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»Wenn du dich wirklich auf die Suche machst, dann kommt dir das Gesuchte entgegen.«
Alte spirituelle Weisheit
Sehnsucht und Spiritualität sind zwei Grundmotive des menschlichen Suchens und Ringens, denen Christoph Kreitmeir in seinem neuen Buch nachgeht. Die Sehnsucht bekommt in einer immer komplizierter werdenden Welt wieder neuen Auftrieb und viele Menschen suchen heute nach gangbaren Wegen persönlicher Spiritualität – innerhalb und außerhalb der Kirchen. Wer seiner Sehnsucht nach Spiritualität folgt und sich auf die Suche macht, dessen Leben wird stimmiger, ganzheitlicher und erfüllter. Zeugnisse heutiger Menschen füllen das Erzählte mit Leben.
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Seitenzahl: 309
Christoph Kreitmeir
SEHNSUCHT
Spiritualität
Gütersloher Verlagshaus
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Coverfoto: © Markus Häggberg
Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln
ISBN 978-3-641-14279-7V002
www.gtvh.de
»Sehnsucht und Spiritualität sind eng miteinander verbunden. Die Sehnsucht führt mich zur Spiritualität. In dem Maße, wie ich mich nach Gott sehne, kann er in meinem Leben wirksam werden.«
51-JÄHRIGE FACHÄRZTIN
»Wie gestaltet sich die Begegnung mit Gott? Er kommt ja nicht wie ein Gast, den ich in mein Wohnzimmer lasse und dem ich Kaffee und Kuchen serviere.
Er kommt in mein Herz. In meinem Herzen biete ich ihm einen Platz an. Solch einen kleinen Ort in meinem Herzen zu schaffen, ist gar nicht so schwer. Gott diesen kleinen Platz freizuräumen ist viel wert, doch man kann das mit Worten gar nicht richtig beschreiben.
Dieser Raum entsteht durch die Sehnsucht, die ich nach Gott aussende. Wenn ich mich auf ihn konzentriere, mich mit allen meinen Sinnen, mit Herz und Verstand auf ihn ausrichte, dann kommt er. Ich muss nicht einmal dabei beten, ich spüre nur, dass da etwas mit mir geschieht und ich fange zu lächeln an.«
46-JÄHRIGE HAUSHALTSHILFE
»War bisher der Verstand die einzige Instanz, der ich vertrauen konnte, erfahre ich nun, dass es etwas gibt, das weit über mich und meinen Verstandeshorizont hinausgeht, das zuverlässig da ist und auch spürbar, wenn ich mich darauf ausrichte, das auch mich selbst heller und kraftvoller sein lässt, wenn ich mich darauf einlasse. Das bedeutet eine große Entlastung – ich muss nicht alles allein schaffen!Es ist die Ahnung einer Zusage an mich entstanden, die ich noch nicht recht begreifen kann.«1Erfahrung einer bisher der Religion fernstehenden Frau, die »Wertimagination« als Weg zur »Dimension der Tiefe« (Paul Tillich) kennenlernte
Inhalt
Warum dieses Buch?Sehnen und SuchenSehnsucht und SuchtSehnsucht und Spiritualität in der deutschen RomantikSpuren der Sehnsucht in heutiger ZeitSehnsucht – ein unstillbares Gefühl und ein schlafender RieseArten der SehnsuchtDie Psychologie der SehnsuchtSehnsucht als Sprache der Seele und Stimme des HerzensInnere Wege zur Sehnsucht und SpiritualitätWünsche(n)PhantasiereisenTräumeTagträumeAktive ImaginationWertimagination – ein existenzieller Weg zu Sehnsucht, Spiritualität und SinnSehnsucht (nach) SpiritualitätLiteraturverzeichnis
Anmerkungen
1. Warum dieses Buch?
»Die Seele ist wie ein Wind, der über die Kräuter weht,
und wie ein Tau, der auf die Gräser träufelt,
und wie die Regenluft, die wachsen macht.
Genau so ströme der Mensch sein Wohlwollen aus
auf alle, die da Sehnsucht tragen.
Ein Wind sei er, indem er den Elenden hilft,
ein Tau, indem er die Verlassenen tröstet,
und Regenluft, indem er die Ermatteten aufrichtet
und sie mit der Lehre erfüllt wie Hungernde:
indem er ihnen seine Seele hingibt.«2
HILDEGARD VON BINGEN
Sehnsucht ist heute zu einem Zauberwort geworden, das müde Materialisten neu aufhorchen lässt. Hier schwingt Leben, Weite, Seindürfen, Einfachheit, Phantasie und Romantik mit. Sehnsucht zeigt sich in Blautönen und sphärischer Musik, so wie es die Stadt Nürnberg Anfang Mai 2014 in ihrer »Blauen Nacht 2014« zum Thema machte. Gut 130 000 Besucherinnen und Besucher aus Deutschland, Österreich, den Niederlanden und sogar den USA flanierten durch die in blaues Licht gehüllte abendliche Altstadt und erlebten Sehnsucht pur. Mit »Sehnsucht« wurde ein Thema aufgegriffen, das Menschen von heute neu und auf existenzielle Weise anspricht. »Die genannten Persönlichkeiten waren alle von einem starken Willen, etwas Neues zu entdecken, ›über den Tellerrand zu schauen‹, in die Ferne zu reisen, zu forschen, zu erfinden, von der Sehnsucht nach Freiheit erfüllt.«3 Sehnsucht will Verlorenes, Verschüttetes in uns wieder lebendig werden lassen. Sehnsucht baut Brücken zu dem, was wir wirklich brauchen beziehungsweise verloren haben, und zur Geistigkeit des Menschen, die sich in Spiritualität verschiedenster Ausprägungen zeigt.
Sehnsucht und Spiritualität sind zwei entscheidende Grundmotive menschlichen Suchens und Strebens, die in der heutigen Zeit viele Zeitgenossen wieder stärker bewegen. Die Sehnsucht nach Stabilität in einer durchgewirbelten Welt, die Sehnsucht nach Kreativität als Antwort auf funktionalisierte Abläufe, die Sehnsucht nach echter Partnerschaft als Gegenpol zu Unverbindlichkeit und »Lebensabschnittsgefährtentum«, die Sehnsucht nach Erfahrung und das Spüren von Spiritualität als Kontrast zu institutionalisiertem Glauben und Kirche. Die Sehnsucht nach GOTT in einer oft so gottlos erfahrenen Welt – alle diese Sehnsüchte – und noch einige mehr – nehmen in den letzten Jahren eindeutig zu und auch ich spüre dies in mir.
Als Seelsorger und Lebensberater begegnet mir in vielen Gesprächen mit ratsuchenden Menschen das Grundgefühl der Sehnsucht. Viele Menschen ahnen einen »Mehrwert« in ihrem Leben und können ihn nicht finden. Dieser gespürte Mehrwert ihres Lebens tangiert Gefühle der Wehmut, der Melancholie, der Sehnsucht. »Ach, wenn ich nur wüsste, was mir fehlt, wenn ich es nur finden könnte, was mich innerlich traurig, aber auch unruhig-suchend macht.« Nicht wenige Menschen ahnen auch, dass dies nicht nur mit Liebe, Freiheit, Lebendigkeit u.v.m. zu tun hat, sondern auch mit etwas, das »Gott« genannt wird. Viele Menschen suchen nach Gott und können ihn nicht finden.
Und doch erleben wir Menschen manchmal Situationen, wo wir ganz stimmig, ganz mit uns, mit der Welt, mit unserem Leben in Verbindung sind. Solche besonderen Momente begegnen uns beim Frischverliebtsein oder im achtsamen Erleben der Wunder des Alltags. So schreibt zum Beispiel der bengalische Dichter Rabindranath Tagore (1861–1941) folgende Sätze, die uns aufhorchen lassen, weil wir deren Wahrheitsgehalt ahnen: »Über viele Jahre unter großen Kosten reiste ich durch viele Länder, sah die hohen Berge, die Ozeane. Nur was ich nicht sah, war der glitzernde Tautropfen im Gras gleich vor meiner Tür.«4
Wir alle kennen sie, diese Situationen, wo wir »fast wie im Paradies sind«, weil wir in der Natur, beim geliebten Menschen, im selbstvergessenen Versinken in eine Tätigkeit, in der Meditation … glücklich sind. Solche Erlebnisse vergessen wir nie wieder, solche Erfahrungen lassen in uns die »Sehnsucht nach mehr« wach und lebendig werden.
Wer zum Beispiel fröhlich und mit Hingabe in einer Tätigkeit aufgeht, empfindet tiefes Glück, ein freudiges und selbstvergessenes Einssein mit sich, mit der Umwelt, mit der Natur, mit Gott. Der US-Amerikaner ungarischer Herkunft und emeritierte Psychologieprofessor Mihály Csikszentmihály (geboren 1934) entdeckte das Geheimnis echten Glücks, das er »Flow«5 nennt. Dies ist ein Zustand, in dem man sich ganz gegenwärtig fühlt. Man ist eins mit der Welt und dem Leben. Im Bewusstsein herrscht Ordnung. Innerer Friede, Zufriedenheit und Glück breiten sich aus.
Natürlich habe ich auch persönliche Gründe, mich mit Sehnsucht und Spiritualität zu beschäftigen. Vor gut 30 Jahren – ich war ein junger Mann von 22 Jahren – fand ich nach längerem und teils schwerem Suchen eine neue Heimat in der Spiritualität des Heiligen Franz von Assisi und trat dem Franziskanerorden bei. Viel Zeit ist ins Land gegangen. Ausbildungen, verschiedene Arbeitsfelder in der Seelsorge, Höhen und Tiefen des Lebens, nicht selten nüchterner Alltag eines vielbeschäftigten Menschen in moderner Zeit. Ab und an und immer wieder rührt sich aber ein Gefühl der Wehmut und der Sehnsucht, das mich zum Eigentlichen meines Lebens, auch meines religiösen Lebens (zurück)führen will. Was wollte ich einmal? Warum habe ich damals diesen Weg eingeschlagen? Warum bin ich geblieben?
Solche Fragen kennen alle Menschen, die innerlich und äußerlich lebendig bleiben und lebendig werden wollen. Solche Fragen sind notwendig und helfen, Haltungen wie Freude, Dankbarkeit, Liebe und Sinnhaftigkeit zu spüren und zu leben. Sie betreffen Lebensentwürfe, Lebensentscheidungen, Partnerschaften und vieles mehr. Nach dem Wiener Psychiater und Begründer der Logotherapie und Existenzanalyse Viktor E. Frankl (1905–1997) ist der Mensch immer ein vom Leben Befragter. Normalerweise stellen wir dem Leben unsere Fragen und bekommen dann mehr oder weniger befriedigende Antworten. Frankl dreht dieses Fragen um: »Das Leben selbst ist es, das dem Menschen Fragen stellt. Er hat nicht zu fragen, er ist vielmehr der vom Leben her Befragte, der dem Leben zu antworten – das Leben zu verantworten hat.«6 Und damit wandelt sich der einen Ruf nach Sinn hörende Mensch vom Fragenden zum Hörenden, der dann seine bestmögliche und authentische Antwort geben kann und soll.
Letztes Jahr erreichte mich im Urlaub wieder so ein innerer Ruf nach Sinn, der bis heute anhält. Ich war mit Freunden mehrere Tage in einer Sehnsuchtsstadt, wo ich schon seit Jahren hinwollte: in Istanbul. Viel durfte ich dort erleben, Eindrücke und Erfahrungen einer anderen Welt genießen. Zu einem »Muss« bei der Besichtigung dieser Stadt gehört auch das Miterleben des »Tanzes der Derwische«. Diese mystische Drehbewegung der Sufis im Islam entwickelte im Laufe der Jahrhunderte eine Art spirituellen Tanz, bei dem die Tänzer sich in Gott versenken können.
Da dies bei Touristen sehr beliebt ist, wird es überall angeboten, auch in vielen Hotels und Touristentreffpunkten. Meinen Freunden und mir war klar, dass wir so etwas miterleben wollten, aber nicht als Touristennepp. Als wir also wieder einmal auf Tour waren, wurden wir wie so oft als Touristen auf der Straße erkannt und angesprochen. Meist nahmen wir die Werbeflyer gar nicht mehr an. Auch diesmal nicht, aber … eine Stimme in mir ließ mich zum Anbieter zurückkehren und mir das Angebot genauer erklären. Ein Tanz der Derwische wurde bei einem türkischen Kulturverein irgendwo in einer verwinkelten Straße Istanbuls angeboten. Ich nahm den Flyer an mich und wir entschieden dann, dorthin zu gehen. Gott sei Dank haben wir das gemacht, denn diese Erfahrung gab meiner unterschwelligen Sehnsucht nach Spiritualität, meiner Sehnsucht nach Gott, neue Nahrung. Die Stimme in mir war wohl die Stimme der Sehnsucht und wahrscheinlich auch ein »Wink des Himmels«.
Beim Kulturverein angekommen, fanden wir eine nüchterne, ja fast heruntergekommene Einrichtung vor, wo wir aber sehr freundlich begrüßt wurden. Wenige Besucher fanden sich ein. Als dann die Musiker begannen, für unsere westlichen Ohren so fremde orientalische Lieder zu spielen, war ich schon seltsam berührt. Als dann vier Sufi-Mönche kamen und nach einem bestimmten Ritus ihren schwarzen Mantel ablegten (dies bedeutet soviel wie das Ablegen des Ego) wurde ich ganz Aug und Ohr. Auch meine Freunde waren seltsam berührt. In weißer Kleidung (als Sinnbild für die reine Seele), die unter dem schwarzen Mantel erschien, waren diese Männer ganz in sich versunken. Die Männer interessierten sich nicht für die Besucher und Touristen, sie begannen für sich und für Gott nach bestimmten Abläufen zu der eigenartig anmutenden Musik zu tanzen. Ein junger Mönch von Anfang zwanzig fiel mir dabei besonders auf. Sein Ausdruck, sein Tanz, seine Bewegungen waren so stimmig, so intensiv, so echt: Ich konnte meinen Blick gar nicht mehr von ihm abwenden. Innerlich sehr berührt folgte ich dem Geschehen. Was durfte ich da erleben?
Ein junger Mensch lebt die Hingabe, die Hingabe an die Musik, den Tanz, die Hingabe an seine Religion, die Hingabe an Gott. Und dies rührte an meiner Sehnsucht… Ich hatte als junger Mann, als junger Franziskaner doch auch einmal so eine liebende Hingabe gespürt, gelebt und ausgedrückt. Wo ist sie geblieben? Vor meinem äußeren Auge tanzen die Liebe und die Hingabe an Gott, in meinem Inneren werde ich davon berührt und spüre Wehmut und Sehnsucht und mir laufen Tränen über das Gesicht. Wehmut, weil ich so etwas wie eine junge Liebe zu Gott in meinem christlichen Glauben auch schon leben und erleben durfte, diese aber mit der Zeit nüchterner wurde. Sehnsucht, weil ich so etwas wieder erleben will.
Bis in die frühen Morgenstunden tauschte ich mich mit meinen Freunden über das Erlebte aus und noch Tage später redeten wir immer wieder darüber, denn auch sie waren innerlich bewegt worden.
Sehnsucht zeigt sich als eine oft unbewusst schlafende Macht im Menschen, die geweckt und fruchtbar gemacht werden will. Wer sich seinen Sehnsüchten stellt, dem werden sich neue Wege der Kraft, der Freude und der Lebendigkeit erschließen. Das Leben wird stimmiger, ganzheitlicher und erfüllender. Flow (Glück) kann erlebt werden.
In diesem Buch will ich den verschiedenen Arten der Sehnsucht auf die Spur kommen, ich will dieses »ehrlichste Gefühl des Menschen« (Ernst Bloch) ausloten und nach Wegen suchen, die Sehnsucht wieder lebendig werden zu lassen.
Wer seiner Sehnsucht und Spiritualität auf den Grund kommt, entdeckt dabei das grundlegende Programm menschlichen Lebens und seiner eigenen Identität. Der Mensch wird zufriedener, glücklicher, ruhiger. UND: Er erfährt dabei, dass es Gott wirklich gibt. ER will gefunden werden. Dieser Gott, an den ich glaube, hat mir und allen Menschen eine Stimme ins Herz gelegt, die immer wieder neu zur Suche nach ihm aufruft: die Stimme der Sehnsucht.
Bei der Arbeit am Buch habe ich auch Zeugnisse von heutigen Menschen in Bezug auf Sehnsucht und Spiritualität mit aufgenommen, um den Inhalt des Gelesenen zu verlebendigen. Auch wenn Menschen oft recht unterschiedlich sind, so sind wir alle doch in bestimmten Grundempfindungen miteinander verbunden. Die Sehnsucht und in irgendeiner Weise auch die Suche nach Gott gehören zu diesen Grundprogrammen der menschlichen Natur. Die Wege der Sehnsucht und / oder der Gottessuche sind dabei oft verzwickt, verschlungen, schmerzhaft, aber auch beglückend, energetisierend und heilend. So fühle ich mich mit sehr vielen Menschen verbunden auf der Suche nach tieferem Leben, wie es auch mein Ordensvater Franz von Assisi tat, der sich geschwisterlich mit den Menschen und der gesamten Schöpfung verbunden sah.
In diesem Buch werden Sie Zitate zu allen möglichen Themenbereichen finden. Dies habe ich vor allem auch deswegen gemacht, weil ich weiß, dass viele Leser und Leserinnen zu dem einen oder anderen Punkt sich noch genauer informieren möchten. Die Quellen- und Literaturangaben wollen hierbei behilflich sein. Wer dieses Buch als E-Book liest, wird sogar durch Anklicken der Literaturangaben aus dem Internet gleich mit den »Ursprungsquellen« verbunden werden.
Hermann Hesse sah seine Aufgabe als Dichter darin, nicht Wege aufzuzeigen, sondern Sehnsucht zu wecken. In einem seiner Gedichte bringt er für mich die verschlungenen Wege der Sehnsucht und der Gottessuche in wunderbare Worte:
Oft ist das Leben lauter Licht
und funkelt freudefarben
und lacht und fragt nach denen nicht,
die litten, die verdarben.
Doch immer ist mein Herz bei denen,
die Leid verhehlen
und sich am Abend voller Sehnen
zu weinen in die Kammer stehlen.
So viele Menschen weiß ich,
die irren leidbeklommen,
all ihre Seelen heiß ich
mir Brüder und willkommen.
Gebückt auf nasse Hände
weiß ich sie abends weinen,
sie sehen dunkle Wände
und keine Lichter scheinen.
Doch tragen sie verborgen,
verirrt, und wissen’s nicht,
durch Finsternis und Sorgen
der Liebe süßes Licht.7
Verborgen und oft unbewusst tragen wir in uns neben »der Liebe süßem Licht« lebensfördernde Grundkräfte der Sehnsucht und der Spiritualität. Die Romantik ist in eine von Funktionalität bestimmte Welt zurückgekehrt und zeigt sich in einer Lebendigkeit mit neuem Gewand, die staunen lässt.
Sehnsucht ist wie ein schlafender Riese, der zunehmend neu entdeckt und aufgeweckt wird. Die Psychologie und die Medizin, die Philosophie und die Theologie entdecken die Sehnsucht neu und staunen über ihre Kraft. Sehnsucht will uns zu uns selbst, zu inneren tragenden Werten, zueinander, zu mehr Achtsamkeit und Lebendigkeit und zur Suche nach dem Grund von allem (Gott und Spiritualität) führen. Die Wege sind in einer säkularen Gesellschaft hierbei vielfältig und weisen doch auf Grundlegendes hin: Wer bin ich? Was will ich? Wie kann ich gut leben? Worin liegt der Sinn meines Lebens? Gibt es Gott? Was ist das Leben und was kommt danach?
Ich möchte Sie zu einer Reise ins Land der Sehnsucht und der Spiritualität einladen, die Sie verändern wird. Diese Reise wird von außen nach innen führen, sie wird viel Erkenntnis mit sich bringen und vor allem wird sie uns mit uns selbst und dem, was alles im Innersten zusammenhält, in Kontakt bringen.
Seit vielen Jahren begleitet mich ein geistlicher Spruch, der mich nicht mehr loslässt. Im Laufe der Zeit habe ich auf vielfältige Weise für mich selbst und auch in meiner Arbeit mit Menschen erfahren dürfen, dass sein Inhalt wahr ist: »Wenn du dich wirklich auf die Suche machst, dann kommt dir das Gesuchte entgegen.«
2. Sehnen und Suchen
»Kein Sehnen bleibt unerfüllt. … Das Leben besteht nicht aus Wohlbefinden, sondern aus Suchen und Streben.«
KHALIL GIBRAN
Nach Nelly Sachs »beginnt« alles »mit der Sehnsucht«. Jeder von uns kennt sie wohl in irgendeiner Gestalt. Bilder, Gerüche, Klänge, Bücher, Filme oder Gedichte können Sehnsucht auslösen. Ein 48-jähriger Geisteswissenschaftler (verheiratet, katholisch) schreibt:
Meine Gedanken zum Stichwort ›Sehnsucht‹ niederzuschreiben, fällt mir schwer. Da tun sich in mir sofort Abgründe auf. Sehnsucht ist ein ganz wunder Punkt in meinem Leben. Manchmal reicht ein Lied im Radio oder ein gehörter Satz und meine Sehnsüchte brechen in mir auf wie ein Vulkan. Oft kommen mir dann spontan Tränen in die Augen. Da ist vor allem eine wirklich abgrundtiefe Sehnsucht nach Liebe, Wärme, Geborgenheit und Angenommensein in mir. Woher diese rührt, kann ich nur erahnen, wirklich ergründen werde ich es wohl nie. Vielleicht haben mir meine Eltern, insbesondere meine Mutter, das nötige Quantum an Liebe nicht zukommen lassen. Möglicherweise spielt auch meine Internatsvergangenheit eine Rolle. Jedenfalls steckt diese Sehnsucht so abgrundtief in mir drin, dass sie viele Entscheidungen meines Lebens – ob bewusst oder unbewusst – erheblich beeinflusst hat. Sicherlich hat sie auch dazu beigetragen, dass ich falsche Entscheidungen getroffen habe. Es ist mir bislang nicht geglückt, diese Sehnsucht zu stillen, auch nach 20 Jahren Ehe nicht. Möglicherweise ist ein einzelner Mensch bzw. Partner damit auch überfordert. Ich fürchte insgeheim, ich werde diese Sehnsucht mit ins Grab nehmen. Darunter leide ich sehr. Vielleicht wird es wirklich einmal erst Gott selbst sein, der diese Sehnsucht erfüllt – wer weiß?
Die letzten Sätze dieser Schilderung klingen eher resignativ und zeigen eine Seite der Sehnsucht: Sie »ist eine ›geträumte‹ Lösung für unsere ungelösten Lebensthemen und Probleme und ein bittersüßes Gefühl, da sie von intensiven Wunschvorstellungen begleitet wird, die oft unerreichbar bleiben. Bleiben diese Wunschvorstellungen tatsächlich unerreichbar, nach denen wir uns sehnen, kann Sehnsucht auch sehr wehtun«.8 Dies wusste schon Goethe, als er im »Wilhelm Meister« schrieb: »Nur wer die Sehnsucht kennt, weiß, was ich leide!«
Diesen Leidensaspekt der Sehnsucht findet man auch im 32-bändigen »Deutschen Wörterbuch«, begonnen 1838 von den Gebrüdern Grimm und 1961 von anderen Autoren vollendet. Bis heute spricht man dabei vom größten und umfassendsten Wörterbuch der deutschen Sprache. Dort wird das Wort »Sehnsucht« aus dem mittelhochdeutschen Wort »sensuht« hergeleitet, was so viel bedeutet wie »Krankheit des schmerzlichen Verlangens«, was sogar zu einer Art »Siechtum« führen kann. Sie wird als »ein inniges Verlangen nach einer Person, einer Sache, einem Zustand oder einer Zeitspanne, die/den man liebt oder begehrt (angenommen). Sie ist mit dem schmerzhaften Gefühl verbunden, den Gegenstand der Sehnsucht nicht erreichen zu können«.9
Das mittelhochdeutsche »suochen« und das althochdeutsche »suohhen« meinen grundsätzlich ein suchendes Nachgehen und Nachspüren, ein »sich Bewegen«, etwas im Blick haben, auf etwas anderes oder jemand anderen bezogen sein.10 Hier zeigt sich schon die tiefere Bedeutung des »Suchens«: Der Suchende ist immer auf etwas außerhalb seiner selbst ausgerichtet. Die Psychologie nennt dies »Selbstranszendenz«, die Theologie »Transzendenz«.
Das Sehnen vor dem Suchen im Wort »Sehn-Sucht« lässt sich über das mittelhochdeutsche »senen« (schmachtend verlangen oder sich grämen) bis auf das althochdeutsche »senén« (kraft-, lustlos sein) zurückverfolgen.11 »Wenn es doch nur anders wäre, als es ist« steht hinter dem Sehnen. Ein starkes gefühlsmäßiges Verlangen mit dem gleichzeitigen Wunsch nach Veränderung, nach baldiger Veränderung drückt das Sehnen aus. Der Romantiker Matthias Claudius formulierte dieses Gefühl sehr ansprechend in folgendem Gedicht:
Dann saget unterm Himmelszelt
Mein Herz mir in der Brust:
Es gibt was Bessers in der Welt
Als all ihr Schmerz und Lust.
Ich werf’ mich auf mein Lager hin
Und liege lange wach
Ich suche es in meinem Sinn
Und sehne mich danach.12
Die Auseinandersetzung mit der je eigenen Sehnsucht hat aber auch eine andere Seite, die eine wichtige Aufgabe erfüllt: Sehnsucht kann dem Menschen dabei helfen, mit seinem unvollkommenen Leben, der eigenen Unfertigkeit, den Verlusten und dem nicht perfekten Leben umzugehen. Gleichzeitig kann sie dem Leben eine Richtung geben und dabei helfen, sich Ziele in den verschiedenen Lebensbereichen und Lebensabschnitten zu setzen, wenn der richtige Zeitpunkt dafür gekommen ist.
Folgende Zeilen einer 48-jährigen selbstständigen Geschäftsfrau (geschieden, katholisch) können so einen richtigen Zeitpunkt beschreiben, die verstaubte Kiste der Sehnsucht wiederzufinden und zu öffnen:
Lange hatte ich mir schon vorgenommen, den Dachboden zu entrümpeln. Vieles wurde dort abgestellt und einiges liegt dort schon viele Jahrzehnte. Wie ich so aufräume, finde ich einen kleinen Karton. Ich öffne ihn. Ich werde ganz still, denn ich schaue auf Spielsachen, die mir meine Kindheit wieder präsent werden lassen – mit all meinen Gefühlen, Wünschen und Sehnsüchten. Ich spüre meine Unbekümmertheit, meine Freude, meine Neugier (auf das »Erwachsenwerden« und auf »das Leben als Erwachsener«). Eine kleine Krone ist auch dabei. Ich setze sie auf und sehe mich im Spiegel an. Ich spüre, dass ich immer noch die gleiche bin, ich sehe in meinem Gesicht die Spuren des Alters. Ja, mein Alter ist nicht zu übersehen. Bin absolut kein Kind mehr.
Und wie sieht es aus mit meinen Sehnsüchten? Haben die sich verändert? Einige Sehnsüchte meiner Kindheit sind erfüllt worden und das ist heute ein gutes Gefühl. Ich denke an meine beiden Kinder, die ich mir gewünscht habe. Mit meiner Ehe ist es nicht so glücklich gelaufen, wir mussten uns trennen. Meinen Traumberuf habe ich nicht verwirklicht, aber mein heutiger Beruf erfüllt mich und ich arbeite gerne.
Ich habe Freude, Leid, Glück, Trauer, Frieden, Schmerz, Leichtigkeit, Angst, Mut, und Einsamkeit erlebt. Heute verstehe ich diese Zustände. Das Leben verstehen lernen, indem man durch das Leben geht. Es ist Entwicklung.
In mir spüre ich noch immer die tiefe Sehnsucht nach Frieden, Freude und Liebe. Frieden für mich, für meine Familie, meine Freunde … für die ganze Welt. Ein Satz aus der Bibel begleitet mich ebenso seit meiner Kindheit: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.«
Ohne Liebe kann es keinen Frieden geben. »… wie dich selbst« … Die gesunde selbstbewusste Selbstliebe ist für mich wichtig geworden: seine eigene Seele wahrzunehmen, sich Raum zu geben, sich Zeit zu nehmen, sich selbst zuzuhören. Und wenn ich dies tue, weiß ich genau, was ich brauche, was ich Neues beginne, was mir gut tut, ich weiß meinen Weg. Somit kann sich wieder Frieden, Freude und Liebe in mir und dadurch auch um mich herum entfalten.
Diese Frau lebt die »Spannung der Sehnsucht«, diesen Zwischenraum zwischen »Schon jetzt und noch nicht«. Dies ist die andere, die produktive Seite der Sehnsucht, die Kraft, diese Spannung und die oft daraus erwachsenden Spannungen auszuhalten, sie nicht abzuschütteln, dagegen anzukämpfen oder sich mit Vorläufigem zufriedenzugeben. Das Leben in Spannung macht echtes Leben aus. Hier nur ein paar Beispiele:
Ebbe und Flut, der Gezeitenwechsel, genauso wie der Wechsel von Tag und Nacht oder der Jahreszeiten bestimmen die Rhythmen allen Lebens.
Unsere Muskeln und Sehnen (interessante Ähnlichkeit mit dem Verb »Sehnen«) zeigen es: Die Abwechslung zwischen Anspannung und Entspannung bringt Bewegung hervor.
Unsere Atmung zeigt es: Der Wechsel zwischen Ein- und Ausatmung bringt Lebensatem in uns und lässt verbrauchte Luft entweichen.
Pfeil und Bogen zeigen es: Ein Pfeil kann nur von einem gespannten Bogen kraftvoll in ein Ziel gelenkt werden.
Die Saiteninstrumente zeugen davon: Nur richtig gespannte und angespannte Saiten einer Geige, eines Cellos oder eines Kontrabasses können durch Streichen oder Zupfen harmonische Töne hervorbringen.
Viele Menschen neigen dazu, diese Spannung nicht ertragen zu können, und geben sich mit Vorläufigem zufrieden, was aber nicht zur inneren Zufriedenheit führen kann. Beliebte innere Haltungen zeigen sich in Formulierungen wie »Eigentlich sollte man …« oder »Man müsste mal wieder …« oder »Schön wäre es, wenn …«. Getan wird es aber sehr selten und somit bleibt der innere seelische Impuls ohne Wirkung, der Betreffende tritt auf der Stelle, begnügt sich mit Ersatzbefriedigungen und begnügt sich doch nicht damit, denn die Sehnsucht schwelt weiter im Untergrund.
Die Dichterin Mascha Kaléko (1907–1975) kleidet dieses »Traurige-immer-im-selben-Trott-Traben« in schöne Worte:
Einmal sollte man
Einmal sollte man seine Siebensachen
Fortrollen aus diesen glatten Gleisen
Man müsste sich aus dem Staube machen
Und früh am Morgen unbekannt verreisen.
Man sollte nicht mehr pünktlich wie bisher
Um acht Uhr zehn den Omnibus besteigen.
Man müsste sich zu Baum und Gräsern neigen,
Als ob das immer so gewesen wär.
Man sollte sich nie mehr mit Konferenzen,
Prozenten oder Aktenstaub befassen.
Man müsste Konfession und Stand verlassen
Und eines schönen Tages das Leben schwänzen.
Es gibt beinahe überall Natur,
– Man darf sich nur nicht sehr um sie bemühen –
Und so viel Wiesen, die trotz Sonntagstour
Auch werktags unbekümmert weiterblühen.
Man trabt so traurig mit in diesem Trott.
Die andern aber finden, dass man müsste …
Es ist fast, als stünd man beim lieben Gott
Allein auf der schwarzen Liste.
Man zog einst ein Lebenslos ›zweiter Wahl‹.
Die Weckeruhr rasselt. Der Plan wird verschoben.
Behutsam verpackt man sein kleines Ideal.
– Einmal aber sollte man … (Siehe oben !)13
Wer »einmal aber sollte man« fühlt, denkt und danach handelt, besser gesagt nicht handelt, der begibt sich so nach und nach in den »Teufelskreis« verratener Sehnsucht, wie Mascha Kaléko mit den Worten »Siehe oben!« ausdrückt. Das Leben findet auf Sparflamme statt, anstatt zu einem Feuer zu werden.
3. Sehnsucht und Sucht
»Reich wird man erst durch Dinge,
die man nicht begehrt.«
MAHATMA GANDHI
Landauf landab kann man der Meinung begegnen, dass »Sehnsucht« mit »Sucht« verwandt ist und dass hinter jeder Sucht eine irregeleitete Sehnsucht steht. Niccolò Machiavelli brachte diese Meinung in folgende Worte: »Süchte sind entgleiste Sehnsüchte des Menschen in seiner Suche nach Vollkommenheit und Glück.« Das Wort Sehn-Sucht kann wirklich dazu verleiten, diesen Zusammenhang zu sehen, er ist aber von der ursprünglichen Wortbedeutung eindeutig nicht gegeben. Das Wort »Sucht« – germanisch »suhti«, althochdeutsch »suht« oder »suft« und mittelhochdeutsch »suht« – geht auf »siechen« (althochdeutsch »siuchan« und mittelhochdeutsch »siechen«) zurück, das Leiden einer Krankheit. Es ist also nicht mit dem Wort »suchen« (wie oben beschrieben) verwandt.
Auf existenzieller Ebene gibt es aber sehr wohl den Zusammenhang zwischen missachteter Sehnsucht und der Tendenz, irgendetwas anderes als Platzhalter an deren Stelle zu setzen. Sucht kann eine Ausrede sein, nichts Neues zu beginnen, zu verharren, sich mit Ersatzbefriedigungen materieller, psychischer, mentaler oder spiritueller Art zu begnügen. Da die Ersatzbefriedigung aber keine Sehnsucht stillen kann, will sie immer mehr und kann in der Tat zu süchtigem Verhalten führen. »Die Sucht hat viele Gesichter, doch nur einen Grund: Mangel an Sinn, also das Gefühl, nicht von Lebenswichtigem ausgefüllt zu sein.«14 Der hilflose Umgang mit der Sehnsucht also muss nicht, kann aber zu süchtigem Verhalten führen, das durch eine »Sehnsuchtsindustrie« gezielt geschürt und ausgenutzt wird.
Nicht wenige Menschen haben im Laufe ihres Lebens ihre Sehnsucht entweder nie richtig kennengelernt, vergraben, betäubt, versteckt oder unter den Ascheschichten der Resignation, der Hilflosigkeit oder der Scham die Glut der Sehnsucht aus den Augen verloren. »Manche Menschen machen sich gefühllos, andere betäuben sich mit Ersatzhandlungen wie zerstörerischer Aggressivität oder mit Alkoholkonsum. Einige tauschen die Sehnsucht in andere Gefühle um. Wieder andere begraben die Sehnsucht so tief, dass sie vergessen, dass es sie je gegeben hat. Sehnsucht ist für sie etwas, was in schmalzige Romane oder kitschige Fernsehserien gehört, aber nicht ins Leben.«15
Man kann im Leben zwar viel schaffen und erreichen, ohne einen Bezug zu den seelischen Quellen seiner Sehnsucht zu haben, so ein Leben wird auf Dauer aber leer, ohne Perspektive und tieferen Sinn, ein Getriebensein, ein Sich-drehen-im-Hamsterrad mit der Gefahr, innerlich und äußerlich auszubrennen. Häufig wird dann versucht, diesen unglücklichen Zustand mit falschen Tröstern zuzudecken. Wie sagte Wilhelm Busch einmal sehr richtig: »Wer Sorgen hat, hat auch Likör.« Für den Likör können auch viele andere Mittel und Handlungen stehen, deren Gefahr im Abhängigwerden liegt.
Die Verbindung zwischen »Sucht« und »Sehnsucht« liegt im Verlangen und in einer großen Intensität.
Die Sucht zeigt sich starr, zwanghaft, unbeweglich und auf ein Suchtmittel oder ein Suchtverhalten fixiert. Sie vermeidet die Auseinandersetzung mit Tieferliegendem, mit innerer Leere, Angst, Schmerz, sie wird abhängig und bildet so nach und nach ein Gefängnis der Unfreiheit. Sucht bleibt unfähig, den eigenen Horizont zu überschreiten. Sucht ist eine Krankheit und führt zur Bewusstseinstrübung. Sucht ist ein Verhalten, das eine Anpassung an die Realität vorgaukelt. Sie versucht, »eine unüberbrückbar scheinende Diskrepanz zwischen Selbstbild und phantasierten oder tatsächlichen Anforderungen der Außenwelt mit untauglichen Mitteln zu kompensieren«.16 Der Süchtige bleibt trotz Gabe des Suchtmittels unzufrieden und benötigt immer mehr davon. Dabei verändert die sich entwickelnde Sucht den Menschen in seiner Persönlichkeit und zerstört innere Werthorizonte.
Die Sehnsucht ist ein Grundgefühl der Seele und somit keine Krankheit, sondern ein den Menschen bewegendes, emotional bereicherndes Gedanken- und Gefühlserleben. Tiefes Verlangen und das Überschreiten des eigenen Horizontes zeichnen sie aus. Sie führt den Menschen über sich hinaus zu etwas Weiterem, als er selbst ist, ins Werden. Sie drängt dazu, über das Bisherige und Vorgegebene hinauszugehen. Die Sehnsucht ist lebendig und beweglich. Sehnsucht zeigt sich im Gegensatz zur Süchtigkeit als nicht ausufernd, führt zu keiner Verfälschung innerer Gewissensinstanzen und zu keiner Deformierung der Persönlichkeit. Ohne Sehnsucht treten Ernüchterung, Stillstand, Langeweile, Vereinsamung und Sinnlosigkeit ins menschliche Leben.
Die Züricher Psychologin und Sehnsuchtsforscherin Alexandra Freund kommt nach langen Studien über die Sehnsucht zu folgendem Ergebnis: »Wir können sagen, dass dieses Gefühl mit der Sucht, wie sie in der klinischen Psychologie definiert wird, nichts zu tun hat.«17 Die Erkenntnisse von Frau Freund und anderen psychologischen Sehnsuchtsforschern werde ich im Punkt »Psychologie der Sehnsucht« noch genauer beschreiben.
Der amerikanische Franziskaner und weltweit bekannte spirituelle Autor Richard Rohr arbeitete in seinem Buch »Zwölf Schritte der Heilung. Gesundheit und Spiritualität« interessante Verbindungen zwischen dem Zwölf-Schritte-Programm der Anonymen Alkoholiker18 und der spirituellen Sehnsucht nach Ganzheit, Gesundung und Heilung heraus. Wie zuvor schon der amerikanische Psychiater und Theologe Gerald May in seinem Buch »Sehnsucht, Sucht und Gnade« Zusammenhänge zwischen Sucht und Sehnsucht fand, so bringt Richard Rohr dies auf folgenden Punkt: »Abhängigkeit ist eine spirituelle Krankheit, ein Leiden der Seele, eine Erkrankung, die aus einem sehnsüchtigen, frustrierten Begehren resultiert, und aus tiefer Unzufriedenheit – also genau aus den Gründen, die notwendig am Anfang jedes spirituellen Weges stehen.«19 Natürlich gibt es noch andere Zusammenhänge zum Beispiel körperlicher, seelischer oder soziologischer Art bei der Entstehung von Abhängigkeiten. Die Anonymen Alkoholiker sind mit ihrem Zwölf-Schritte-Programm deshalb so erfolgreich, weil sie die »Abhängigkeit sowohl spirituell als auch als Krankheit behandeln und nicht als moralisches Scheitern oder eine Frage der reinen Willenskraft. … Das Zwölf-Schritte-Programm hat mit der Zeit gelernt, dass Abhängigkeit aus einem Mangel an innerem Erleben von Intimität mit uns selbst, mit Gott, mit dem Leben und mit dem Augenblick entsteht.«20
In Deutschland gibt es seit 2005 interessanterweise eine Stiftung, die sich den Namen »Stiftung Sehnsucht«21 gibt und bundesweit Suchtprävention für Kinder und Jugendliche in Schule und Freizeit mit großem Erfolg voranbringt. Auch hier werden Zusammenhänge zwischen innerer Sehnsucht und Suche und falschen Antworten im Außen im Umgang mit Suchtmitteln (Alkohol-Komasaufen, Speed, Ecstasy, Zigaretten, Drogen usw.) und durch missbräuchliche Verhaltensweisen (Nutzung von Computer, Internet und Social Media sowie Ess- oder Shoppingverhalten) gesehen. Süchte füllen mit Sehnsuchtssurrogaten, also Ersatzstoffen, die innere Sehnsucht auf und ersticken daran. » ›Spiritus contra spiritum‹ – ›Geist gegen Weingeist‹, sagt der Tiefenpsychologe C. G. Jung. Nur die Offenheit für den Geist kann die Abhängigkeit überwinden.«22
Eine 54-jährige Controllerin (alleinstehend, evangelisch) formuliert über »Sehnsucht« und »Sucht« Folgendes:
Sehnsucht versteckt sich heute vor allem hinter der Sucht, den Be-Gier-den und den Bedürfnissen. In der Sucht oder einem übermäßigen Verlangen suchen wir eigentlich das, was wir in der Tiefe unseres Herzens ersehnen. In der Sucht möchten wir unsere Sehnsucht überspringen und uns direkt das Begehrte nehmen, das wir ersehnen. Dies können dann nur die Ersatz-Befriedigungen erfüllen. Hierfür anfällig sind besonders Menschen, welche in ihrer Kindheit die Abwesenheit von Geborgenheit erfahren mussten, ein Gefühl, das für Kinder existenziell ist, damit sie sich gesund und ihren Veranlagungen nach entwickeln können. Wem Mutterliebe fehlte oder wer kein Urvertrauen kennengelernt hat, der wird oft ein Leben lang von einer rastlosen Suche danach getrieben. Andere wollen das ›Paradies des Mutterschoßes‹ nicht verlassen. Sie weigern sich, die Verantwortung für ihr Leben zu übernehmen, wollen nicht erwachsen werden, wollen weiterhin verwöhnt werden und sich den Herausforderungen des Lebens nicht stellen. Die Sucht verlängert das Verwöhntwerden. Unsere tiefste Sehnsucht besteht darin, in Berührung mit uns selbst zu kommen, mit unserem Lebensweg und unserer Lebensaufgabe, mit der bedingungslosen Liebe, dem Angenommensein, der Barmherzigkeit und Güte, die wir bei Gott, unserem Schöpfer in UNS finden. Dieses ›Paradies‹ finden wir nicht in der Verfälschung durch unseren Egoismus, unserer Gier und unserer Sucht nach Anerkennung, Erfolg oder sonst was.
Die Wiederbelebung des Sehnens, das Finden von neuen Lebens- und Entfaltungsräumen im Innen und Außen und das Wieder- oder Neufinden eines inneren Erlebens von Intimität mit uns selbst, mit dem Leben, mit dem Augenblick, dem Sinn unseres Lebens und mit Gott – all das sind Erkenntnisse des letzten Abschnitts, die wir nun weiterführen wollen. Denn die Sehnsucht allein ändert das Leben noch nicht. Sie ist eine drängende Kraft zum Leben, zum eigentlichen Leben, ein Impuls zur Veränderung. »Um aus der Sehnsucht Taten folgen zu lassen, muss aus dem Sehnen ein Wünschen werden … (eine) Brücke zwischen einer mangelhaften Gegenwart und dem Ersehnten. Über diese Brücke zu gehen, erfordert oft Mut und andere Fähigkeiten.«23
4. Sehnsucht und Spiritualität in der deutschen Romantik
Sprich aus der Ferne
Heimliche Welt
Die sich so gerne
Zu mir gesellt.
CLEMENS BRENTANO
Die deutsche Romantik umfasst eine relativ kurze Zeitspanne von etwa 1795 bis 1830. Sie stellt eine Art Gegenbewegung zur Aufklärung mit ihrer einseitigen Betonung des Verstandes, des Nützlichkeitsdenkens, der Funktionalität und Rationalität und der Betonung von bürgerlichen Tugenden dar. Das Irrationale, die Phantasie, das intensive Gefühl, der Traum und die Tiefenbereiche der Seele stehen im Hauptinteresse dieser geistesgeschichtlichen Bewegung. Auch die Zeitumstände taten ein Übriges, um die romantische Geisteshaltung stark werden zu lassen. Es gab viele Anlässe, den Ruf nach Innerlichkeit, Liebe, Natur, Abenteuer, Freiheit, Sehnsucht und Ferne laut werden zu lassen: die Enttäuschung über den Verlauf der Französischen Revolution, die Restaurationsbewegung nach dem Wiener Kongress 1814/15, die imperialistische Expansionspolitik Napoleons, die Zerstückelung Deutschlands in Kleinstaaten, die sich von England ausbreitende industrielle Revolution mit der damit verbundenen Umweltzerstörung, das Anwachsen von Städten in Verbindung mit Landflucht, die Robotisierung der Menschen als billige Arbeitskräfte und vieles mehr.
Novalis forderte eine Romantisierung der Welt: Für ihn sollte die Welt aus mehr als aus »Zahlen und Figuren« bestehen. Joseph von Eichendorff suchte mit ihm und anderen romantischen Dichtern, Künstlern und Musikern nach dem Zauberwort, dem Zauberklang, der »Anderwelt«. Ich möchte hier einmal ganz bewusst drei höchst romantische Texte zitieren:
Novalis: Die Welt muss romantisiert werden (1799):
Die Welt muss romantisiert werden. So findet man den ursprünglichen Sinn wieder. Romantisieren ist nichts als eine qualitative Potenzierung. Das niedere Selbst wird mit einem bessern Selbst in dieser Operation identifiziert. So wie wir selbst eine solche qualitative Potenzenreihe sind. Diese Operation ist noch ganz unbekannt. Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es – Umgekehrt ist die Operation für das Höhere, Unbekannte, Mystische, Unendliche – dies wird durch diese Verknüpfung logarithmisiert – es bekommt einen geläufigen Ausdruck. Romantische Philosophie. Lingua romana. Wechselerhöhung und Erniedrigung.24
Novalis: Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren (1800):
Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren
Sind Schlüssel aller Kreaturen,
Wenn die, so singen oder küssen,
Mehr als die Tiefgelehrten wissen,
Wenn sich die Welt ins freie Leben,
Und in die Welt wird zurückbegeben,
Wenn dann sich wieder Licht und Schatten
Zu echter Klarheit werden gatten,
Und man in Märchen und Gedichten
Erkennt die ewigen Weltgeschichten,
Dann fliegt vor Einem geheimen Wort
Das ganze verkehrte Wesen fort.25
Joseph v. Eichendorff: Wünschelrute (1838):
Schläft ein Lied in allen Dingen,
Die da träumen fort und fort,
Und die Welt hebt an zu singen,
Triffst du nur das Zauberwort.26
Für mich zeichnen sich hier schon gewisse Parallelen zwischen dieser Zeit und dem Heute ab, da auch heute zunehmend die durch Planen, Denken, Vernunft, Globalisierung und Computerisierung bestimmte Lebenswirklichkeit Fluchtmöglichkeiten und Überlebenstechniken benötigt. Die zunehmende Wiederentdeckung der Innenwelt mit ihrer Phantasie, ihren Traumgebilden, Imaginationen und der Spiritualität stellen eindeutige Regulative gegen Krankmachendes dar. »Die inneren Welten der Tagträume und Fantasien sind (zugleich) unser wichtigster Rückzugsort, um zu uns zu kommen, uns zu erholen und den Anforderungen der Außenwelt wieder gewachsen zu sein.«27 Die Sehnsucht und die Spiritualität, die ich in diesem Buch ja besonders betrachten werde, gehören hier ganz eindeutig und wichtig dazu. »Nur wenn die oberflächliche Scheinwelt schweigt und uns nicht mehr bedrängt und verwirrt, öffnet sich uns der Zugang zur tiefen, wirklichen Welt. Der Zugang hierzu ist dem Denken verwehrt. Nur das einfühlsame Herz ahnt etwas von der alles durchwaltenden, großartigen Jenseitigkeit.«28
Was sind denn die typischen Themen, Motive und Symbole der Romantik?