Sehnsucht nach der blauen Insel - T. I. Lowe - E-Book
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Sehnsucht nach der blauen Insel E-Book

T. I. Lowe

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Beschreibung

Sonny Bates hat South Carolina vor fünfzehn Jahren im Unfrieden verlassen. Heute ist sie ein erfolgreicher Hollywood-Scout für Drehorte und bereist die ganze Welt. Ihr Zuhause ist dort, wo sie gerade landet, und wegen ihres vollen Terminkalenders hat sie wenig Zeit, über die Vergangenheit nachzudenken - bis ihr neuester Auftrag sie in die Nähe von allem bringt, was sie zurückgelassen hat. Auf der Suche nach einem abgelegenen Drehort verirrt sich Sonny auf eine private Insel und trifft dort den zurückgezogen lebenden Besitzer, der seine Indigo-Felder pflegt und von den Einheimischen gefürchtet wird. Was sie findet, ist ein Mann, der viel komplexer ist als sein Mythos. Allmählich entsteht eine unerwartete Freundschaft zwischen den beiden verletzten Seelen … Eine Geschichte vom Festhalten und Loslassen, von Erlösung und Versöhnung und einer Liebe, die die tiefsten Wunden heilt.

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Seitenzahl: 463

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über die Autorin

T. I. Lowe lebt mit ihrer Familie im US-Bundestaat South Carolina und liebt es, besondere Geschichten zu erzählen. Mittlerweile hat sie mehr als 20 Romane veröffentlicht, von denen inzwischen fünf auch in deutscher Sprache erschienen sind.

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG („Text und Data Mining“) zu gewinnen, ist untersagt.

Titel der Originalausgabe: Indigo Isle

© 2023 T. I. Lowe

Veröffentlicht bei Tyndale House Publishers, Carol Stream, Illinois, www.tyndale.com, in Zusammenarbeit mit der Literaturagentur Browne & Miller Literary Associates, LLC, 52 Village Place, Hinsdale, IL 60521

Indigo Isle ist ein fiktives Werk. Personen, Ereignisse, Orte oder Organisationen sind frei erfunden. Alle Elemente des Romans entstammen der Vorstellungskraft der Autorin, und Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen oder tatsächlichen Ereignissen sind rein zufällig.

Bibelzitate sind folgender Ausgabe entnommen: Neues Leben. Die Bibel. 2. Auflage 2019, © der deutschen Ausgabe 2002/2006 by SCM R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH, Witten/Holzgerlingen.

© 2024 Gerth Medien in der SCM Verlagsgruppe GmbH, Berliner Ring 62, 35576 Wetzlar

Erschienen im Februar 2025

ISBN 9783961226832

Umschlaggestaltung: Hanni Plato unter Verwendung von Shutterstock

Lektorat: Katharina Töws

Übersetzung: Renate Hübsch

Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg

www.gerth.de

Für Vicki Baty

Danke, dass du dich mit mir auf dieses Indigo-Abenteuer eingelassen hast, meine Freundin.

Ich werde das Verlorene suchen und das Verirrte nach Hause bringen. Ich werde das Verletzte verbinden und das Kranke stärken.

Hesekiel 34,16

1

So fühlt es sich also an, allein auf der Welt zu sein und dem Tod ins Auge zu blicken.

Diese Gedanken gingen mir durch den Kopf, während ich in dem höhlenartigen Raum lag. Die Zementplatte unter mir kühlte meinen Körper ein wenig in der schwülen Hitze, die in dicken Schwaden durch die Öffnung hereinwaberte. Eine Hitze, wie sie nur in der Küstenregion von South Carolina, dem Lowcountry, vorkommt. Sie kommt in dicken Wolken daher, die keine Kraft haben, sich abzuregnen, aber bewirken, dass man sich elend fühlt.

Ein genervtes Stöhnen unterbrach meinen Gedankengang. „Komm schon, Sonny. Wie lange willst du noch in dieser Gruft liegen?“

Ich öffnete die Augen und richtete meinen Blick auf die Meerjungfrauenmähne, die hinter meiner Kamera hervorlugte. „Das ist keine Gruft. Es ist ein Empfangsgewölbe.“

Die Kamera rutschte nach unten und enthüllte ein schmollendes, verwirrtes Gesicht. „Ein was?“

„Hier haben die Bestatter die Leichen untergebracht, bis das Grab oder das Mausoleum fertig war. Ich glaube, dieses hier konnte bis zu vier Tote auf einmal aufnehmen. Manchmal mussten sie monatelang hier oben liegen, wenn der Boden im Winter gefroren war. Kannst du dir das vorstellen?“

„Dann liegst du gerade da, wo schon Leichen lagen.“ Lyricas tätowierte Schultern erschauderten.

„Sie sind ja nicht mehr hier.“ Ich verschränkte die Arme vor der Brust und nahm wieder eine todesähnliche Pose ein. „Mach noch ein paar Fotos von mir.“

Lyrica sog die Luft durch die Zähne und klang dabei eher nach einem genervten Teenager als nach einer erwachsenen Frau Mitte zwanzig. Sie winkte in meine Richtung. „Das ist echt gruselig. Ich möchte jetzt hier verschwinden.“

„Dann mach noch ein Instagram-taugliches Foto, und wir sind fertig.“ Meine Augen schlossen sich wieder, und ich blieb mit offenem Mund regungslos liegen.

Sie jammerte weiter, dass das hier so gar nicht ihr Leben sei, doch dann ertönte das Klicken der Kamera mehrmals kurz hintereinander. „Stinkt es dadrinnen nicht?“

„Nicht so sehr. Ehrlich!“ Ich atmete tief ein und versuchte herauszufinden, was das für ein seltsamer Duft war. „Der Geruch erinnert mich irgendwie an einen feuchten Herbsttag. Du weißt schon, vermoderndes Laub und Ammoniak vielleicht …“

„Uuäh!“ Lyrica deutete ein Würgen an. „Mir reicht’s jetzt schon. Und ich schmelze fast in dieser Hitze.“

Ich rutschte in ihre Richtung und klopfte auf die Zementplatte. „Hier drin ist es kühler. Willst du nicht auch reinkommen?“

Lyrica verdrehte die blauen Augen, die durch ihre Kontaktlinsen denselben Farbton hatten wie eine der blaugrünen Strähnen in ihrem Haar, und signalisierte mir deutlich, dass sie meine Art von Humor nicht mochte. „Ich will eine Klimaanlage. Und einen fruchtigen Cocktail auf einer dieser Inseln, die wir erkunden sollen. Aber doch nicht auf einem gruseligen Friedhof abhängen. Daddy hat Inseln versprochen.“

Ich sah zu, wie sie am Saum ihrer zu kurzen Shorts zupfte, und konnte fast meine Mutter hören: „Wenn du daran ziehen musst, ist es zu klein.“ Ich fragte mich, ob sich unter all dem Haarfärbemittel, dem Make-up und dem Getue irgendetwas verbarg, das erfreulich sein könnte. Der fünfstündige Flug von Kalifornien nach South Carolina hatte nur eine verwöhnte Göre zum Vorschein gebracht, die dachte, sie könne sich mal ein wenig als Locationscout versuchen. Natürlich hatte ihr Daddy, unser famoser Regisseur, das für seine Prinzessin möglich gemacht. Wir waren erst vor weniger als zwei Stunden in Charleston gelandet, und ich war jetzt schon so weit, sie am liebsten direkt wieder zurück zum Flughafen zu befördern. Lyrica war ungefähr so rund wie groß. Außerdem war sie laut und ließ nicht zu, dass man sie nicht beachtete. Ich hatte mir vorgenommen, ihre Theatralik während dieses Projekts zu ignorieren, so gut ich konnte.

Schließlich gab ich die Idee auf, das perfekte Foto zu machen, rutschte von meiner Zementplatte und verließ das Gewölbe. Lyrica reichte mir die Kamera, als wir den unbefestigten Weg hinaufgingen und den frischen Pfützen nach einem kürzlichen Regenschauer auswichen. Unter einem duftenden Magnolienbaum blieb ich stehen und machte mit meinem Handy ein Foto von mir.

„Selfie-Fan, was?“, stichelte Lyrica und fächelte sich mit einem Flyer Luft zu, den sie am Eingangstor ergattert hatte und der für eine nächtliche Friedhofstour warb.

„Ich muss meine Follower bei Laune halten“, murmelte ich, während ich das Bild mit einem Filter bearbeitete und mit #underthemagnolias betitelte. Ich fügte den Standort des Friedhofs hinzu und schickte es ins Universum der sozialen Medien. „Lass uns noch ein paar Fotos von diesem Mausoleum machen, das aussieht wie eine Pyramide, bevor wir zu den Inseln fahren.“

Lyrica schlug nach einer Fliege und lief schwerfällig neben mir her. „Ich kann mich nicht erinnern, dass es in Jenseits der Wellen eine Friedhofsszene gibt.“

„Gibt es auch nicht. Das ist eine Vorarbeit für mein nächstes Projekt.“ Genau das Projekt, das vom König der Filmproduktion Will Kessler verschoben worden war, der auch dafür gesorgt hatte, dass ich hier einspringen und den Scherbenhaufen seines letzten Flirts beseitigen musste. Der frühere Teenie-Schwarm, der sich zum Produzenten gemausert hatte, musste aber auch jedem Rock nachsteigen.

„Sind Friedhöfe nicht alle gleich?“ Lyrica rümpfte die Nase und sah gelangweilt aus. Vielleicht war sie auch bloß angewidert von dem Gestank des Niedrigwassers, der uns umgab.

„Nein. Das Drehbuch sieht einen riesigen Friedhof mit typischen Südstaaten-Elementen wie Salzwiesen und moosbewachsenen Eichen vor.“ Ich wies mit der Hand in Richtung der Gräber, die sich weiter in die Ferne erstreckten, als das Auge sehen konnte, während ich das Konzept für eine Entführungsszene in dem Psychothriller erläuterte.

Lyrica gähnte. „Können wir nicht endlich gehen? Ich sterbe vor Durst.“

Der Versuch, meine abfällige Erwiderung hinunterzuschlucken, war nicht einfach, aber ich schaffte es irgendwie, indem ich mich auf etwas Angenehmeres als meine derzeitige Arbeitssituation konzentrierte. Auf die Toten.

Nachdem wir das Pyramidengrab aus einigen weiteren Blickwinkeln fotografiert hatten, gingen wir zurück über einen der größten Friedhöfe in South Carolina. Am Eingang blieben wir kurz stehen, damit ich einen Fünfziger in die Spendenbox werfen konnte.

Wir gingen über die Straße und stiegen in den Mietwagen, einen weißen Chevrolet Impala. Die meisten Dinge aus meiner Vergangenheit hatte ich sicher in den Tiefen meiner Erinnerung verstaut, aber die Treue meines Vaters zu Chevrolet hatte auch auf mich abgefärbt.

Da ich mich nicht in den Erinnerungen an meinen Vater verheddern wollte, die immer dazu führten, dass ich über das Unrecht nachdachte, das ich ihm angetan hatte, drehte ich auf Lyricas Gejammer hin die Klimaanlage auf arktische Temperaturen. Während sie stöhnte, als würde sie sterben, lud ich rasch die Fotos auf meinen Laptop und schickte sie dann an das Produktionsteam.

Nachdem ich die Friedhofsrecherche von der Liste gestrichen hatte, startete ich den Wagen und fuhr los.

„Ich habe ein Boot für eine Tour zu den Barriere-Inseln gechartert. Außerdem …“ Ich wollte gerade mit einer Liste von Must-haves beginnen, die ich mir im Flugzeug notiert hatte, als ich das Drehbuch zum ersten Mal durchgelesen hatte, aber Lyrica drehte das Radio auf und schmetterte einen Country-Song von Chris Stapleton. Ihre Stimme war eine robuste Mischung aus Elvis und Adele. Nicht schlecht, aber ich war nicht erfreut, dass sie mich mitten in meinen Gedanken unterbrach.

Ihr Vater, der Oscar-Preisträger Les Morgan, hatte mich, den Niemand Sonny Bates, heute Morgen auf dem Weg zum Flughafen angerufen. „Bates, bringen Sie meinem Kind alles bei, was Sie wissen. Machen Sie es möglich.“ Dann beendete er den Anruf so abrupt, wie er ihn begonnen hatte.

Ich schaute zu Lyrica hinüber, die Luftgitarre spielte, und kam zu dem Schluss, dass ich es nicht möglich machen würde. Was ich jedoch möglich machen musste: in den nächsten Tagen auf magische Weise die perfekte Location auf einer Insel zu finden. Vorzugsweise heute.

Die Beschreibung der künstlerischen Leiterin kam mir in den Sinn, während ich mit den Fingern auf das Lenkrad trommelte. Denk an eine Kombination aus Lowcountry-Charme und Insel-Flair. In dem Moment, als ich in der Produktionsbesprechung in unserem Büro in Los Angeles die Worte „Küste von South Carolina“ und „Barriere-Inseln“ hörte, hatte ich eine Vorahnung, dass dieser Drehort mich in meine verdrängte Vergangenheit führen könnte. Vielleicht nicht sofort, aber früher oder später würde es so kommen, und ich hatte große Angst, mich ihr zu stellen.

Da ich wusste, dass eine ganze Reihe von Möchtegern-Locationscouts hinter mir stand, die die Chance, meinen Job zu übernehmen, beim Schopf ergriffen hätten, hatte ich keine andere Wahl, als einzuwilligen, nach Charleston zu reisen und in letzter Minute einen Ersatzdrehort für die Location zu finden, die durchgefallen war; die Dreharbeiten sollten in nur zwei Wochen beginnen. Das bedeutete natürlich, dass ich es mindestens acht Wochen lang in Wills Nähe aushalten musste, aber auch in dieser Hinsicht hatte ich keine Wahl. Schon komisch – vor etwas mehr als fünfzehn Jahren war ich hier abgehauen, um meine Flügel auszubreiten und zu fliegen. Aber ich hatte mich noch nie so gefangen gefühlt wie gerade jetzt.

Fünfzehn Minuten später hatte ich einen Parkplatz ergattert und Lyrica etwas zu trinken gekauft, bevor sie unter dem Junihimmel des Südens völlig verdorrte.

„Dieser Jachthafen wäre ideal für ein paar charmante Hintergrundaufnahmen“, murmelte ich vor mich hin, während ich die Umgebung taxierte. Malerische Läden und Restaurants säumten das belebte Viertel, und eine Reihe von Booten dümpelte träge an den Docks. Touristen in allen Formen und Farben trugen Kühltaschen und Kameras.

Ich zückte meine Kamera und schoss ein paar Fotos. „Wir sollten uns diesen Platz merken. Ich könnte mir vorstellen, dass er in eine Montage nach der Rettungsszene hineingeschnitten werden könnte.“

„Von mir aus.“ Lyrica seufzte. „Das dauert ja ewig. Kommen wir eigentlich jemals zu den Inseln?“

„Es geht hier um viel mehr als nur um eine Insel.“ In mir begann sich eine Schimpftirade ihren Weg an die Oberfläche zu bahnen, was eine totale Verschwendung meiner Zeit gewesen wäre, also atmete ich tief durch und schnupperte in die Brise von salziger Luft und gebratenen Meeresfrüchten. Die vertrauten Gerüche vermischten sich und riefen Kindheitserinnerungen hervor, bevor ich sie stoppen konnte. Heute hatte ich keine Zeit, irgendetwas davon zuzulassen, also schob ich meine Sonnenbrille über die Augen und reihte mich in das Getümmel der Passanten ein, in der Hoffnung, dass sie mich und meine hinterhertrödelnde Assistentin schließlich ans Ufer eines bestimmten Bootsverleihs spülen würden.

Tom, unser Guide, der auch der Besitzer des Verleihs war, fuhr uns um die Barriere-Inseln herum, die durch Buchten voneinander getrennt waren und zum Land hin in Salzwiesen ausliefen. Es herrschte kein heftiger Seegang, aber ganz ruhig waren die Wellen auch nicht. Ich befürchtete, dass Lyrica als Nächstes seekrank werden würde, aber ein Blick in ihre Richtung zeigte nur, dass sie auf der Sitzbank am Heck ein Sonnenbad nahm. Sie wohnte in Malibu und besaß wahrscheinlich ihre eigene Jacht, also war sie definitiv in ihrem Element. Ihr Haar lag in perfekt glänzenden blaugrün-lila Wellen um ihren Kopf, und welche Make-up-Marke sie auch immer benutzte, sie musste aus Feenstaub gemacht sein. Selbst nach einem Tag mit Flügen, Autofahrten und der Luftfeuchtigkeit des Südens schimmerte Lyrica noch makellos in allen Farben des Regenbogens. Frisch wie ein Gänseblümchen im Morgentau. Und ich? Ich hatte kein Millionenbudget für Schönheitsprodukte, dementsprechend sah ich aus wie eine verwelkte Rose, die man zertreten und dann frittiert hatte.

„Alles klar da drüben, Lyrica?“, fragte ich, nur um sicherzugehen.

Sie gab mir einen Daumen hoch und rückte dann ihre roségoldene Cartier-Sonnenbrille zurecht.

Erleichtert, dass sie für den Moment zufrieden war, holte ich eine Karte der Inseln heraus und rückte näher an Tom heran, um zu besprechen, wo wir hinfahren sollten.

Als Lyrica darauf bestand, dass wir die Insel mit dem Luxusresort auswählten, musste ich sie daran erinnern, dass es auch praktische Anforderungen für den Drehort gab.

Ich forderte Tom auf, weiterzufahren, und schüttelte den Kopf. „Wir brauchen ein Grundstück mit sehr wenig Bebauung und einem großen, abgelegenen Strand.“ Außerdem benötigten wir auch gewisse Notwendigkeiten wie leicht zugängliche Toiletten und zuverlässige Stromquellen, aber ich verschwendete keine Energie, um das meiner Assistentin zu erklären.

Nachdem wir einige infrage kommende Inseln besucht und Hunderte von Fotos gemacht hatten, stieß Lyrica an ihre nächste Grenze.

„Mein Blutzucker ist niedrig. Ich muss was essen!“ Dabei rollte tatsächlich eine dicke Träne über ihre pralle Wange.

Zähneknirschend beschloss ich, den Ausflug abzukürzen, und wies Tom an, zurück zum Hafen zu fahren, doch dann fiel mir in einiger Entfernung auf der nächsten Insel etwas auf.

„Können wir bei der kleinen Insel anlegen, nur um einen kurzen Blick darauf zu werfen?“, fragte ich, während Lyrica protestierend stöhnte. Ich hätte sie am liebsten geohrfeigt.

Tom schüttelte den Kopf, verlangsamte aber das Boot. „Indigo Isle ist Privatbesitz.“

„Indigo Isle? Faszinierender Name.“ Ich wies auf den kleinen Strand. „Ich brauche nur ein oder zwei Minuten.“

„Es ist nicht erlaubt. Manche sagen sogar, dass es dort spukt. An diesem Ort sollte sich besser niemand herumtreiben.“

Da mir die Geduld fehlte, um lange zu diskutieren, zückte ich einen Hundert-Dollar-Schein, und das war alles, was nötig war, damit das Boot den Weg ans Ufer fand.

Auf den ersten Blick sah die Insel verlassen aus. Gleich hinter dem Strand standen dicht an dicht salzverkrustete Bäume, an deren Ästen Austern- und Muschelschalen an Bindfäden in der Brise baumelten. Das Klappern klang wie der Applaus von Feen.

„Das wäre eine einzigartige Kulisse für eine Szene.“ Ich zeigte auf die mit Muscheln geschmückten Bäume.

Lyrica zuckte mit den Schultern und versuchte gar nicht erst, eine eigene Vorstellung davon zu entwickeln.

Nun, ich hatte eine Vorstellung und wollte diese seltsame Insel etwas näher erkunden, also stieg ich aus und machte mich auf den Weg in den Wald.

„Warte!“, brüllte Lyrica, taumelte aus dem Boot und stolperte auf den Sand.

Ich hob die Hände, um sie zurückzuhalten. „Warte einfach im Boot. Ich werde mich beeilen.“

Offensichtlich hatte sie den Zuckertiefstand überwunden, denn sie stapfte weiter den kleinen Strand hinauf, wobei sie das viele Treibholz umging. „Nein. Ich will es auch sehen.“

Ein Seufzer kam über meine missbilligend verzogenen Lippen. „Also schön.“

Wir wagten uns durch das von schwachem Licht durchdrungene Blätterdach jahrhundertealter Eichen und schlanker Palmettopalmen. Der verführerische Duft der gelben Jasminblüten, die sich durch das Unterholz rankten, lockte uns auf einen ausgetretenen Pfad. Schon bald öffnete sich der Blick auf ein verstecktes Wohnhaus, das eher auf eine Lowcountry-Farm als auf eine Insel passte.

„Wow“, flüsterte Lyrica, während wir unseren Blick in alle Richtungen schweifen ließen, um jedes Detail zu erfassen.

In der Mitte der Lichtung stand ein in die Jahre gekommenes Herrenhaus. Das dreistöckige Haus im georgianischen Stil aus rotem Backstein mit seinen ergrauten Säulen, die einmal weiß gewesen waren, erinnerte mich an einen alten Menschen, der von einem harten Leben gezeichnet war. Ich ging um einen üppig bebauten Gemüsegarten herum und bemerkte rechts ein weiteres Feld mit unbekannten Pflanzen, die wie Unkraut aussahen.

Die ganze Zeit, in der wir das Gelände erkundeten und ein altes Gebäude mit landwirtschaftlichen Geräten und dergleichen untersuchten, hatte ich das unheimliche Gefühl, beobachtet zu werden. Als niemand auftauchte, ging ich zum Haus, stieg die breite Verandatreppe hinauf und klopfte an die dunkelblaue Haustür. Nach mehreren erfolglosen Versuchen, eine Antwort zu erhalten, gab ich auf und schaute mich noch ein wenig um, wobei mir die Sonnenkollektoren, eine Außendusche und Regentonnen auffielen.

„Die wilde Schönheit dieses Ortes fasziniert mich, aber es gibt keine Möglichkeit, hier eine größere Filmproduktion unterzubringen.“

„Es ist ein Film über eine Gruppe schiffbrüchiger Jugendlicher“, stellte Lyrica fest. „Dafür sieht dieser Ort zu wenig nach einer Insel aus.“

„Jepp“, gab ich ihr recht, strich mir das feuchte Haar aus dem Nacken und genoss die leichte Brise, die über meine heiße Haut strich. Ich ließ mein Haar fallen, zückte mein Handy und las laut die kleine Filmbeschreibung, die ich in meinen Notizen gespeichert hatte. „,Eine Gruppe von Jugendlichen reißt von zu Hause aus und macht sich in einem gestohlenen Boot auf den Weg. Sie erleiden Schiffbruch und landen auf einer Insel irgendwo vor der Ostküste. Zunächst ist alles in Ordnung, und die Gruppe genießt ihre neu gewonnene Freiheit auf der Insel, doch schon bald wendet sich das Blatt, als ihre Lebensmittelvorräte zur Neige gehen und die Gemüter erhitzt sind. Die Situation wird immer brenzliger, und es wird getestet, ob es die Stärksten und Klügsten sein werden, die überleben. Allianzen werden gebildet, und Eifersucht wird sie auseinanderreißen. Die Gruppe kämpft gegen die Elemente, gegen sich selbst und gegeneinander.‘“

„Tja. Das war’s dann wohl. Lass uns abhauen.“ Lyrica machte einen entschiedenen Schritt, als würde sie mich zwingen wollen, zuzustimmen.

„Du hättest einfach im Boot bleiben sollen.“ Ich schlenderte in Richtung des Gartens und entdeckte reife Tomaten, die ein süßes Aroma verströmten, und Rankgitter mit leuchtend grünen Gurken. Ich versuchte, dieses Fest für die Augen zu genießen, aber das Gemurre hinter mir verdarb mir den Genuss. „Warum hast du es so eilig?“

„Weil es hier gruseliger ist als auf dem Friedhof.“ Sie täuschte ein Schaudern vor.

Ich hatte den Friedhof nicht gruselig gefunden, sondern friedlich. Aber dieser Ort hier? Ja. Er hatte unzweifelhaft etwas Unheimliches an sich, und ich hatte noch immer den Verdacht, dass wir beobachtet wurden. Ich blickte zu dem vor uns aufragenden Haus hoch, aber es gab keine Anzeichen von Menschen oder Geistern, die aus einem der Fenster starren würden.

Ein raschelndes Geräusch lenkte unsere Aufmerksamkeit auf einen klapprigen Holzschuppen, und plötzlich schepperte ein Metalleimer auf den Boden. Wir schrien beide auf, und Lyrica schlang ihre Arme um mich, was mich aus dem Gleichgewicht brachte und fast zu Boden warf.

„Es ist ein Huhn! Lass los! Du erwürgst mich!“ Ich befreite mich aus ihrem Griff und wies mit dem Finger in Richtung der rotbraunen Henne, die neben dem umgestürzten Eimer auf dem Boden pickte. „Siehst du? Ein Huhn!“

„Ich habe mir fast in die Hose gemacht. Im Ernst, ich muss wirklich gehen.“ Sie führte einen kleinen Tanz auf, um zu unterstreichen, wie dringend es war.

„Gut. Lass uns gehen.“

„Ja. Aber wirklich.“ Lyrica drehte sich blitzschnell um und eilte durch das Dickicht der Bäume, wobei sie so viel Lärm machte, dass mehrere Vögel über ihr erschreckt aufflogen. Überraschenderweise konnte sie sich ziemlich schnell bewegen, wenn die Situation es erforderte.

Bevor ich ihr folgte, ließ ich meinen Blick noch einmal über die Vorderseite des Hauses gleiten und hätte schwören können, dass ein Vorhang an einem Fenster im zweiten Stock flatterte. Blinzelnd und mit zusammengekniffenen Augen taxierte ich das Fenster, aber der Vorhang bewegte sich nicht noch einmal.

„Sonny!“ Lyricas Gekreische hallte durch die Bäume. „Komm jetzt endlich!“

Ich hob die Hand und winkte dem traurigen, einsamen Haus zum Abschied zu. Widerstrebend ließ ich meine Neugierde in dem abgelegenen Garten zurück. Aber ich hatte eine Vorahnung, dass ich bald zurückkehren würde, um sie abzuholen.

2

Es gab Tage, an denen sich jedes Detail von selbst ergab, und dann gab es Tage, die so verdammt eigensinnig waren, dass ich nicht einen Schritt tun konnte, ohne dass mir etwas um die Ohren flog. Und heute? Es war eine Mischung aus beidem gewesen, denn ich musste den Babysitter für eine erwachsene Frau spielen und gleichzeitig ein Chaos beseitigen, das eine andere erwachsene Frau verursacht hatte. Doch all das wurde zur Nebensache, als mich am Telefon gute Nachrichten erreichten, sobald wir am Jachthafen angekommen waren.

Erleichtert versprach ich: „Vielen Dank! Ich werde Ihnen die Verträge bis morgen zusenden.“ Ich beendete den Anruf und steckte das Handy in meine Umhängetasche. „Das war der Manager von Moise Island. Wir haben unsere Insel.“

Lyrica wurde hellhörig. „Ist das die mit dem kleinen Urlaubsresort?“

„Ja. Das Resort ist weit genug von dem Privatstrand entfernt, den wir zum Filmen nutzen dürfen, sodass neugierige Gäste kein Problem darstellen sollten.“

„Oh, das ist super!“, sagte Lyrica, als wir die Straße überquerten, um zu unserem geparkten Auto zu gelangen.

Glühend und ausgedörrt von der Hitze nahmen Lyrica und ich ein spätes Mittagessen in einem lokalen Restaurant ein. Während wir die Krabbensandwiches genossen, entdeckten wir, dass hier auch Catering angeboten wurde, was auch noch auf meiner Liste der zu erledigenden Aufgaben für die Dreharbeiten stand. Zur Feier des Tages teilten wir uns ein riesiges Stück Kokosnusskuchen und erklärten, es sei der beste Kuchen, den wir je gegessen hatten. Ich überlegte, ob Lyrica vielleicht doch erträglich war.

„Wir müssen zum Shem Creek Inn fahren“, sagte ich ihr und studierte die handschriftlichen Notizen von Delaney, die Will an mich weitergegeben hatte. Glücklicherweise hatte sie ihm den Ordner mit ihren Unterlagen noch übergeben, nachdem er sie gefeuert hatte.

„Warum? Übernachten wir heute dort?“ Lyrica kratzte den restlichen Zuckerguss mit ihrem Löffel vom Teller, bevor sie ihn dem Kellner übergab.

Ich zuckte mit den Schultern. „Es ist Sommer, also unwahrscheinlich, dass sie freie Zimmer haben.“

„Ja, das ist ein beliebtes Hotel“, warf der Kellner ein. Er trug ein schwarzes Hemd samt schwarzer Hose und war wahrscheinlich ungefähr in Lyricas Alter. „Kann ich Ihnen noch etwas bringen?“

„Eigentlich …“ Ich winkte ihn etwas näher heran. Obwohl wir noch einiges an Arbeit zu erledigen hatten, konnte ich es mir nicht verkneifen, mich nach dieser merkwürdigen Insel zu erkundigen. „Wissen Sie zufällig etwas über diese Indigo-Insel?“

Ein Ausdruck, den ich nicht deuten konnte, huschte über sein junges Gesicht. „Nur, dass ich meinem Vater versprechen musste, mich niemals dort herumzutreiben.“

„Warum das denn?“, fragte ich.

Er sah sich im Raum um, ob an seinen anderen Tischen alles in Ordnung war. „Die Leute hier sagen, dass es auf der Insel spukt.“

Eine Dame am Nebentisch rief nach ihm und hielt ihm ein leeres Glas hin.

„Das ist wirklich alles, was ich weiß.“ Er zuckte mit den Schultern, überreichte uns die Rechnung mit einem Lächeln und widmete sich wieder seiner Arbeit.

„Mannomann, wir waren mit einem Geist da draußen“, flüsterte Lyrica und riss ihre Augen in gespielter Angst weit auf.

„Es gibt keine Geister“, versicherte ich ihr – und log ihr damit glatt ins Gesicht. Seit meinem siebzehnten Lebensjahr war ich in L. A. auf mich allein gestellt gewesen und hatte auf die harte Tour gelernt, dass Geister die unterschiedlichsten Erscheinungen haben konnten. Einige entsprachen dem Profil auf den ersten Blick – böse Augen und finsteres Grinsen –, andere kamen in attraktiver Verpackung daher, mit funkelnden Augen und gewinnendem Lächeln. „Das ist nur ein Volksglaube.“

Lyrica trank ihre Limonade aus und unterdrückte mit der Hand einen Rülpser. „Ach ja?“

„Alles erfundene Geschichten, um Aufmerksamkeit zu erregen. Wir müssen jetzt los.“ Ich bezahlte die Rechnung, und wir machten uns wieder auf den Weg.

Meine Beifahrerin gähnte herzhaft. „Dieser Tag hat mich echt geschlaucht. Ich könnte ein Nickerchen gebrauchen.“

Ich manövrierte den Wagen durch den dichten Verkehr auf dem Coleman Boulevard. „Geht mir auch so, aber wir müssen erst noch sicherstellen, dass die Reservierungen für die Schauspieler und das Team alle fest sind.“

Lyrica rieb ihre Finger aneinander, deren Nägel scharf genug aussahen, um Blut zu vergießen. „Kannst du nicht einfach anrufen?“

„Es ist nur ein paar Minuten die Straße hinauf. Ich schaue es mir lieber an. Außerdem ist es immer gut, ein paar persönliche Kontakte zu knüpfen …“ Ich unterbrach meine Lektion, als Lyrica begann, am Radio herumzuspielen.

Wir fuhren auf den Parkplatz des Hotels. Die weiße Fassade war makellos; riesige rote Buchstaben auf dem Dach verkündeten, dass es sich um das Shem Creek Inn handelte.

„Oooh. Ist das nett hier. Ländlicher Küstencharme, was? Ich hoffe, wir können heute Nacht hierbleiben.“ Lyrica sprang aus dem Auto, bevor ich einparken konnte.

Ich folgte ihr nach drinnen, wo sie noch mehr Ohs und Ahs von sich gab.

„Der Pool liegt direkt am Wasser!“ Sie drehte sich zu mir um, die hellblauen Kontaktlinsen leuchteten fast. „Vielleicht hätten sie Delaney doch nicht feuern sollen. Sie hat uns jedenfalls gut untergebracht.“

Lyricas Aufregung ließ die Frau hinter einem rustikalen Empfangstresen aufblicken.

Die zierliche Frau lächelte und lenkte unseren Blick von der spektakulären Sicht auf den Shem Creek weg. „Was kann ich für euch beiden Hübschen tun?“

„Wow! Sie hat uns hübsch genannt!“

Ich ignorierte Lyrica, und die Dame des Hauses bemühte sich, sie nicht direkt anzustarren.

„Guten Tag“, ich studierte ihr Namensschild, um sie mit ihrem Vornamen ansprechen zu können: „Abby, ich bin hier, um mich nach einer Reservierung zu erkundigen.“

„Aber sicher.“ Sie tippte etwas in ihren Computer ein. „Nachname?“

„Kessler“, sagte ich langsam und buchstabierte dann.

Abby tippte auf der Tastatur herum und brach dann ab. „Ähm … wir haben keine Reservierungen unter Kessler.“

„Vielleicht unter Ewol Entertainment? Heute in zwei Wochen soll der Check-in sein.“ Wir buchten selten unter dem Namen von Wills Produktionsfirma, um unauffällig zu bleiben, aber Delaney, die Dumpfbacke, hatte das vielleicht genauso vermasselt wie alles andere auch.

Abby überprüfte die Reservierungen und schüttelte langsam den Kopf. „Es tut mir leid.“

Ich ging aufs Ganze und fragte: „Haben Sie zufällig eine große Buchung für mindestens fünfzig Zimmer, die schon im November letzten Jahres erfolgt sein sollte?“

Abby suchte noch einmal, die rosigen Lippen zusammengepresst. „Nein, Ma’am.“

Ich ließ die Schultern sacken. „Und ich nehme an, Sie haben keine fünfzig Zimmer zur Verfügung.“

„Wir sind bis zum Labor Day fast komplett ausgebucht.“

„Das heißt, für heute Nacht ist auch kein Zimmer mehr frei?“, meldete sich Lyrica zu Wort.

„Nein. Es tut mir sehr leid.“

Wir verließen das einladende Hotel wie zwei Hunde mit eingezogenen Schwänzen. Nachdem ich ein paar Anrufe getätigt und Delaney eine drohende Sprachnachricht hinterlassen hatte, dass sie mich so schnell wie möglich zurückrufen solle, saßen wir im Auto und stöberten in den Unterlagen.

Aus einer Vorahnung heraus fischte ich den Zettel heraus, auf dem Shem Creek Inn stand, und studierte die Adresse. Zuvor hatte ich nur den Hotelnamen in das GPS eingegeben und nicht die Adresse. Wie ich vermutet hatte, stimmte sie nicht überein. Ich tippte die Adresse ein, die Delaney aufgeschrieben hatte, und setzte den Wagen in Bewegung. Ich hasste diese Eingebungen, die mich manchmal zu Wahrheiten führten, die ich lieber nicht wahrhaben wollte.

Lyrica schaute mich an, während sie ihren Sicherheitsgurt anlegte. „Und wohin fahren wir jetzt?“

Ich bog links vom Parkplatz ab. „Wir müssen uns wohl was Neues suchen, fürchte ich.“

Sie gab einen Laut von sich. „Mpff. Das hat mir gerade noch gefehlt.“

Zwanzig Minuten weiter vom Jachthafen entfernt, als ich eigentlich wollte, meldete die Navi-Dame in meinem Handy, dass wir unser Ziel erreicht hätten.

Lyrica schnaubte. „Ich habe keine Lust, hier zu wohnen.“

Da musste ich ihr zustimmen. Mit gesenkten Köpfen starrten wir durch die Windschutzscheibe auf das schäbige Motel vor uns, und keiner von uns machte Anstalten, auszusteigen.

„Das Einzige, was diese Idiotin richtig gemacht hat, ist, dass hier auch Creek im Namen steht.“ Lyrica deutete mit einem spitzen Fingernagel auf das orangefarbene Schild mit der weißen Schrift. Creek View Inn. Die Worte Zimmer frei blinkten in rotem Licht am unteren Rand des Schildes.

„Na, deine Meinung über Delaney hast du aber schnell geändert“, murmelte ich und setzte ein falsches Lächeln auf. „Aber wenigstens hast du Glück. Sie haben noch freie Zimmer für heute Nacht.“

Sie verschränkte die Arme und wirkte wieder wie ein bockiges Kleinkind, das meinen Sarkasmus immer noch nicht zu schätzen wusste. „In dieser Kaschemme bleibe ich nicht.“

„Versuch mal, locker zu bleiben. Wir haben uns noch gar nicht umgesehen.“ Ich wies mit dem Kinn in Richtung der mintgrünen Stuckfassade. Sie brauchte nicht unbedingt eine Renovierung oder gar ein Facelifting. Nur eine oberflächliche Verschönerung, um sie ein wenig aufzufrischen. „Sie liegen durchaus im Trend mit diesem Retro-Look.“

„Es gibt einen großen Unterschied zwischen retro und heruntergekommen“, protestierte Lyrica, als wir ausstiegen und zu dem winzigen Büro hinübergingen. Das zermürbende Brummen der Klimaanlagen in den Fenstern und der Verkehr von der viel befahrenen Straße übertönten ihr Gejammer fast vollständig.

Eine ältere Dame mit rosa-grauem Haar saß hinter dem kleinen Tresen. Ein Namensschild gab es nicht.

„Hallo“, begrüßte ich sie.

„Guten Tag, Mädels. Ich bin Erlene.“

„Ich bin Sonny.“ Mit dem Daumen deutete ich in die Richtung meiner schmollenden Begleitung. „Und das ist Lyrica.“

Ihre hellgrünen Augen leuchteten. „Das sind ja mal interessante Namen! Kann ich euch helfen?“

„Vielleicht ja. Ich würde gerne nach einer Reservierung fragen.“ Auf der Laminatarbeitsplatte war kein Computer in Sicht. Nur ein Notizbuch mit Kaffeeflecken auf dem Einband.

Erlene griff zu einer Gleitsichtbrille und schlug das Notizbuch auf. „Schauen wir mal …“

Nach etwa fünfminütigem Blättern fand Erlene die Reservierung für alle dreiundfünfzig Zimmer unter Kessler. Ein alter Durchschlag des Kreditkartenbelegs war daran geheftet und trug Delaneys Unterschrift.

„Dieses kleine …“ Lyrica verschluckte den Rest des Fluchs.

„Lyrica.“ Fest legte ich ihr die Hand auf ihre angespannte Schulter. „Warum siehst du dich nicht ein bisschen um, was das Haus zu bieten hat, während ich mit Miss Erlene ein Zimmer besichtige.“

Die ältere Dame griff zu einem Steckbrett und riss einen trüb gewordenen Schlüssel von einem der Haken. Ja, einen echten Schlüssel. Keine Karte. Keinen Anhänger, sondern nur einen Schlüssel. Lyrica bemerkte das auch und schnalzte mit der Zunge.

„Gebt mir eine Minute, um meine Schuhe zu wechseln.“ Erlene bückte sich mit einem Seufzen und begann, ihre Pantoffeln gegen ein Paar Klettverschluss-Turnschuhe auszutauschen.

Bevor Lyrica etwas sagte, was die arme kleine Dame beleidigen könnte, schob ich meine Assistentin nach draußen: „Sieh dich einfach um und versuch, etwas Positives zu finden, bitte.“ Während ich sie ermahnte, bogen wir um die Ecke und betraten einen vernachlässigten Innenhof, der von dem Motel umgeben war.

Lyrica deutete auf das leere Schwimmbecken und bemerkte spitz: „Das kommt gar nicht gut.“

Bevor ich etwas sagen konnte, schlurfte Erlene mit einer Gehhilfe in den Hof, an deren beiden vorderen Beinen Tennisbälle befestigt waren. „Ach, das muss euch nicht stören. Da ist nur ein kleiner Riss drin. Der Poolbauer hat gesagt, er kann ihn flicken, bevor ihr alle hier seid.“

„Fantastisch“, sagte ich ein wenig zu munter und folgte Erlene zu einer der Türen im unteren Stockwerk des zweistöckigen Gebäudes.

Es bedurfte einiger Fummelei, bis der Schlüssel sich im Schloss drehte. „Die Salzluft ist schuld. Sie lässt alles rosten. Sogar uns alte Leute.“ Sie lachte über ihren Witz, und ich grinste auch ein wenig.

„Haben Sie hier Wachpersonal?“, fragte ich und bemerkte, dass die Türen nur ein einfaches Schloss hatten.

„Nein, meine Liebe, die Gegend hier ist ziemlich sicher.“ Sie schob die Tür weit auf und ließ mich eintreten.

Holzvertäfelung an den Wänden und rostorangefarbener Zottelteppich auf dem Boden. Ein Rattantisch und ein Stuhl standen neben einem Doppelbett mit grün-orangefarbener Bettwäsche mit Blumenmuster. Ich durchquerte den kleinen Raum und fuhr mit der Hand über die Decke, deren Textur sich fast wie Plastik anfühlte. Die einzige andere Tür führte in ein beige gefliestes Bad, das sauber war und nur ganz schwach nach Schimmel roch.

Erlene ließ sich in den Stuhl plumpsen, sodass das Holzgestell ächzte. „Nun, was hältst du davon?“

Was ich davon hielt? Zunächst einmal war ich der Meinung, dass es sehr weit hergeholt war, diesen Ort als retro zu bezeichnen. Veraltet traf es besser, und die verwöhnte Schauspieltruppe würde auf keinen Fall zustimmen, hier zu übernachten.

Ich behielt das alles für mich und sagte stattdessen: „Es ist sauber und kühl.“

„Oh ja. Meine Nichte und ihre Tochter kümmern sich um die Reinigung. Das sind gute Leute. Und die Klimaanlagen in den Fenstern sind praktisch nagelneu.“

Ich öffnete den kleinen Rattanschrank, der zu Tisch und Stuhl passte. Ein paar leere Kleiderbügel baumelten an der Kleiderstange, und der Schrank verströmte den beißenden Geruch von Mottenkugeln.

„Ist das natürlich?“, fragte die kleine Dame.

Was meinte sie? Den Geruch? Hier mit Lyrica festzustecken? Oder die ungesunde Situation, in der ich mich mit Will befand? Ich hoffe nicht. Ich schloss die Schranktür und warf einen Blick über meine Schulter. „Natürlich?“

Sie strich sich übers Haar. „Dein Haar. Sind das natürliche Locken oder hast du eine Dauerwelle?“

Ich musste mich anstrengen, nicht zusammenzuzucken, und betrachtete mich im Spiegel an der Wand. Die Luftfeuchtigkeit hatte meine sonst nur leichten Locken in ein Gewirr von Gekräusel verwandelt. Als ich am Morgen Kalifornien verlassen hatte, war mein Haar noch gut schulterlang gewesen, aber jetzt war es deutlich kürzer und dichter geworden.

Ich benutzte meine Finger als Kamm, um die Knoten zu bändigen, und drehte das Haar zu einem unordentlichen Dutt zusammen. „Es ist eigentlich alles Natur. Das Einzige, was ich versucht habe, war, das Haar zu glätten, aber das hat nicht funktioniert.“

„Meine Güte, warum willst du es denn glatt haben? Diese Locken sind doch entzückend.“ Das Lächeln, das Erlene mir schenkte, kam von Herzen.

Vor einer Ewigkeit, als ich noch kaum ein Teenager gewesen war und mich überall fehl am Platz gefühlt hatte, war ich es leid gewesen, so anders als meine Familie zu sein. Damals wollte ich glatte Haare haben, um meinen beiden älteren Schwestern ähnlicher zu werden. Caroline und Aubrey hatten ihr rotblondes Haar mit weichen Wellen, ein paar Sommersprossen und hellblaue Augen von unserer Mutter geerbt. Ich kam nach der Familie meines Vaters mit haselnussbraunen Augen, die sich nach Lust und Laune veränderten, und goldbraunem Haar, das im Winter dunkler und im Sommer heller wurde. Offenbar war nichts an mir natürlich, außer den Locken und vielleicht dem Chaos, das ich in meinem Leben angerichtet hatte.

Ich setzte diesem Gedankengang ein Ende, trat näher zu dem kleinen Fernseher und inspizierte ihn. Er hatte Einstellknöpfe und eine Antenne. „Haben die Zimmer Kabel und WLAN?“

„Die meisten Leute verbringen ihre Zeit hier am Pool oder erkunden Charleston“, antwortete Erlene, ohne meine Frage zu beantworten. „Wir haben einen Wäscheraum mit einem Getränke- und Snackautomaten. Oh, und eine Eismaschine.“

„Großartig“, murmelte ich und machte mich auf den Weg zurück zum Eingang.

Nach der kurzen Besichtigungstour dachte ich, es sei an der Zeit, Lyrica aufzuspüren, was sich als die einfachste Aufgabe des Tages herausstellte. Wir entdeckten sie am bröckelnden Pool, wo sie sich in einem Plastiksessel ausgestreckt hatte. Ein Croc in allen Regenbogenfarben baumelte an einem Fuß, während der andere auf dem heißen Zement lag.

„Sie muss aber wirklich erschöpft sein, die Gute. Sie schnarcht ja lauter als mein verstorbener Mann.“ Erlene summte, als sie die Tür hinter uns schloss, aber mir war eher nach Knurren. „Ich treffe euch zwei dann im Büro.“

Während die alte Dame davonschlurfte, holte ich mein Handy heraus und drückte auf Aufnahme, um den Anblick und die Geräusche einer schlafenden Lyrica festzuhalten.

Ich schickte das Video an Will, begleitet von einer SMS: Warum ich?

Augenblicke später piepte mein Handy. Sag Lyrica, sie soll ihren fetten …

Ohne mir die Mühe zu machen, weiterzulesen als bis zum Wort fett, steckte ich das Handy weg und rieb mir die Stirn.

Neben den Geistern war Bodyshaming auch etwas, das in der Unterhaltungsindustrie üblich war. Es ist etwas, was nicht hinter dem Rücken durchgeführt wird, sondern ganz offen. Lyrica wog gut dreißig Kilo mehr als ich mit meinen knapp 75 Kilo, und wir galten beide nach Branchenstandards als fett. Das war einer der Gründe, warum meine Schauspielkarriere so kurzlebig gewesen war und nur aus einer Katzenfutterwerbung bestanden hatte.

Am Ende habe ich aber allen gezeigt, dass auch die Kleidergröße 44 ihren Platz in der Welt des Ruhmes finden konnte. Sicher, es brauchte ein peinliches Video auf meinem YouTube-Kanal, um das zu erreichen, aber passiert ist es trotzdem. Mein Kanal begann als Blick hinter die Kulissen des Location Scouting. Ich hielt es für ein interessantes Konzept, aber ich hatte keine Fangemeinde, und so wurden die Videos nur etwa zwanzigmal angeklickt. Will sagte, er könne sich für mich darum kümmern, aber wie bei allem, was er tut, war sein Angebot an Bedingungen geknüpft. Ich wollte aber etwas ganz allein erreichen, ohne dass Schulden oder Reue das Ganze überschatteten.

Vor etwa zwei Jahren hatte ich dann endlich meinen großen Durchbruch, und zwar in mehr als einem Sinne des Wortes. Während einer Scoutingtour in den Bergen von Nevada beschloss ich, einen Beitrag für meinen Vlog zu filmen. Da ich nicht aufpasste, wo ich hinlief, stürzte ich von einer Klippe und war stundenlang auf einem schmalen Felsvorsprung gefangen. Trotz meines gebrochenen Handgelenks und meiner beträchtlichen Angst konnte ich mein Handy noch halten und weiterfilmen, wobei ich viel von meinem selbstironischen Humor einfließen ließ. Das Video war eine absolute Katastrophe, und die Zuschauer konnten offenbar nicht wegsehen. Es verbreitete sich wie ein Virus, und meine magere Fangemeinde von fünfzehnhundert stieg praktisch über Nacht auf etwas mehr als fünfzigtausend an. Bald darauf gestaltete ich den Kanal zu einer Art Spiel um. Folgt mir um die Welt gab den Followern Hinweise, mit denen sie herausfinden konnten, wo ich mich gerade aufhielt. Natürlich gab es auch Preise zu gewinnen, was noch mehr Zuschauer anlockte.

Also ja, das kurvige Mädchen mit den zu lockigen Haaren hatte damit bewiesen, dass sie es draufhatte, auch wenn Hollywood ihr was anderes gesagt hatte. Ich nehme an, die angemessene Reaktion wäre gewesen, dass ich mich niemandem beweisen musste. Aber ist das nicht die große Täuschung, die wir uns alle einreden, während wir versuchen, genau das zu tun? Uns selbst zu beweisen? Unseren Erfolg? Unseren Wert? Unseren Individualismus?

Und ich? Ich hatte beweisen wollen, dass ich die Akzeptanz und Unterstützung meiner Familie nicht brauchte, und als Beweis hatte ich den größten Fehler meines Lebens begangen.

Ich beschloss, dass Will uns „fetten“ Mädchen eine luxuriöse Nacht schuldete, und ließ Lyrica noch ein wenig länger am leeren Pool schlafen. Seine Worte klangen mir im Ohr, als ich meinen Laptop aus dem Auto holte. „Du liebst diesen Lebensstil zu sehr, um mich zu verlassen.“ Damit mich mein Gewissen nicht doch noch abhielt – es machte sich in letzter Zeit immer öfter und lauter bemerkbar –, buchte ich für die Nacht zwei Suiten in einem Boutique-Hotel in der Innenstadt von Charleston. Und wenn ich schon mal dabei war, buchte ich auch gleich für den nächsten Morgen einen Flug für Lyrica, ebenfalls auf Wills Kosten. Das alles war schließlich in erster Linie seine Schuld.

Die Arbeit eines ganzen Jahres musste in nur wenigen Tagen erledigt werden, und das konnte ich nur schaffen, wenn ich es allein machte. Wie alles andere in meinem Leben.

3

Charleston war nicht nur ein lohnendes Touristenziel, sondern ein Erlebnis, das alle Sinne ansprach. Es versprach historische Sehenswürdigkeiten und weite Ausblicke aufs Wasser. Den Geruch der salzigen Meerluft und die erdige Schärfe des nahe gelegenen Marschlands mit einem Hauch von duftendem Mariengras. Die herzhaften Aromen der Lowcountry-Küche mit den würzigen Einflüssen der Gullah-Küche, der afroamerikanischen Gemeinschaft an der Küste. Es versprach feuchte Tage und milde Nächte. Die kreischenden Rufe der Möwen im Einklang mit den im Hafen ein- und auslaufenden Schiffen. Und das war gerade mal die Oberfläche dessen, was den Ort ausmachte.

Auch wenn ich aus diesem Teil der Welt verschwunden war und nie zurückgeschaut hatte, konnte ich seine Schönheit und seinen Charme nicht leugnen. South Carolina ist wirklich einer dieser Staaten, der von allem etwas zu bieten hat. Inseln, Strände, Ackerland, Nationalforste und Wasserfälle. Kein Wunder, dass der Rest des Landes endlich beschlossen hatte, dass der kleine Staat einen zweiten Blick wert war und inzwischen zum Schauplatz von immer mehr Büchern und Filmprojekten geworden war. Ich war selbst überrascht, dass es mir gelungen war, den Bundesstaat so lange zu meiden. Es wäre auch keine Zumutung gewesen, in der Gegend auf Drehortsuche zu gehen, wäre da nicht der nahende Sturm vor den Toren von Charleston gewesen. Ich ignorierte ihn, so gut es ging, und machte mich daran, meinen Auftrag zu erledigen.

Nachdem ich Lyrica am Flughafen abgesetzt hatte, verbrachte ich den Vormittag damit, alles Notwendige für die Dreharbeiten zu organisieren: mobile Toiletten, Sicherheitsdienst, Zeltverleih, Catering-Service. Das Wichtigste war, dass ich mehrere Strandhäuser für die Unterbringung der Schauspieler auf der anderen Inselseite auf Moise Island sichern konnte. Meiner Meinung nach eine perfekte Lösung. Zum einen würden sie eine Unterkunft haben, die ihrem verwöhnten Lebensstil entsprach. Außerdem wären die Darsteller in der Nähe des Drehortes, was es beträchtlich einfacher machen würde, den Zeitplan einzuhalten.

Mit dem Gefühl, etwas erreicht zu haben, fuhr ich bei diesem schrillen Stand am Straßenrand namens Jack’s Cosmic Dogs vorbei und gönnte mir einen Hotdog und einen Vanille-Shake. Schnell, einfach und lecker – drei Must-haves in meinem Job. Danach kehrte ich zum Creek View Inn zurück und traf Erlene in ihrem kleinen Büro an, wo sie auf einem Fernseher, der nicht größer war als mein MacBook, Zeit der Sehnsucht schaute.

„Hallo, Erlene. I...“

„Pst …“ Sie hob eine Hand und scheuchte mich weg, so gefesselt von dem Drama auf dem winzigen Bildschirm, dass sie nicht mal zu mir rüberschaute, um zu sehen, wer kam. Das erinnerte mich an meine Großmutter und daran, wie erpicht sie darauf gewesen war, jeden Tag nach dem Mittagessen ihre Geschichten zu sehen.

Ich wollte höflich sein, also zog ich mir einen Stuhl vor den Tresen und verhielt mich die nächsten vierzig Minuten ruhig. Vielleicht war ich auch tatsächlich ein wenig gefesselt von dem Drama der feinen Gesellschaft von Salem.

„Ich habe diese Serie seit Jahren nicht mehr gesehen. Ich kann nicht glauben, dass Lucas und Sami sich immer noch gegenseitig ertragen. Und Victor? Der Mann muss doch schon steinalt sein! Dass der überhaupt noch auf den Beinen stehen kann!“ Ich fuhr mir über die Augen, ein wenig verstimmt über die Serie und über mich selbst, weil ich mich an so viel davon erinnerte.

Erlene lehnte sich ans Ende des Tresens und schaltete den Fernseher aus. „Ich bin überrascht, dass du diese Serie überhaupt kennst. Leben die meisten Leute aus deiner Generation heutzutage nicht in ihren eigenen Seifenopern im echten Leben?“ Ihr schelmisches Lächeln milderte die Beleidigung ab.

„Touché.“ Ich lachte kurz auf. „In den Sommerferien habe ich früher fast jeden Nachmittag bei meiner Großmutter verbracht. Ich musste entweder ein Mittagsschläfchen machen oder mit ihr Zeit der Sehnsucht schauen und wurde sozusagen süchtig danach. Während des Schuljahres fuhr ich mit dem Fahrrad zu ihr, damit sie mich über alles aufklären konnte, was ich verpasst hatte.“

Meine Gedanken schweiften weiter in die Vergangenheit und dass es anscheinend niemand wirklich mit mir ausgehalten hatte, bis auf meine Großmutter, mit der mich eine alberne Seifenoper verband. Ja, vielleicht hatte ich mir das selbst zuzuschreiben. Ich galt bei vielen als schwierig, denn ich war das Gegenteil von meinen beiden älteren Schwestern. Caroline und Aubrey waren glatte Einser-Schülerinnen, die bei allem, was sie anpackten, glänzten. Ich kam immer gerade so durch und glänzte in nichts, außer darin, in Schwierigkeiten zu geraten. Vielleicht war es Langeweile gewesen. Ich war immer rastlos und hatte ein Talent dafür, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein.

Das Quietschen von Erlenes Stuhl holte mich in die Gegenwart zurück. Sie rollte mit ihrem Bürostuhl zu einem Minikühlschrank hinter dem Tresen und nahm zwei kleine Dosen Cola heraus, von denen sie mir eine reichte, während sie zurück zu mir rollte.

„Danke, Ma’am.“ Ich prostete ihr mit der Dose zu und nahm dann einen großen Schluck. Die kalte Limonade prickelte, tat meinem ausgedörrten Mund aber gut. „Da sind winzige Eissplitter drin“, stellte ich fest.

„So mag ich es am liebsten.“ Erlene setzte ihre Dose an den Mund und nahm einen tiefen Schluck daraus. „Ich musste ein bisschen herumprobieren und ein paar Dosen explodieren lassen, bevor ich die perfekte Temperatur heraushatte.“

„Alle Achtung, Ma’am.“ Ich trank die Limonade aus und seufzte. „Also, ich habe eine gute Nachricht, eine schlechte und dann noch eine gute Nachricht.“

Erlene stellte ihre Dose auf die Laminatarbeitsplatte und wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab. Man hätte meinen können, wir würden uns in einem Saloon ein Bier genehmigen. „Dann mal raus damit.“

„Die gute Nachricht ist, dass das Filmteam in zwei Wochen pünktlich eintreffen wird. Die schlechte Nachricht: Wir brauchen nur einunddreißig Zimmer. Und die beste Nachricht ist, dass ich gern für heute Nacht ein Zimmer mieten würde.“

Die ältere Dame grinste, ihre Augen funkelten, und die Falten um ihre lächelnden Lippen vertieften sich. Sie sah so mütterlich aus – oder eher großmütterlich. Ich fragte mich, ob meine Mutter heute wohl ähnlich aussah wie Erlene. Sie mussten ungefähr gleich alt sein, fast achtzig. Als ich Mama das letzte Mal gesehen hatte, war sie immer noch etwas überdurchschnittlich groß und kräftig gewesen von der jahrelangen Arbeit im Fischgeschäft der Familie. War es ihr so ergangen, wie es älteren Menschen meist ergeht? Hatte das Leben sie schrumpfen lassen? War sie weicher geworden und glich jetzt einem Kissen, wie Erlene es tat? Plötzlich sehnte ich mich nach einer herzlichen Umarmung.

Das Quietschen von Erlenes Stuhl riss mich aus meinen Gedanken. Sie griff nach ihrem kaffeebefleckten Terminbuch aus den 1980er-Jahren und blätterte ein wenig darin. „Ich gebe dir das beste Zimmer im Motel. Und mach dir keine Sorgen wegen der Zimmerstornierungen. Ich habe euch noch nicht den vollen Betrag in Rechnung gestellt. Das können wir ausgleichen, wenn ihr zurückkommt.“

„Oh, das ist sehr nett. Vielen Dank.“ Ich gab ihr die Firmenkreditkarte und sah amüsiert zu, wie sie sie durch den altmodischen Kreditkarten-Leser laufen ließ. Das Hineinstecken und Klicken klang laut in dem kleinen Büro. Irgendwie sehr offiziell.

Erlene reichte mir die Kreditkarte, den Beleg und einen Schlüssel mit einem Plastikdelfin als Anhänger. „Das wär’s. Ich sorge dafür, dass du dasselbe Zimmer bekommst, wenn ihr Ende des Monats wiederkommt.“

Ich las die Nummer, die auf dem Delfin unter dem Motel-Logo aufgedruckt war, und stellte fest, dass es dasselbe Zimmer war, das ich gestern angesehen hatte. „Bestens!“

Nachdem ich mit Erlene alles geklärt und meine Koffer im besten Zimmer des Creek View Inn untergebracht hatte, kehrte ich zum Jachthafen zurück, um mit Tom zu arrangieren, dass die Filmcrew für die nächsten zwei Monate täglich auf die Insel übergesetzt würde.

„Ich habe zwei Wassertaxis, die ich dafür zur Verfügung stellen kann.“ Tom zeigte auf zwei große Boote, während wir vom Kai aus sein Inventar inspizierten.

„Es wird ein paar sehr frühe Starts geben, schon vor Sonnenaufgang, und einige Nachtaufnahmen. Ich sorge dafür, dass Sie die Zeitpläne so bald wie möglich erhalten, aber manchmal kann sich der Zeitplan ohne lange Vorankündigung ändern.“

Tom winkte meine Bedenken ab. „Kein Problem. Ich habe jede Menge Sommeraushilfen.“

„Oh, gut.“ Ich wandte mich der Reihe der kleinen Motorboote zu. „Ich werde viel öfter hin- und herfahren als das Team, also muss ich für mich auch so eins mieten. Eins von den kleineren sollte ausreichen.“

Tom schob sich seine Sonnenbrille auf den kahlen Kopf und entblößte eine starke Bräunungslinie um seine Augen. „Sie wissen, wie man ein Boot steuert?“

Meine Hände wanderten auf meine Hüften. „Sir, ich bin in Georgetown am Fluss aufgewachsen. Ich hatte mein eigenes Boot, bevor ich Auto fahren konnte.“

Er lachte und hob die Hände. „Ah, eine Flussratte.“

„Erfasst.“ Ich schmunzelte zustimmend. Egal, wie viel Abstand ich zwischen mich und meine Herkunft gebracht hatte, das Leben am Fluss und im Salz würde immer ein Teil von mir sein.

Nachdem ich den Papierkram unterschrieben und Wills Kreditkarte eingesetzt hatte, machte ich mich mit den Verträgen und Freigabeformularen auf den Weg nach Moise Island. Bis ich dort alles erledigt hatte, ging es bereits auf den Abend zu. Bevor ich die Insel verließ, beschloss ich, noch ein paar Aufnahmen vom Strand zu machen, um zu sehen, wie er sich bei unterschiedlichen Lichtverhältnissen darstellte. Der Sonnenuntergang schenkte mir atemberaubende Bilder, und das Kribbeln in meinem Bauch sagte mir, dass dies der perfekte Ort für Jenseits der Wellen war. Ich schickte die Fotos an die künstlerische Leiterin, und sie antwortete fast sofort. Volltreffer.

Auf der Rückfahrt zum Hafen nahm ich einen Umweg, um an Indigo Isle vorbeizufahren. Irgendetwas an der geheimnisvollen Insel und dem wenigen, was ich darüber gehört hatte, berührte mich auf eine seltsame Weise. Wie es schien, hatten die Leute sich ihre Meinung gebildet, und daran war nicht mehr zu rütteln. Ein Geist. Da spukt es. Bleib bloß weg. Sonderbar. Ein Unheimlicher. Die Sache ist doch die: Wenn man etwas lange genug hört, neigt man dazu, es für die Wahrheit zu halten, ob es nun stimmt oder nicht.

Ich hatte schon früh akzeptiert, dass ich nie zum Lebensplan meiner Eltern gehört hatte. Nur wenige Jahre bevor meine Schwestern aus dem Haus gehen würden, stellte meine Mutter im Alter von siebenundvierzig Jahren fest, dass sie schwanger war. Sie nannten mich nach einem ihrer Lieblingssänger, Sonny Bono. Ja, ich bin nach einem Mann benannt, aber das ist immerhin besser als Cher – das wäre die Alternative gewesen. Meine Eltern sagten, ich sei ein unerwartetes Geschenk zu ihrem fünfundzwanzigsten Hochzeitstag gewesen, ein Geschenk, das sie sich anscheinend nicht so sehr gewünscht hatten. Das haben sie zwar nie direkt gesagt, aber durch Andeutungen und die ständige Verärgerung meiner Eltern über mich war es ziemlich klar, dass ein früher Ruhestand verlockender gewesen wäre, als sich mit mir abgeben zu müssen. Zugegeben, ich war kein einfaches Kind wie meine beiden älteren Schwestern, aber trotzdem …

Als das Boot vor dem Ufer von Indigo Isle dahinglitt, erregte ein Licht, das durch die Bäume schien, meine Aufmerksamkeit. Ich war schon immer zu neugierig gewesen, als mir guttat, also umrundete ich die Insel und entdeckte auf der Westseite gegenüber den Salzwiesen einen kleinen Bootsanleger. Ein Boot hing im Bootslift, was darauf hindeutete, dass der Ort nicht völlig verlassen war. Ein Pfad führte durch die Baumgruppe gleich hinter dem Anleger. Ich legte an, sicherte das Boot und folgte dem Pfad, einen Teppich aus Laub und Kieselsteinen unter den Füßen.

Als ich in einen Garten kam, entdeckte ich die Lichtquelle: eine Solarlaterne auf einem klapprigen Tisch. Ein zerlesenes Buch ohne Einband und ein halb leeres Einmachglas standen daneben. Obwohl nicht zu übersehen war, dass jemand hier gewesen war, lag über dem Ganzen die gleiche Melancholie eines verlassenen Ortes wie am Tag zuvor. Ich nahm das Buch in die Hand und blätterte ein paar Seiten um, nicht wenig überrascht und beeindruckt, festzustellen, dass es sich um eine Ausgabe von Gullivers Reisen handelte. Die Ränder der Seiten waren beschrieben, aber in dem schummrigen Licht konnte ich die Wörter nicht erkennen.

Während ich durch die Seiten blätterte, hörte ich ein dumpfes Geräusch aus dem alten Gebäude zu meiner Rechten. Ich stand ganz still und lauschte für ein oder zwei Minuten, um zu sehen, ob jemand oder etwas zu mir in den Garten käme.

Aber außer einem leichten Windzug erschien nichts.

Ich legte das Buch auf den Tisch und spähte ins Innere des Gebäudes, um nach einem Lebenszeichen Ausschau zu halten, aber das tiefe Dunkel verriet nichts.

Ich ging ein paar Schritte hinein und rief: „Hallo?“

Einige Augenblicke vergingen, ohne dass eine Reaktion erfolgte. Kein Ton. Keine Bewegung. Nichts. Aber das Gefühl, beobachtet zu werden, ließ mir einen Schauer über den Nacken laufen. Ich fröstelte in der Dunkelheit und wandte mich zum Gehen.

Dann brach hinter mir der Teufel los und überrollte mich wie eine Monsterwelle.

Jemand – oder etwas – tauchte aus dem Nichts auf und brüllte wie ein wildes Tier.

Auf dem Weg aus dem Gebäude stieß ich mich irgendwo und ein stechender Schmerz durchzuckte mich, aber ich konnte nicht stehen bleiben, um zu sehen, ob ich mir den ganzen Oberschenkel aufgerissen hatte, weil wer oder was immer da geschrien hatte, mich auch verfolgte. Und zwar todsicher viel schneller, als ich rennen konnte. Ich schoss durch den Wald und der tollwütige Mann – ich vermutete, es war ein Mann – war mir dicht auf den Fersen. Tief hängende Äste schlugen gegen mich und Spinnweben verhedderten sich in meinem Haar, aber egal, ich rannte weiter, bis ich den Strand erreichte.

Meine Hand in die Seite gegen die Seitenstiche gepresst, machte ich mich auf einen Zusammenprall gefasst, aber er kam nicht. Nach Luft ringend schaute ich über meine Schulter, um zu sehen, wohin der Verfolger verschwunden war. Die ominöse Gestalt hatte am Rand der Bäume haltgemacht, als ob sie überlegte, was sie mit mir machen sollte. Ich stand wie erstarrt im Sand und konzentrierte mich darauf, wieder zu Atem zu kommen und nicht ohnmächtig zu werden, während ich beobachtete, wie ich beobachtet wurde. Das Gesicht der Gestalt war größtenteils unter der Kapuze eines Sweatshirts verborgen, aber ich schwöre, die Augen leuchteten so hell wie der Vollmond über mir.

Wir starrten uns gegenseitig an, bis ich blinzelte, und dann war plötzlich niemand mehr da. Wie Rauch im Wind verschwunden, bevor ich sicher sein konnte, dass überhaupt jemand hier existierte.

Ich lauschte angestrengt auf leiseste Anzeichen, dass jemand durch den Wald kam, aber außer dem Rauschen des Meeres und dem Klingen der Muscheln war nichts zu hören. Hatte ich mir das alles nur eingebildet? Mit wild klopfendem Herzen beschloss ich, nicht hierzubleiben, um es herauszufinden. Ich drehte mich zum Ufer um in der Erwartung, mein Boot zu sehen, aber ich erstarrte wieder, als ich nichts anderes sah als Schaumkronen, die wie Gespenster aufs Ufer zurollten, um dann mit der zurückflutenden Welle wieder im Meer zu verschwinden.

„Mist, Mist, Mist!“, rief ich, als mir klar wurde, dass ich Idiotin zum Strand und nicht zum kleinen Steg gelaufen war.

Es gab zwei Möglichkeiten: zurück durch die Bäume zu gehen und eine weitere Begegnung mit diesem wilden Etwas zu riskieren oder mich im Dunkeln am Ufer entlang rund um die Insel zu schleichen, was wahrscheinlich doppelt so lange dauern würde. Verwirrt und mehr als nur ein wenig verängstigt entschied ich mich für Letzteres.

Zurück im Motel überprüfte ich den Schaden an meinem Bein und war verblüfft, dass sich nur ein großer Bluterguss gebildet hatte. So stark, wie der Schmerz gewesen war, hatte ich erwartet, dass die Hälfte des Beins fehlen würde. Nachdem ich die Spinnweben und das überschüssige Adrenalin abgewaschen hatte, verkroch ich mich unter der Polyesterdecke wie ein verschrecktes kleines Mädchen.

In der Nacht träumte ich von unheimlichen Monstern, die mich verfolgten, und wälzte mich unruhig hin und her.

Das Tageslicht kam und brachte etwas Klarheit. Wer immer mich gejagt hatte, hatte genau das getan, nämlich mich verjagt, was bedeutete, dass er nicht die Absicht gehabt hatte, mich zu verletzen. Nachdem ich mich selbst davon überzeugt hatte, schob ich die kratzige Decke beiseite und beschloss, das zu tun, was ich am besten konnte: Informationen zu sammeln.

Der erste Halt war der Imbiss auf der anderen Straßenseite des Creek View Inn, der zufällig Creek View Diner hieß. Oder war das ironisch gemeint? Denn irgendeinen Bach hatte ich hier noch nirgends gesehen. Keine dieser der beiden Lokalitäten lag an irgendeinem Gewässer. Aber das war wohl egal, solange es dort starken Kaffee und anständige Maisgrütze gab, und das war der Fall.

„Ich habe seit über zehn Jahren keine Maisgrütze mehr gegessen“, sagte ich der Bedienung an der Frühstückstheke, während ich einen Klecks Butter in die Grütze rührte.

Die Frau mittleren Alters verzog das Gesicht. „Zehn Jahre? Ich komme nicht mal eine Woche ohne aus. Wie kann man im Süden leben und nicht regelmäßig Maisgrütze essen?“

„Ich lebe schon lange nicht mehr hier.“

„Das ist schade.“ Sie warf mir einen mitleidigen Blick zu, bevor sie den Tresen verließ, um Kaffee nachzuschenken.