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Komm mit, ich nehme Dich mit in meine Depression. Ich zeige Dir, wie das ist, wie sich das anfühlt, was sie angerichtet hat in meinem Leben. Ich zeige Dir die besonderen Momente, die Wende- und Scheidepunkte, wie meine Depression entstanden ist und wo sie eine andere Richtung nahm. Ich bin depressiv seit 52 Jahren, immer wieder anders, immer wieder neu. Glaube mir, ich habe zu erzählen. Schonungslos führe ich Dich in meine emotionalen Abgründe, zeige Dir, dass Depression nichts unberührt lässt und alles durchdringt, jeden Tag und jede Nacht. Ich zeige Dir meine Sicht auf Depression, wie ich Depression verstehe, wie sie funktioniert und was ich dagegen unternehme. Ich zeige Dir die Auswege und Konsequenzen für mein Umfeld. Depression wirkt verheerend auf die Freundschaften, die Partner, die Kinder. Mit Verve und munter berichte ich in diesem Buch, da ich eines vermeiden will: Sehnsucht bei flacher Atmung, denn davon habe ich genug.
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Seitenzahl: 546
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Sehnsucht bei flacher Atmung
Mein Leben mit Depression
Paul Kaufmann
Impressum
© 2023 Paul Kaufmann
V2
Dieses Buch ist Teil der Romanlandschaft Kap Kishon
www.kapkishon.com
ISBN Softcover: 978-3-347-92225-9
ISBN E-Book: 978-3-347-92226-6
Druck und Distribution im Auftrag:
tredition GmbH, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Germany
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Deutschland.
Nie ist es Sieg, immer nur Remis.
Cover
Titelblatt
Urheberrechte
Vorwort
Innenwelt
Treibsand
Guten Morgen
Der Umfang
Die alte Verbindung
Freier Fall
Die fremde Hand an der Bremse
Der Energiedieb
Aggression vs. Depression
Wehe, wenn nicht!
Botschaften aus einer anderen Welt
Wünsche wünschen
Im Falschen leben
Dämon
Gelernt ist gelernt
Auf der Flucht
Flucht in den Sprit
Der Bremsklotz
Männerlich, weiblich, was bin ich?
Die Sache mit dem Körper
Das große Schlechtmachen
Selbstwert
Die Genußverhinderungsmaschine
Morpheus und Hypnos
Glaubenssätze
Außenwelt
Die Wand
Lieber heimlich
Leeres Adressbuch
Masochismus
Der Partner
Die Kinder
Die eigenen Eltern
Unter Menschen
Flugzeugträger einparken
Der Sex
Heilung
Und du ahnst nichts
Achterbahn an der Algarve
Alles super, also lasse ich es weg
Mit Antidepressiva
Mit voller Fahrt ins Minenfeld
Die Geburt
Körper
Das schwache Organ
Therapie
Das Schwert Meditation
Das Gerüst – Richtung und Struktur
Die Perspektive – Projekte
Sonderkapitel Aggressivität
Die Türe – Die Wand überwinden
Stimmung zulassen – das Fenster
Die Todeszonen - Destruktives vermeiden
Leben verändern
Der Rückfall
Rückfall eins: Anthrazit
Rückfall zwei: Entzündung
Rückfall drei: Aus dem Nichts
Jetzt mal unter uns … Nachwort
Mein Abendgebet
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Vorwort
Mein Abendgebet
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Vorwort
Etwa zwanzig Prozent des Tages möchte ich nicht mehr leben. Das ist ein Erfolg. Früher war es schlimmer. Früher war es immer.
Und ehrlich gesagt erschrecke ich: Ja, es sind zwanzig Prozent, verdammt, so viel ist es. Jetzt, wo ich dieses Buch schreibe, bemerke ich es.
Guten Tag lieber Leser und liebe Leserin. Mein Name ist Paul Kaufmann. Ich werde morgen zweiundfünfzig Jahre alt und bin depressiv. Schon immer depressiv. Mein ganzes Leben lang, aber nicht immer gleichförmig, nicht immer wirklich schlimm. Nicht immer zwanzig Prozent oder mehr so schlimm so sehr. Aber mehr Depression war auch schon. Viel mehr.
Depression kann innerhalb eines Lebens sehr verschieden sein. Ich schreibe hier davon. Wenn euch dieser Sumpf, dieser Treibsand, diese Stimmung interessiert, dann seid mutig. Ich schreibe, wie es ist und für mich war; wie es gekommen ist, was ich denke über Depression.
Ich berichte von innen. Es sind Innenansichten eines Depressiven. Es ist Privates öffentlich. Ich will zeigen, wie es ist, ein Beispiel ausplaudern ganz intim, damit mein Kampf nicht ganz so sinnlos ist. Dieses Spiel mit dem endlosen Remis geht schon so lange. Nie ist es Sieg.
Und keine Angst: Depression ist nicht ansteckend, zumindest nicht auf diesem Weg. Zuweilen kann sie sogar witzig sein. Von außen, nur von außen betrachtet kann sie das.
Aber, so richtig spritzig kann das Buch nicht werden, oder doch? Ich versuche es trotzdem. Niemand erwartet hier ein Feuerwerk des Frohsinns, denn das Depressive ist das Gegenteil. Depressive sind Energielöcher und scheinen mut- und kraftlos.
Was bereits der erste Irrtum ist. So sind viele Depressive sehr lustig und witzig und voller Energie. In Sachen Humor sind sie besonders gut, denn so tarnen sie ihre Depression. Sie sind extrem gut darin!
Kaum ein Zirkusclown, der nicht in Behandlung ist. Kaum ein Komiker, der den schwarzen Hund nicht kennt. Die Lustigsten, sind die Traurigsten.
Der Humor, gerne auch Zynismus, ist eine Abwehrreaktion, eine Art Übersprungshandlung aus ewiger Trauer und sie funktioniert einstweilen ganz gut. Es gibt dümmere Strategien.
Ich bin ein Beispiel für Depression mit Humor. In Gesellschaft kann ich extrem witzig sein, die Menschen blendend unterhalten über Stunden und ein Zentrum der Energie sein. Aber … das täuscht. Das ist nur die eine, die offizielle Seite, das, was andere sehen. In mir ist es nur selten so.
Heute, Februar 2023 stehe ich im Schnitt zwanzig Prozent des Tages unter vollem Angriff depressiver Stimmung. Voll bedeutet: beinahe Lähmung. Kaum bewegen kann ich mich dann. Klare Gedanken sind nicht möglich, zehn Minuten später aber ist alles anders und weicht zurück. Es gibt ein System im Tagesverlauf, trotzdem ist jeder Tag anders und manchmal fällt das System aus. Es geht dir gut und du weißt nicht warum.
Zum Tag gehört auch die Nacht, also der Schlaf. Es hört nicht auf, nur weil du schläfst. Im Gegenteil füttert der Schlaf die Depression, denn sie sind einander wesensverwandt.
Vielen Menschen ergeht es so wie mir. Verdeckte Depression. Du merkst es ihnen nicht an, wenn du vor ihnen stehst. Nicht einfach so. Nur, wenn es ganz schlimm ist, wenn du ein geschultes Auge hast, diese besonderen Bewegungen kennst, diese winzigen, verräterischen Muster, dann ja, dann ist es erkennbar.
Depression hat viele Gesichter.
Bei mir: Es ist eine Stimmung. Sie vergeht, kehrt aber immer wieder zurück und ist unberechenbar und ein sehr tiefes Loch. Es schwankt und ist verschieden tief. Nicht alle Tage sind gleich, mal ist es mehr, mal weniger.
Und jedes Mal, denkst du, nein, weißt du, dass es kein Ende nehmen wird. Es ist jedes Mal immer wieder neu endlos. Scheinbar. Angeblich. Unvorstellbar ist das für einen Nichtdepressiven, ist aber so.
„Das muss er doch irgendwann verstehen, es geht doch vorbei!“, will man den Depressiven anschreien, und schütteln und wecken, aber nein. Eben nicht! Das ist ja die Folter der Depression! Es ist jedes Mal endlos und für alle Zeit. Für immer! Jedes Mal ist es neu komplett hoffnungslos.
Das klingt gefährlich – nicht, dass der Paul sich noch umbringt! – aber nein, so ist es bei mir nicht. Das gibt es, aber nicht bei mir. Ich bin nicht suizidal, nie gewesen. Ich bin anders depressiv.
Glaubt mir, es gab Phasen, da habe ich es mir gewünscht. Ich habe mir gewünscht, suizidal zu sein, damit die Sache vorbei ist. Das sind perverse Gedanken für Nichtdepressive, für Depressive ist es logisch und hält am Leben. Meine Depression ist zu stark und zu schwach für Suizid. Beides gleichzeitig. Depressive Logik ist ein wenig merkwürdig, ihr werdet sehen.
Meine Depression ist nicht spektakulär, oder ein großer Schmerz wie ein Speer, der in mir steckt. Nein, es ist viel schlimmer. Wenn sie ist, ist alles beiläufig verzweifelt. Es lohnt sich nicht, ein Finale „Suizid“ zu starten. Nein, wenn es so ist wie bei mir, dann möchtest du zwischendurch, dass dein Leben aufhört, einfach ausläuft, die Sache erledigt, versickert, damit endlich, endlich, endlich Ende ist. Und für diese drei „endlich“ fehlt dir schon die Kraft.
Eine halbe Stunde später ist alles wieder gut und die Sonne scheint. Da ist nur noch eine Ahnung, wie böse dir vor einunddreißig Minuten noch war. Da ist noch so ein Rest, so eine Schwere in der Lunge, die Schultern sind noch hart und verkrampft, da muss etwas gewesen sein. Aber … hey, es geht aufwärts, wo ist das Problem? War da etwas, fragst du dich und weißt ganz genau, was da war. Du willst es nur vergessen und tust so als ob.
In der Depression bist du irgendwie am falschen Ort. Hundert Meter weiter wäre es viel schöner. Du kannst es sehen, die anderen stehen im Schönen, im Licht und der Sonne. Sie machen nicht viel anders als du und sie haben Spaß. Du nicht. Du hast dies hier gewählt und wählst jeden Tag neu. Es ist ein bisschen deine Schuld, denkst du, was sehr deprimierend ist. So schließt sich der Kreis.
Etwa zwanzig Prozent des Tages ist das so mit voller Wucht. Meine Welt steht auf „Hoffnungslos“, den Rest des Tages ist weniger. Manchmal nichts davon.
Heute Morgen auf der Couch habe ich mich entschieden, dieses Buch zu schreiben, und wundere mich. Es ist ein spontaner Gedanke und er liegt so nah. Warum bin ich nicht schon längst darauf gekommen?
Das ist doch ein nettes, kleines Projekt und für mich kein Problem. Drei Vorteile habe ich auf meiner Seite:
Erstens: Ich bin Autor. Schreiben ist mein Beruf. Das macht es leicht.
Zweitens habe ich – und ich weiß weder warum noch bilde ich mir etwas darauf ein – schon immer eine gewisse Klarheit in mir. Schon als Kind und Jugendlicher war ich mir relativ bewusst, was in mir und an mir passiert. Relativ! Relativ ist noch immer nicht viel, das bedeutet nicht echtes Bewusstsein. Doch ich habe schon in jungen Jahren an den Rändern erfasst, was mit mir passiert. Vieles war „sehenden Auges“, und so fällt es mir heute leicht, davon zu berichten; womit wir zu dem „Drittens“ kommen:
Drittens habe ich sehr viel verstanden. Ich weiß, was passiert ist. Ich weiß, warum ich meine Depression habe. Ich weiß, was die Ursachen sind, ich weiß, was ich tun muss, wenn sie sich anschleicht. All das habe ich mir erarbeitet in all den Jahren. Ich behaupte, ich habe meine Depression verstanden. Ja, viele Therapeuten und Professionelle lachen dazu und behaupten, ne das gehe nicht. Ich behaupte doch, im groben kann man seine Depression verstehen. Es ist sehr viel Arbeit, es dauert, es kostet viel, aber es ist möglich. Ich verstehe, wie es funktioniert, und ich verstehe warum. Okay, einige Details begreife ich bis heute nicht.
Ich habe sogar Abwehrstrategien, die hin und wieder funktionieren.
Dies ist ein sehr persönliches, ja gar rigoroses Buch. Ich berichte, wie es bei mir ist. Es sind meine privaten Erfahrungen. Ich hoffe, es langweilt nicht, es ist ja meins, meine Geschichte. Aber ich habe die Hoffnung, mit schonungsloser Ehrlichkeit andere Betroffene zu erreichen. Und wenn ich nur einen erreiche, dann ist es dieses Büchlein wert. Dann wäre sein Gefühl, – „Du bist nicht allein“, – mein Lohn.
Jeder der Depression erlebt, wird andere Erfahrungen haben. Es gibt so viele Formen, so viele Arten, so viele Varianten. Zudem ist Depression nie isoliert. Sie tritt immer vergemeinschaftet auf mit anderen psychischen Schwierigkeiten. Oft sind die nicht bewusst und werden es nie, aber es ist so. Depression ist ein Symptom, nicht die Ursache. Es mag einzelne Ausnahmen geben, aber bei mir und der Mehrheit meiner Depressions-Kollegen ist es nur Symptom. „Nur“ ist untertrieben, dieses „Nur“ treibt viele in den Tod.
Ich für meinen Teil kenne die Ursachen. Ich weiß ganz genau, was der Ursprung ist, woher es kommt bis ins Detail. Ich weiß sogar, wie ich die Ursache beseitigen könnte. Nur kann ich das leider nicht.
Jede Depression hat eine Geschichte, eine Vorgeschichte. Das kann die Genetik sein, oder anteilig die Genetik sein. Es gibt eine Depressions-Disposition erblich angelegt bei vielen. Da sind ein paar Voreinstellungen auf „Wenn Krise, dann Depression“ gelegt.
Ursachen können bestimmte Entwicklungen sein, Ereignisse in der Kindheit, Traumata und/oder daraus sich ergebende Erschöpfung, Krankheit natürlich, Überforderung, Schicksalsschläge. Depression kann man lernen und vieles mehr.
Ich bleibe in diesem Buch bei mir, denn dieses Buch, beschreibt meinen Fall.
Die folgenden Kapitel sind einzelne Fetzen, Gedanken und Aspekte. Ich interpretiere und erkläre, wie ich das persönlich sehe in meinem Fall und auch wie ich es bei anderen beobachtet habe. Ich ziehe Erfahrungen anderer hinzu, wenn es eine logische Lücke füllt. Ich analysiere auch. Es sind private Gedanken. Es ist meine Konstruktion, die ich mir montiert habe, damit ich verstehen kann, was bei mir passiert. Das muss nicht richtig sein. Andere Meinungen sind erwünscht und erlaubt.
Nein, dies ist meine Sicht. So wurde und wird das von mir erlebt und so interpretiere ich es für mich!
Meine Hoffnung, meine Idee ist, das bringt dem Leser etwas. Es könnte erhellen, was bei Depression so im Dunklen liegt. Ich weiß, dass die klinische Sicht eine andere ist.
Medizinisch wird von Serotonin und anderen Stoffe gesprochen. Darum geht es hier nicht. Das können andere viel besser erklären als ich.
Auch habe ich Gefühle und Sequenzen in Phantasien gepackt. So personifiziere ich meine Depression gerne als Dämon. Bitte nicht missverstehen: Depression ist kein Dämon, der in Besitz nimmt und ausgetrieben werden muss. In diesem Text ist es ein Stilmittel, ein erdachtes Gegenüber. So soll der „Gegner“ greifbar werden, eine Figur, etwas mit Eigenschaft und Antrieb. Aber eine Depression ist in Wahrheit kein Dämon und kann auch nicht ausgetrieben werden.
Es gibt Menschen, die glauben so einen Unsinn und wollen den austreiben. Hilfe, was für ein Blödsinn!
Nein, hier ist der Dämon nur ein Bild; so wie eine Zielscheibe auf der Schießbahn kein echtes Ziel ist, sondern nur ein Piktogramm, auf das man zielen kann.
Werft mir also bitte nicht vor: „Aber das ist bei mir ganz anders!“ – natürlich ist es das. Du bist ja auch ein anderer Mensch. Oder: „Im Lehrbuch steht aber…“ – ja, steht da bestimmt.
Dieses Buch ist rein subjektiv. Dieses Buch ist ein Angebot an den Leser in meinen Fall als Beispiel zu schauen. Mehr nicht. Vielleicht ist es nicht einmal ein gutes Beispiel für Depression, aber es ist das Beste, das ich habe.
Und jetzt, hinein in den Treibsand der Depression. Es sind Zitate aus meinem Leben.
Sie sind nicht chronologisch. Ich musste mich entscheiden: Mache ich es in zeitlicher Reihenfolge oder mache ich es logisch. Ich habe mich für die Logik entschieden. Du sollst verstehen, wie was wovon wie bedingt und ich gestalte die Texte verschieden in Art und Stil. Der Clown in mir bemüht sich es locker und luftig und bunt erscheinen zu lassen. Es ist geschummelt und geschönt. Die Grundfarbe der Depression ist tristes, ausgewogenes, endloses Anthrazit.
Innenwelt
Depression spielt sich im Wesentlichen im Innen ab, der inneren Welt. Deshalb wird dieser Abschnitt des Buches der größte.
Das, was innen passiert, ist das dicke Paket, aber natürlich ist es mit der äußeren Welt, der Umgebung, dem Leben und dem Drumherum verknüpft. Kaum trennen kann man das. Ich habe es trotzdem versucht, damit es übersichtlich bleibt.
Also zunächst: Die Innenwelt
Treibsand
Dem Nichtdepressiven ist schwer zu vermitteln, wie Depression empfunden wird. Depression ist etwas Eigenes und dann wieder nicht. Trauer oder traurig reicht nicht aus. Zäh ist Depression auf jeden Fall und Niedergeschlagenheit ist ein Effekt. Aber, das ist es nicht. Es trifft nicht wirklich das Gefühl, denn es ist ein Bündel aus Gefühlen. Gleichzeitig ist es etwas Negativ-energetisches und etwas Körperliches.
Ich versuche es mit einer Metapher:
Treibsand – Ein Depressiver befindet sich in einem Treibsandfeld. Es ist psychischer Treibsand. Die Psyche sinkt ein in zähen Brei. Genauer, wenn man es ganz genau betrachtet, wenn man viele Jahre Gelegenheit dazu hatte und es „ermeditiert“ hat, dann weiß man: Es ist der Körper, der einsinkt in das Gefühl und die Psyche folgt diesem Gefühl. Der Körper sinkt ein, erlebt etwas und die Psyche vollzieht die Bewegung verzweifelt mit und seufzt dazu.
Das ist wichtig zu verstehen! Depression ist etwas Körperliches! Sie sieht nur nicht so aus. Es fühlt sich nur nach Kopf an, als sei es nur der Geist, da die Psyche den Körper abschert. Sie kann das körperliche Gefühl nicht ertragen und blendet es aus. In Wahrheit löst der Körper es aus!
Deshalb: Helfe deinem Körper, so hilfst du deinem Geist. Später mehr davon.
Treibsand ist kalt. In Filmen und Comics wird das falsch dargestellt und auch wird dort das Bild von heißer Wüste mit Treibsandfeldern verbreitet. Das ist Unsinn. Treibsand findet man an Küsten und Stränden der Polargebiete, gerne unterhalb von Gletschern. Treibsand ist mit Wasser übersättigter Sand einer bestimmten Korngröße.
Entgegen der landläufigen Meinung kann man in Treibsand nicht ertrinken bis überkopf. Das ist physikalisch unmöglich. Das spezifische Gewicht des Sandes ist höher als das des Menschen oder eines Tieres. Daher sinkt er oder es maximal bis zur Hüfte ein. Niemand versinkt gänzlich und erstickt im Treibsand, es fühlt sich nur anfangs so an.
So auch die Depression. Niemand stirbt an der Depression. Niemand erstickt oder der Körper stellt den Betrieb ein, weil da zu viel Depression ist. Nein, wenn, stirbt der Depressive an seiner Unfähigkeit sich zu befreien. Er stirbt an Erschöpfung. Besonders schnell sinkt man in Treibsand, wenn man sich dagegen wehrt. Auch bei der Depression ist das so. Die Metapher ist stimmig, auch mit dem Folgenden:
Es gibt Techniken sich aus Treibsand zu befreien, nur sinkt man sehr schnell neu wieder ein, was sehr deprimierend ist. Immer wieder, immer wieder, immer wieder und der Depressive weiß, dass er mit dem nächsten Schritt wieder einsinken wird. Sowohl im Sand wie auch in der Psyche.
So ist das Tückische die Erschöpfung. In Treibsandfeldern ist die Gefahr der Erschöpfungstod, nicht der Erstickungstod. Irgendwann kann Mensch oder Tier nicht mehr, gibt auf und stirbt. Auch droht Unterkühlung, denn die Umgebung und das Wasser sind kalt.
Im Treibsand, wie auch in der Depression, ist es kalt. Jeder Depressive ist einsam und alleine. Die anderen können einen nicht erreichen, vielleicht berühren, für einen kurzen Moment, ja das ist möglich, aber befreien muss der Depressive sich selbst. Gemeinsam im Treibsand mit anderen ist nur möglich, wenn man gemeinsam versinkt.
Andere können helfen, wenn man im Treibsand steckt. Aber dies gelingt ihnen nur, stehen sie selbst auf festem Grund. Stehen sie das nicht, sinken sie mit.
Meist noch selbst am Rand des Treibsandfeldes taumelnd, finden die Helfer meist den rettenden Weg zurück. Der Depressive aber nicht!
Depression ist für die Umstehenden, die Angehörigen, die Miterlebenenden schrecklich zu erleben. Sie leiden mit, drohen mitgezogen zu werden, denn die Stimmung – nicht die Depression! – steckt an.
Der Depressive, der im Sand Versinkende, weiß das. Er spürt das alles, was ihn noch mehr verzweifeln lässt. Er fühlt sich schuldig, da er andere mit in sein Treibsandfeld zieht. Er bräuchte doch nur zu gehen, Fuß vor Fuß zu setzen, es scheint so einfach. Er kann es aber nicht, denn er sinkt immer wieder ein und haftet fest.
Hilflos schauen die Zuschauer vom Rand aus zu, wie das Opfer in Sichtweite leidet, sich immer wieder zu befreien versucht und im schlimmsten Fall elend verreckt oder sich nicht mehr befreien will.
Das ist kaum zu ertragen. Denn:
„Jemanden zu lieben, der Depression hat, ist wie London. Es ist die tollste Stadt der Welt, aber es regnet jeden Tag“ – so ist es. Das hat Sophie Manleitner sehr schön gesagt. Das Zitat ist von ihr.
Depression ist ein Treibsandfeld. Es ist endlos und ohne Horizont. Die Metapher ist gut und trifft zu bis ins Detail.
Nur in der Ferne locken vielleicht Fels und sicherer Grund und hilflos kämpft man gegen etwas an, was immer wieder neu bremst und hemmt.
Da draußen stehen die anderen, stehen fest und kommen weiter und haben Freude und du versinkst und versinkst und versinkst immer neu, erschöpfst dich oder erfrierst.
Depressive schauen, so sie sich unbeobachtet fühlen, immer nach unten, denn unten ist der Feind, unten die zähe, alles erschöpfende Gefahr, der Treibsand.
Wie jedem Erfrierendem wird ihm gegen Ende betörend heiß. Er denkt, ihm sei warm und kuschlig und schön und er will verweilen. Kurz vor dem Erfrierungstod ziehen sich Erfrierende aus, da der Körper suggeriert, ihm sei zu heiß, er würde gar brennen.
So auch der Depressive. Er empfindet es wohlig warm in seinem eiskalten Sumpf. Er will verbleiben und lehnt alles Wärmende, jede Zuwendung ab. Nur wenigen Depressiven gelingt es, das emotionale Fenster zu anderen Menschen offen zu halten, dann meistens nur zu einer besonderen Person.
An dieser Stelle: So du einem Betroffenen helfen willst, dann dort, an dieser Stelle. Wärme ihn, wende dich ihm zu, auch wenn er die Wärme ablehnt. Er ist ein Erfrierender, der sich der Erschöpfung ergeben will und nicht versteht, wo er ist. Er friert in Einsamkeit. Ihm ist nicht warm! Er wird getäuscht! Es ist ein körperlich-geistiger Irrtum. Er kann es nicht verstehen, also bleibe bei ihm. Das ist die einzige Stelle, wo du ihm helfen kannst.
Selbst wenn dem armen Opfer die Befreiung einstweilen gelingt, droht ein neues Treibsandfeld. Er weiß, dass es ganz viele davon gibt.
Mehr braucht es nicht. Die Verzweiflung, diese endlose Verzweiflung kommt von selbst und bleibt im Hintergrund, sogar, wenn er gar nicht im Treibsand steckt.
Die Erfahrung bleibt lebenslang. Man kann von Depression nicht genesen im Sinne von löschen, tilgen oder besiegen. Man kann sie nur zurückdrängen, kaltstellen, anderes Gelände benutzen. Das ja, das ist sehr gut möglich und sehr erfolgreich sogar lebenslang. Aber es ist nie gänzlich verschwunden. Einmal Depression und es ist gespeichert. Es ist eine körperliche Erfahrung, eingelagert im Körperspeicher. Der Körper weiß: Ein falscher Schritt und es ist wieder so weit.
Aber die meisten finden wieder hinaus, keine Angst. Die meisten schon irgendwann.
Guten Morgen
Ich erwache und es ist tiefe Nacht. Als sei ein Schalter umgelegt, bin ich wach und voll da. Halb hänge ich noch in einem zähen Traum. Da ist eine Erinnerung, doch sie zerrinnt in Sekunden. Das Gefühl bleibt, zerrt unschön an mir. Vier Atemzüge Freiheit, dann kommt es mit voller Wucht und drückt mich in mein Kissen.
Was drückt, sind die Gedanken. Schwer wie Blei liegt eine Erkenntnis auf mir. Irgendein Thema. Ein Problem ist unlösbar groß. Es überhöht, scheint viel größer, als es ist.
So weiß ich, dass ich verarme. Mein Kontostand, mein Guthaben der Girokonten ist zweiundachtzigtausend Euro. Ich bin nicht arm, aber ich weiß, ich fühle mit jeder Faser, dass ich erledigt und pleite bin. Nichts wird mehr gehen. Ich werde verarmen, ich weiß es, definitiv. Ich bin ruiniert finanziell und die Erkenntnis liegt auf mir wie Blei. Die Erkenntnis ist definitiv-unverrückbar! Die Realität, die zweiundachtzig tausend Haben, wirken nicht. Was wirkt, ist nur das Gefühl: Ich verarme.
Meine Seele steht. Sie steht, sie steht, sie steht. Ich weiß, dass es Unsinn ist. Sie steht, sie steht, sie steht. Dann lockert sie sich. Minuten sind vergangen und ich lebe noch. Ich habe geatmet, muss so sein, habe keine Ahnung, wie es mir gelungen ist.
Zäh ziehe ich mich aus dem Kissen, wende mich auf den Rücken. Die Verarmungsgewissheit vergeht und die nächste Schwere erscheint: Wie bekomme ich das Problem mit der Gastherme gelöst? Ich muss das heute erledigen, weiß aber nicht wie. Atmen, ich muss atmen. Zweihundert Kilo schwer drückt mich das Problem in die Matratze und die Verzweiflung ist grenzenlos. Wie eine Zwinge spannt sich das Problem um mich. Kaum kann ich den Brustkorb heben und das Problem rückt plötzlich zurück, taucht ab, denn ich höre die Katze. Die Katze will herausgelassen werden und ich atme schwer, schwer, schwer, schwer. Und nochmal schwer. Und schwer. Und schwer.
Da ist Verzweiflung. Die Katze, die verdammte Katze! Sie drängt und springt auf das Bett. Ich kann nicht. Ich will diese Katze nicht! Ich kann mich nicht heben, denn mein Körper haftet auf der Matratze. Die Katze kann nichts dafür, also dränge ich meine Wut auf die Katze zurück.
Aus einer Quelle, die ich nicht kenne, schöpfe ich Kraft und stehe auf. Meine Glieder scheinen zu wabern. Das Körpergefühl schleppt sich hinter meiner Bewegung hinterher. Es ist verzögert. Erreiche ich das Bad, holt es mich erst am Waschbecken ein. Das kenne ich bereits. Gehe ich, so fehlt das Körpergefühl. Bleibe ich stehen, fängt es mich von hinten wieder ein. Wir sind zeitweise getrennt. Für Sekunden bin ich ein Zombie.
Die Katze – sie drängt. Ich weiß, dass sie drängt. Sie ist eine Katze, hey! Das liebe Tier kann nichts dafür.
Verzweifelt tastet mein Blick nach der Kleidung des Vortags. Das Anziehen gelingt, obwohl mich eine Socke neu zur Verzweiflung bringt. Das Problem ist winzig, die Verzweiflung echt und ich kraftlos. Aber geschafft! Was Socken-Anziehen angeht, bin ich richtig erfolgreich heute Morgen!
Den Flur entlang ist kein Problem. Die Treppe nehme ich mit heiterem Schritt. Vorbei an der Haustüre, ich mache Licht in der Küche.
Ich schalte die Espressomaschine an, suche meinen Tabak. Eine Zigarette drehe ich mir, noch ist alles gut, denn mein Körpergefühl ist noch auf der Treppe. Es hat mich noch nicht eingeholt und es ist gar nicht so verkehrt ein Zombie zu sein. Zumindest fühlt es sich besser an, als das Gefühl, das gleich folgen wird.
Vor der Terrassentüre ist es so weit. Es ist da! Es hat mich eingeholt. Meine Stirn sinkt gegen das Glas. Da ist diese Schwere. Drei Atemzüge warte ich, bis ich die Schwere besiegen kann.
Auf der Terrasse ziehe ich vier Mal an der Zigarette und die Ungeduld presst. Es dauert zu lange die Zigarette zu rauchen. Ich weiß, dass es irrational ist, aber ich werfe die Kippe weg, da die Unruhe unerträglich ist. Kaum bewege ich mich, ist die Unruhe verschwunden, aber die Trägheit zerrt an mir, als hänge ich an einem Gummiband. Es ist ein Hin und Her von Gefühlen, die nicht ineinanderpassen.
Zurück in der Küche mache ich Kaffee. Zwei Uhr dreizehn. Tiefe Nacht. Ich bin hellwach.
Zum Kaffee schiebe ich mich durch die Nachrichten mit dem Handy in der Hand. Es ist deprimierend, da meine Psyche das Negative überhöht. Aus einer Schlagzeile wird eine persönliche Katastrophe. Meine Verzweiflung ist echt für je zehn Sekunden, mündet in absolute Teilnahmslosigkeit. Dann Aggression und Belustigung und wieder zurück zur Verzweiflung, diesmal aber anders und strukturell:
Mein Empfinden, meine Empathie, meine Risikowahrnehmung ist dejustiert, reagiert völlig unpassend und falsch, meldet Falsches an mich. Mein Urteilsvermögen ist defekt. Aus Erfahrung weiß ich das, nehme es nicht ernst. Aber das Gefühl ist da. Es ist ein rationaler Imperativ. Also lege ich das Handy rational weg. Das bringt nichts.
Ich muss handeln, irgendetwas. Hier nur zu sitzen ist sinnlos einsam. Da wird man ja depressiv in so stiller Nacht.
Da ist die Idee, eine Erinnerung. Gestern wollte ich doch … also gehe ich in mein Büro und erstaunlich leicht und gut gelingen mir fünf Seiten meines Romans. Meine Hände fliegen über die Tastatur. Ich habe einen richtigen Lauf! Es ist eine Befreiung. Ich bin in meine Arbeit geflohen und es hat wunderbar funktioniert. Das war richtig gut. Romane schreiben sich gut in der Nacht.
Vier Uhr einunddreißig, die Müdigkeit holt mich ein. Also wieder hinunter.
Im Wohnzimmer lege ich mich auf die Couch, ziehe mir eine Decke provisorisch über den Leib. Zwei Sekunden später schlafe ich ein, übermüdet, wie ich bin.
Etwas weckt mich. Irgendein Geräusch muss es gewesen sein. Mein Leib ist aus Blei. Ich will nicht erwachen, denn ich weiß, dass niemand mich will. Sehnsucht zieht an mir. Ich wünsche mir Hände auf meinem Rücken, eine Umarmung. Ich wünsche mir etwas, was ich nie bekommen werde. Nie. Nie.
Minuten vergehen und mein Gefühl dreht sich in schneller Routine.
Die Routine verändert sich, wird konkreter. Ich fühle es auf meinem Körper.
Ich habe Sehnsucht bei flacher Atmung.
Es ist ein Loop, eine körperlich empfundene Schleife. Ich wünsche mir Hände auf meinem Leib. Frauenhände. Gar nicht viel, auf den Flanken vielleicht. Gar nicht mehr. Ich bekomme es nicht. Ich bekomme es nie. Ich wünsche mir Hände auf meinem Leib. Frauenhände. Ich bekomme es nicht. Ich bekomme es nie. Ich wünsche mir Hände auf meinem Leib. Frauenhände. Ich bekomme es nicht. Ich bekomme es nie. Ich wünsche mir …
Der Loop hält eine Stunde an.
Plötzlich ist er aus. Der Loop ist vorbei und halb richte ich mich auf. Meine Glieder sind steif, denn ich habe mich eine Stunde nicht bewegt bei geöffneten Augen.
Es ist so ein sinnloses Gefühl, eine Stunde so ein Loop! Die Sehnsucht hängt noch in meinen Gliedern. Es ist so schändlich-dümmlich in so einer sinnlosen Schleife zu denken, die nichts bringt. Es zerstört mich! Es zerstört meinen Selbstwert, es zerstört alles, denn ich versage.
Ich lasse mich wieder auf das Kissen sinken. Der Loop setzt neu ein. Wunderbar, wunderschön. Ja, ich mag das. Ich mag es und es ist irrational und widert mich an.
Etwas abgewandelt setzt der Loop ein und er gelingt mir nicht. So ist es nicht schön. So will ich das nicht.
Da ist ein Geräusch in der Küche. Die Küchentüre schlägt. Viertel vor Sieben. Meine Tochter. Sie macht sich ihr Frühstück. Ich kann sie hören von hier. Sie schlurft vor dem Kühlschrank herum hin und her.
Ich stehe auf. Zwei zähe Sekunden sind es, dann ist da Energie. Alles Blei, alles Zähe bleibt auf der Couch zurück. Alles ist gut und normal. Ich bin aufgestanden und bin da! „Guten Morgen Anna! Wie ist es dir?“, frage ich fröhlich meine Tochter. Und ich bin fröhlich. Es ist nicht gespielt. Das Gefühl ist echt!
Was bleibt, ist der Silberfaden, die feine Spur, ein Hauch des Gefühls von zuvor, dieses Loops auf der Couch und die Gewissheit eines strukturellen Versagens. Ich denke in sinnlosen Schleifen. Stundenlang. Es ist so vernichtend dämlich. Ich bin vernichtend dämlich!
Meiner Tochter geht es gut. Mir auch. Wir scherzen. Ich liebe es, morgens mit meiner Tochter in der Küche zu sein und um Gurke und Salami zu streiten. Einfach schön. Meine Tochter ist toll! Mir mache ich Kaffee.
Ach, und dann mache ich einmal Feuer. Warum nicht? Die Gelegenheit ist gut. Ich hole das Holz. Unbeschwert, alles cool. Ich stopfe den Ofen, drücke das Papier dazu. Mein Feuerzeug fehlt. In der Tasche ist es nicht. Wo hatte ich es, frage ich mich und mit Urgewalt ist es wieder da. Wie Blei sind meine Glieder und der nächste Atemzug ist, als sei die Luft aus Gel.
Da sind keine Hände auf meinem Leib. Nie. Nie werden sie sein. Nie. Und ich werde es nicht ändern können. Und das Feuerzeug … das Feuerzeug … das Feuerzeug … – meine Gedanken stehen. Stehen, stehen, stehen. Ich weiß nicht, wo es ist. Blei! Es ist … für eine Sekunde bin ich unfassbar wütend. Wütend auf alle Feuerzeuge der Welt. Und auf meine Mutter. Das Gefühl taucht wieder ab und ich schlucke, damit ich nicht weinen muss. Schwer kippt mein Kopf, träge gelingt mein Atem.
Dann fällt es mir wieder ein. Es - das Feuerzeug – liegt in der Küche, neben dem Herd. Ich setze mich in Bewegung, aber zäh zieht an mir: Die Hände auf meinem Leib fehlen und werden es immer, für immer, für immer, für immer, für immer, für immer, für immer, für immer und alles zieht nach unten an mir.
Voraussichtlich hält der Zustand etwa zwei Stunden an.
Sieben Uhr, der Tag beginnt.
Hat euch das gefallen? Ich wollte euch eine Freude machen, denn das war ein guter Start in den Tag. Wenn es schlimm ist, ist es viel schlimmer.
Und keine Sorge, ich werde funktionieren. Ich werde funktionieren, während im Hintergrund ohne Unterlass im ständigen Wechsel dieses Programm abläuft. Es wird anstrengend sein, aber ich werde funktionieren. Ich kann das. Ich mache das seit über fünfzig Jahren.
Der Umfang
Jetzt, wo ich diese Zeilen schreibe, bin ich mir überhaupt nicht mehr sicher, ob sich das Schreiben lohnt. Ist das eigentlich schlimm, was ich da erlebe? Das ist doch normal, oder nicht?
Das ist ein großes Problem. Es fällt gar nicht leicht zu unterscheiden, ist das Depression, oder ist das einfach ein schlechter Tag? Oder ist das, was meine Innenwelt da abspult, generell normal? Ist das die Normalität bei Menschen und es geht jedem so und ich weiß nichts davon?
Ganz ehrlich, jetzt wo ich im vorangegangenen Kapitel beschrieben habe, wie mein Erwachen verläuft, frage ich mich: Interessiert das jemanden? Ist das schlimm? Ist das überhaupt der Rede wert? Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht. Ich fühle mich dümmlich, mimosenhaft, als würde ich über etwas schreiben, was jeder so erlebt.
In den kommenden Tagen werde ich dieses Kapitel ein paar Bekannten vorlegen und fragen, ob das normal ist, ob sie das auch haben. Ich bin verunsichert. Dabei habe ich das schon hundertfach gefragt, aber ich glaube es noch immer nicht. Es ist meine Normalität! Und … jeder hat doch schlechte Tage, schlechte Stimmungen. Ist das bei mir besonders, oder stelle ich mich nur an?
Das ist auch kein Wunder, denn es gibt viel Schlimmeres, viel schlimmere Zustände. Viel, viel, viel! Das ist dann wirklich schlimm, da sind solche Dinge, solch „kleine, trübe Sauce morgens vor sieben“, die mich ständig begleitet, kaum der Rede wert. Hilfe! Wo bin ich mit meinen Gefühlen? Stelle ich mich nur an oder leide ich wirklich an etwas?
Was ich damit sagen will, ist: Die Relationen fehlen mir.
Bei mir wurde die Depression mit achtundzwanzig diagnostiziert. Bis dahin wusste ich nicht, dass ich das habe. Depression war irgendeine Vokabel. Es war meine gefühlte Normalität. Ich bin gar nicht auf den Gedanken gekommen, dass etwas nicht „normal“ sei bei mir. Es war so unauffällig, so sehr Normalität, dass meine Depression in den ersten beiden Jahren meiner Psychotherapie nicht aufgefallen ist. Sinngemäß: Du weißt nicht, dass du Kopfschmerzen hast, wenn du immer Kopfschmerz hast. Du kennst den Unterschied, das „ohne Kopfschmerz“ nicht.
All diese Gedanken und Gefühle, die ich oben beschrieben habe, und in den folgenden Kapiteln beschreiben werde, laufen zunächst unbewusst ab. Du weißt davon nichts, bis du es dir bewusst machst. Das Einzige, was du davon spürst, ist die Stimmung, die Wirkung. Deine Gedanken stehen oder alles ist trübe und schwer und du leidest.
Aber selbst, dass du leidest, kann dir unbewusst sein. Du kannst es nicht sehen, nicht, solange du es dir nicht bewusst gemacht hast. Irgendetwas zerrt an dir herum und du hast keine Ahnung was. Ich konnte das viele Jahre nicht erkennen und viele können das nicht oder nie.
Aber es wirkt, es ist da! Du bist so und du weißt nicht, wie dir geschieht.
Dieses Problem haben auch Menschen mit episodischer oder einmaliger Depression oder depressiver Verstimmung. Sie fragen sich: Wie grenze ich das ab? Bin ich schlecht drauf, oder bin ich depressiv? Wo ist der Unterschied?
Es gibt ihn, aber die Psyche will das nicht sehen. Niemand sagt sich: Hey, ich habe Depression, läuft bei mir! Man will diese Krankheit nicht. Man will nicht so sein. Es wird vernebelt und verdrängt.
Gut, es gibt den Effekt sich darin zu aalen, sich mit der Depression zu entschuldigen. „Ich kann nicht anders, ich habe Depression.“ Oder „Seht alle her, wie schlecht es mir geht!“ Das gibt es auch, aber das ist etwas anderes.
Normalerweise will man sich das nicht eingestehen. Die Psyche wehrt sich gegen diese Klassifikation. Die Antwort eines Depressiven „geht schon“ auf die Frage, wie es ihm gehe, ist der Versuch, es nicht an das Licht zu zerren. Auch will er/sie/man anderen damit nicht zur Last zu fallen. Ich komme noch darauf zurück, wie belastend diese Eingeständnisse sind.
Aber so oder so ist Depression eine Aufgabe, ein Projekt. Es stört nicht nur, es kostet Energie. Es lähmt, verhindert und betäubt.
Egal ob man unter einer einmaligen depressiven Phase der Erschöpfungsdepression (Burnout) leidet, eine kleine Episode oder eine dauerhaft-chronische Depression bewältigen muss, immer beherrscht sie alles. Sie wirkt in alles hinein.
Wenn es gut läuft, kann man sich ablenken, lindern, betäuben, aber früher oder später ist es wieder da. Du kannst nicht entkommen, denn – und jetzt kommt ein fieser Satz: Die Depression bist du! Sie ist ein Teil von dir.
Das zu bewältigen ist ein Projekt und immer groß. Es ist nie Kleinigkeit. Es ist dieses Stetige, dieses „immer da“ oder „immer wieder da“, diese Unberechenbarkeit, die dich fertig macht.
Es muss gar nicht besonders schlimm sein, es reicht aus, dass es da ist, das Gefühl, die Wirkung, der Treibsand. Im Treibsand zu stehen ist immer schlimm und es wird dich beherrschen, so oder so, auch wenn der Sand dir nur bis zu den Knöcheln reicht. Es wird mindestens eine, wenn nicht DIE Lebensaufgabe sein.
Dazu eine Geschichte. Es ist mir genau so passiert, fünf Jahre her:
Fünfzigster Geburtstag und mein ehemaliger Klassenkamerad hat geladen. Wir sind noch in Verbindung, auch noch nach all den Jahren. Ich nenne ihn jetzt einmal Benjamin. Bestimmt wird er lachen darüber.
Ein schöner Sommertag ist. Die Sonne lacht, tut uns den Gefallen und alles ist optimal. Er hat ein Haus gemietet, eine große Hütte im Wald auf einer Lichtung. Hier stören wir niemanden und sind in der Natur.
Süddeutschland. Wir sind in Süddeutschland und aus allen Himmelsrichtungen sind sechs duzend Personen mit ihren Familien zusammengeströmt. Ja, die ganzen Familien sind geladen, denn die Feier geht über zwei Tage sehr ungezwungen, mit Lagerfeuer, Zusammensitzen, Stockbrot, Grillen und draußen sein. Soziographisch bewegen wir uns tendenziell eher im alternativ, wenn nicht gar teils autonomen Bereich. Leger sein ist also Pflicht. Auch zwei Hipster wurden einbestellt, ein Bürgerlicher für die Quote und zwei Jungunternehmer.
Es ist ein buntes Potpourri an Personen und nur wenige kennen einander. Eine wilde Mischung ist es und einziges Bindeglied, ist Benjamin, den ich und meine Frau sehr gut kennen. Wir haben schon Urlaube gemeinsam verbracht. Da ist ganz viel gemeinsame Geschichte, wenn auch mehr in der fernen Vergangenheit. Unvergessen zum Beispiel, damals in Griechenland auf der Abifahrt, als der Klappstuhl … ach lassen wir das. Wir kennen einander gut.
Ankunftsphase der Party auf der Lichtung und es ist helllichter Tag. Alle sind wir gerade erst angekommen und stehen mit dem ersten Bier in der Sonne und man lernt einander kennen.
Mein Gesprächsgegenüber ist ein mir unbekannter Volker. Volker ist ein Hippie und gelebtes Klischee. Er ist mit seinem VW-Bus angereist und der ist mit Prilaufklebern tapeziert. Volker bezieht seine Kleidung offensichtlich von einem weltumspannenden Hippie-Kleidungs-Ausstatter und zieht während unserer Diskussion an seinem Joint. Kurzum: Er ist perfekt.
Unsere Diskussion erhitzt sich gerade. Wir haben mit dem unverfänglichen Thema der damals aktuellen „Flüchtlingskrise“ begonnen und stehen mitten in diesem argumentativen Minenfeld. Er will die ganze Welt retten, ich eher nicht. Beide, er und ich, vertreten unsere Meinung mit viel Emphase. In dem Moment, wo wir uns an die Gurgel springen wollen, klatscht Benjamin in die Hände. Der Gastgeber zieht die Aufmerksamkeit aller an sich.
Er beginnt mit einer kleinen Ansprache und Volker und ich unterbrechen unser Gefecht. Vielleicht besser so.
Benjamin begrüßt die Gäste und endet mit einem verbindlichen Vorschlag: Alle Gäste sollen ein Begrüßungsspiel spielen, damit wir einander kennenlernen können.
Benjamin ist Freizeitpädagoge. Er kann nichts dafür. Da müssen Begrüßungsspiele sein, denn das ist seine Rolle. Sein Vorschlag lautet: Wir tun uns in Dreiergruppen zusammen und jeder erklärt die für ihn wichtigste Aufgabe seines Lebens, seine Lebensaufgabe.
„Och ne, bitte nicht diese Begrüßungs-Therapeuten-Sülze“, denke ich noch, aber es ist ungerecht von mir. Es erweist sich als spannendes Spiel. Dieses Set ist ein guter Einstieg, um Verbindung zu Fremden aufzubauen.
Und so finden sich alle in Dreiergruppen wieder. Ich stehe am Ende mit meinem Gesprächspartner Volker und dem Gastgeber Benjamin zusammen.
Es ist interessant, was die Menschen für sich als Aufgabe begreifen. Die einen wollen Gutes tun, sie wollen wirken. Ein anderer will einfach glücklich sein. Ich weiß gar nicht, was schwieriger ist, aber dann bin ich in an der Reihe.
Das ist leicht. „Meine wichtigste Aufgabe ist …“, mit diesen Worten sollen wir unsere Rede im kleinen Kreis beginnen, „… ist meine Depression zu überwinden. Sie ist da, immer oder immer wieder. Es ist ein Kampf mit meinem Selbst. Meine Depression bestimmt alles. Was ich tue, was ich denke, wie ich plane. Meine Depression hat mir meinen Berufsweg vorgegeben, meine Partnerwahl. Sie bestimmt jeden Tag, sie bestimmt das „Wie“ und das „Was“ und das „Ob ich kann“. Ich muss sie von meinen Kindern fernhalten, ich muss trotz ihr mein Leben bewältigen, ich darf mich nicht besiegen lassen. Das kostet all meine Kraft. Das Leben, der ganze Rest, ist Kleinkram. Der geschieht nur nebenbei. Alles, wirklich alles steht unter dem Diktat meiner Depression, wenn auch indirekt. Sie wirkt in alles hinein und ich muss unablässig gegen sie an, jeden Tag“, erkläre ich. Es fällt mir leicht, denn … tja, so ist es und zwei große Augenpaare schauen mich an. „Boh, das ist echt krass. Das hätte ich echt nie gedacht. Du bist doch so voll überheftig voller Energie. Aber das ist schlimm, das ist wirklich schlimm, so Depression ist schlimm“, reagiert Volker erstaunt, zieht an seinem Joint und schaukelt mit dem Kopf.
Das ist eine liebe Wertschätzung. Ich kenne das. Die Menschen reagieren so und es ist wirklich gut und ehrlich gemeint. Das ist schön. Es ist beruhigend, dass Depression als das anerkannt wird, was es ist: Eine ganz miese Scheiße. Benjamin aber, mein sehr alter Bekannter, lächelt mich nur an. „Paul … echt. Ich weiß das ja, aber es ist ein Phänomen. Ich habe nie etwas davon bemerkt. Noch nie! Nix, gar nix. Das kann man immer überhaupt nicht glauben“, erklärt er, glaubt mir, zuckt aber mit den Schultern dazu.
„Natürlich kannst du das nicht glauben. Natürlich zeige ich das nicht. Ich zeige nichts davon und tarne meine Depression mit allen Mitteln, die ich habe. Ich bin doch nicht irre! Stell dir einmal vor, jemand erfühlt meine Lage, erfühlt meine Schwachstelle, dann bin ich geliefert“, antworte ich und niemand versteht.
Das können sie auch nicht verstehen.
Die kleine Erzählung ist vorbei. Blenden wir einmal aus dieser Situation von der Waldlichtung zurück in das Thema des Buches.
Das ist ganz wichtig zu begreifen: Depression ist immer in Anderes eingehangen. Sie ist nicht isoliert. Sie ist immer verknüpft mit ihren Ursachen und ihre Ausprägung ist eine Reaktion auf die persönliche Historie.
Hier bei mir – es könnte und wird bei jedem anderen komplett anders sein –, hier bei mir:
Ist ein Kind mit einer emotional übergriffigen, aber bedürftigen Mutter ausgeliefert, darf es seine Gefühle nicht zeigen. Es lernt und spürt, dass es mit seinen Lasten seine zerbrechliche Mutter zusätzlich belasten würde. Das darf es nicht tun, da es seine Mutter für sein Überleben braucht. Also lernt es mit allen Mitteln zu verstecken, was ist. Es versteckt es sogar vor sich selbst. So sehr, so gut, dass es niemand, wirklich absolut niemand, nicht einmal sein eigenes ICH, davon weiß. Es ist traurig und niemand erfährt es. Und das Kind ist wütend und darf es nicht sein.
Ja, ich spreche von der Kindheit, denn wenn man Depression begreifen will, muss man eines unbedingt verstehen:
Der Depressive ist in seinem depressiven Schub in der Vergangenheit. Das Kindheits-Ich spult ein Programm ab. Die Depression ist ein eingelerntes, tief implementiertes Notprogramm. Ich gehe später noch darauf ein, warum es das tut.
Depression ist im Jetzt gelebte Vergangenheit. Zwar wird sie im Jetzt gefühlt, ist sehr real und sehr wahr in ihren Effekten, aber der Anlass, die Ursache ist nicht im Hier und Jetzt. Bestimmte Marker, es können Kleinigkeiten sein, erinnert das stets wachsame Kindheits-ich und es wird aktiviert.
Mit der aktuellen Lage des Depressiven, seinen äußeren Rahmenbedingungen hat das nichts zu tun, außer, dass es immer wieder einhakt.
Das können die winzigsten Kleinigkeiten sein. Erinnert ihr euch an das Beispiel von oben, wo ich vor dem Ofen stehe, und mein Feuerzeug suche? In meinem Elternhaus wurden vor mir die Feuerzeuge versteckt. Ich könnte ja alles anzünden, war der neurotische Gedanke. Meine Mutter ist Jahrgang 33 und hat im Krieg wahrlich Feuer erlebt. Es ist ihr Schaden und ich habe ihn über Bande geerbt. Himmel ist das kompliziert! Ohne seine persönliche Historie zu kennen, kann man nicht verstehen, was passiert.
Feuerzeug fehlt, Kindheits-ich wird aktiviert und zack, ist sie da die alte Reaktion – Traurigkeit und Wut. Depression ist verkappte Trauer und Wut, später mehr davon.
Das macht es für Außenstehende so schwer begreiflich. Sehr oft ist der Depressive (im Jetzt) keineswegs in katastrophaler Lage. Das kommt vor, ist aber nicht die Regel. Der Außenstehende - und auch der Depressive selbst – steht verwundert da und versteht nicht: Es ist doch alles nicht so schlimm (im Jetzt). Der Depressive aber ist in der Vergangenheit und damals war es schlimm! Damals war Depression der einzig gangbare Weg.
Bei mir ist im Außen alles gut. Ich bin gesund. Objektiv ist alles stabil. Ich habe keine finanziellen Probleme, meine Kinder sind gesund und gelingen so prächtig, dass ich vor Stolz platzen könnte. Ich habe eine bezaubernd gute Frau, mein Leben gelingt. Alles ist gut, bei mir sogar gemein rundum sorglos. Das ist ein Geschenk und wahrlich nicht bei allen so.
Aber innen, innen in mir, regiert das Kindheits-Ich und weiß, da ist Not, Not und Not und spult immer wieder neu das alte Programm ab und dieses Programm heißt Depression. Vorsichtig formuliert vermiest es mir mein perfektes Leben.
Das ist übrigens ziemlich deprimierend. Du bist einfach ein Opfer dieses gnadenlosen Mechanismus der Psyche. Der Treibsand, in dem du steckst, ist überhaupt nicht real. Und du weißt es, aber er ist für dich da. Depressionslogik.
Wie die Depression da ist, und dass sie da ist, und wann sie da ist, ist Folge der persönlichen Historie. Ohne sie zu verstehen, verstehst du nichts und taumelst ahnungslos durch dein Leben mit dem Label „Katastrophe“.
Also schauen wir uns einmal anhand meiner Historie beispielhaft an, wie eine Katastrophe der Vergangenheit eine Depression erzeugt. Ihr ahnt vielleicht, es war nicht nur ein verstecktes Feuerzeug.
Die alte Verbindung
Jetzt wird es ein wenig privat, tut mir leid. Ich hoffe ich Langeweile nicht. Ich will, dass ihr mein Beispiel versteht, und dafür muss ich Privates erklären.
Vor über achtzig Jahren wurden Verwandte von mir, ein Seitenast meiner Linie, für nicht lebenswert erklärt. Als Depressive wurden sie in Konzentrationslagern entsorgt und ermordet.
Wahrscheinlich teile ich einige dieser Gene. So haben vielleicht die so speziell gesetzten Aminosäuren in meiner DNA die Entscheidung vorgegeben: Bei Belastung, reagiere mit Depression. Unterschätze nie die Gene! Sie wirken immer auch.
Ich bin froh über diese genetische Disposition. Die Entscheidung für Depression war gut. Das klingt pervers, aber es ist wichtig, die Depression anzunehmen. Es ist wichtig, sie zu akzeptieren. Du darfst dich ihr nicht ergeben, NIE!, aber, du musst sie annehmen, sonst kämpfst du sinnlos gegen dein Selbst.
Die Depression war damals-irgendwann eine effektive Methode mit meiner Situation umzugehen, und es war die beste Methode, die ich zur Verfügung hatte. Ich glaube ohne sie, wäre es viel schlimmer geworden für mich.
Die Kindheit, das, was in der Kindheit geschieht, das Drumherum ist wie eine Ursuppe. Damit das Kind wachsen kann, muss es aus dieser Suppe nehmen, was es bekommen kann und sein Werkzeug dafür sind seine Gene. Die Gene sind seine Ausstattung und sie verdauen die Ursuppe nach ihrer Programmierung.
Als meine Mutter nach unproblematischer Geburt aus dem Krankenhaus nach Hause kam mit mir, rief sie meine Tante an. Sie rief um Hilfe, denn sie wisse nicht, „wie sie mich anfassen solle“. Das ist ein Zitat. Meine Tante hat es mir erzählt.
Ich glaube ihr jedes Wort, denn genau so habe ich es später erlebt. Es passt.
Ich bin ohne Berührung aufgewachsen. Also natürlich wurde ich berührt körperlich. Muss ja so gewesen sein, aber an liebevolle Berührungen, an körperliche Zuwendung kann ich mich nicht erinnern.
Nicht missverstehen: Ich bin sehr behütet aufgewachsen. Ich wurde geliebt und alles wurde für mich getan. Viele, sehr viele wachsen in viel katastrophaleren, kälteren, gemeineren, ja brutalen Verhältnissen auf. Nichts davon war bei mir, im Gegenteil. Sehr viel war da für mich, aber keine Berührungen. Ich wurde nicht angefasst, von alltäglichen, versehentlichen Berührungen abgesehen.
Ich kann mich an einen Massageversuch meiner Mutter erinnern, da muss ich elf gewesen sein. Das will ich jetzt nicht beschreiben, denn ihr kämet aus dem Lachen nicht mehr heraus.
Nein, meine Mutter konnte das nicht. Wie meine Großmutter auch nicht. Ich nehme ihr/ihnen das nicht übel, denn ich kenne ihre Geschichte. Die geht aber niemanden etwas an.
Ich kann mich an drei oder vier Umarmungen meiner Mutter erinnern. Es müssen wohl Geburtstage gewesen sein.
Ach nein, eine Ausnahme gibt es: Ihr regelmäßiger Griff in den Nacken, begleitet mit der liebevollen Frage „Ist dir kalt?“. Sonst war da nichts. Bis heute übrigens.
Mein Vater hat mich gelegentlich berührt, daran kann ich mich erinnern. Das war schön. Er hatte warme Hände. Ich kann mich gut an seine Hände erinnern, denn ich habe die gleichen. Sie liegen hier vor mir auf der Tastatur. Es sind Kopien.
Ja, das war schön, aber hey, er war Jahrgang 21, Hitlers Generation. Körperliche Zuwendung war da nicht vorgesehen, nicht geübt und sagen wir wenig. Er starb, als ich fünfzehn war. Ab da war ich mit meiner Mutter allein und auch vorher, war er nur am Wochenende bei uns.
Nein, ich wurde nicht berührt. Körperliches gab es nicht. Es war nicht existent und ich kannte es nicht. Das war für mich daher kein Problem. Wie auch? Du kannst nichts vermissen, was du nicht kennst. Es kann nur fehlen und du weißt nicht, was fehlt.
Es gab da so ein paar Effekte, die ich erst im Nachhinein einordnen kann. Ich habe mich beim Duschen an die Fliesen geschmiegt, ihren Kontakt ersehnt, sie geküsst und solche Dinge. Ich hatte da immer so eine Sehnsucht, habe verzagt anderen bei Berührungen zugeschaut und gedacht, das sei bestimmt schön. Natürlich kam ich nicht für Berührungen in Frage, das war ja klar. Beweis: Ich hatte keine.
Auch habe ich im Bett irgendwelche Gegenstände merkwürdig umklammert. Aber ansonsten war das kein Problem für mich. Berührung gab es nicht, fertig.
Den Seelen-Kundigen wird es bei diesen Zeilen gruseln. Körperkontakt ist lebenswichtig, heißt es immer. Ich glaube, das ist auch so, aber ich habe trotzdem überlebt. Und ganz ehrlich, gefühlt war das damals für mich nicht schlimm. Heute frage ich mich: Wie zum Teufel habe ich …?
Ein Quantensprung war die Entdeckung der Onanie! Das war natürlich super. Onanie baut für wenige Minuten Sinnlichkeit auf. Es ist einsame Sinnlichkeit, aber es ist Sinnlichkeit. Das war wie eine Erfindung des Rades und des Feuers zugleich für mich. Das war phasenweise exzessiv, aber wohl eine effektive Überlebensstrategie.
Spürt ihr diese Distanz in meinen Zeilen? Näher komme ich emotional nicht an diesen Teil meiner Vergangenheit. Das hat nichts mit diesem Set des Buches in der Öffentlichkeit zu tun. Es ist mir nicht möglich, auch privat und alleine nicht. Scherze darüber machen gelingt ganz gut, aber da ist nichts, kein Gefühl, nur Leere. Auch heute nicht und wird nie sein. Außer diesem unfassbaren Sog in den Abgrund, aber lassen wir das.
Kleiner Spoiler an die Leser – Es ist gut ausgegangen. Ich habe das Problem mit der Berührung relativ gut für mich auflösen können, sehr gut sogar. Ich kann Berührung heute sehr gut, habe allerdings ein wenig Zeit gebraucht.
Diese innere Distanz zu Berührungen aller Art transponiert das Kind und später der Jugendliche natürlich in sein Außen. Er wird unberührbar. Er erzeugt eine Aura, eine energetische Hülle, die dieser inneren Haltung entspricht.
Es wirkt bis heute. „Bei dir weiß man immer nicht, ob man dich anfassen darf oder nicht“, hat eine Bekannte erklärt. Witzigerweise sprach sie diesen Satz zu mir im Swingerclub. Das war vorletztes Jahr. Diese Aura wirkt bis heute nach.
Aber damals … meine Cousine hat mich mit dreizehn einmal untergehakt, Arm in Arm. Daran erinnere ich mich sehr. Das hat mich total verwirrt wochenlang. Einfach so berühren … Jenny hat sich einmal im Schwimmbad, da war ich fünfzehn, schätze ich, mit dem Rücken gegen mich gelehnt. Das war komisch für mich.
Mehr war nicht, außer beiläufigen Berührungen zur Begrüßung oder aus Versehen.
Bei meiner ersten Umarmung war ich zwanzig. Es war die erste Umarmung meines Lebens. Es war Betty und ganz harmlos. Der Betty, einer sehr lieben Klassenkameradin, sollte ich den Tsatsiki reichen. Betrunken wie sie war, hat sie meine Aura missachtet und ihren Arm um mich gelegt. Ich habe mit einem Schlag gegen ihre Nase reagiert und sie ausgeknockt. Es war doch ein Angriff, oder nicht?
Aber diese Betty war mein Engel, denn sie hat mich verstanden und dann stundenlang habe ich mit ihr von ihren Armen fest umschlungen am Strand gesessen.
Heute sehe ich das so: Sie hat mir den Arsch gerettet. Diese Stunden in Kalamata am Meer hat sie meine Programmierung auf links gedreht. Ab da waren Berührungen – hier Umarmungen – in meiner Welt und sie waren schön.
Es gab und gibt bis heute im Themenfeld der Berührungen, einen gewissen Nachholbedarf bei mir. So habe ich seit Jahren das Geben von Tantramassagen als Steckenpferd für mich entdeckt. Nur zur Erklärung, was ich oben mit gut „ausgegangen“ meine. Es ist alles gut, ich kann das jetzt. Wie so oft, wie viele, die einen Mangel haben, habe ich diesen Mangel in eine Stärke gewandelt. Und ja, ich bin stolz.
Warum schreibe ich das? Warum belästige ich den Leser mit dieser zähen Erzählung?
Ich will, dass ihr verstehen könnt, wie die Grundlage meiner Psyche ist. Dafür müsst ihr die Historie kennen und euch durch meine Story langweilen, sorry.
Denn: Wenn ich heute mit offenen Augen auf der Couch liege und meine Gefühle im Kreise drehe - „Ich wünsche mir Hände auf meinem Rücken. Frauenhände. Ich bekomme es nie. Nie, nie, nie …“, - dann ist es genau das!
Es ist dieser Haken, diese Wunde, sie macht das! Verheilt oder nicht, es ist die Stelle, wo die Depression einhakt, und Altes aktiviert. Das Kindheits-ich hat mitgehört und kann es nicht vergessen, dabei ist die Ursache nicht mehr.
Das Kindheits-ich suggeriert Mangel. Er ist nicht stillbar in der Gegenwart, denn es steht in der Vergangenheit. Unstillbar ist da dieser – in meinem Fall Berührungs- Mangel der Vergangenheit und aktiviert die Depression, die trübe, endlose Trauer. Und es war wirklich traurig, nie berührt zu werden, das könnt ihr mir glauben. Und diese Trauer wird immer wieder erlebt. Immer wieder. Immer, immer, immer.
Das Kindheits-ich kann nicht glauben, dass es heute anders ist. Ich kann auch nicht mit ihm sprechen oder es befrieden. Nicht in dieser Sache, denn der Mangel war damals zu groß. Natürlich kann der Mensch lernen. Er kann über Therapie und Erkenntnis, Meditation und mit wachsendem Bewusstsein daran arbeiten und mildern. Es gibt jede Menge Tricks. Aber wenn Schwäche ist, wenn da Schwäche ist, wird die Psyche diesen Weg wieder wählen, denn es ist der älteste Weg. Er ist der am besten erprobte Weg.
In der Not wird die Psyche wieder auf diese längst veraltete Sicht hereinfallen. Dann ist da wieder Depression. Auch meine war für Jahre von der Bildfläche verschwunden, es ging mir gut. Aber sie kam zurück, denn ich hatte eine schwache Phase. Und so ist es im Kleinen und im Großen.
Depression ist unsterblich, denn sie ist ein Teil von dir! Sie stirbt erst, wenn auch du stirbst. Du kannst die Auslöser umgehen, umlernen, mildern. Das ist super und funktioniert. Aber je nach Disposition hast du einen stahlharten Gegner.
Ich gebe einmal ein Beispiel, wie bestialisch der Gegner sein kann: Stelle dir vor, ich kuschle mit einer geliebten Person. Du kennst ja jetzt mein Problem und weißt, dass körperliche Nähe meine (eine) Achillesferse ist.
Die Dame streicht mit der Hand über mich. Alles ist gut. Alles ist da, alles perfekt, denn Berührung ist da in der Gegenwart. Die Frau hält kurz inne mit der Hand aus irgendeinem Grund und sofort springt das Kindheits-ich an und meldet neu: Ab jetzt nicht. Sie hat aufgehört zu streicheln, Alarm! Mangel! Und da ist er wieder der Haken und die Depression hat neue Gelegenheit.