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Anne Gesthuysen verwebt eine ungewöhnliche Familiengeschichte mit dem faszinierenden Schicksal einer Malerin der Belle Époque. Ein geheimnisvolles Gemälde führt die Französin Lilie, ihre beste Freundin Hanna und ihren Vater vom Niederrhein über Paris bis in die Karibik. Die Reise auf den Spuren einer in Vergessenheit geratenen Künstlerin, die Lilies Ururgroßtante und enge Vertraute von Matisse war, wird für die drei zu einem letzten gemeinsamen Abenteuer, das Abschied und Neubeginn möglich macht. »Fesselnd, historisch, berührend!« Freundin Die Geschichte einer in Vergessenheit geratenen Malerin verbindet sich mit einer so anrührenden wie tröstlichen Reise des Abschieds. So witzig, traurig und verrückt wie das Leben selbst.
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Seitenzahl: 531
Inhalt
TitelDisclaimerPrologEin alter SchinkenVater meiner WahlFreunde fürs LebenEin festes BandEin Hauch von einem RubensTag am SeeGeorgette im NetzPaul Flat kniet niederEine impressionistische HühnersuppeWiedersehen in ParisFax zum FrühstückZerrüttung schwarz auf weißPlatz ist in der kleinsten HütteVermählung mit Öl auf LeinwandBriefe unterm DachjuchheEin Talent mit GeldsorgenFatale FlatulenzVon Wilden und WegbereiternPilger an trister StätteVon politischen Klippen und WüstenschiffenSchere dich nicht um die Kritiker!Schatten über MitsoukoEin Hinweis zum AbschiedEin Wackeldackel schüttelt den KopfEin Pazifist zieht in den KriegGeorgette und die GeschichteKunst statt KriegGeistesblitz in GrenobleEine brisante BouillabaisseHoffnung aufs ParadiesMerci, Monsieur SembatÜber den WolkenKünstlerbesuch an der KüsteTropische NächteEin Chalet in ChamonixSchatzsucheWarte auf mich!Mit Letztem WillenDie letzte EhreEpilogNachwort und DankBuchAutorinImpressumFelder, Wiesen und vereinzelte Nebelschwaden zogen an ihr vorbei, ab und zu eine einsame Kopfweide, die ihre Zweige abwehrend in den Himmel reckte, aber keine Landmarke, nichts, woran das Auge sich hätte festhalten können, so flach und weit mutete die Landschaft an. Seit einer ihr unendlich erscheinenden Zeit ratterte der Zug an der grünen Reizlosigkeit vorbei, doch nun endlich bremste er schnaufend. Lilie war angekommen. »Bahnhof Xanten«, hörte sie den Schaffner rufen. Es war nicht einmal ein Hauptbahnhof, dachte sie, so klein war der Ort. Vermutlich war allein schon Le Marais, das mondäne Pariser Stadtviertel, in dem sie wohnte, größer als dieses kaum wahrnehmbare Fleckchen auf der Landkarte. Es war ein böser Scherz des Schicksals, dass sie ausgerechnet hier, in dieser Einöde, gelandet war. Ein Jahr vor dem Abitur hatte sie die Schule geschmissen und deswegen riesigen Krach mit ihrer Mutter bekommen. Daraufhin hatte Lilie all ihr Erspartes zusammengekratzt und war Hals über Kopf in die Karibik abgehauen, wo sie ihren Vater wähnte und auch fand. Nur von Wiedersehensfreude konnte keine Rede sein, denn ihr Vater fuhr kurz nach ihrer Ankunft auf »Geschäftsreise«, wie er sich ausdrückte, und ließ sie allein zurück. Nach drei Tagen lernte sie Patrick kennen, nach vier Tagen lieben, und am fünften Tag war sie überzeugt davon, mit ihm den Rest ihres Lebens verbringen zu wollen. Doch ihre Mutter machte ihr einen Strich durch die Rechnung, denn nachdem sie ihre Tochter ausfindig gemacht hatte, stand sie auch schon vor Patricks Tür und rang Lilie einen Vertrag ab: Sie durfte bis zum Ende des Sommers in der Karibik bleiben, wenn sie im Gegenzug danach ein Jahr im Ausland zur Schule ginge. Lilie hatte, als sie dem Kompromiss zustimmte, natürlich an die USA gedacht, vor allem Miami lag deutlich näher an der Karibik als Europa, und so schrieb sie sich bei einem Austauschprogramm ein. Als sich herausstellte, dass sie sich deutlich zu spät beworben hatte, um ein so heiß begehrtes Ziel wie Miami zu ergattern, half alles Heulen nicht. Sie musste nehmen, was übrig blieb: Veen bei Xanten. Das klang in ihren Ohren ungefähr so attraktiv wie »Physik-Klausur«.
Die deutsche Familie hatte sich wohl genauso spät entschieden, an diesem Gastfamilien-Programm teilzunehmen. Sie hatte sich eine US-Amerikanerin gewünscht und lediglich eine Französin bekommen. Lilie seufzte und dachte: Gleich treffen sich die Letzten von der Resterampe. Sie kam sich vor wie im Sportunterricht, wenn schon alle in die Mannschaften gewählt worden waren und nur ein elendes Häufchen von Ungewollten auf der Bank zurückblieb.
Deutschland war so ziemlich das Schlimmste, was sie sich vorstellen konnte. Nazis, Winter und behaarte Beine war alles, was ihr dazu einfiel, außerdem eine unmelodische Sprache, die sich anhörte, wie ihr Labrador Bull, wenn er auf einem Knochen herumkaute.
Lilie sollte hier auf dem flachen deutschen Land gemeinsam mit ihrer Gastschwester Hanna zur Schule gehen. Sie hatte keine Vorstellung von dem Ort, an dem sie das nächste Lebensjahr verbringen würde. Veen hieß diese Einöde, damit war ihr Wissen auch schon erschöpft. Sie kannte die Schreibweise, hatte aber keine Ahnung, wie man es aussprach – Fihn oder Ouènne oder besser gleich Fin? So fühlte es sich nämlich an: wie das Ende – von allem. Auf der Landkarte war der Ort nicht zu finden. Er lag in der Nähe von Duisburg, hatte die Familie in die Bewerbung geschrieben. Als ob irgendjemand jemals von Duisburg gehört hätte.
In Duisburg also hatte Lilie noch einmal den Zug wechseln müssen, und nun stand sie in einem niederrheinischen Ballungszentrum, das nicht mehr war als eine größere Ansammlung von Häuschen: Xanten.
»Jetzt aber raus hier«, schimpfte in diesem Moment der Schaffner. Mit schweren Schritten schleppte sich Lilie samt ihren zwei großen Koffern aus dem Abteil. Da sie als Letzte den Zug verlassen hatte, war der Bahnsteig inzwischen beinahe menschenleer, nur am anderen Ende standen drei Personen. Das musste sie sein, Familie Terhöven. Die drei Menschen setzten sich in Bewegung und kamen gemessenen Schrittes auf Lilie zu. In ihrer Kurzsichtigkeit erkannte sie keine klaren Konturen, nur eine an den Rändern ausfransende Masse, die auf sie zuwogte und ein Schild hochhielt: LILIEAGUTTE stand dort in großen, ungleichmäßigen Buchstaben. Es war ein Stück Pappkarton, das mit einem dicken Klebeband an einem Besenstiel befestigt worden war. Der große Mann in der Mitte hielt das Schild, auf das Lilie entgeistert starrte. Langsam wanderte ihr Blick an dem Besenstiel nach unten, als sich plötzlich jemand vorstellte. »Est-ce que tu es Lilie?«, fragte das Mädchen unbeholfen deutlich, und Lilie überlegte kurz, sich zu verleugnen, nickte dann aber. Wer hätte sie auch sein sollen, es war ja sonst niemand da. Noch ehe sie diesen Gedanken zu Ende bringen konnte, drückte ihr das Mädchen, es musste Hanna sein, drei Küsse auf die Wange, rechts, links, rechts, und hielt sie dabei an den Schultern fest. Lilie zuckte zurück; die hatte richtig geküsst, das machten sonst nur alte Tanten irgendwo auf dem Land, es war unangenehm, aber sie war zu höflich, um sich die Wangen abzuwischen. Erwartungsvoll sah Hanna sie an, und erst jetzt wagte Lilie einen ungenierten Blick auf ihre »Schwester für ein Jahr«. Hanna entsprach jedem Klischee einer Deutschen: blond, mit einem unmöglichen Stufen-Haarschnitt, der ein bisschen an Andy Gibb in seiner Langhaarperiode erinnerte, das Gesicht breit und flächig mit großen, runden, freundlichen Augen, ein bisschen pummelig und unsagbar geschmacklos gekleidet. Sie trug wadenhohe Wildlederstiefel, darüber eine weite Karottenlatzjeanshose, in der ein zitronenfalterfarbenes Sweatshirt steckte. Der dicke Stoff wölbte sich rund um die Taille, die mit einem schmalen schwarzen Lackgürtel, so gut es ging, in Form geschnürt war. All das gab diesem ohnehin nicht gerade zarten Mädchen etwas absurd Walkürenhaftes. Das kann ja heiter werden, dachte Lilie, wenn alles andere hier ähnlich rückständig ist wie die Mode, dann werde ich das nächste Jahr in einer Höhle verbringen.
Plötzlich wurde ihr bewusst, dass auch Hanna sie mit weit aufgerissenen Augen anstarrte und mit ähnlich entsetztem Blick betrachtete. Sie sieht, was ich sehe, dachte Lilie: einen Menschen, der ihr so gegensätzlich ist wie ein Fotonegativ; ein schlankes Mädchen mit dunklen Haaren, die Augen mit schwarzem Kajalstift umrandet, schwarzer Rollkragenpulli, schwarze Steghose, wie sie derzeit in Paris en vogue war, und als Farbklecks grüne Strümpfe in schwarzen Ballerinas.
Was für eine aberwitzige Kombination diese Gastfamilien-Agentur zusammengewürfelt hatte: Stadtneurotikerin trifft Landpomeranze, sie hatten so viel Ähnlichkeit wie Audrey Hepburn und Marilyn Monroe, dachte Lilie entmutigt, dann rutschte ihr die Handtasche von der Schulter. Schnell schnappte sie danach, um zu verhindern, dass sie auf den Boden fiel, wobei sich der lockere Verschluss der Tasche öffnete und Zigarettenschachtel, Feuerzeug und ihr Kajalstift herausfielen. Lilie ging auf die Knie, klaubte die Rauchutensilien auf und sah dem Kajalstift nach, der über den Boden kullerte und vom Bahnsteig hinunter auf die Gleise plumpste.
In diesem Moment beugte sich der Familienvater zu ihr hinunter, ergriff ihre Hand und drückte sie fest. Seine Hand fühlte sich warm und angenehm an, und Lilie merkte, wie sie sich unwillkürlich entspannte. Hermann Terhöven half ihr mit Schwung wieder auf die Beine.
»Willkommen am Niederrhein«, sagte er.
Sie hatte es fast geschafft, nur noch ein Block, dann wäre sie zu Hause. Lilie schleppte sich über den nassen Asphalt und keuchte unter der Last der schweren Einkaufstüten wie eine alte Frau. Ich muss endlich mit dem Rauchen aufhören, dachte sie nicht zum ersten Mal. Die Rue Georgette-Agutte hatte so viele Unebenheiten, dass es nach dem Regen der vergangenen Nacht unzählige dreckige Pfützen gab. Lilie versuchte gar nicht erst, sie zu umgehen, ihre Ballerinas waren längst durchtränkt, die Füße nass. Im Juni, wenn der Asphalt die Wärme des Sommers gespeichert hatte, war Paris morgens dunstig. Leichte Nebelschwaden stiegen vom Boden und aus den Gullis empor, und scharfe Gerüche krochen den Frühaufstehern entgegen. Notgedrungen gehörte Lilie inzwischen zu denen, die früh rausmussten. Ihr Terriermischling Intox fing pünktlich um sechs Uhr dreißig an zu fiepen, stupste sie zunächst freundlich, schließlich drängelnd bis drohend mit seiner kalten Nase, bis sie sich aus den Federn quälte und mit ihm Gassi ging. Jetzt, am Nachmittag, bei seinem zweiten Spaziergang, hüpfte der kleine Hund wie ein Flummi zwischen den Pfützen hin und her und versuchte, ein paar der von ihm aufgewirbelten Tropfen mit der Schnauze zu fangen. Hunde und kleine Kinder ähneln sich sehr, stellte Lilie wieder mal fest und wünschte sich, sie hätte nur einen Bruchteil dieser Energie. Intox war ein Findelkind, wie alle ihre Tiere. Sie hatte schon als kleines Mädchen die kranken Spatzen ins Haus geholt und liebevoll umsorgt. Unglücklicherweise hatten die Vögelchen ausnahmslos ihre 1,5-Prozent-H-Milch nicht vertragen und waren aller wohlmeinenden Pflege zum Trotz verendet. Mit den robusteren Tieren, Katzen und Hunden, hatte sie mehr Erfolg gehabt, Intox war dafür das letzte und beste Beispiel. Der Kleine war vielleicht sechs Wochen alt gewesen und hatte eines Morgens mehr tot als lebendig auf dem Trottoir vor der Haustür gelegen. Sie hatte das Häufchen Elend vorsichtig auf ein weiches Kissen geschoben, in eine alte Weinkiste gelegt und zum Tierarzt gebracht. Intox, so erfuhr sie, war vermutlich erst vergiftet und dann ausgesetzt worden. Dass er überlebt hatte, war ein kleines Wunder. Jede Stunde träufelte sie dem Hund Medikamente mit einer Pipette ein. Nach zwei Wochen war sie sicher, dass er überleben würde, nach drei Wochen wusste sie, dass sie den kleinen Quälgeist nie wieder hergeben würde, noch eine Woche später nannte sie ihn Intox. Sieben Jahre war das nun her, doch Intox benahm sich immer noch wie ein Welpe. Er nagte an Stromkabeln, zerriss Kissen und sorgte täglich für Chaos in ihrer kleinen Wohnung.
Es waren nur noch wenige Meter bis dorthin. Intox schnüffelte an einem zerrissenen Wahlplakat. »Du kannst ruhig davor pinkeln«, ermunterte Lilie ihren Hund, »ich hätte nichts dagegen.« Das Bild zeigte Nicolas Sarkozy, er hatte vor knapp sechs Wochen die Präsidentschaftswahlen gegen Ségolène Royal gewonnen. Lilie war darüber sehr enttäuscht, sie hatte für die linke Ségo gestimmt, wie ihre ganze Familie und alle ihre Freunde. Noch einmal fünf Jahre konservative Regierung würde das Land spalten, so viel war sicher.
Sie war an der Nummer 18 angekommen, tippte 5435A in die Codeanlage, und der Summer verriet ihr, dass sich die Haustür nun öffnen ließ. Sie überlegte kurz, ob sie die vier Etagen zu Fuß gehen sollte, zumal Intox schon vorgeflitzt war, entschied sich dann aber für den Aufzug. Seit einigen Jahren zwang sie sich ab und an, die vielen Stufen zu gehen, um ein Minimum an Bewegung zu haben. Sie rauchte zu viel und war noch nie eine begeisterte Sportlerin gewesen. Im Grunde hatte sie es niemals nötig gehabt, zu trainieren, zumindest nicht, um ihre Linie zu halten, denn sie war von Natur aus zart und feingliedrig und mit gut einem Meter siebzig relativ groß. Allerdings musste sie sich eingestehen, dass seit der Geburt ihres Kindes die gute Figur dahin war, der Bauch war rundlich geblieben, auch an den Hüften hatte sich der Speck hartnäckig gehalten. Was soll’s?, dachte sie, der Junge ist gesund und kräftig, das ist die Hauptsache.
Endlich klingelte der alte Fahrstuhl, die Tür ging stockend auf, und Lilie drückte auf die 4. Man durfte in diesem Aufzug nicht unter Klaustrophobie leiden, und wenn zwei Menschen gleichzeitig in der Kabine waren, musste man sich sehr nahe stehen. Der Aufzug ächzte und stöhnte, während er in die vierte Etage schaukelte. Als er oben ruckartig zum Stehen kam, hielt Lilie sich fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Sie kramte in ihrer Handtasche nach dem Wohnungsschlüssel und stutzte. Normalerweise hätte Intox längst auf sie warten müssen. War der Hund vielleicht in der zweiten Etage bei der Nachbarin aufgehalten worden? »Intox«, rief sie nach unten ins Treppenhaus, aber sie bekam keine Antwort, kein Bellen, kein Fiepen, kein Trippeln der Pfoten auf den Holzdielen der alten Treppe. Mit dem Schlüssel in der Hand ging sie auf ihr Apartment zu, und plötzlich erkannte sie, dass die Wohnungstür nur angelehnt war. Lilies Nackenhaare sträubten sich. Vielleicht war ihre Mutter schon früher als erwartet in die Stadt gekommen und hatte Intox die Tür geöffnet, versuchte sie sich zu beruhigen. Marguerite lebte etwa hundert Kilometer nördlich von Paris in einem kleinen Dorf. Sie war frühzeitig in Rente gegangen und konnte sich die teure Miete in der Stadt nicht mehr leisten, aber alle ihre Freundinnen waren in der Metropole geblieben, und so war sie mindestens einmal in der Woche hier zum Kino oder Restaurantbesuch verabredet. An diesen Tagen kam sie am frühen Nachmittag, um den Feierabendverkehr zu umgehen, und legte sich bei ihrer Tochter exakt eine Stunde aufs Sofa, um für den Abend mit ihren Freundinnen gerüstet zu sein. Sie hat mir gar nicht Bescheid gesagt, überlegte Lilie. »Maman«, rief sie, »Maman, ich bin zurück. Du kannst nicht einfach so in meine Wohnung hineinspazieren. Ruf mich wenigstens vorher an, wenn du schon so früh kommst!«
Als sie immer noch keinen Mucks hörte, wurde sie erneut unruhig. Sie hielt den Atem an. Es war jemand in ihrem Apartment, sie spürte die Anwesenheit eines Menschen mehr, als dass sie etwas hörte, und sie fühlte Panik in sich aufsteigen. Vorsichtig öffnete sie die Tür und ging durch den Flur, wobei sie die knarzenden Dielen unter dem Teppich vermied. Ihr Herz klopfte heftig, und das Blut rauschte in den Ohren. Ihr Sohn, der sich vor ihr versteckte, um sie dann zu erschrecken, konnte es nicht sein, Pierre war um diese Zeit noch in der Schule, und ihre Mutter hätte sich längst zu erkennen gegeben.
»Wer ist da?«, brüllte sie so laut, wie sie konnte, und sprang mit einem Satz in das kleine Wohnzimmer. »Intox« schrie sie, als sie ihren Hund leblos in der Ecke liegen sah, und im selben Moment knallte ihr etwas an den Kopf. Sie taumelte rückwärts in den Flur und schlug gegen die Heizung. Vor ihren Augen tanzten Muster, sie spürte einen weiteren Schlag an der Stirn, ihre Schläfe pulsierte. Sie hielt die Arme vor das Gesicht, jemand schien über ihre Beine zu stolpern, sie hörte ein Geräusch, das in etwa so klang, als würde ein Pappkarton aufgerissen, dann umgab sie nur noch Dunkelheit.
Etwas Kaltes rann von der Stirn an ihrer Nase entlang und benetzte ihre Lippen, als sie wieder zu Bewusstsein kam. Nein, kein Blut, dachte sie, als sie es schmeckte, nur Wasser. Sie versuchte die Augen zu öffnen, doch ein Schmerz durchzuckte sie wie ein Stromschlag. Er breitete sich von ihrer rechten Schläfe in den ganzen Körper aus. »Oh, das sieht böse aus«, murmelte Madame Brabant, Lilies Nachbarin, die ihr offensichtlich gerade das Gesicht mit einem nassen Waschlappen abtupfte, »ich fürchte, das muss genäht werden. Können Sie mich verstehen? Mademoiselle Agutte, sind Sie bei sich? Soll ich einen Arzt rufen? Oje, da hat Sie jemand böse zugerichtet, und das nur wegen eines so ollen Schinkens.« Lilie nickte kurz, um Madame Brabant zu signalisieren, dass sie bei Verstand war, dann wurde ihr erneut schwindelig.
Als Nächstes hörte sie ihre Mutter schluchzen. Marguerite war offenbar inzwischen eingetroffen, sie wiegte Intox in den Armen. Der Hund hatte die Augen geschlossen, roter Schaum tropfte von seinen Lefzen, sein Kopf hing kraftlos nach unten.
Als sie diese Szene sah, war Lilies Benommenheit schlagartig verschwunden. »Maman, was ist los? Was ist mit Intox?«
»Sie haben ihn getreten«, schluchzte Marguerite und streichelte dabei das Fell des leblosen kleinen Hundekörpers, »diese Bestien haben unseren Schatz getreten und ihn gegen die Wand geschleudert.«
Lilie richtete sich auf, während ihre Mutter unentwegt weiterredete: »Madame Brabant hat mich auf dem Handy angerufen, da war ich schon am Périphérique, und als ich wenige Minuten später hier ankam, habe ich Intox im Salon gefunden, er lag in seinem Erbrochenen, das arme Kerlchen. Ich bin sofort mit ihm nach nebenan zum Tierarzt gelaufen, Madame Brabant hat in der Zwischenzeit auf dich aufgepasst. Monsieur Marignol war so freundlich, mich vorzulassen. Er hat ihm ein Medikament gegeben. Lilie, es war furchtbar, er hat ihm das Mittel in den Hals gedrückt und dann den Mund zugehalten, damit er es schluckt. Aber wenigstens hat Intox nun keine Schmerzen mehr. Er schläft sich aus.« Marguerite rieb die Nase in dem struppigen Fell des Terriermischlings und liebkoste ihn. »Mein Springteufelchen, wenn wir diese bösen Menschen finden, dann zeigen wir es denen. Bald ist alles gut«, dabei zog sie das U so in die Länge, dass daraus ein lang gezogenes beruhigendes Brummen wurde.
»Maman, hast du mir auch einen Arzt gerufen?«
»Warum, mein Kind, geht es dir so schlecht?«
Lilie traute ihren Ohren nicht.
»Lass mich kurz überlegen. Ich bin überfallen worden, jemand ist in meine Wohnung eingedrungen, hat mir einen Schlag auf den Kopf gegeben, ich habe eine Wunde auf der Stirn, Kopfschmerzen. Ja, um genau zu sein, ich hatte schon bessere Tage.«
»Warum wirst du so bissig«, fragte ihre Mutter mit beleidigtem Unterton, »was habe ich denn jetzt schon wieder falsch gemacht? Ich habe deinen halb toten Hund versorgt und ein wenig Ordnung gemacht, während du dich auf dem Sofa erholt hast, außerdem hat immer jemand nach dir geschaut. Und hier sah es schlimm aus. Das Agutte-Bild hat auch etwas abbekommen. Aber es war ja sowieso nicht besonders schön.«
Lilie hatte Kopfschmerzen. Sie wollte nicht mit ihrer Mutter streiten. Sie meinte es ja nicht böse, es war nur so, dass sie jegliche Form der Fürsorge immer nur für andere Lebewesen bereithielt. Ihre Mutter war der festen Überzeugung, dass Lilie ihr Leben schon allein meistern würde, und zwar seit sie etwa fünf Jahre alt war. Lilie seufzte. Sie versuchte sich zu sammeln. Bei ihr war also eingebrochen worden. Ob es sinnvoll wäre, die Polizei zu rufen? Sie verwarf die Idee schnell. In Paris wurde ständig und überall eingebrochen; dass sie in ihrem fast vierzig Jahre währenden Leben bislang davon verschont geblieben war, hatte eh an ein Wunder gegrenzt. Bei ihrer Freundin Muriel war eine Zeit lang beinahe wöchentlich eingebrochen geworden. Der Familienschmuck war schon lange weg, den Fernseher hatte Muriel irgendwann angekettet, und im Flur lagen bei ihr stets ein Zehn-Euro-Schein und ein Zettel mit der Aufschrift: »Weitersuchen lohnt sich nicht. Das ist alles, was ich habe«.
Es waren fast immer erbarmungswürdige Junkies, und Lilie vermutete, dass es auch in ihrem Fall so war. Sie schaute sich in der Wohnung um, der Fernseher war noch da, ihren Laptop hatte sie bei sich gehabt, erinnerte sie sich, denn sie hatte sich noch darüber geärgert, dass sie vor dem Einkauf versäumt hatte, das schwere Ding aus der Tasche zu nehmen. »Maman, liegt meine Tasche noch im Flur, oder ist sie gestohlen worden?«, fragte sie ängstlich, denn sie hatte nicht genug Geld, um einen neuen zu kaufen, und außerdem waren darauf alle ihre Fotos und ihre Lieblingsfilme. Mit Erleichterung hörte sie ein brummiges »Ja, sie liegt da, wo du sie hingeworfen hast«.
»Wo du angegriffen wurdest, wäre sicher treffender«, murmelte Lilie. »Fehlt sonst irgendetwas?«, fragte sie stattdessen laut.
»Für deinen Laptop hat sich niemand interessiert, die wollten tatsächlich nur das Bild, behauptet Madame Brabant. Aber was hätten sie mit dem wertlosen Ding bloß anfangen sollen?«, sagte Marguerite, die das offenbar nicht für besonders glaubwürdig hielt. »Madame Brabant beteuert, sie habe die Diebe im Flur gehört, eine Frau habe einen Mann gescholten, weil er das dusselige Bild hier oben gelassen hat.« Sie schüttelte den Kopf: »Leute gibt’s!«
Das Bild war ziemlich groß, möglicherweise hatte man sie mit dem Rahmen niedergeschlagen, das würde ihre Wunde an der Stirn erklären, überlegte Lilie. Sie drückte immer noch ein Kühlkissen darauf, das die Blutung inzwischen gestoppt hatte.
»Maman, lag das Bild im Flur?«
»Ja«, antwortete ihre Mutter und fügte entschuldigend hinzu, »es hat einen Riss, und ich konnte es auch nirgendwo verstauen, am besten wir bringen es nachher in den Müll.«
»Hm«, antwortete Lilie. Vermutlich hatten die Eindringlinge das Bild auf der Suche nach wertvollem Schmuck in der Abstellkammer entdeckt, und als sie in die Wohnung kam, hatte man sie damit niedergeschlagen. Vielleicht hatte sie die Arme zur Abwehr des Schlages hochgerissen und dabei die Leinwand beschädigt. Dass die Diebe aber, wie Madame Brabant behauptete, tatsächlich nur das Bild stehlen wollten, konnte sich Lilie beim besten Willen nicht vorstellen.
»Ist Madame Brabant noch hier?«
»Nein, sie ist gerade weg, sie hatte einen Kuchen im Ofen. Warum?«
»Ich wollte mich für ihre Fürsorge bedanken. Und außerdem hätte ich gerne gewusst, ob die Diebe das mit dem Bild wirklich so gesagt haben. Ist doch seltsam, oder?«
Andererseits, dachte Lilie, ist es das Einzige, was es hier überhaupt zu holen gab. Unter dem wertlosen Zeug in der Wohnung erschien es ihnen vielleicht am reizvollsten. Im Grunde war es auch nicht so wichtig, denn sie war mit dem Schrecken davongekommen. Na ja, wie man es nahm, dachte sie und betastete vorsichtig die Wunde an ihrer Schläfe, als ihr Handy im Flur klingelte. Sie hörte, wie ihre Mutter ranging und fröhlich zu plaudern begann.
»Es ist Hanna«, rief sie Lilie zu.
»Sag ihr bitte, dass ich später zurückrufe. Im Moment kann ich nicht«, antwortete sie, ging in das schlecht beleuchtete Badezimmer und betupfte die Blessur mit Betaisodona, das sie immer für ihren Sohn parat hatte. Zwei Löcher in zwei Aguttes, fasste sie den Schaden zusammen.
»Maman, kannst du Pierre nach der Schule in Empfang nehmen? Ich gehe zum Arzt und lass die Wunde nähen.«
Lilie fühlte einen merkwürdigen Druck hinter ihrem Solarplexus, ein ungutes Gefühl. Ihre Freundin Hanna hatte sie angerufen und eindringlich gebeten, zu kommen. Ihr ehemaliger Gastvater Hermann war krank, er kämpfte bereits seit drei Jahren gegen den Krebs, doch jetzt hatte sich sein Zustand wieder verschlechtert. Hanna hatte am Telefon sehr aufgeregt geklungen: »Warte nicht zu lange«, hatte sie gesagt, »es ist ernst.« Lilie hatte ihre Mutter gebeten, in Paris bei Pierre zu bleiben, und den nächstbesten Zug genommen. Obwohl sie es sich eigentlich nicht leisten konnte, hatte sie ein teures Thalys-Ticket gekauft.
Nun saß sie in der Bahn. Den Thalys hatte sie in Duisburg verlassen und war in einen Regionalzug umgestiegen. Das Geratter klang wie eine Nähmaschine. Rattatat, rattatat, rattatat, summte Lilie in Gedanken mit und hatte das Gefühl, dabei in eine Art Trance zu verfallen. Bald wäre sie da, das Geräusch und Geruckel des Zuges ließen keinen Zweifel daran. Die Schienen auf dem letzten Stück von Duisburg nach Xanten waren sehr alt, jede einzelne war deutlich kürzer, als man das von modernen Strecken gewohnt war, wodurch es zu diesem hektischen Gerumpel kam. Neben der Sorge um Hermann spürte Lilie eine altbekannte Nervosität in sich aufsteigen. Noch immer befiel sie diese Aufregung, kurz bevor sie in Deutschland ankam, obwohl sie mittlerweile seit mehr als zwanzig Jahren regelmäßig hierherfuhr, aufs Land, in die deutsche Pampa, wie sie es liebevoll nannte. Beim ersten Mal hatte es sich wie eine Strafe angefühlt, dabei war ihre Mutter nur überfordert gewesen von einem aufsässigen Teenager, der sein Abitur schmeißen wollte. Lilie schmunzelte. Sie würde vermutlich das Gleiche tun, wenn ihr Sohn später derart über die Stränge schlüge, zumal die Entscheidung im Nachhinein genau richtig gewesen war. Aus den fremden Menschen in Deutschland, zu denen man sie damals geschickt hatte, war ihre deutsche Familie geworden. Eine richtige Familie, wie sie sie in Frankreich niemals gehabt hatte, eine Familie mit Vater und Mutter, mit Großeltern und Tanten und Großtanten, die sie mit überraschender Herzlichkeit aufgenommen hatten. Ihre anfängliche Überheblichkeit und Verachtung für diese provinziellen Bauerntrampel war sehr schnell etwas anderem gewichen: einem Gefühl von Vertrauen und Geborgenheit. Ihr Gastvater, Hermann, zeigte sich völlig unbeeindruckt von ihrer vor sich hergetragenen Pariser Nonchalance, mit der sie doch nur ihre Unsicherheit verbergen wollte, nahm sie mit all ihren Neurosen und Komplexen an und kümmerte sich um sie, wie sie es bei ihrem leiblichen Vater nie erlebt hatte.
Eines Tages hatte sie dann all ihren Mut zusammengenommen und Hermann quasi einen Antrag gemacht. Ja, dachte Lilie, es war im Grunde ein Antrag gewesen. Nur, dass sie nicht auf die Knie gefallen war und auch keinen Ring hervorgeholt hatte. Aber sie war mindestens genauso nervös und verlegen gewesen. Mit hochrotem Kopf war sie auf Hermann zugegangen, der gerade in seine Sonntagszeitung vertieft war.
»Eine Frage, bitte«, sagte sie viel zu laut und undeutlich und sah ihn zusammenzucken.
»Was?«, antwortete Hermann und ließ die Zeitung sinken. Sie hatte das Gefühl, dass es, nun da sie ihn einmal gestört hatte, kein Zurück mehr gab. Sie räusperte sich mehrmals, aus Angst, ihre Stimme würde sie im Stich lassen, dann stammelte sie:
»Darf isch Sie meine Vatär ruffen?« Hermann riss bei ihren Worten die Augen so weit auf, dass Lilie für einen Moment Sorge hatte, seine Augäpfel könnten aus den Höhlen treten. Dann kniff er die Augen wieder zusammen, wie er es immer tat, wenn er sich konzentrierte, schob die Lippen nach vorne, als hätte er eine seiner dicken Zigarren im Mund, sog vernehmbar Luft ein, warf einen entschlossenen Blick auf die Uhr und fragte skeptisch:
»Muss das sofort sein? Nach neunzehn Uhr ist es günstiger.«
»Wie bitte?«, fragte Lilie entsetzt, und Hermann antwortete sehr deutlich und sehr langsam:
»Wenn du mit deinem Vater auf den Antillen telefonieren willst, dann warte bitte noch ein paar Stunden. Abends sind die Anrufe billiger.«
Lilie wollte das Missverständnis aufklären, doch sie brachte nur ein »Non. Nein. Morgen« heraus und stürmte in ihr Zimmer, wo sie den Rest des Abends blieb und den Kopf im Kissen vergrub. Aber so leicht wollte sie sich nicht geschlagen geben, entschied sie am nächsten Morgen. Sie vertiefte sich in ihr Lexikon und startete einen neuen Versuch.
»Sei mir ein Vater. Der Vater meiner Wahl« – sie hatte den Satz stundenlang vor dem Spiegel geübt, und als sie ihn endlich ausgesprochen hatte, war sie glücklich, schon allein deshalb, weil sie ihn einigermaßen fehlerfrei hervorgebracht hatte. Wie zum Tusch schlug in diesem Moment die alte Standuhr zur vollen Stunde, und sie sah, wie Hermanns Hand automatisch zur Fernbedienung griff. Es war Zeit für die Nachrichten. Doch dann lächelte er sie an. »Hast du etwa was ausgefressen?«
»Nein, nein«, wollte Lilie sich gerade erklären, doch Hermann unterbrach sie:
»Das war nur ein Scherz. Ich habe dich sehr wohl verstanden.« Dann stand er auf, gab ihr einen Kuss auf die Stirn und setzte sich wieder vor den Fernseher. Lilie war sich keineswegs sicher, ob er sie wirklich verstanden hatte, doch sie nahm die Geste für die Tat und gab sich damit zufrieden.
Ihr war vorher nicht bewusst gewesen, wie sehr sie sich einen echten Vater gewünscht hatte, einen, der für sie da war, einen Vater, auf den man sich verlassen konnte und der nicht irgendwo als Abenteurer in der Weltgeschichte herumgondelte und nebenher noch mehr Familien gründete. So nämlich war Yves, ihr leiblicher Vater. Lilie hatte neben zwei Vollgeschwistern noch fünf Halbschwestern und -brüder. Wie viele es insgesamt tatsächlich waren, wollte sie lieber nicht wissen.
Lilie lauschte wieder dem Rattern des Zuges. Sie sah aus dem Fenster und erkannte die Kopfweiden des alten Rheinarms rund um die Bislicher Insel. In wenigen Minuten würde sie ankommen. Sie schloss den Laptop und schob ein Lesezeichen in ihr Buch. Dann nahm sie den Brief, der vor ihr auf dem Tischchen gelegen hatte, steckte ihn vorsichtig in den Umschlag zurück und drückte ihn an die Brust. Es war der Brief eines kleinen Mädchens, und er hatte sie zutiefst berührt. Sie hatte ihn in dem alten Bilderrahmen gefunden, mit dem sie niedergeschlagen worden war. Es war purer Zufall gewesen. Sie hatte das unhandliche Teil entsorgen wollen, wie ihre Mutter es vorgeschlagen hatte, zumindest den Rahmen, der ganz besonders hässlich war. Da sie ihn in voller Größe nicht im Aufzug hätte transportieren können, hatte sie die Leinwand abgelöst und dabei war ihr plötzlich ein Papier in den Schoß gefallen. Es war der Brief eines kleinen Mädchens namens Georgette, gerichtet an ihren verstorbenen Vater Georges, den Maler des Bildes, das angeblich die Einbrecher hatten stehlen wollen. Und auch, wenn Lilie Madame Brabants Theorie für absurd hielt, so hatte sie das Bild, einer seltsamen Intuition folgend, schließlich doch zusammengerollt, in ein Tuch gewickelt und in ihre große Reisetasche gepackt, um es mit an den Niederrhein zu nehmen.
Auf einmal hatte das Bild für sie einen ideellen Wert bekommen, es war zum Bindeglied zwischen ihr und dem Mädchen Georgette geworden, das sich, wie der Brief vermuten ließ, genauso sehr nach einem Vater gesehnt hatte wie sie in dem Alter, und Lilie fragte sich, was wohl erträglicher war: ein abwesender oder ein toter Vater. Sie fand diese Frage so makaber wie schwierig, denn natürlich wünschte sie ihrem Vater nicht den Tod. Andererseits war Yves für sie eine ständige Enttäuschung gewesen. Wie sehr hatte sie sich als Kind auf seine seltenen Besuche gefreut. Yves hatte die ganze Familie dann in teure Restaurants ausgeführt, aber meist schon am zweiten Tag seines Besuches einen Streit vom Zaun gebrochen, um einen Grund zu haben, wieder zu gehen. Lilie war traurig zurückgeblieben, hatte sich stets gefragt, ob sie schuld war an der Abreise ihres Vaters, war wütend gewesen und hatte ihn zugleich nur noch mehr vermisst.
Das Mädchen aus dem Brief jedoch kannte nur die Sehnsucht.
Papa,
ich vermisse Dich. Heute ist mein achter Geburtstag, und ich wünschte mir so sehr, dass Du an diesem Tag bei mir sein könntest.
Mama hat mir erklärt, dass Du tot bist. Aber wo bist Du, wenn Du tot bist? Hältst Du Deine Hand über mich? Manchmal, wenn ich Angst habe, stelle ich mir das vor. Dann kann ich spüren, wie Du mich aus dem Himmel umarmst. Ich will, dass Du stolz auf mich bist. Siehst Du, wie fleißig ich übe? Wenn ich groß bin, werde ich Malerin, das verspreche ich Dir.
Deine Georgette
Das Mädchen faltete den Brief akkurat zusammen. Dann kletterte sie auf die hölzerne Kommode, um an das Bild heranzukommen, hob den schweren Rahmen ein wenig hoch, sodass sich der Haken vom Nagel löste, und stellte es vorsichtig auf die Kommode. Sie hatte das Bild schon einige Male ab- und wieder aufgehängt und inzwischen Übung darin.
Das Bild zeigte eine Reiterin auf einer Waldlichtung, sie saß, den Rock nach links geschwungen, im Damensattel. Vom Betrachter hatte sie sich schon ein gutes Stück entfernt, ritt in der Mitte des Bildes. Licht fiel durch die Bäume, und erneut fragte Georgette sich, wohin die blonde Frau wohl unterwegs war. Ob sie jemanden besuchte. Es musste gegen Mittag sein, denn die Sonne schien hell und klar von oben auf die Reiterin. Nachdenklich betrachtete sie das Bild, das ihr Vater gemalt hatte. Wie schön es war. Ihr Vater hatte Georges geheißen, sie war nach ihm benannt, war auf die Welt gekommen, um sein Leben fortzusetzen, so hatte ihre Mutter es ihr erklärt.
Georgette erschrak, als sie ihre Tante Adèle rufen hörte.
»Georgette, komm herunter, wir wollen deinen Kuchen essen.«
»Ja, Tata, ich bin schon unterwegs«, rief Georgette, legte den Brief zur Seite und eilte zur Treppe.
Sie fühlte sich in Bonnières-sur-Seine bei ihrer Tante oft wohler als bei ihrer Mutter in Paris. Da ihre Tante keine Kinder hatte, hatte Georgette hier sogar ein eigenes Zimmer. Außerdem hatte sie im Dorf Freunde zum Spielen gefunden, auch wenn die zum Teil einige Jahre älter waren. Bernadette zum Beispiel kam fast jeden Nachmittag vorbei, wenn sie wusste, dass Georgette im Ort war. Sie durften im Sommer den ganzen Tag draußen bleiben, und Georgette liebte es, gegen Mittag am Ufer der Seine eine Decke auszubreiten und unter freiem Himmel zu essen. Auf dem Land gefiel ihr einfach alles, alles war schöner als in Paris, denn wenn sie hier aus dem Fenster blickte, sah sie aus jedem Winkel den Fluss, während ihr Blick in Paris immer nur auf andere Häuser fiel. Hier gab es einen Garten direkt vor der Tür, während sie in Paris bis zum Bois de Boulogne laufen musste, aber vor allem hatte sie hier das Bild gefunden, das ihr Vater gemalt hatte.
Im Wohnzimmer standen ein selbst gebackener Apfelkuchen und ein Glas Milch für sie bereit.
»Hast du in deinem Zimmer gemalt?«, fragte ihre Tante und streichelte ihr über den Kopf.
»Hm«, sagte Georgette, setzte sich und nahm ein großes Stück vom Kuchen. Sie versuchte, dabei fröhlich auszusehen, denn sie wollte ihrer Tante keine Pein bereiten, indem sie ihr zeigte, wie traurig sie an diesem Tag in Wahrheit war. Ihre Tante hatte einen Kranz mit acht Kerzen auf den großen Esstisch gestellt, und Georgette musste sich auf den Stuhl knien, um sie zu erreichen. Sie pustete die Kerzen aus, ihre Tante klatschte. Georgettes Blick fiel auf das kleine Bild über dem Kamin, das sie erst im vergangenen Jahr gemalt hatte. Es zeigte die Seine, wie sie an der Haustür vorbeifloss, samt der kleinen Insel, die den breiten Fluss teilte. Georgette war nun, ein Jahr älter, nicht mehr zufrieden damit. Sie beschloss ein neues, ein schöneres Bild zu malen, was sie ihrer Tante auch sogleich mitteilte.
»Ach Kleines, du bist genau wie dein Vater. Wo er ging und stand, hatte er seinen Notizblock dabei und zeichnete. Später ist er oft im Wald gewesen, um die Natur zu malen. Ich bin sicher, er sieht dir voller Wohlgefallen zu.« Sie seufzte, dann sah sie Georgette verschmitzt an: »So, und nun musst du dich noch ein wenig gedulden. Dein Geburtstagsgeschenk gibt es nämlich erst heute Abend.«
Georgette wusste, dass ihre Tante sich immer besondere Mühe gab, sie aufzuheitern, nachdem sie von Georgettes Vater gesprochen hatte. Dabei wäre das gar nicht nötig gewesen. Georgette liebte es, wenn ihre Tante über den Vater sprach, wenn sie Anekdoten aus ihrer Kindheit erzählte und vor allem wenn sie Georgette versicherte, dass sie auf dem besten Weg sei, genauso zu werden wie ihr Vater. Sie ging um den Tisch herum, gab ihrer Tante einen Kuss auf die Wange und lief zur Tür, denn draußen hatte sie den Nachbarsjungen gesehen. »Danke für den Kuchen, Tata«, rief sie ihrer Tante noch zu, »ich gehe zu Marcel.«
Marcel war der Sohn des Postmeisters in Bonnières, er war ein paar Jahre älter als Georgette, und sie bewunderte ihn sehr. Marcel wirkte so klug, er war still und konzentriert, und wann immer Georgette ihn sah, las er. Es gab Tage, da saßen sie nur nebeneinander und sprachen kaum, denn Georgette hätte es niemals gewagt, ihn grundlos zu unterbrechen. Auch heute wirkte er äußerst vertieft in sein Buch, doch heute war ein besonderer Tag, und so erlaubte Georgette sich, ihren Freund zu stören.
»Guten Tag, Marcel. Heute ist mein Geburtstag, möchtest du vielleicht ein Stück Kuchen mit mir essen?«
Der Junge lachte sie an. »Herzlichen Glückwunsch, kleine Gette. Warte einen Moment.« Dann ging er ein paar Schritte in den Garten, pflückte eine Blüte vom Magnolienbaum und steckte sie Georgette ins Haar, das ihre Tante ihr zu einem Knoten am Hinterkopf frisiert hatte. Georgette kannte Marcel, so lange sie denken konnte. Wann immer sie bei Tante Adèle zu Besuch war, traf sie ihn, denn seinem Vater gehörten das Hinterhaus und der Garten.
Georgette hatte in Paris Privatlehrer, doch bis auf das Zeichnen machte ihr der Unterricht nicht besonders viel Spaß. Das änderte sich schlagartig, wenn Marcel ihr etwas erklärte. Eine Zeit lang hatte er ihr vorgetragen, was Homer geschrieben hatte, und Georgette hatte das Gefühl gehabt, am Trojanischen Krieg höchstpersönlich beteiligt gewesen zu sein. Wenn Marcel Geschichten erzählte, dann war sie Teil des Geschehens, und oft lag sie nach solchen Tagen abends noch lange wach und malte sich aus, was sie getan hätte, wenn sie die schöne Helena oder Kassandra gewesen wäre. Sie saugte jeden Satz von Marcel auf und gab sich große Mühe, alles zu behalten, denn es konnte passieren, dass er beim nächsten Treffen genau dort wieder anknüpfte, wo er aufgehört hatte. Sie wiederholte die Einladung zum Kuchenessen.
»Dazu habe ich leider keine Zeit«, antwortete Marcel bedauernd. »Weißt du, ich muss heute noch sehr viel lernen. Ich werde bald aufs Lycée gehen, um eines Tages ein großer Anwalt zu sein.« Vielleicht würde er sogar Richter, überlegte Georgette, denn alle Jungen im Dorf hörten auf ihn, sogar die frechsten. Zusammen mit Bernadette hatte sie einmal beobachtet, wie Marcel einen Streit geschlichtet hatte, fast ohne etwas tun zu müssen. Er hatte einfach nur mit ruhiger Stimme »Hört auf!« gesagt. Mehr nicht, dann war die Zankerei vorbei gewesen.
»Ganz bestimmt wirst du das«, bestätigte sie deshalb ihren Freund. »Was lernst du gerade?«
»Philosophie. Ich lese die Persischen Briefe von Montesquieu.«
»Ah«, sagte Georgette, die diesen Namen noch nie gehört hatte, sich aber keine Blöße geben wollte, »weißt du, ich schreibe auch Briefe an meinen Vater, aber der kann sie nicht lesen, weil er schon tot ist.« Marcel sah sie mitfühlend an, und sie sah sich ermuntert, weiterzureden. »Wie ist das, einen Vater zu haben?«
»Schön«, sagte Marcel nach einem kurzen Moment. »Mein Vater nimmt mich oft mit zum Angeln. Ihm ist es sehr wichtig, dass ich gute Noten in der Schule habe, und er hat mir immer gesagt, was gut und was schlecht ist.« Er runzelte die Stirn. »Ich glaube, er zeigt mir die Richtung, damit ich weiß, wo ich langgehen muss«, schloss er und sah sie an. Georgette wünschte sich in diesem Augenblick, ihr Vater könnte sie an die Hand nehmen, Staffelei und Leinwand unter dem Arm, und mit ihr in den Wald gehen, um zu malen.
»Kannst du mir nicht die Richtung zeigen? Bitte Marcel, ich habe doch heute Geburtstag, schenk mir eine Richtung.«
Marcel nahm ihre Hand in seine und schaute sie lange an. »Ich kann dir nicht den Vater ersetzen. Aber ich schenke dir meine Freundschaft.« Dann stand der Junge auf, nahm sein Buch, sagte bedauernd »Jetzt muss ich aber wirklich lernen« und ging zurück ins Haus. Georgette sah ihm nach, dann ging auch sie wieder hinein, nahm die Stufen zu ihrem Zimmer und faltete den Brief an ihren Vater auseinander. Unter dem Fenster stand ein kleiner Sekretär mit einer Holzbank davor, die ein wenig zu hoch für sie war. Wenn sie darauf saß, baumelten ihre Beine in der Luft. Sie nahm die Feder zur Hand, tunkte sie ins Tintenfass und schrieb. Sie berichtete ihrem Vater von dem Geburtstagskuchen und von Marcel und schloss mit den Worten: »Weißt du, Papa, Marcel kann ja nicht mein Vater sein, aber er kann mir eine Richtung zeigen, also werde ich ihn später heiraten.«
Dann nahm sie den Brief und ging damit zu dem Bild, das sie einige Stunden zuvor von der Wand geholt hatte. Sie klemmte den Brief in den Rahmen und hängte das Bild vorsichtig wieder an seinen Platz.
Diesem Mädchen hatte das Bild offenbar viel bedeutet, dachte Lilie und schämte sich, dass sie es all die Jahre so achtlos in der Abstellkammer hatte vermodern lassen. Dennoch brachte sie den ideellen Wert, den dieses Gemälde für die kleine Georgette gehabt hatte, nicht in Zusammenhang mit den Dieben, die in ihre Wohnung eingedrungen waren. Bei dem Mädchen handelte es sich, so vermutete sie, um Georgette Agutte, ihre Urahnin. Der exakte Verwandtschaftsgrad war ihr nicht bekannt, und sie hatte auch keine Ahnung, warum dieses Bild, das von deren Vater stammte, in ihrer Kammer gelandet war. Sie fragte sich, ob es vielleicht außer ihr und ihren Geschwistern noch andere Nachfahren von Georgette gab, die das Bild wiederhaben wollten? Aber die hätten doch keine Diebe geschickt. Welch ein merkwürdiger Zufall, dachte Lilie, dass ihr dieser Brief an einen toten Vater just in dem Moment in die Hände gefallen war, in dem sie erfahren hatte, dass der Mann im Sterben lag, den sie zu ihrem Herzensvater erkoren hatte.
Lilie betrachtete die Landschaft, die am Zugfenster vorbeifegte. Zu ihrer Rechten sah sie den alten Rheinarm, auf dem sie damals im Winter 1986 Schlittschuh gelaufen waren. Sie holte ihre Reisetasche aus dem Koffernetz und stellte sich in den Gang. Viel Gepäck hatte sie nicht dabei, denn sie wollte nur übers Wochenende bleiben. Hanna hatte am Telefon sehr niedergeschlagen geklungen. Sie hatten gehofft, dass die letzte Operation vor drei Jahren samt Chemotherapie den Krebs ein für alle Mal besiegt hätte. Doch jetzt war die Krankheit zurück, und auch wenn weder Lilie noch Hanna den Gedanken bislang ausgesprochen hatten, so war ihnen doch bewusst, dass Hermann sterben würde.
So wie Hermann zu ihrem Wahl-Vater geworden war, hatten Lilie und Hanna über die vielen Jahre ein schwesterliches Verhältnis zueinander entwickelt, das von Innigkeit und Konkurrenz gleichermaßen geprägt war, ein Verhältnis, das wie Gummi auseinandergehen konnte, ohne zu zerreißen, und das in schweren Zeiten zu einem festen, engen Band wurde. Jetzt waren schwere Zeiten.
Die eisernen Räder quietschten auf den Schienen, es ruckelte noch einmal, dann kam der Zug zum Stehen. Bahnhof Xanten. Und plötzlich fühlte Lilie sich wieder genauso wie damals, 1986, als sie den Bahnsteig zum ersten Mal betreten hatte. Sie sah sich erneut das Zugabteil verlassen, fühlte sich für einen kurzen Moment so traurig, verwirrt und allein wie damals. Die Landschaft mit ihren unendlich scheinenden Wiesen und Feldern, die sie heute als beruhigend empfand, hatte sie damals verabscheut. Vor allem die Kälte hatte ihr zu schaffen gemacht, nachdem sie gerade von den Französischen Antillen zurückgekehrt war, wo sie sich unsterblich in Patrick verliebt hatte. Vielleicht die glücklichste Liebe ihres Lebens. Zumindest bis heute, aber man soll ja die Hoffnung nicht aufgeben, ermunterte sie sich, ich bin noch nicht einmal vierzig, da ist noch alles drin, auch, dass ich mich mal in den Richtigen verliebe. Der verheiratete Musiker, der seit vielen Jahren auf Jamaika lebte, um sich dort von Rastafari und Reggae-Musikern inspirieren zu lassen, der aber noch nicht eine einzige akzeptable Komposition zustande gebracht hatte und der sie, vielleicht, weil sie ihm zu gute Ratschläge gegeben hatte, vor drei Monaten hatte sitzen lassen, war es jedenfalls nicht gewesen, so viel stand fest. Sie hatte wochenlang depressiv im Bett gelegen, zwei Schachteln rote Gauloises am Tag geraucht und alle Kraft aufbringen müssen, um sich ihrem Sohn gegenüber so wenig wie möglich anmerken zu lassen.
Lilie sah Hanna schon von Weitem auf dem Bahnsteig stehen. Statt der Karottenlatzhose von damals trug sie heute eine zerschlissene Levis 501 und dazu Plateauschuhe, die zumindest in Paris schon wieder aus der Mode waren und die ihr zwar eine eindrucksvolle Größe bescherten, aber ihren Gang nicht gerade elegant erscheinen ließen. Lilie war froh, dass sie ihre Converse-Sneaker angezogen hatte, um die niederrheinischen Pflastersteine unbeschadet zu überstehen.
»Schön, dass du gekommen bist. Hermann freut sich schon auf dich«, begrüßte Hanna sie herzlich und hauchte ihr einen Kuss auf beide Wangen. Doch dann stutzte sie, als sie Lilies ramponiertes Gesicht sah:
»Um Himmels willen, was ist denn mit dir passiert? Sag nicht, du hast dich wieder mit deinem Möchtegern-Jamaikaner getroffen«, rief sie entrüstet und setzte an, ihren Vortrag über das Thema »Jeremy ist nicht der Richtige« zum wiederholten Mal anzubringen. Schnell ging Lilie dazwischen und berichtete in knappen Worten von dem Überfall.
»Wann ist das denn passiert?«, fragte Hanna erschrocken.
»Kurz bevor du angerufen hast, aber ich habe nichts erzählt, weil ich dachte, dass du gerade genug Sorgen hast.«
Lilie war erleichtert, dass die Freundin in diesem Moment deutlich gefasster wirkte als noch zwei Tage zuvor am Telefon. Sie wollte Hanna überlassen, wann und wie sie von Hermanns Zustand berichtete, und wie sie ihre Freundin kannte, brauchte diese gerade so viel Normalität wie möglich. Also begann Lilie mit ihrem gemeinsamen Wiedersehensritual: Sie erinnerten einander an Momente voller komischer Missverständnisse, die sie ausstellten wie Blasen an den Füßen nach einem langen, gemeinsam gegangenen Weg.
»Komm, lass uns einen Kaffee trinken, dann musst du mir das mit dem Überfall genauer erzählen. Die Waschräume im Hotel van Bebber warten nämlich schon auf dich«, lästerte Hanna in Anspielung auf ihre erste Begegnung.
Lilie würde nie vergessen, wie sie damals nach ihrer Ankunft zum Begrüßungskaffee ins Hotel van Bebber gegangen waren. Sie war irritiert gewesen von den weißen Tischdecken und apricotfarbenen Stühlen und sich vorgekommen wie in einem Dienstbotenzimmer von Versailles. Schwer hingen brokatbestickte Übergardinen im Bogen über den Fenstern und hinderten das Sonnenlicht daran, den Raum zu erhellen. Am schlimmsten aber waren die Wände. Sie waren übersät mit Hirsch- und Rehgeweihen samt Schädelknochen, die an schwarzen Brettern klebten. Die Familie nahm Platz, und Hermann bestellte für alle, ohne nach Lilies Wünschen zu fragen. Es vergingen ein paar stumme Minuten, bis die Kellnerin kam und vier Kännchen Kaffee brachte. Jeder bekam eines, und Lilie wunderte sich über die Mengen. Ein Kaffee in Paris passte in zwei Fingerhüte, das hier war mindestens ein großes Glas voll. Doch als sie den Kaffee begierig einschenkte, erkannte sie den Unterschied: In die weiße Porzellantasse ergoss sich statt der erwarteten schweren, schwarzen Flüssigkeit eine braune Plörre, die bis auf den Tassenboden blicken ließ. Lilie wurde übel. Sie schluckte und sah mit schreckgeweiteten Augen, wie sich eine weitere Kellnerin dem Tisch näherte und große Stücke Apfelkuchen garniert mit einer überdimensionierten Sahnehaube servierte. Lilie hasste Sahne. Alles daran war widerlich, die Farbe, die Konsistenz, das Fett. Verzweifelt sah sie zu, wie Hermann mit einem großen Löffel die Sahne vom Kuchen abschöpfte, den Löffel in die halb gefüllte Kaffeetasse gleiten ließ, genussvoll umrührte, die flockende Brühe zum Mund führte, schlürfte und mit einem wohligen »Ah« wieder abstellte. Als er sich anschickte, auch in ihren Kaffee einen großen Löffel Sahne plumpsen zu lassen, übermannte sie ein Würgen. Lilie hielt sich die Hand vor den Mund, sprang auf, lief aus dem Saal und übergab sich auf der Damentoilette. Es war ihr unsagbar peinlich, und sie stellte sich vor, wie die Familie am Tisch über sie spottete. Tatsächlich aber war Hanna nach einer Weile zu ihr gekommen, hatte durch die Tür gefragt, ob es ihr besser gehe, und ihr einen Kaugummi gereicht, als Lilie endlich den Mut gefunden hatte, wieder herauszukommen.
Was für ein Auftakt, dachte sie und blickte sich zwanzig Jahre später im Hotel van Bebber um. Das Café hatte sich inzwischen sehr verändert, die einst überbordende Gemütlichkeit war einer praktisch modernen Einrichtung gewichen. Lilie hatte, wie immer, einen Espresso und ein Glas Wasser bestellt, und als die Kellnerin beides brachte, wunderte sie sich, dass es am Niederrhein inzwischen zwar starken italienischen Kaffee gab, aber der Wunsch nach Wasser ohne Kohlensäure immer noch großes Erstaunen hervorrief. Sie steckte sich eine Zigarette an und sog den Qualm genüsslich ein. Hanna wedelte vorwurfsvoll mit den Händen und nahm das Gespräch wieder auf:
»Und was ist das genau für ein Gemälde, das diese Junkies angeblich klauen wollten?«
»Ach, ich glaube, die wollten gar nicht das Bild klauen, sie haben es mir über die Rübe gezogen, um abhauen zu können.«
»Hm«, Hanna wirkte skeptisch. Sie war Redakteurin bei den Niederrhein Nachrichten und immer auf der Suche nach einer guten Story. Hier schien sie eine zu wittern, und vor ihrem geistigen Auge sah Lilie sie bereits im Trenchcoat auf den Spuren der Kunsträuber. Hanna und Hermann liebten Rätsel und Geheimnisse über alles und hatten eine blühende Fantasie, die sie regelmäßig mit Krimis der amerikanischen Autorin Elizabeth George fütterten, deren Romane sie geradezu verschlangen. Manchmal lasen sie sogar zeitgleich, um sich gemeinsam Gedanken zu machen, wer der Mörder sein könnte, und es war ihnen ein unglaublicher Triumph, wenn sie vor der letzten Seite bereits den Täter kannten.
»Vielleicht haben sie es für wertvoll gehalten. Oder ist es etwa ein Bild, das dein Sohn gemalt hat?«, feixte Hanna.
»Nein, es ist von Georges Agutte.«
Hanna zog die Stirn kraus. »Die Malerin, nach der deine Straße benannt ist? Deine – was ist sie? Großtante?«
»Georgette Agutte ist meine Ururgroßtante soundsovielten Grades. Leider ist das Bild aber von ihrem Vater, deshalb ist es komplett wertlos. Wobei ehrlich gesagt auch die Bilder von Georgette keinen allzu großen Wert haben. Wenn man nicht gerade ihren Nachnamen trägt, kennt man sie nicht, glaube ich.«
Hanna ignorierte Lilies Einwände, wie sie es immer tat, wenn sie sich eine Geschichte zurechtbog.
»Vielleicht hat irgendjemand geglaubt, es sei von ihr. Georges oder Georgette, da kann man sich doch mal vertun. In unserer Familie kursierte jahrelang das Gerücht, dass ein ziemlich einfaches Heiligenbild in Wahrheit ein echter Rembrandt sei. Es gehörte meiner Oma, und man hat mehrfach versucht, ihr dieses Bild zu stehlen. Als Oma starb, gab es deswegen beinahe einen Erbstreit, der die Familie auseinanderzureißen drohte. Erst als der x-te Kunsthistoriker bestätigte, dass es weder ein Rembrandt noch das Bild eines anderen bekannten Malers sei, herrschte Ruhe.«
Hannas Familie war ein Füllhorn an skurrilen Anekdoten und Personen, was möglicherweise daran lag, dass diese Familie mit Tanten und Onkeln weit verzweigt war und in der Großelterngeneration alle steinalt geworden waren.
»Weißt du noch, wie ich Tante Gertrud zum ersten Mal gesehen habe?«, fiel Lilie ein. Hanna grinste und sagte: »Wie könnte ich das vergessen!« Hannas Oma hatte damals Geburtstag gefeiert und war etwas über achtzig geworden, so genau konnte sich Lilie nicht mehr erinnern, die Großmutter war aber beileibe nicht die Älteste auf ihrer eigenen Feier gewesen. Irgendwann klingelte es an der Tür, und Lilie, froh, der geschwätzigen Kaffeetafel und dem ewigen »Du musst Deutsch sprechen, Kind« zu entkommen, stürzte los, um zu öffnen. Als sie die Tür schwungvoll aufriss, wurde sie kreidebleich, und ihr entfuhr ein spitzer Schrei, denn vor ihr stand ein Geist. Die Sonne schien Lilie geradewegs ins Gesicht, sodass sie im Gegenlicht nur ein großes, hageres Wesen ausmachte, das bedrohlich mit dem Stock fuchtelte und aussah wie der Sensenmann höchstpersönlich.
Als Lilie sich bewusst wurde, wie beleidigend ihre Reaktion für die Dame vor der Tür gewesen sein musste, stürzte sie verlegen und ohne ein weiteres Wort durch den Flur nach hinten in die Küche, wo Hanna gerade damit beschäftigt war, neuen Kaffee aufzubrühen. Sie blickte Lilie verdutzt an, als auch schon Tante Gertrud beschwingt im Türrahmen auftauchte und Lilie liebevoll die Wange tätschelte.
»Kindchen, du bist ja leichenblass. Ich glaube, du brauchst einen Schnaps«, sagte sie und grinste. Lilie schämte sich und brachte kein Wort heraus. Hanna ging lachend zu ihrer Großtante und herzte die alte Dame: »Soll ich für dich noch ein paar Löffel Kaffeepulver extra draufschütten?«, fragte sie.
Tante Gertrud hatte eine Vorliebe für starken Kaffee, und obwohl die erste Begegnung nicht allzu glücklich verlaufen war, hatten Lilie und die alte Dame bald darauf eine herzliche Kaffeefreundschaft gepflegt. Sie brühten sich regelmäßig ein Gebräu, bei dem alle anderen nur angewidert das Gesicht verzogen, und Tante Gertrud, die ein wenig Französisch sprach, bat Lilie bei diesen Treffen, ihr von Paris zu erzählen. Also beschrieb Lilie ihr die Stadt und immer wieder die Place des Vosges, die ganz in der Nähe ihrer Wohnung lag. Wenn Lilie erzählte, hielt Tante Gertrud die Augen geschlossen. Aus der Kaffeefreundschaft wurde später eine Brieffreundschaft, und aus den Briefen erfuhr Lilie irgendwann, dass Tante Gertrud sich in den 20er-Jahren in einen französischen Juden verliebt hatte. Sie hatte nicht den Mut gehabt, diese Liebe zu leben, denn für ihre katholische Familie am Niederrhein wäre die Ehe mit einem Juden nicht akzeptabel gewesen. Mit diesem Geständnis endete die Korrespondenz, denn Lilie wusste nicht, wie sie darauf antworten sollte. Sie setzte mehrfach an, zerriss die Seiten und schrieb der alten Dame nie zurück. Erst zehn Jahre später beschloss sie, ihr doch wieder zu schreiben. Wie zuvor Tante Gertrud, so schüttete dieses Mal Lilie in den Briefen ihr Herz aus. Sie erwartete keine Antwort, kein Wort des Trostes oder Verständnisses, denn sie wusste, dass die alte Dame längst gestorben war. Was Lilie unter dem Titel »Briefe an Gertrud« zu Papier brachte, war vielmehr eine Art Tagebuch während ihrer Schwangerschaft. Weder Lilie noch der Kindsvater konnten sich damals eine Beziehung, geschweige denn eine Ehe, wie Hermann sie vorgeschlagen hatte, vorstellen. Es hatte deswegen im Hause Terhöven Diskussionen gegeben, Hanna hatte ihr sogar vorgeworfen, einem Mann gegen seinen Willen ein Kind »anzudrehen«. Hermann hielt nichts vom Alleinerziehen, dennoch akzeptierte er Lilies Entscheidung, erwartete aber, dass sie den Vater des Kindes dann auch in Ruhe ließ.
So hatte es Lilie bis heute gehalten. Lediglich vom Niederrhein kamen mit schöner Regelmäßigkeit Pakete, die an »Monsieur Pierre Agutte« adressiert waren.
Das letzte war zu Ostern gekommen, und es hatte neben teuren Kindersportschuhen auch Marzipan enthalten, um das sich Pierre und Lilie regelrecht gebalgt hatten. Lilie liebte das echte Lübecker Marzipan, sie fand, dass es in Frankreich nichts Vergleichbares gab, und sie hatte ihren Sohn mit dieser süßen Leidenschaft angesteckt.
»Bitte erinnere mich daran, dass ich Pierre etwas Marzipan von hier mitbringe. Euer Osterpaket war schnell verputzt, und ich gestehe, dass nicht nur mein Sohn davon genascht hat«, sagte Lilie und trank den letzten Schluck Espresso. Hanna lächelte. Sie hatte eine Art Patenschaft für das Kind übernommen, eine weltliche Form der Patenschaft. Lilies Sohn war nämlich gar nicht getauft, da sie allen Religionen gegenüber eine große Skepsis an den Tag legte, was sich für eine Französin mit sozialistischer Gesinnung von selbst verstand.
»Wie geht es dem kleinen Terroristen?«, fragte Hanna.
»Meine Mutter ist bei ihm, dann geht es ihm immer gut. Er liebt es, wenn seine Oma sich um ihn kümmert, dann gibt es keine Regeln. Du kennst ja Marguerite«, lachte sie.
»Es müssten bald die Schulferien beginnen, oder? Fahrt ihr weg?«
Lilie verneinte. »Ich habe kein Geld. Aber ich habe ihn bei meiner Mutter auf dem Land in einem Schwimmcamp angemeldet. Nächste Woche geht es los, er freut sich wie verrückt, er ist eine richtige kleine Wasserratte.«
»Und wie ist der Kontakt zum Vater?«
Lilie zuckte mit den Schultern. »Pierre kennt das Gefühl nicht, einen Vater zu haben, deshalb scheint er ihn auch nicht zu vermissen.«
»Das war bei dir früher aber anders, oder?«
Lilie überlegte. In den schönen Momenten, wenn Yves mal da war, hat uns schon etwas verbunden. Aber wenn er wieder fort war, habe ich ihn umso schlimmer vermisst.« Sie steckte sich eine Zigarette an. »Das ist ein bisschen wie Nikotinsucht«, fuhr sie fort. »Wenn du dir vornimmst, nur eine Zigarette in der Woche zu rauchen, hast du dauernd Schmacht. Da ist es leichter, ganz drauf zu verzichten.«
»Was du offenbar immer noch nicht vorhast«, schmunzelte Hanna, die fünf Jahre zuvor mit dem Rauchen aufgehört hatte und es seitdem eisern durchhielt.
»Ich bin zu undiszipliniert«, grinste Lilie, »aber wie hätte ich das auch lernen sollen bei einem Weltenbummlervater und einer Hippiemutter? Als Respektsperson gab es in meinem Leben nur deinen Vater.« Sie sah Hanna an und erkannte in ihrem Blick, dass der Zeitpunkt gekommen war, über Hermann zu sprechen. Hanna atmete tief durch. »Er ist an diesem Wochenende zu Hause. Montag muss er zu weiteren Untersuchungen in die Klinik.« Hanna sprach sehr schnell und gefasst, und Lilie wusste, dass die Freundin versuchte, ihre Emotionen unter Kontrolle zu bekommen. »Die Ärzte haben Metastasen in der Leber gefunden.« Ihre Stimme wurde rauer. »Es kann sein, dass der Krebs auch in andere Organe oder die Knochen gestreut hat.« Hanna machte eine Pause, stumm rannen ihr die Tränen über die Wange, die sie ärgerlich mit dem Handrücken wegwischte. Lilie wartete geduldig. »Sie können nicht mehr operieren«, sagte Hanna leise.
Lilie fühlte, wie sich ihr Magen zusammenkrampfte, sie drückte die Hände auf die Augen, bis sie Muster sah. Das hatte sie als kleines Kind immer gemacht. Sie hatte sich so lange die Muster vor ihrem inneren Auge angeschaut, bis sie die Angst vergessen hatte.
»Ist es ihm bewusst?«, fragte sie vorsichtig.
»Ich denke schon. Ich werde jedenfalls dafür sorgen, dass er sich vernünftig verabschieden kann.«
Hannas Mutter war vor sieben Jahren gestorben, ebenfalls an Krebs. Als längst keine Hoffnung mehr bestand, rieten die Ärzte Hermann, er solle seine Frau besser nicht über ihren wahren Zustand aufklären. »Im Moment lebt sie von der Hoffnung. Wenn Sie ihr die nehmen, stirbt sie.« Hermann hatte sich an den Rat gehalten und die Familie in die Pflicht genommen. Lilie wusste, wie sehr Hanna bis heute damit haderte, dass es keinen Raum gegeben hatte, Abschied zu nehmen, geschweige denn letzte Dinge zu klären.
Hanna schob Lilie ihr Portemonnaie hin. »Kannst du bitte die Rechnung bezahlen? Ich gehe mich kurz frisch machen.« Sie versuchte ein kleines Lächeln: »Ich wette, meine Wimperntusche sieht inzwischen aus wie ein Oberlippenbart.« Lilie winkte der Kellnerin. Sie bezahlte und wunderte sich wie schon so oft, dass der Kaffee hier viel teurer war als in Paris.
»Können wir?«, fragte Hanna, noch bevor sie den Tisch wieder erreicht hatte, und Lilie hörte die ihr so bekannte Ungeduld heraus. Im Gegensatz zu Lilie hatte Hanna stets das Gefühl, keine Zeit zu haben, und sie hasste es, warten zu müssen, selbst wenn es sich nur um wenige Minuten handelte. Mit ihren zu hohen Schuhen stöckelte Hanna energisch voran zum Parkplatz.
Einen halben Kilometer fuhren sie durch eine kleine Allee, vorbei an sauberen Autos und ordentlichen Vorgärten, die Lilie vor zwanzig Jahren spießig gefunden hatte und heute als pittoresk bezeichnen würde. Anders als damals genoss sie die Fahrt vorbei an Feldern, Wäldern und Wiesen, den Anblick von weidenden Kühen und die Sonne, die durch das Beifahrerfenster schien.
»Es ist schön hier«, sagte sie, als sie Veen schon fast erreicht hatten, »warum habe ich das nicht schon vor zwanzig Jahren so sehen können?«
»Vermutlich, weil du gerade von Guadeloupe zurückkamst und unsterblich verliebt warst. Und da hier in Veen wenig Kolibris unterwegs sind und auch keine sonnengebräunten Insulaner namens Patrick, war der Ort so gar nicht nach deinem Geschmack. Aber ich wusste von Anfang an, dass dir unser kleines Veen noch ans Herz wachsen würde.«
»Vielleicht nicht unbedingt der Ort, aber deine Familie. Ich vermisse deine Mutter. Und natürlich ihre wunderbaren Kartoffeln mit Soße, die allesamt auf der Hüfte gelandet sind.«
»Kein Wunder, du hast ja auch nur im Café oder vor dem Fernseher gesessen und gegessen.«
»Na, ich habe halt versucht, Deutsch zu lernen. Und ganz ehrlich, mit Fernsehserien wie Hart aber herzlich oder Trio mit vier Fäusten ging das gar nicht mal schlecht.« Lilie setzte eine übertriebene Unschuldsmiene auf, und Hanna schüttelte grinsend den Kopf.
»Dass mein Vater das geduldet hat, ist mir bis heute schleierhaft. Überhaupt ist mir euer Verhältnis manchmal ein Rätsel. Ich schwöre dir, wenn ich die Schule geschmissen, ständig meinen Job gekündigt hätte und dann auch noch mit einem unehelichen Kind nach Hause gekommen wäre, hätte ich mir eine Tracht Prügel eingefangen, selbst mit Mitte dreißig noch. Vermutlich hätte mich die ganze Sippschaft verstoßen. Vater, Mutter, Großtanten, ich sehe sie genau vor mir, wie sie im Tribunal über mich richten und mich zu lebenslanger Buße mit wöchentlicher Beichte verurteilen. Und du kommst daher, machst alles, was der liebe Gott verboten hat, aber mein Vater lächelt nur milde.«