrecklich bleich und abgemagert und doch so vertraut wie eh und je.

Sie richtete sich mühsam auf und beugte sich über ihren toten Vater. Zärtlich strich sie ihm die Haare aus dem Gesicht. Dann verabschiedete sich mit einem Kuss auf die Stirn von ihm.

Sie war zu spät gekommen. Sie hatten sich nicht mehr versöhnt. Wie eine schwere Last lag es auf ihrem Gemüt. Sie wusste, dass sie ihr Leben lang darunter leiden würde. Die tiefe Trauer, die sie empfand, tat geradezu körperlich weh.

Nachdem sie noch einen abschließenden Blick auf ihn geworfen hatte, wandte sie sich um, ergriff ihre Tasche und verließ das Zimmer.

Draußen erwartet sie der zuständige Arzt und bat sie um ein kurzes Gespräch.

Sie ging mit ihm. Hinter ihr strömte das Meer der hilfreichen Geister des Krankenhauses ins Zimmer um es vom Tod zu säubern.

Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Man würde den nächsten Todgeweihten dorthin verlegen. Und dessen Anverwandte würden den letzten Atemzug erwarten.

Unwillkürlich zog sie fröstelnd die Jacke enger um ihren Körper. Alles erschien ihr, wie ein Albtraum.

Der Arzt - es war nicht Dr. Werthmann - führte sie in einen kleinen Raum, der mit einem Schreibtisch und einigen Stühlen ausgestattet war.

Mit einem Seufzer ließ sie sich müde auf den Stuhl, den ihr der Arzt zurecht schob, sinken.

Der Arzt setzte sich hinter den Schreibtisch, auf dessen Arbeitsplatte nur eine kümmerliche Pflanze stand und öffnete eine Schublade, aus der er, nachdem er kurz gesucht hatte, einen Brief und mehrere Formulare holte.

Er legte das Kuvert vor ihr auf den Tisch.