Welche Farbe hat der Tod? - Christoph Kreitmeir - E-Book

Welche Farbe hat der Tod? E-Book

Christoph Kreitmeir

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Beschreibung

Lebensfreude in der Vergänglichkeit

Christoph Kreitmeir hat als Klinikseelsorger viele hundert Menschen jeden Alters begleitet, wenn diese mit Krankheit, Schmerzen oder dem Sterben konfrontiert waren. Er kennt die Gefühle, Sorgen und Ängste, die Menschen im Angesicht des Todes bewegen.

In diesem Buch nähert er sich aus verschiedenen Perspektiven dem Kranksein, dem Leiden und dem Sterben des Menschen sowie der Tatsache, dass die Einzelnen aber auch die Gesellschaft den Tod lieber verdrängen als ihn als Wirklichkeit wahrzunehmen. Auf dem Hintergrund bewährter Praxis bietet er fundiertes Wissen; viele Beispiele erzählen von gelebter Hoffnung und machen Mut. So kann in der Auseinandersetzung mit dem Unabänderlichen eine »Ars Moriendi«, eine Kunst des Sterbens erlernt werden. Das vermittelt Kraft, Trost und Sinn. Und auch auf die ewige Frage danach, was nach dem Tod sein wird, findet der Autor neue Sichtweisen.

  • Bestärkung und Ermutigung für Kranke, Bedrängte und deren Angehörige
  • Tiefe, hilfreiche Einsichten in das wesentliche Lebensthema Tod
  • Trostreiche Begleitung für schwere Zeiten, zum selberlesen und verschenken

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Seitenzahl: 304

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Christoph Kreitmeir hat als Klinikseelsorger viele hundert Menschen jeden Alters begleitet, wenn diese mit Krankheit, Schmerzen und dem Sterben konfrontiert waren. Er kennt die Gefühle, Sorgen und Ängste, die Menschen im Angesicht des Todes bewegen, und er weiß, was unterstützt.

In diesem Buch nähert er sich aus verschiedenen Perspektiven dem Kranksein, dem Leiden und dem Sterben des Menschen. In der Auseinandersetzung mit dem Unabänderlichen bietet Christoph Kreitmeir auf dem Hintergrund bewährter Praxis fundiertes Wissen über das, was auf alle Menschen zukommt. Eine Fülle einfühlsam erzählter Berichte macht Mut und gibt Hoffnung.

Denn Kraft, Trost und Sinn lassen sich auch am Ende des Lebensweges finden, und gerade für die Frage danach, was nach dem Tod sein wird, findet der Autor eine Sprache.

Christoph Kreitmeir, geboren 1962, Franziskaner, kath. Priester, Lic. Theol., Dipl. Sozialpädagoge, qualifizierte Ausbildungen in Logotherapie, klientenzentrierter Gesprächsführung und Wertimagination nach Böschemeyer, seit 2017 Klinikgeistlicher am Klinikum Ingolstadt. Langjährige Vortragstätigkeit zu Sinn- und Lebensfragen, Mitglied in der »Deutschen Gesellschaft für Logotherapie und Existenzanalyse« und erfolgreicher Buchautor.

Christoph Kreitmeir

Welche Farbe hat der Tod?

Erfahrungen eines Klinikseelsorgers mit Leben und Sterben

Der Verlag behält sich die Verwertung des urheberrechtlich geschützten Inhalts dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

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Copyright © 2023 Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

Umschlagmotiv: Caphira Lescante – Adobe Stock.com

ISBN 978-3-641-30209-2V001

www.gtvh.de

Inhalt

Vorwort

1. Die Angst vor dem Tod und das Verdrängen

Persönliches Betroffen-sein

Was half mir in dieser wirklich schweren Zeit?

Hatte ich Angst vor dem Tod?

Formen der Vermeidung, des Ausweichens und der Verdrängung

Unwissenheit macht Angst

Angst als Grundbefindlichkeit unseres Lebens

Formen der Angst vor dem Sterben, dem Tod und einem Danach

Angst ist Schwarz

2. »Ars vivendi – ars moriendi« Lebenskunst – Sterbekunst

Gesundheitsreligion

Krankheiten – Gefährten unseres Lebens

Die Botschaft der Krankheiten

Auf die Krankheit hören lernen

Leiden und Krankheit annehmen lernen – Patientenbeispiele

Rembrandts Bild »Rückkehr des verlorenen Sohnes« und seine Heilkraft

Suchen und Finden auf meiner Lebensreise

Der Tod gehört zum Leben

3. Wissen hilft – Was beim Sterben geschieht

Der äußere Sterbeprozess

Die Sterbephasen nach Elisabeth Kübler-Ross

Kritik am Model von Elisabeth Kübler-Ross

Symptome der Finalphase des Sterbens

Phänomene an der Grenze zum Tod

Symptome unmittelbar vor dem Tod

Der gelöste Gesichtsausdruck nach dem Eintritt des Todes

Sterbebegleitung von Max W. – Im Sterben zum Freund werden

Der innere Sterbeprozess

Die fünf Sterbephasen im Tibetischen Totenbuch

Der fundamentale Unterschied zwischen naturwissenschaftlicher und geistig-spiritueller Deutung von Sterben und Tod

4. Geburt und Tod – Erstaunliche Ähnlichkeiten

Leben, um zu sterben – Sterben, um zu leben

Sterbeamme – Lebensamme

Sterben, Tod und danach Niemandsland?

Verdrängte Trauer kann krankmachen

Hinter den Grenzen des Erklärbaren

Materialismus und Nihilismus hinterlassen innere Leere

Spiritualität als Lebenshilfe

5. Sinnsorge – Seelsorge – Lebenssorge

Die eigene Krankheit als Lehrer – eine Patientenbegegnung

Verschiedene Sprachebenen und Sprachspiele

Logotherapie – Eine Sinndeutungshilfe

Der Wille zum Sinn

Die drei Säulen der Logotherapie und Existenzanalyse

Trotzmacht des Geistes, Selbstdistanzierung und Selbsttranszendenz

Die tragische Trias: Leid, Schuld und Tod

Tragischer Optimismus und Verwirklichung von Werten

Die »positive Ansteckung« eines Vorbildes

Schöpferische Werte, Erlebniswerte und Einstellungswerte

Maria L. – Gelingendes Annehmen und Umdeuten von Schwerem

Anna Schäffer aus Mindelstetten – Sinn finden in der spirituellen Deutung von Krankheit

Positive Vorbilder im Umgang mit Leid

Viktor E. Frankls Scheunengleichnis

6. Bestattung – Klassisch oder modern?

Verschiedene Ursachen für den Wandel

Weg vom Pfarrer – hin zum Bestatter

Ökologische Nachhaltigkeit rund um die Bestattung

Kirchliche Bestattung und freie Beerdigungen

Hilfreiche Rituale

Sarg/Urne bemalen

Kerze anzünden

Seifenblasen oder Luftballon steigen lassen

Blumensamen säen

Blumen am Grab

Wunderkerze oder Sternwerfer entzünden

Brief, Wunschkarte, Bild

Letzte persönliche Worte am Grab

Und nach der Bestattung?

Trauerkreise

Digitale Erinnerung und Trauerbewältigung

7. Der Sargmaler vom Bodensee

Eine bereichernde Begegnung

Schmetterlinge – Freudlinge

Särge zu bemalen hat eine lange Tradition

Interview mit dem Sargmaler vom Bodensee

Ein anderes Umgehen mit dem Tod

8. Wo sind die Toten und was kommt dann?

Veränderungen in der Glaubenslandschaft

Der Trost der Kohlmeise

Der Verlust Gottes in moderner Zeit

Mein gewachsener persönlicher Glaube

Patientenbesuch bei Renate M. auf der Palliativstation

Christlicher Glaube – Auferstehung – Persönliche Gottesbeziehung

Das Angebot an Möglichkeiten der Sinndeutung wird größer

Ahnenverehrung und Ahnenkult

Ägyptisches Totenbuch

Tibetisches Totenbuch

Mit Hoffnung inspirieren

Eine Sterbende nimmt einen verstorbenen Säugling mit

Dante Alighieris »Göttliche Komödie« als Blaupause einer Seelenreise

Hinter dem Horizont – Das Ende ist nur der Anfang

Sensitive, Medien und Jenseitskontakte

Das britische Medium Paul Meek

Was »dürfen« Christen?

Verständnisvoller Weggefährte sein

Die verstorbene Oma hilft bei schwerem Autounfall

Anmerkungen

Verwendete und weiterführende Literatur

Bildteil

Vorwort

An einem freien Nachmittag Ende Februar 2023 ging ich um den großen Baggersee bei Ingolstadt spazieren. Am Weg sah ich zwei Damen auf einer Bank sitzen. Sie waren in ein Gespräch vertieft mit einer Frau, die in einem elektrischen Scooter bei ihnen saß. Beim genaueren Hinsehen fiel mir auf: Die Frau im Scooter kannte ich. Also blieb ich stehen, wir kamen ins Ratschen und es stellte sich heraus, dass zwei der Anwesenden Patientinnen in dem Krankenhaus gewesen waren, in dem ich als Klinikseelsorger arbeite. Die behinderte Dame im Scooter – ein echtes Ingolstädter Original – fragte mich, ob ich mit dem Buch, das ich plante, schon fertig sei? Noch bevor ich antworten konnte, wollte die Frau, die ich noch nicht kannte, wissen, wovon dieses Buch denn handele? »Über Sterben, Tod und die Frage, was dann kommt«, war meine Antwort.

Wie von der Tarantel gestochen, sprang sie daraufhin auf und wollte sofort verschwinden. »Was für ein Thema? Wer soll denn so etwas kaufen? Und was nach dem Tod kommt, das kann man doch gar nicht wissen.« Sie stieß diese Worte schnell und offensichtlich voller Angst hervor. »O doch, dieses Thema interessiert heute viele Menschen und über ein ›Danach‹ gibt es sehr wohl viele interessante Erlebnisse von Menschen, auch von Patienten in ›meinem Krankenhaus‹«, antwortete ich, musste dabei aber zusehen, wie sie sich aus dem Staub machte. Die beiden anderen Frauen dagegen waren sehr interessiert, zum einen wohl, weil sie mich schon kannten, und zum anderen hatten sie Erfahrungen mit Krankheit und waren darum für solche Themen offen.

Diese Begegnung spiegelte genau meine Erfahrung. Wer unbeschwert durchs Leben geht, der interessiert sich kaum für solche existenziellen Fragen, er meidet sie sogar, solange es irgendwie geht. Wer aber im Leiden erprobt, wer Krisen zu meistern hat(te) und grundsätzlich interessiert oder religiös ist, der hat solchen Themen gegenüber eine Offenheit.

Ich selbst beschäftige mich seit vielen Jahre mit diesen Themen. Das liegt einerseits daran, dass ich seit Kindertagen immer irgendwie mit Krankheiten und Schmerzen zu tun hatte. Ein schwerer Unfall lies mich als Jugendlichen sehr nachdenklich werden. Dies führte dann letztlich dazu, dass ich Franziskaner und auch Priester wurde. Eine Fotoausstellung über das Sterben mit dem Thema »Noch mal leben vor dem Tod«, die ich im Frühjahr 2010 in Bamberg und dann nochmals in Augsburg besuchen konnte, brachte in mir etwas zum Klingen, das mich seitdem nicht mehr loslässt. Ausdruckstarke Fotos von Patienten in einem Hospiz kurz vor dem Sterben und kurz danach sowie deren Biografien zeigten mir, wie wertvoll das Leben ist und wie schön verstorbene Menschen sein können. Das gleichnamige Buch »Noch mal Leben vor dem Tod. Wenn Menschen sterben« von Beate Lakotta und Walter Schels1 begleitete mich dann jahrelang inspirierend. Irgendwie ist es darum wohl auch kein Zufall, dass ich in reiferen Jahren Klinikseelsorger am Ingolstädter Klinikum mit gut 1250 Betten werden sollte. Seit gut sechs Jahren darf ich diese schwere und gleichzeitig sinnvolle, erfüllende Aufgabe nun ausüben.

In den zurückliegenden Jahren sind im deutschsprachigen Raum viele gute und interessante Veröffentlichungen zu Fragen rund um »Sterben, Tod, Trauer« erschienen. Aus verschiedenen Blickwinkeln – rechtlich, medizinisch, psychologisch, philosophisch, journalistisch oder ganz praktisch aus dem Erfahrungsbereich von Pflege und Hospiz – nähern sich diese Publikationen dem Thema. Einige sind ›Spiegel-Bestseller‹ geworden. Durch die Hospizbewegung und die Praxis des »Spiritual Care« rücken die spirituellen und religiösen Bedürfnisse der Patienten, aber auch die von denjenigen, die Kranke und Sterbende begleiten, wieder mehr in den Vordergrund.

In diesem Buch nähere ich mich den Fragen um Krankheit, Sterben, Tod, Trauer und der Hoffnung über den Tod hinaus auf verschiedene Weisen. Ich verknüpfe meine persönliche Betroffenheit mit vielen bewegenden Erfahrungen, die ich mit Patientinnen und Patienten, deren Namen hier anonymisiert werden, machen durfte. Ich versuche, diese Erfahrungen in den Kontext der grundsätzlichen Entwicklungen in unserer Gesellschaft und in den Kirchen zu stellen und dabei sowohl die Antworten im Blick zu behalten, die traditionell zu Fragen des Lebens und des Sterbens gefunden wurden, als auch den neueren Entwicklungen Aufmerksamkeit zu schenken. Hier ist vieles im Wandel. Dies finde ich grundsätzlich positiv, manches darf aber auch hinterfragt werden.

Mir persönlich wurde ein Wort von Rainer Maria Rilke im Hinblick auf meine eigene Endlichkeit zur Verständnishilfe und in gewisser Weise zu einer Lebenshaltung: »Sei allem Abschied voran, als wäre er hinter dir, wie der Winter, der eben geht.»2 Wer abschiedlich leben lernt, der kostet seine Lebenszeit, sein Hier und Jetzt achtsam und bewusst aus. Er bezieht die »Ars moriendi«, die Sterbekunst, in sein Leben ein, um in der »Ars vivendi«, der Lebenskunst, zum Meister zu werden.

Bei meiner Arbeit geht es neben spirituell-religiöser Begleitung vor allem um menschlich zugewandte, verstehende und mitfühlende Begleitung auf Zeit von Patientinnen und Patienten und deren Angehörigen. Viktor Emil Frankl und die von ihm entwickelte sinnzentrierte Psychotherapie (Logotherapie und Existenzanalyse), in der ich ausgebildet bin, hilft mir sehr, Menschen in ihrem Leid und ihren Fragen beistehen zu können. Sinnsorge, Seelsorge und Lebenssorge gehören in der Tiefe zusammen.

Alles ist im Wandel, die Gesellschaft, die Kirchen und damit zusammenhängend auch das Bestattungswesen. Neben der klassisch-kirchlichen Beerdigung oder Urnenbestattung gibt es zunehmend alternative Angebote und Anbieter, wie mit der Trauer um einen Verstorbenen umgegangen werden kann. Obwohl ich katholischer Priester bin, stehe ich modernen Zugangswegen im würdevollen Umgang mit Verstorbenen sehr offen gegenüber. Einige dieser alternativen Bestattungsformen möchte ich darstellen.

Im Juni 2021 durfte ich während eines Urlaubes am Bodensee einem interessanten Künstler begegnen, der Särge – er nennt sie Schreine – und Urnen mit Naturmotiven bemalt. Aus dieser bereichernden Begegnung wurde eine Bekanntschaft, die sich zu einer Freundschaft entwickeln will. Die lebensfrohe und auch tiefsinnige Art von Alfred Opiolka und seinem etwas anderen Zugang zu Sterben, Tod und Trauer will ein Interview mit ihm darstellen. Uns beiden ist ein lebensbejahender Umgang mit diesem schweren Thema wichtig, und wir blicken beide hoffnungsvoll über die Schwelle des Todes. Somit können wir von verschiedenen Positionen aus Leidenden und Trauernden zu »Freunden auf Zeit« und zu verständnisvollen Begleitern werden.

Die Frage, wo die Toten sind und was denn nach dem Tod kommt, ist eine Frage, die den Menschen seit jeher bewegt. Nicht nur Religionen und Philosophien beschäftigt diese Frage, sondern mehr oder weniger bewusst jeden Menschen. Der eine schiebt sie so lange wie möglich von sich weg, der andere beschäftigt sich ganz bewusst damit. Früher oder später werden wir alle mit ihr konfrontiert. Die Zugangsweisen haben sich verändert, die Glaubenslandschaft in unserem Land auch. Dies fordert jeden Einzelnen heraus, seinen Standpunkt zu finden, religiös, atheistisch, agnostisch oder philosophisch. Das Angebot möglicher Sinndeutungen wird größer und damit freier, gleichzeitig aber auch verwirrender. Ich möchte einige dieser Sinndeutungszugänge darstellen, die zeigen wollen, dass es viel mehr gibt, als es die Kirchen oft zu vermitteln versuchen.

Mein Blickwinkel ist der eines Christen, eines Katholiken, eines Priesters. Diese meine Sichtweise ist eine suchende, eine tastende, eine, die auch nach rechts und links schaut und verschiedene andere Perspektiven, wie zum Beispiel den tibetischen Buddhismus oder die Frage nach medialen Kontakten zu Verstorbenen, mitberücksichtigt.

Beim Schreiben habe ich bewusst auf das Gendersternchen oder Ähnliches verzichtet. In dem Bewusstsein, dass ich Männer, Frauen und sogenannte diverse Menschen gleich ansprechen möchte, will ich einen einfachen Weg gehen, der gleichzeitig auch unsere schöne deutsche Sprache nicht verunstaltet. Die genannten Personengruppen haben verschiedene geschlechtliche Identitäten, sie sind nicht über einen Kamm zu scheren. Ich werde mich bemühen, zumindest immer wieder männliche und weibliche Formen zu wechseln. Sollte ich dennoch zu sehr in die rein männliche Beschreibung fallen, dann sehen Sie es mir bitte nach.

1. Die Angst vor dem Tod und das Verdrängen

Seit es Menschen gibt, treiben diese auch die Angst vor dem Sterben, die Angst vor dem Tod und angstbesetzte Fragen nach einem »Danach« um. Diese Urfragen sind die »Hebammen« tieferen Nachdenkens über Dasein und Endlichkeit. Philosophien und Religionen haben hier ihren eigentlichen Ursprung.

Jeder Mensch wird sich früher oder später mit seiner Endlichkeit auseinandersetzen müssen, ob er will oder nicht, und trotzdem leben wir unser Leben so, als würden wir nicht irgendwann sterben müssen. Persönlich entwickelte oder gesellschaftlich angebotene Ablenkungs- und Verdrängungsstrategien sind dabei vielfältig. Der klinische Psychologe und Psychotherapeut Hans Morschitzky nennt dieses Phänomen das »Sterblichkeitsparadoxon«. Auch wenn es unterschwellig und unbewusst in uns arbeitet, halten wir dieses todernste Thema aus unserem Alltag und unserem Leben heraus, weil es uns die Freude am Leben verdirbt. Wenn wir uns aber einmal doch persönlich mit den Themen Leiden, Sterben, Tod und Verlust auseinandersetzen müssen, weil ein lieber Mensch aus unserer näheren Umgebung stirbt oder wir selbst durch einen schweren Unfall oder eine lebensbedrohliche Erkrankung mit unserer Sterblichkeit konfrontiert werden, spätestens dann kommen auch die Angst vor dem Sterben und dem Tod sowie die Frage nach einem eventuellen Danach in unser Leben.

Persönliches Betroffen-sein

Im Juli 2020 wurde bei mir nach mehreren vorausgehenden Untersuchungen eine Krebserkrankung der Prostata von mittlerer Schwere festgestellt. Dies löste bei mir genau die Reaktionen aus, wie man sie nach den Erkenntnissen der Tiefenpsychologin Verena Kast1 immer wieder bei Verlust und Trauer erleben kann: Die Phase des Nicht-wahrhaben-Wollens, die Phase der aufbrechenden Emotionen, die Phase des Suchens und Sich-trennens und die Phase des neuen Selbst- und Weltbezuges. Dieses Phasenmodell baut auf den Erkenntnissen der Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross2 auf, die die Phasen Nicht-wahrhaben-Wollen (Leugnen) und Isolierung, Zorn und Wut, Verhandeln, Depression und Leid, Annahme und Akzeptanz nannte.

Das kann doch nicht wahr sein, war meine erste Reaktion. Jetzt habe ich schon so vieles an Krankheiten in meinem Leben erleiden müssen, aber an Krebs hätte ich bei mir wirklich nicht gedacht. Die erschütternde Diagnose bekam ich im Frühsommer 2020 während der Zeit der ersten Phase der Coronapandemie und so war es mir gerade recht, dass meine Urologin nach den ersten Verdachtsanzeichen für Krebs die nächsten Untersuchungen erst auf Oktober 2020 legte. Ihre und auch meine Hoffnung war es, dass die Pandemie bis dahin vorbei sei und weitere Untersuchungen zeigen würden, dass es dann vielleicht doch nicht so schlimm sei. Meinem Arbeitskollegen Stefan habe ich es zu verdanken, dass ich dann doch noch im Juli mit MRT-Untersuchung und darauffolgender Biopsie der Verdachtssache ernsthaft nachging. Er mahnte mich nämlich immer wieder, das Ganze nicht so sehr auf die leichte Schulter zu nehmen.

Nach dem Schock der Bestätigungen, dass da doch mehr los war, als ich es wahrhaben wollte, schwankte meine Stimmung zwischen Wut und Depression. Adressiert waren diese Gefühle primär an meinen imaginären Gesprächspartner, mit dem ich als Ordensmann und Priester seit Jahrzehnten unterwegs bin: an Gott. Er musste sich so manches von mir anhören, vor allem auch die Enttäuschung darüber, dass ich doch wirklich so viel für IHN tue und dies jetzt die »Belohnung« sein sollte. Sehr naiv, ich weiß, aber es war so.

Danach hatte ich eigentlich nur ein kleines Zeitfenster von wenigen Wochen, in dem ich mich entscheiden musste, was es für Möglichkeiten für mich geben könnte. Vier Möglichkeiten taten sich auf, zwei alternative Behandlungsmethoden, die ich selbst sehr teuer hätte zahlen müssen und deren Erfolg auch auf unsicheren Füßen stand, oder zwei von der Schulmedizin vorgesehene: Strahlentherapie mit eventuell anschließender Chemotherapie oder Totalentfernung der Prostata mittels moderner Roboterunterstützung vorgenommen von medizinischen Fachleuten. Und dies dann noch in der Klinik, in der ich als Seelsorger arbeite. Nach Prüfung aller Pro und Contras und vor allem auch der Nach- und Nebenwirkungen entschied ich mich für Letzteres, wenn auch mit Trauer über so manche Einschränkung, die nach so einem Eingriff dann die Folge sein würde.

Mein neuer »Selbst- und Weltbezug« hält nach fast drei Jahren nach der gelungenen Operation bis heute an. Es gab zwar Komplikationen, heute bin ich aber angesichts dieser lebensbedrohlichen Krankheit wirklich gut davongekommen und stehe in den nächsten Jahren in regelmäßiger Nachkontrolle. Nachdem ich ja als Klinikseelsorger tagtäglich mit den verschiedensten Krebserkrankungen zu tun habe, die Fragen und Nöte der Patienten kenne und vor allem auch die Wirkungen der verschiedenen Behandlungen erlebe, weiß ich, dass ich mit meiner Erkrankung und vor allem dadurch, dass sie frühzeitig erkannt wurde, ein gutes Los gezogen hatte. Mein anhaltendes Grundgefühl ist große Dankbarkeit. Sie bestimmt meinen Selbstbezug, das heißt, egal, was es an tagtäglichen Problemen und Schwierigkeiten gibt, alles durchwebt ein zartes und alles irgendwie weichmachendes Gefühl von Dankbarkeit, von »Gratefulness«, deren psychologische und spirituelle Kraft der österreichisch-amerikanische Benediktiner David Steindl-Rast sehr gut herausarbeitete.3 Dies strahle ich auch meistens aus, so sagt man es mir immer wieder. Und es hat die Wirkung, dass mein Weltbezug auch einer geworden ist, der weniger verbissen seinen Weg geht und viel achtsamer auf das Hier und Jetzt achtet.

Was half mir in dieser wirklich schweren Zeit?

Es waren vor allem menschlich tragende Beziehungen zu Freunden und einigen meiner Geschwister, immer wieder auch mein Glaube an Gott und an einen Sinn hinter all dem Erlebten und Erlittenen. Das persönliche Netzwerk, das trägt, unterstützt, tröstet, Perspektiven aufzeigt und vor allem immer wieder emotionalen Halt schenkt, ist das A und O für ein gutes Durchstehen dieses Leidensweges. Der Fernsehsender »Sat.1« startete vom 4.-11. Februar 2022 eine sogenannte »Mutmachwoche« zum Weltkrebstag. Zahlreiche Magazine, Reportagen, umfangreiche Informationen, Hilfestellungen und persönliche Mutmachgeschichten sollten das ernste Thema entängstigen und fachlich aufklärend erhellen. Im Internet gibt es mittlerweile ein beachtenswertes Forum der Selbsthilfe4 zu finden. Eine eigens dafür entwickelte App will zum Beispiel Krebspatienten und Krebspatientinnen und ihren Angehörigen helfen, sich jederzeit und überall unkompliziert mit anderen Betroffenen auszutauschen. Die YES!APP5 ermöglicht einen datenrechtlich sicheren Dialog sowie Informations- und Erfahrungsaustausch und will damit Hilfe zur Selbsthilfe leisten.

Hatte ich Angst vor dem Tod?

Vor dem Tod und einem Danach hatte ich nach der Krebsdiagnose weniger Angst, weil ich mich durch viele und schwere Erkrankungen eigentlich von Kindesbeinen mit diesen Themen beschäftigen musste. Ein sehr großer und die Richtung meines geistlichen Lebensweges sehr bestimmender Einschnitt war ein Fahrradunfall im Alter von sechszehneinhalb Jahren. Eine fehlerhafte Gangschaltung bewirkte, dass ich mit einer Geschwindigkeit von ca. 30 km/h ins Leere trat und dadurch das Gleichgewicht verlor. Damals gab es noch keine Fahrradhelme und so stürzte ich mit meinem Kopf auf den harten Asphalt einer vielbefahrenen Straße. Was dann kam, wurde mir von meiner Mutter später erzählt. Da unsere Familie in meiner Heimatstadt recht bekannt war und Passanten erkannten, wer ich sein könnte, informierten diese nicht nur den Rettungsdienst, sondern auch meine Mutter, die dann im Rettungswagen in meiner Nähe war. Soweit ich mich dunkel erinnern kann, war auch mein zwei Jahre älterer Bruder an ihrer Seite. Ich wurde nicht in das kleine Kreiskrankenhaus, sondern in das große neue Klinikum nach Ingolstadt gefahren, wo ich heute – 45 Jahre später – der katholische Klinikseelsorger sein darf. Außer an einzelne Aufwachsituationen während meines Aufenthaltes dort auf der Intensivstation – 5 Tage davon war ich im Koma – erinnere ich mich an nichts, außer daran, dass ich immer wieder das Gefühl hatte, behütet, umsorgt und beschützt gewesen zu sein. Hier meine ich nicht nur das Tun der Ärzte und Pflegekräfte, sondern ich meine es auch in spiritueller Sicht. »Jemand« passte auf mich auf …

Nach der Intensivstation folgten weitere Behandlungen und dann später jahrelanges Kopfweh, aber auch das große Erstaunen und ernste Fragen: »Warum habe ich das überlebt?«, »Warum habe ich keine schweren Dauerschäden oder Behinderungen?« oder »Wenn es einen Gott gibt, warum hat er mich vor Schlimmeren bewahrt?« Diese und andere Fragen waren meine Dauerbegleiter in den darauffolgenden Jahren, wo der lebenslustige Jugendliche zu einem nachdenklichen jungen Mann wurde, dessen Suchen bei philosophischen und spirituell-religiösen »Angeboten« Antworten finden ließ oder ihn zumindest zum Weitersuchen animierte. Mein ganzes junges Leben wollte ich in den Dienst Gottes stellen, und zwar in besonderer Weise auf den Spuren des heiligen Franz von Assisi. Mit 22 Jahren trat ich in den Franziskanerorden ein, studierte verschiedenste Fächer im sozialen, psychologischen und theologischen Bereich, arbeitete als Sozialarbeiter mit Nichtsesshaften auf der Straße, wurde Priester und dann in den verschiedensten Lebensbereichen Seelsorger, dem es sehr wichtig war und ist, den Menschen in ihren Problemen an der Seite zu sein. Über viele Umwege kam ich im Juli 2017 zu der Aufgabe des Klinikgeistlichen am viertgrößten Klinikum in Bayern, in Ingolstadt. Und in genau dieser Aufgabe bin ich ganz praktisch und tagtäglich mit den menschlichen Grundfragen nach dem Warum des Leidens, des Sterbens, des Todes und einem Danach konfrontiert und involviert.

Somit möchte ich zurückkehren zu der Frage nach der Angst vor dem Tod. Angst vor dem Tod und einem Danach hatte und habe ich nicht; ich habe aber sehr wohl Furcht und Angst vor dem Sterben, vor den damit möglicherweise verbundenen Schmerzen, dem Ausgeliefertsein, dem Objektsein, dem Erdulden- und Erleidenmüssen. Als Klinikseelsorger weiß ich zwar, dass heute viel dafür getan werden kann, damit Patienten wenig bis keine Schmerzen haben, aber trotzdem erlebe ich es, wie Menschen in diesen schweren Prüfungen des Lebens Hartes erleiden müssen. Wer will das schon? Ich auch nicht.

Formen der Vermeidung, des Ausweichens und der Verdrängung

Es gibt die verschiedensten Weisen, wie Menschen mit unangenehmen Situationen oder Umständen umgehen. Das herzhafte und mutige Anpacken findet sich sehr selten. Meistens kommt es zu mehr oder weniger bewussten anderen Verhaltensweisen. Es lohnt sich, sie einmal genauer anzuschauen.

Grundsätzlich ist die Vermeidung von unangenehmen oder als bedrohlich erfahrenen oder gefürchteten Situationen häufig. Einerseits kann dieses Verhalten in gewisser Weise schützen, andererseits verhindert es aber auch die positive Erfahrung, gefährliche Situationen bewältigen zu können. Wer sich Vermeidung antrainiert hat, der wird dieses Verhalten schwer wieder los.

Eine Form der Vermeidung ist die Verschönerung. Sie ist der Versuch, sich die Realität, die oft in harten Zumutungen daherkommt, schön zu malen. Wie Pipi Langstrumpf neigen Harmonisierer und Rosarotmaler dazu, sich die Welt zu malen, wie sie ihnen gefällt. Es ist unleugbar, dass diese Strategie – ab und zu angewandt – einen das Leben nicht nur verschönert, sondern schlichtweg ertragen lässt. Als dauerhafte Strategie ist sie aber nicht brauchbar. Verschönerer haben nicht nur eine rosarote Brille auf, sie betreiben auch, so möchte ich es nennen, Wortkosmetik. Einen Beinamputierten nennt man dann Prothesenträger, eine Abtreibung Schwangerschaftsunterbrechung und einen Toten Entschlafenen. Diese Umdeutungen blenden Tatsachen aus, behindern oder verhindern Lösungen oder Realitätsannahme.

Ein weiterer Versuch, eine Tatsache oder ein Problem nicht an sich heranzulassen, ist die Verlagerung. Der wirkliche Konflikt und seine Ursachen wollen nicht gesehen werden, sondern sie werden auf eine allgemeine Ebene verlagert. Realität und Illusion werden vermischt. Hand in Hand gehend werden hier auch gerne eigene Probleme auf andere projiziert. Nicht der Sterbeprozess des Angehörigen ist dann zum Beispiel das Problem, sondern dass die Ärzte oder das Pflegepersonal zu wenig oder das Falsche für den Sterbenden tun. Diese Verlagerung und Projektion ist der Versuch, sich das eigene schwere Auseinandersetzen mit dem Sterben vom Hals zu halten. Ein Versuch, der misslingen muss.

Verärgerung und Wut ist eine weitere Weise des Vermeidens von Schmerzerfahrung. Rasch und nicht selten wird sie auch im Krankenhaus erfahren: Natürlich ist das Essen schlecht, die Schwestern und Pfleger unfreundlich oder faul, die Ärzte unfähig und überhaupt … Solche Patienten sind schwer zu ertragen. Manchmal übernehmen diese ungute Rolle auch deren Angehörigen. Ärger und Verärgerung können konstruktiv sein, wenn sie berechtigt eingesetzt werden, destruktiv angewandt nützen sie niemandem.

Ein besonderes Beispiel von Ärger und Verärgerung erlebte ich einmal, als ich zu einer sterbenden etwa 80-jährigen Frau gerufen wurde. Mehrere Töchter im Alter zwischen 50 und 60 und ein paar Enkelkinder, so um die 20 Jahre alt, waren im Raum. Die alte Frau befand sich offensichtlich im Beginn ihres Sterbens. Nachdem ich Kontakt mit ihr aufgenommen hatte und sie mich als Priester auch wahrnehmen konnte, änderte sich für kurze Zeit die traurige Situation. Die Frau betete sogar mit mir und war dankbar für die Krankensalbung. Von der Verwandtschaft betete kaum jemand mit.

Insgesamt fünfmal wurde ich in 4 Tagen zu dieser Frau gerufen. Schon bei der zweiten Begegnung mit ihr und wieder den vorher genannten Verwandten kam in mir die Vermutung auf, warum sich die Dame so schwer im Sterben tat. In der Familie gab es schwelende und ungelöste Konflikte. Diese Vermutung formulierte ich bei der dritten Begegnung, als die Sterbende sich schon wirklich quälte. Meine Ahnung traf ins Schwarze. Die »Sprecherin« der Töchter legte nun los und lies ihren Ärger über den abwesenden Bruder freien Lauf. Viele stimmten ihr zu, nur eine Tochter war leise und hielt der Mutter die rechte Hand. Als ich dann das Wagnis einging und deutlich sagte, dass die Mutter nicht sterben könne, weil dieser Konflikt nicht gelöst sei, war großes Schweigen im Raum, nur die handhaltende Tochter weinte nun leise vor sich hin.

Als ich dann zwei Tage später (!) ein weiteres Mal gerufen wurde, war der Bruder anwesend. Ich spürte, dass es ihm sehr unwohl war in dieser Geschwisterschar. Die »Sprecherin« erlaubte sich dann wirklich Unerhörtes, sie spannte mich als Priester vor ihren Wagen, um gegen den Bruder vorzugehen und bei ihm ein moralisch schlechtes Gewissen zu erzeugen. Im Hintergrund rang die Mutter mit dem Tod. Gottlob unterbrach ich die Tochter sofort in diesem Versuch und wurde ernst und sogar etwas lauter, als ich sonst normalerweise angesichts von Sterben und Tod bin. Ich betete nochmals für die Mutter, bat Gott, dass er sie bald erlöse und überließ diese in sich zerstrittene Familie mit ihrer vielfältigen Verärgerung übereinander ihrem Schicksal. Wenige Stunden später war die alte Frau gestorben. Ihre Kinder, so bin ich davon überzeugt, hätten ihr Sterben erleichtern und verkürzen können, wenn sie zu Klärung, Vergebung und Verzeihung fähig gewesen wären.

Die Verdrängung ist eine weitere Strategie, die aber zu keiner guten Lösung finden lässt. Belastende, schmerzhafte oder unangenehme Erfahrungen, Erinnerungen, Gedanken, Wünsche, ja sogar Gefühle werden als nicht existent abgewehrt. Man blendet sie aus, verbannt sie aus dem Bewusstsein und schiebt sie, weil sie ja trotzdem da sind, ins Unbewusste, wo sie meistens ihr schädliches Unwesen treiben. Mir ist eine Patientin mit ca. 50 Jahren so intensiv in Erinnerung, weil ich deren Verdrängungsverhalten in dieser intensiven Weise vorher noch nie erlebt hatte. Ich will ihre Situation kurz schildern.

Es war die dritte Coronaphase, fast ihre ganze Familie erkrankte an der Deltavariante von Corona. Die meisten durchlitten ihre Coronaerkrankung zu Hause, sie und ihre Mutter mussten aber ins Klinikum. Sie selbst wurde länger auf der Intensivstation beatmet, ihre Mutter, schon knapp 80 Jahre alt, lag in der Corona-Isolierstation mit Sauerstoffbeatmung. Sie spürte, dass ihr diese Erkrankung die Lebenskraft nahm, und bat mich als Priester, ihr die Krankensalbung zu geben. Ich erlebte in ihr einen lebenserfahrenen und positiv lebenssatten Menschen, der bewussten Sinnes sich mit dem herannahenden eigenen Sterben auseinandersetzte. Ihre Art des bewussten und gläubig-vertrauenden Umgangs mit dem baldigen Ende ihres Lebens beeindruckte mich als Mensch und als Christ. Und es war wirklich so – zwei Tage nach unserer tiefen Begegnung verstarb diese Frau an oder mit Corona. Ich durfte ihr in den letzten Minuten noch einmal nahe sein. – Mir wurde von den Schwestern während dieser Zeit auch gesagt, dass es wohl sinnvoll und vernünftig wäre, der Tochter auf Intensiv nichts vom schlimmen Zustand ihrer Mutter zu erzählen, weil ich sie auch besuchte. Das leuchtete mir ein und so schonten wir sie während der schweren Zeit ihrer Mutter.

Als die Tochter dann von Intensiv auch auf die Isolierstation kam – ihre Mutter aber schon verstorben war –, besuchte ich sie dort, um mit ihr darüber zu sprechen. So etwas hatte ich noch nie erlebt: Sie freute sich zwar, dass ich mit allen Schutzmaßnahmen (FFP-3-Maske, wo man fast keine Luft bekommt, Einmalschutzkittel, Handschuhe, Brille und Haarnetz) sie besuchte; sie weigerte sich aber, über den Tod ihrer Mutter sprechen zu wollen und vor allem über die Tatsache, dass diese an oder mit Corona verstorben sei. Sie war eine konsequente und massive Coronaleugnerin, deren Mutter daran gestorben war, und die selbst großes Glück hatte, so davongekommen zu sein. Ihre ganze Familie war von Corona betroffen, aber es gab ja kein Corona.

Mich machte dieses Verhalten in dieser massiven Verdrängung sprachlos und später dann sogar leicht aggressiv. Die Schwestern wollten mit dieser Patientin auch kaum etwas zu tun haben, weil sie total uneinsichtig und gleichzeitig missionarisch unterwegs war mit der Botschaft: Es gibt kein Corona!

Wie wir an den beschriebenen Abwehrmaßnahmen gesehen haben, wollen die meisten Menschen mit den Bereichen »Sterben, Tod und einem Danach« nichts zu tun haben und wissen daher dann auch nicht, damit umzugehen, wenn sie von diesen Realitäten eingeholt werden.

Auf geniale Weise brachten schon die Gebrüder Grimm das Verdrängen des Todes in ihrem Märchen »Die Boten des Todes»6 ins Wort. Ab der 4. Auflage ihrer ›Kinder- und Hausmärchen‹ steht es ab 1840 unter der Nummer 177. Darin geht es um den Tod, der einen Riesen auf dessen Wanderung zum Sterben aufforderte. Da dieser sich weigerte, kam es zu einem Kampf zwischen den beiden, wo der Tod niedergeschlagen in einer Ecke kraftlos liegen blieb. Ein vorbeikommender lebenslustiger junger Mann erbarmte sich des Todes, gab ihm zu essen und zu trinken und richtete ihn wieder auf. Der wieder zu Kräften gekommene Tod forderte natürlich das Leben des jungen Mannes. Aus Dankbarkeit schenkte er ihm aber eine Lebensfrist mit dem Hinweis, dass er ihm Boten des Todes schicken würde, bevor er dann selbst kommen werde. Noch einmal davongekommen und mit dem Wissen, durch Boten vor dem Tod gewarnt zu werden, ging er froh seines Weges weiter und lebte unbedarft in den Tag hinein. Seine Jugend hielt nicht ewig, es kamen Krankheiten und Schmerzen, die aber ohne Angst immer wieder vergingen, weil er ja wusste, dass er ohne Vorwarnungen nicht sterben werde. So ging das immer wieder: gesund und froh, krank und schwach. Eines Tages klopfte der Tod bei ihm an, um ihn abzuholen. Der Mann beschwerte sich darüber, weil er keine Boten des Todes gesehen habe, die sein Kommen ankündigten. Der Tod gab nur zu verstehen, dass Fieber, Krankheiten, Schmerzen, ja, sogar der dem Tod verwandte nächtliche Schlaf seine Boten gewesen seien. Da musste sich der Mann fügen und mit dem Tod mitgehen.

Beiseiteschieben, Ausweichen, Vermeiden oder Verdrängen schützen nicht davor, der todsicheren Tatsache, dass der Tod jeden Menschen heimsuchen wird, auszukommen. Klüger wäre es, sich rechtzeitig damit auszusöhnen und den Wert der Endlichkeit jedes Lebens richtig einzuordnen, die Lebenszeit nicht zu vertrödeln, sondern sinnvoll zu nutzen.

Unwissenheit macht Angst

Unwissenheit und das sich nicht Beschäftigen mit Unumstößlichem lassen Menschen hilflos dem Geschehen ausgeliefert sein. Und dieses Geschehen und die damit verbundenen Zumutungen werden als sehr unwillkommen erfahren und gespürt. Dies verstärkt die Angst vor Tod und Ende und führt zu weiterer Verdrängung, Angst, Verdrängung … Ein Teufelskreis, der zu nichts führt.

In der Auseinandersetzung mit Sterben, Tod und Trauer ist es wie in allen anderen Bereichen des Lebens auch: Unwissenheit oder mangelnde Übung machen unsicher, ängstlich und auch manipulierbar. Wer sich und sein Leben mit Gesundheit und Krankheit, mit Glück und Unglück, mit Gewinn und Verlust als Lern- und Übungsfeld ansehen lernt, der wird die schweren Zeiten besser und reifer bewältigen können, als wenn er sich nur das vermeintlich Gute herauspflücken will.

Immer wieder erlebe ich in meiner Arbeit als Klinikseelsorger, wie dankbar Angehörige von Sterbenden sind, wenn »ein Kundiger« sie an der Hand nimmt, ihnen beisteht, bestimmte Zustände erklärt, sie auch mit hineinnimmt in rituell-religiöse Handlungen, ihnen in ihrer erlebten Hilflosigkeit Unterstützung anbietet und den schweren Weg eine Zeit lang mitgeht. Gleichzeitig erlebe ich, wie hilfreich es sein kann, wenn Lebenspartner oder erwachsene Kinder sich vor der Situation einer solchen wirklich an die Nieren gehenden Begegnung mit dem Sterben und dem Tod von lieben Angehörigen schon Erfahrungen im Umgang mit diesen Themen gesammelt haben. Aber leider erlebe ich immer wieder auch, wie Menschen, die vom Alter her sich schon längst mit Krankheit, Sterben und Tod auseinandergesetzt haben könnten, sich total hilflos und ohnmächtig angesichts dieser Situationen, denen sie nun nicht mehr ausweichen können, erfahren und verhalten.

Der Sozial- und Kulturhistoriker Professor Norbert Fischer7 vom Institut für Volkskunde der Universität Hamburg hält fest, dass sich der Mensch in der westlichen Welt seit dem 18. Jahrhundert verstärkt vor dem Tod fürchtet, weil das bis dahin geltende, fast geschlossene christliche Weltbild aufbrach und dadurch ein unangenehmes und angstvolles Unbehagen zunahm. Konnte man vorher mehr oder weniger sein Sterben und seinen Tod in Gottes Hand legen, so fiel dies zunehmend weg und in die Hände der Medizin. Mehr und mehr verlor der Mensch sein Grundvertrauen in Gott und erlebte sich aus einer unbewussten und selbstverständlichen Geborgenheit herausgefallen. Der Philosoph Martin Heidegger und der Theologe Rudolf Bultmann nannten dies das »Geworfensein« des Menschen in die Ungeborgenheit der Welt.

Im 20. Jahrhundert mit seinen zwei Weltkriegen und einem massenhaften Sterben wurde der Tod, weil übermächtig, zunehmend tabuisiert. Gegenwärtig rückt der Themenbereich Sterben, Tod und alles, was damit zusammenhängt, wieder mehr ins Bewusstsein der Öffentlichkeit. Gründe hierfür sind vielfältig:

Die Zunahme des Lebensalters und die damit zusammenhängenden Fragen der Versorgung, Pflege und Schmerzlinderung.Die zunehmend positiv wahrgenommene Arbeit von Sterbehospizen, von spezialisierter, ambulant palliativer, also schmerzlindernder Versorgung (SAPV) und ähnlichen Angeboten.Die zunehmende mediale Darstellung, Diskussion und Aufklärung über dieses Thema.Der weltweite Coronavirus mit der von ihm verursachten Covid-19-Erkrankung ab Anfang 2020, welche schlagartig die gesamte Menschheit mit der Angst um das eigene oder das Leben von Angehörigen konfrontierte.Eine Grundsatzentscheidung des deutschen Bundesverfassungsgerichtes im Februar 2020 mit dem Inhalt, dass, egal wie alt, wie jung, wie reich oder arm, wie krank oder gesund jemand ist: Wer lebensmüde ist, der hat das Recht auf Hilfe zur Selbsttötung!8 Nicht mehr das Schicksal oder ein göttlicher Wille bestimmen über Leben und Tod, sondern meine eigene Selbstbestimmung. Diese Sichtweise stellt einen bis dahin noch nie vorgekommenen Paradigmenwechsel dar und wurde in einem Buch von Ferdinand von Schirach mit dem Titel »GOTT – ein Theaterstück« meisterhaft bearbeitet.9 Die gleichnamige und in der Mediathek der ARD verfügbare Verfilmung10 fesselte mich von Anfang an und hinterließ einen inneren Aufruhr und einen Widerspruch des gottgläubigen Menschen, der ich bin. Kann es wirklich sein, dass unser eigener Wille, unser EGO, nun im 21. Jahrhundert den Platz Gottes eingenommen hat? Die Zuschauerquote und die Beteiligung an einer Abstimmung Pro oder Contra Suizid eines nicht mehr leben wollenden Mannes waren sehr hoch. Das Interesse an diesem Thema nimmt stetig zu.

Die Angst rund um dieses Thema bleibt aber trotzdem bestehen.

Angst als Grundbefindlichkeit unseres Lebens

Angst ist nämlich eine Grundbefindlichkeit menschlichen Seins. Dies hatte vor knapp 200 Jahren schon auf sehr gründliche Weise der dänische Philosoph Sören Kierkegaard in seinem Werk »Der Begriff Angst»11 herausgearbeitet. Er unterschied sie von der Furcht, die einen Gegenstand hat (man fürchtet sich vor etwas). Die Angst ist gegenstandslos, man hat Angst als ein Grundgefühl. Angst ist bei Kierkegaard nicht nur negativ, er sieht sie als ein Lernfeld der Reifung, als etwas, durch das der Mensch hindurch muss, um frei zu werden. Angst bietet dem Menschen unzählige Möglichkeiten, aus denen er auswählen kann und muss. Angst ist geradezu die Bedingung von Freiheit und freier Wahl und der Motor menschlicher Entwicklung.

Spätere Existenzphilosophen wie Martin Heidegger, Karl Jaspers, Jean-Paul Sartre oder Gabriel Marcel arbeiteten die Tiefendimensionen dieses den Menschen von der Wiege bis zur Bahre bestimmenden Gefühls feinsinnig und für unser Selbstverständnis sehr hilfreich heraus. Man kann es drehen und wenden, wie man will, die Angst steckt in jedem Menschen, und dessen Aufgabe ist es, sie wahrzunehmen, zuzulassen und richtig mit ihr umzugehen.

Angst – auch und besonders die Angst vor dem Tod – hat grundsätzlich eine wichtige Funktion für unser Leben und unser Bewusstsein. Sie hat, wenn sie nicht pathologisch-krankhaft ist, eine wichtige und regulierende Funktion und hält uns vor übermäßig riskantem Verhalten zurück. Die Tiefenpsychologin und Psychotherapeutin Verena Kast sieht in der Auseinandersetzung mit der Angst generell eine wichtige Aufgabe, um mehr Zugang zu den Bereichen zu bekommen, die wir gerne verdrängen, nicht wahrhaben wollen und daher abkapseln. Sie hält in ihrem Buch »Vom Sinn der Angst»12