Seven Faceless Saints - Die verbannte Macht - M. K. Lobb - E-Book
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Seven Faceless Saints - Die verbannte Macht E-Book

M.K. Lobb

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Beschreibung

Eine düstere Verschwörung. Eine Liebe, die verloren schien

In Ombrazia können nur Magiebegabte Macht erlangen. Die junge Roz verfügt zwar selbst über besondere Kräfte, hasst aber die Oberschicht zutiefst. Denn ihr Vater war einer von vielen, die im Krieg gegen den Nachbarstaat geopfert wurden. Als ein Mädchen aus ihrem Viertel tot aufgefunden wird, kommt Roz einer rituellen Mordserie auf die Spur, die sie bis in die Kreise der Herrschenden zurückverfolgen kann. Und ausgerechnet ihre Jugendliebe Damian steht ihr als Einziger zur Seite. Damian, den sie hassen möchte, weil sein Vater den ihren töten ließ. Doch finstere Mächte sind im Spiel, und nur wenn sie zusammenarbeiten, haben sie eine Chance, die korrupte Herrscherkaste zu stürzen. Und bald kann Roz sich auch nicht länger einreden, dass sie keine Gefühle mehr für Damian hat ...

»Düster, aufregend und mitreißend, dieses Buch hat mich bis zur letzten Seite gepackt.« THE FANTASY REVIEW

Band 1 der neuen Reihe von M. K. Lobb

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Seitenzahl: 557

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INHALT

Titel

Zu diesem Buch

Widmung

1

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6

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Epilog

Danksagung

Die Autorin

Impressum

M. K. Lobb

Seven Faceless Saints

DIE VERBANNTE MACHT

Roman

Ins Deutsche übertragen von Katrin Reichardt

ZU DIESEM BUCH

In Ombrazia sind die Privilegien klar verteilt: Nur die Jünger der Heiligen, die mit Magie gesegnet sind, können es zu Wohlstand und Macht bringen. Der Rest ist Fußvolk, das im scheinbar endlosen Krieg gegen den Nachbarstaat als Kanonenfutter verheizt wird. Die junge Roz verfügt zwar über Magie, hasst jedoch die Oberschicht zutiefst. Sie will Rache an dem Mann, der ihren Vater getötet hat, Rache an all denen, für die Menschen ohne Magie keinen Wert besitzen. Als ein Mädchen aus ihrem Viertel tot aufgefunden wird, kümmert sich niemand um die Aufklärung des Falles, was Roz’ Zorn weiter schürt. Aber dann findet sie ausgerechnet in ihrer Jugendliebe Damian einen Verbündeten. Damian, der vor Kurzem aus dem Krieg zurückgekehrt ist, begleitet von Albträumen und Schuldgefühlen. Den sie hassen will, da es sein Vater war, der den ihren als Deserteur hinrichten ließ. Als Kommandeur der Palastwache soll Damian einen mysteriösen Mord an einem Jünger der Heiligen aufklären, der eindeutig mit dem Todesfall in Roz’ Stadtteil zusammenhängt. Die Spur führt sie in die obersten Kreise der Herrschenden, deren finstere Pläne sie nur durchkreuzen können, wenn sie zusammenarbeiten. Und je mehr Zeit Roz mit Damian verbringt, desto weniger kann sie sich selbst vormachen, dass sie keine Gefühle mehr für ihn hat.

Für alle, die sich zu klein fühlen, um ihre Wut im Zaum zu halten, und zu müde, um ihren Kummer zu schultern.

Man sagt, dass es an jenem Tag, an dem Chaos fiel, regnete.

Es war kein feiner Sprühregen auf einem zarten Wind, sondern ein sintflutartiger Regen. Er fiel, weil seine Kinder fielen: ihre zerschmetterten, sterblichen Körper zermalmt im Schlamm des Nordens. Als er sich zurückzog, tat er es mit einem Schrei, der die Berge erschütterte. Mit einem Schrei, der Welten überschritt, sich in den Ritzen jeder Stadt festsetzte und in den Lücken zwischen dem Licht Wache hielt.

Patience, seine Geliebte, beobachtete seinen Fall voller Trauer. Und obwohl ihr Herz, seinem so ähnlich, von Rachedurst erfüllt war, streckte sie ihm nicht die Hand hin. Sie wartete nur, in dem Wissen, dass jeder Krieg ein Ende hat und jede Sünde eine Bestrafung verlangt.

Chaos ist ungestüm. Aber Patience …

Oh, Patience weiß ganz genau, wann sie zuschlagen muss.

Heilige und Hingabe, Psalm 266

1

LEONZIO

Es war kurz nach Mitternacht, als der Verfolgungswahn einsetzte.

Leonzio durchschritt sein Zimmer, und sein Herz schlug so heftig, dass es sich in seiner Brust fremdartig anfühlte. Überdeutlich nahm er die kühle Luft auf seiner Haut wahr. Wie falsch sich seine Zunge – zu trocken, zu trocken – im Käfig seiner Zähne anfühlte.

Unfähig, das alles noch länger zu ertragen, ging er zur Tür, öffnete sie und spähte auf den Korridor hinaus. Er erstreckte sich vor ihm wie ein endloser Gang, der nach wenigen Schritten von erdrückenden Schatten verschlungen wurde.

Der Wächter, der dort draußen hätte stehen sollen, war verschwunden. Und doch brachte der Jünger es nicht über sich, sein Zimmer zu verlassen, war nicht willens, sich durch den dunklen Palazzo zu bewegen.

Das Gebäude hatte Augen. Die ganze Woche über hatte er ihr Gewicht gespürt: zuerst dort, wo er zu den Heiligen gebetet hatte, dann im Ratssaal, wo er sich mit den anderen Vertretern der gesegneten Zünfte getroffen hatte. Sie verfolgten jeden seiner Schritte, und nicht einmal das Licht der Sterne konnte sie vertreiben.

Als er sich wieder in sein Zimmer zurückzog, spürte er, wie die Verdrossenheit an seinem Geist nagte. Was hatte er getan, bevor ihn die Angst ergriffen hatte? Er hatte nach dem Magistrat gesucht – das war es. Er hatte dem Mann etwas mitteilen wollen, was von entscheidender Bedeutung war. Aber was?

Leonzio wischte mit der Hand über seine verschwitzte Stirn. Das Licht der Kerze, die er entzündet hatte, warf schräge Schatten an die Wände, deren weiche Konturen sich bewegten, wenn die Flamme im Luftzug zitterte, der durch das leicht geöffnete Fenster hereinkam. Taumelnd durchquerte er das Zimmer und schob die Scheibe noch weiter auf, ließ den Wind über sein Gesicht streichen und blickte auf die in nächtliches Dunkel gehüllten Gärten hinab.

Sie erwiderten seinen Blick.

Hastig taumelte der Jünger mit rasendem Puls zurück und zog ruckartig die Vorhänge zu. Etwas war dort draußen. Etwas Grauenhaftes und Unmenschliches schlich auf dem Gelände des Palazzos umher. Er konnte es nicht sehen, aber er konnte die Falschheit spüren, das schleimige, sich bewegende Gewicht, das ihm die Kehle zuzudrücken schien.

Er verknotete seine schweißnassen Finger und murmelte ein Gebet an die Schutzheilige Death. Seine Heilige. Diejenige, von der seine Familie abstammte und die sie mit der Gabe der Magie gesegnet hatte. Doch in dieser Nacht spendeten ihm die inbrünstig geflüsterten Worte nur wenig Trost, denn je mehr er Deaths Macht infrage stellte, desto weniger spürte er die Gegenwart der Heiligen.

Hilf mir war die zentrale Bitte seines Appells, doch ihm wurde nur noch heißer und übler. Vielleicht genügte es ja nicht, nur mit Worten um Schutz zu bitten. Ein innerer Drang überkam ihn, so plötzlich wie die Übelkeit, heftig und unerbittlich. Er ließ sich von ihm führen, war nur noch ein distanzierter Zuschauer, zwei Augen in einem Gefängnis aus Fleisch.

Während sich sein Blick zu verschleiern begann, schleppte er sich ins Nebenzimmer, wobei er sich an der Wand abstützte. Dabei stellte er sich vor, wie er Handabdrücke auf den Vergoldungen hinterließ, rostrote, verwischte Spuren, die die Heiligen auf ihn aufmerksam machen würden. Als wären sie keine Gottheiten mehr, sondern geifernde Bestien auf der Suche nach einem frischen Kadaver.

Die Heiligen waren barmherzig. So hieß es in allen Geschichten.

Aber in den Geschichten hieß es auch, dass sie nach Blut dürsteten.

Leonzio fiel neben einigen wahllos angeordneten Fundstücken, die er auf dem Gelände des Palazzos gesammelt hatte, auf die Knie. Er wusste nicht mehr genau, wann oder warum er damit begonnen hatte, sich Steine in die Taschen zu stopfen und zwanghaft Zweige von Büschen abzubrechen. Er hatte dabei das Gefühl gehabt, dieses Vorgehen sei … notwendig.

Seine Hände zitterten, als er auf dem Boden kniend die Fundstücke zu einer neuen Form anordnete. Der Stein unter seinen Knien erdete ihn ein wenig. Während der Jünger die Zweige ausrichtete, galten seine geflüsterten Worte nicht nur Death, sondern allen gesichtslosen Heiligen.

Dann nahm er das Messer.

Als die ersten Blutstropfen fielen, war es fast eine Erleichterung. Nackte Angst wich angenehmer Schwerfälligkeit.

Als ihm bewusst wurde, dass er starb, war es bereits viel zu spät.

2

DAMIAN

Damian Venturi hatte genug vom Tod.

Wenn er ehrlich war, hatte er ganz allgemein genug. Die Nacht war verstrichen, das Morgengrauen längst näher als die Abenddämmerung, und es fiel ihm zunehmend schwerer, sich auf den toten Jünger vor ihm zu konzentrieren. Er rückte den Kragen der Jacke, die er vom Palazzo erhalten hatte, zurecht, in der Hoffnung, dass dadurch der Druck, der sich in seiner Kehle aufbaute, nachlassen würde.

Leonzio Bianchi, einst Jünger von Death, zeigte alle Anzeichen einer Vergiftung. Seine fahlen Lippen waren mit einer schmierigen, widerlichen Schaumschicht überzogen, und das Relief der Adern, das seine Unterarme durchzog, zeichnete sich deutlich, fast wie ein Bluterguss, ab. Doch trotz allem wirkte sein Gesichtsausdruck friedlich, sein Mund entspannt, als hätte er sich unverzagt in den Tod gefügt.

Damian wandte sich von Leonzios Leiche ab und unterdrückte ein Zittern. Im Zimmer des Jüngers war es kalt, und der fahle Kerzenschein warf Schatten auf die vergoldeten Wände. Vielleicht war es nur der Situation geschuldet, dass die Dunkelheit, die an den Rändern des orangefarbenen Lichts nagte, etwas Erdrückendes hatte. Und die Art, wie Leonzios Gesicht geneigt war, als solle es in den Spiegel auf der gegenüberliegenden Seite des Zimmers blicken, war irgendwie beunruhigend.

»Nun?«

Die Stimme des Magistrats unterbrach Damian bei der Untersuchung der Leiche und erschreckte ihn so sehr, dass er taumelnd vom Bett zurückwich. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn. Der Tod erinnerte ihn immer an seine Zeit im Krieg. Er ließ seine Brust eng werden, sein Blut durch die Adern rasen und machte seine Füße so schwerfällig, als würde er durch Schlamm waten.

»Ich weiß nicht recht«, antwortete Damian knapp, aber höflich, und wandte sich zum Magistrat um. Die Wut des Magistrats war eine Präsenz für sich. Damian hatte sie von dem Augenblick an gespürt, als er das Zimmer betreten hatte. »Kann es möglicherweise Selbstmord gewesen sein?«

Magistrat Forte, ein groß gewachsener Jünger von Grace, mit perfekt gekämmtem Haar und einem schmalen Schnurrbart, sah Damian prüfend über den Rand seiner Brille hinweg an. Forte bekleidete sein Amt seit etwas mehr als einem Jahr und war von den Zunftvertretern ausgewählt worden, um seinen Vorgänger zu ersetzen. Es kam nur selten vor, dass diese Rolle einem von Grace’ Jüngern zufiel, und Damian fragte sich, ob dieses Wissen aus Forte den absolut unnachgiebigen Mann gemacht hatte, der nun vor ihm stand.

»Selbstmord?«, wiederholte Forte die Vermutung spöttisch, während er mit den Händen die Kleider und Bettlaken des Toten betastete, um zu erfahren, was sie ihm zu sagen hätten. Jünger von Grace verfügten über eine besondere Verbindung zu derartigen Dingen: Dank ihr waren sie hervorragende Weber und konnten Stoffe in jedwede Form bringen, egal ob Hose oder Wandteppich, ohne dafür zu Nadel und Faden greifen zu müssen. »Wie bequem das für Sie wäre, Signor Venturi.«

»Wie bitte?« Bevor Damian sich zurückhalten konnte, war ihm die Erwiderung bereits herausgerutscht. Als Magistrat galt Forte als irdische Stimme der Heiligen, doch das hatte ihn nicht taktvoller gemacht. Obwohl Damian erst seit knapp einem Jahr wieder in Ombrazia war, wusste er das bereits ganz sicher.

»Hätte er sich das hier selbst zugefügt«, fuhr Forte fort, »würde das bedeuten, dass der Sicherheitsdienst des Palazzos nicht beim Schutz eines ranghohen Regierungsvertreters versagt hätte.« Während er sprach, sah er Damian nicht an, sondern wich mit einer strengen Falte zwischen seinen wilden Augenbrauen vom Bett zurück. »Leonzio ist sicherlich in diesen Kleidern gestorben, aber davon abgesehen ist an ihnen nichts Außergewöhnliches.« Er bewegte die Hand, woraufhin sich die Bettlaken unter der Leiche des Jüngers herauswanden und sie bedeckten.

Damian war dankbar, den Toten nicht länger ansehen zu müssen, doch seine Erleichterung schwand, als Forte weiterredete.

»Da wir gerade vom Sicherheitsdienst des Palazzos sprechen: Wo waren Sie eigentlich letzte Nacht, Venturi? Es ist doch eigentlich Ihre Aufgabe, dafür zu sorgen, dass derlei nicht passiert.«

Ärger pulsierte durch Damians Adern, doch er biss die Zähne zusammen, um zwischen ihnen die scharfe Antwort, die er ihm an den Kopf werfen wollte, einzusperren. »Ich bitte um Entschuldigung, mio Signore. Ich war auf dem Mercato.«

Der wöchentliche Nachtmarkt in der Stadt gab Jüngern Gelegenheit, ihre Waren zu verkaufen und zu tauschen. Die vier Handwerkszünfte – Strength, Grace, Patience und Cunning – waren das Rückgrat von Ombrazias Wirtschaft und der Grund dafür, dass die Stadt als Handelszentrum fungierte. So wie Grace eine Affinität zu Stoff hatte, hatte Strength eine zu Stein, Patience eine zu Metall und Cunning eine zu Chemikalien. Von daher bestanden die Hauptaufgaben der Zünfte darin, am laufenden Band Waffen, Textilien, Steinmetzarbeiten und allerlei Tränke zu produzieren, die anschließend in andere Länder verschifft wurden.

Alle Jünger waren Nachkommen der ursprünglichen Heiligen, doch nicht alle Nachkommen verfügten über Magie. Manchmal, so hatte Damians Vater es ihm erklärt, übersprangen die verehrten Fähigkeiten, die die Jünger besaßen, eine Generation oder verschwanden gänzlich, wenn die Blutlinie zu sehr verdünnt wurde.

Nachkommen ohne Magie – Menschen wie Damian – waren keine Jünger. Sie waren kaum besser als der Rest der unerwählten Bürger.

Aus diesem Grund war es Damian nur in seiner Funktion als Sicherheitskraft möglich, den Mercato zu besuchen. Handwerksgegenstände waren nicht für Leute wie ihn vorgesehen. Der Umgang mit den Jüngern war für die, die der Gesellschaft nichts zu bieten hatten, unmöglich. Für den Fall, dass die Unerwählten beschlossen, diesen Umstand zu ignorieren, waren die Sicherheitskräfte da, um sie fernzuhalten. Näher als im Rahmen seines Berufes würde Damian dem Leben, das er vielleicht hätte haben können, niemals kommen.

Doch er wusste ebenso gut wie Forte, dass er als Sicherheitschef des Palazzos diese Aufgabe hätte delegieren sollen. Außer wenn er in den Tempeln seine Runden drehte, war es sein Job, hier zu sein, im Palazzo. An oberster Stelle stand für ihn, die Jünger zu schützen, die dazu ausgewählt worden waren, ihre Zünfte zu repräsentieren.

»Sie waren auf dem Mercato.« Fortes Tonfall war ausdruckslos, als er Damians Worte wiederholte. »Haben Sie gestern nicht Ihren Rundgang durch die Tempel gemacht?«

»Nein.« Es fiel ihm schwer, es zuzugeben. »Ich dachte –«

»Nein, Venturi«, schnitt ihm der Magistrat das Wort ab. »Sie haben nicht gedacht. Das ist doch wohl völlig klar.« Bei jedem Wort trat er einen Schritt näher und stieß ihm seinen Finger auf die Brust. »Die Zünfte verlassen sich darauf, dass wir ihre Repräsentanten schützen. Ich verlasse mich darauf, dass Sie dafür sorgen, dass der Palazzo das sicherste Gebäude in ganz Ombrazia ist. Doch in der Nacht, in der einer unserer Jünger unerwartet stirbt, amüsieren Sie sich auf dem Mercato?«

Damian schluckte, und ihm lag bereits ein Widerspruch auf der Zunge. Er hätte sich zu gern gewehrt, erklärt, dass er sich keinesfalls amüsiert hatte, doch dank seiner monatelangen Erfahrung wusste er, dass es nichts bringen würde. »Mio Signore, ich versichere Ihnen, dass niemand in das Zimmer des Jüngers hätte gelangen können, ohne dass meine Sicherheitsoffiziere es gemerkt hätten. Außerdem –« er wies mit dem Kinn auf die Leiche – »hat diese Person keine Verletzungen. Entweder ist er ganz plötzlich an einer Art Schlaganfall gestorben, oder er wurde vergiftet. Ich versichere Ihnen, dass wir sehr genau darauf achten, wer im Palazzo ein und aus geht.«

Der Magistrat blähte die Nasenflügel. »Offensichtlich nicht genau genug.«

Darauf wusste Damian nichts zu erwidern. In jüngster Zeit hatte es in Ombrazia zwei weitere ungeklärte Todesfälle gegeben: Beim ersten Opfer handelte es sich um ein junges Mädchen, beim zweiten um einen jungen Mann ungefähr in Damians Alter. Ihrer beider Überreste waren ins städtische Leichenschauhaus abtransportiert worden, doch Forte hatte sich die Mühe gespart, Offiziere mit Ermittlungen zu betrauen. Er hatte gesagt, die Unerwählten würden untereinander ständig in Streit geraten. Was machte es da schon aus, wenn ein paar von ihnen auf der Strecke blieben?

Aber das hier war etwas anderes. Deaths Jünger hatten Leonzio Bianchi dazu auserwählt, sie im Palazzo zu vertreten. Sein plötzliches Hinscheiden würde die Leute ängstigen und aufbringen.

»Das ist doch viel zu bequem«, knurrte Forte. »Sich Deaths Repräsentanten als Ziel auszusuchen, damit hinterher niemand da ist, der die Leiche lesen kann?«

Obwohl es Damian widerstrebte, nickte er zustimmend. Ihm war bereits das Gleiche durch den Kopf gegangen. Da die Jünger von Death mit der Gabe gesegnet waren, in Kontakt mit Verstorbenen treten zu können, bevor deren Seelen entflohen, hätte einer von ihnen vielleicht herausbekommen können, was Leonzio zugestoßen war.

Doch da Leonzio der Death-Jünger des Palazzos war, würden sie, was das anging, wohl kein Glück haben. Seelen verweilten in der Regel nicht besonders lange.

»Ich lasse jemanden herkommen«, versicherte Damian dem Magistrat. »Nur für alle Fälle.«

Forte fuhr sich ungehalten mit der Hand über die Stirn. »Bringen Sie das in Ordnung, Venturi. Da wir es nicht schaffen werden, den Vorfall vor den Leuten geheim zu halten, sollten wir bald Antworten für sie parat haben. Ich frage mich langsam, ob mein General vielleicht einen Fehler gemacht hat, als er seinen Sohn zum Chef des Sicherheitsdienstes ernannt hat.«

Er zog eine silberne Uhr aus der Tasche, als hätte er mitten in der Nacht noch etwas äußerst Wichtiges vor. »Ich habe Sie von Battista aus dem Norden zurückholen lassen, und ich kann Sie genau so schnell wieder dorthin schicken.«

Die Worte waren scharf und trafen Damian tief. Er bezweifelte, dass er es verkraften würde, wieder in den Krieg geschickt zu werden. Er war jetzt schon mit den Nerven am Ende.

»Ich finde heraus, was passiert ist«, murmelte er. »Ich werde Sie nicht enttäuschen.«

Forte warf ihm einen erbosten Blick zu. »Das möchte ich Ihnen auch raten. Erstatten Sie mir morgen Bericht. Wenn Sie den Verdacht hegen, dass Gift im Spiel war, gehe ich davon aus, dass Sie wissen, wo Sie anfangen müssen.«

Damians Wangen brannten, aber er verneigte sich vor Forte, als der den Raum verließ und seine große Gestalt von der Dunkelheit auf dem Korridor verschluckt wurde. Dann also eine weitere schlaflose Nacht. Manchmal wünschte er, sein Vater hätte es sich gespart, ihn nach seiner Rückkehr zu befördern.

Damit du beschäftigt bist, hatte Battista Venturi damals zu Damian gesagt. Weil ich weiß, wie es ist, mit düsteren Gedanken allein zu sein.

Damian hatte darauf gewartet, dass diese Gedanken verschwinden würden. Doch wie sollte er mit allem abschließen, wenn er wusste, dass der Krieg noch immer tobte? Der Zweite Krieg der Heiligen ging in sein zwanzigstes Jahr. Viele Männer und Frauen hatten weitaus länger im Norden gekämpft als Damian, der nur zwei Jahre im Einsatz gewesen war, doch es hatte sich herausgestellt, dass das kaum einen Unterschied machte. Death verfolgte ihn trotzdem in jedem wachen Moment. Sie strich mit kalten, grausamen Fingern über sein Rückgrat und zischte ihm unverständliche Nichtigkeiten ins Ohr.

Früher hätte er sich vielleicht mit Erinnerungen abgelenkt. Hätte sich das Gesicht der Frau, die er liebte, vorgestellt und mit ihrem Lächeln die Angst vertrieben. Doch nun, drei Jahre später, konnte er sich Rossana Lacertosa nur noch zornig vorstellen.

Aus diesem Grund hielt Damian sich auch nach Möglichkeit von Patience’ Sektor fern. Er hatte Roz ab und an im Vorbeigehen gesehen, doch seit seiner Rückkehr nach Ombrazia hatten sie nicht miteinander gesprochen. Die Roz in seinem Unterbewusstsein wusste bereits, welche Sünden er begangen hatte. Sie ihr in Wirklichkeit zu beichten wäre noch weitaus schlimmer. Außerdem hatte sich ihre Magie gezeigt, was bedeutete, dass sie nun eine Jüngerin war. Und Damian? Er war lediglich ein gebrochener Junge, der Kommandant spielte.

Er schüttelte den Kopf, um seine Gedanken zu klären, und hob dann die Stimme, damit er außerhalb des Zimmers zu hören war. »Enzo?«

Ein dürrer Diener, ungefähr in Damians Alter, gekleidet in die schiefergraue Uniform der Palastangestellten, erschien in der Tür. Bei Damians Ankunft hatte er draußen vor dem Zimmer gestanden und sich seitdem offenbar nicht vom Fleck bewegt. Als sein Blick auf Leonzios mit einem Laken verhüllte Leiche fiel, wurde seine Miene lebhaft. »Signore?«

Damian seufzte. »Forte ist weg. Du musst mich nicht mehr so nennen.«

Enzo entspannte sich sofort und fuhr sich mit der Hand durch sein tiefschwarzglänzendes Haar. Er war zwar erst weniger als einen Monat im Palazzo, doch er und Damian hatten sich schnell angefreundet. »Merda«, stieß er hervor, den Blick noch immer aufs Bett geheftet. »Er ist wirklich tot, oder?«

»Sieht ganz danach aus.« In Damians Stimme schlich sich ein leicht scharfer Unterton. Enzo hatte noch keine Zeit im Norden verbracht und wahrscheinlich noch nie einen Toten gesehen. Es war seltsam, dass er in seinem Alter noch nicht eingezogen worden war, aber es war nur eine Frage der Zeit, bis sich das ändern würde. Alle, die diensttauglich und unerwählt waren, landeten früher oder später dort.

»Und Forte erwartet, dass du herausfindest, was geschehen ist?«

Damian sah Enzo von der Seite an. »Du willst also nicht mal so tun, als hättest du nicht gelauscht?«

Enzo blieb unbeeindruckt und traf keinerlei Anstalten, sich zu rechtfertigen. »Es ließ sich kaum vermeiden. Wie kann ich helfen?«

Die Frage überraschte Damian. Er schwieg einen Moment und begann, sich einen Plan zu überlegen. »Kannst du Signora de Luca für mich herholen?«

»Natürlich.« Doch Enzo ging nicht sofort, sondern musterte Damian neugierig. »Geht es dir gut? Du siehst ein bisschen … mitgenommen aus.«

Damian ließ die Schultern hängen und sparte es sich, Zuversicht vorzutäuschen Er deutete auf das Bett. »Das hier ist meine Schuld. Ich hätte hier sein sollen.«

»Du wusstest doch nicht, dass so etwas Schreckliches passieren würde. Und außerdem bist du ja nicht der Einzige, der hier Dienst tut.«

»Darum geht es nicht.«

Enzo zögerte und wirkte beunruhigt.

»Enzo, bitte. Du kannst sonst nichts tun.«

»Na gut«, lenkte er widerstrebend ein. »Ich bin gleich wieder zurück.«

Während Enzos Schritte verklangen, ließ sich Damian auf den Schreibtischstuhl des toten Jüngers sinken. In seinen Ohren klingelte es, und das Geräusch verwandelte sich rasch in das Widerhallen von Gewehrschüssen, vertausendfachte sich in seinem Kopf. Der kalte Schweiß, der ihm ausbrach, hatte nichts mit der Tat im Palazzo zu tun. Einen Herzschlag lang steckte er wieder knöcheltief im Schlamm, schwindelnd vor Entsetzen, und zerrte die durch die Totenstarre steife Leiche eines Bruders von der Front fort. Wie oft waren diese Momente in seinen Albträumen aufgetaucht?

Du bist ein Soldat. Der Kommandant des Palazzo-Sicherheitsdienstes. Reiß dich zusammen, du –

»Gleich hier, Signora.«

Enzo erschien wieder in der Tür, diesmal in Begleitung der Repräsentantin von Cunning. Damian gab sich einen Ruck und erhob sich, um Giada de Luca ins Zimmer zu bitten.

»Danke fürs Kommen. Enzo, kannst du in Deaths Tempel gehen? Bitte die Zunft, einen ihrer Jünger in den Palazzo zu schicken. Mir ist egal, welcher. Jemand muss eine Leiche lesen.«

Damian kam es immer etwas seltsam vor, seinem Freund Anweisungen zu erteilen, doch Enzo nickte und verschwand mit einem weiteren vielsagenden Blick in Damians Richtung wieder im dunklen Korridor.

Giada unterdrückte beim Anblick von Leonzios Leiche ein Schluchzen. Sie war zwar älter als Damian – wahrscheinlich ungefähr Mitte zwanzig –, jedoch ein zartes Persönchen mit dunklem Haar und noch dunkleren Augen. »Dann stimmt es also. Er ist wirklich tot.« Sie schlug das Zeichen der Schutzheiligen, berührte zuerst ihre Augenlider, dann ihr Herz.

»Es scheint so. Tut mir leid, dass ich Sie so früh habe rufen lassen, aber ich benötige Ihren Sachverstand. Ich muss wissen, welche Art Gift ihn getötet hat.« Als Jüngerin von Cunning kannte sich Giada besser mit Giften aus als irgendjemand sonst. Sie sollte dazu in der Lage sein, die Chemikalien in Leonzios Adern zu erspüren – eine teilweise Autopsie, bei der keine Einschnitte von Nöten waren.

»Wie konnte das passieren?«, fragte Giada heiser. »Sie haben in allen Flügeln des Palazzos Sicherheitsoffiziere, oder?«

Sie ließ es zwar nicht wie einen Vorwurf klingen, doch es fühlte sich so an.

»Über manche Dinge habe ich keine Kontrolle, Signora. Wären Sie jetzt so freundlich?« Damian wies vielsagend auf die Leiche, woraufhin Giada, deren Gesicht im fahlen Licht bleich wirkte, ans Bett herantrat.

Ihre Hände bewegten sich über der Brust des Mannes wie blasse Motten. Sie schob den scharlachroten Stoff seines Gewands beiseite und formte mit den Lippen Worte, die Damian nicht verstehen konnte. Er verfolgte, wie sie Leonzios Kopf nach hinten neigte und seinen Kiefer öffnete. Zähne glänzten im Kerzenschein.

»Nach der Färbung seiner Lippen zu urteilen, würde ich schätzen, dass er in seinen letzten Augenblicken nach Atem gerungen hat«, sagte Giada. »Doch das Erscheinungsbild seiner Haut deutet darauf hin, dass das Gift sich durch die Blutbahn verteilt und ihn nicht erstickt hat … Etwas Abscheuliches ist auf jeden Fall noch immer in diesem Körper, doch es lässt sich schwer sagen, was genau. Es fühlt sich ein wenig nach Staubkraut an – es tötet schnell, sobald es in den Blutkreislauf gelangt, doch wenn es unaufgelöst in Wasser eingenommen wird, kann es zum Ersticken führen.«

Damian runzelte die Stirn. »Sie sind sich aber nicht sicher?«

»Warten Sie.« Giadas Stimme war scharf wie ein Peitschenknall. Sie schob den Ärmel von Leonzios Gewand noch weiter hoch und entblößte die dünne Haut am Innenarm. Damian sah, dass dort ein Fleck war: ein dunkler Klecks, der wie frische Tinte aussah und von dem sich schwarze Ranken nach außen erstreckten. Giada berührte vorsichtig mit dem Finger die Haut, fuhr jedoch sofort wieder zurück, als hätte sie sich verbrannt. »Nein, nein. Es war kein Staubkraut.«

Damians Zähne schlugen hörbar aufeinander. »Ach ja?«

»Staubkraut hinterlässt ein gitterartiges Muster und so gut wie keine Spuren an der Injektionsstelle. Doch diese dunklen Bereiche breiten sich von der Einstichstelle durch die Blutgefäße aus.« Giada beugte sich vor und deutete mit dem Zeigefinger, diesmal ohne die Haut zu berühren, auf die Linien, die sich den Arm des Toten hinaufzogen. »Das hier ist etwas anderes. Ich kenne weder das Erscheinungsbild noch das Gefühl eines solchen Gifts. Und es ist zu spät, um es aus dem Körper herauszuziehen.«

Damian war entmutigt. Wenn Giada nicht wusste, was Leonzio getötet hatte, würde es noch schwerer werden, eine Liste mit möglichen Verdächtigen aufzustellen.

Obwohl er natürlich trotzdem schon eine im Kopf hatte.

»Die Anzeichen deuten darauf hin, dass er ungefähr seit fünf Stunden tot ist«, fügte Giada hinzu, der Damians Ernüchterung entgangen war.

»In Ordnung.« Damian wusste, was er zu tun hatte. Er löschte die Kerze und griff nach den Handschellen an seinem Gürtel. »Giada de Luca«, sagte er streng. »Ich verhafte Sie hiermit wegen des Verdachts des Mordes an Leonzio Bianchi. Sollten Sie versuchen, Widerstand zu leisten, ist Ihr Leben verwirkt. Sie werden umgehend verhört und danach weiterhin nach meinem Gutdünken.«

Als Giada erbleichte und ihm die Handgelenke hinstreckte, packten ihn Schuldgefühle. Er bezweifelte stark, dass die sanfte Frau für den Mord verantwortlich war, doch er musste es genau wissen. Er legte ihr die Handschellen an und führte sie anschließend die Treppe hinab. Sie bewegte sich langsam, zittrig und sagte kein einziges Wort, als wäre sie von der Wende der Ereignisse nicht überrascht, sondern eher enttäuscht.

Da in den Kerkern unter dem Palazzo zu diesem Zeitpunkt keine Kriminellen oder Deserteure einsaßen, war es dort still wie in einem Grab. Damian führte Giada in einen Verhörraum aus kaltem Stein und voller düsterer Schatten. Nachdem sie sich gesetzt hatte, musterte sie ihn mit einer Mischung aus Angst und Besorgnis. Damian blieb stehen.

Giada faltete die gefesselten Hände vor sich auf dem Tisch, verschränkte die Finger ineinander. Ihre Knöchel leuchteten weiß, und ihre dunklen Augen waren fest auf seine gerichtet.

»Wie bequem, nicht wahr«, sagte Damian, »dass Leonzio kaum zwei Tage nachdem Sie beide sich über eine neue politische Initiative gestritten haben, plötzlich an einer Vergiftung gestorben ist.«

Es war kein besonders überzeugendes Motiv; die Jünger des Palazzos waren sich ständig uneins. Das war auch notwendig, damit sie am Ende zu den politischen Entscheidungen fanden, die der Stadt am meisten nutzten. Und trotz Giadas Geschick im Umgang mit Chemikalien wäre sie niemals so dumm gewesen, Leonzio auf eine solche Art und Weise zu töten, weil sie gewusst hätte, dass sie dadurch zur Hauptverdächtigen würde.

Doch Damians Ansichten waren unbedeutend. Fortes Anweisungen waren unmissverständlich gewesen.

Wenn Sie den Verdacht hegen, dass Gift im Spiel war, gehe ich davon aus, dass Sie wissen, wo Sie anfangen müssen.

Da Magistrat Forte der höchste Amtsträger des Palazzos war, symbolisch wie auch in der Praxis, durfte man sich ihm nicht verweigern. Die Jünger vertrauten ihm. Verehrten ihn. Sie glaubten, dass er jeden Tag mit den Heiligen sprach, um deren Wünsche zu erfahren. Er war eine fette Spinne, die mitten in einem politischen Netz saß.

Giada war die Erste, die Damian verhören würde, aber nicht die Letzte. Im Palazzo – in der Stadt – wimmelte es von Leuten, deren Beweggründe für ihn undurchschaubar waren.

Giada leckte sich die Lippen, und ihr Blick verschleierte sich flüchtig. »Officer Venturi, ich schwöre, ich habe hiermit nichts zu tun. Ich habe dieses Gift nicht wiedererkannt, und ich bezweifle, dass Leonzios Tod selbst verschuldet war. Ich denke …« Ihre Stimme wurde zu einem Flüstern. »Wissen Sie, ich habe Gerüchte gehört, von den anderen Jüngern. Ich glaube, dass die Finsternis im Palazzo Fuß gefasst hat.«

Damian presste irritiert zwei Finger gegen seine Nasenwurzel. »Was soll das bedeuten?«

Ein kurzes Schweigen entstand, ließ die Luft erkalten, bevor Giada schließlich antwortete.

»Jemand – oder etwas – hat es geschafft, den Palazzo zu infiltrieren und ohne Verdacht zu erregen einen Repräsentanten zu ermorden. Ohne Spuren zu hinterlassen.« Sie sprach stockend, und in ihrer Stimme lag ein Anflug von Verzweiflung. Dann beugte sie sich über den Tisch und sah Damian durchdringend mit Panik in den Augen an. »Mit Verlaub, mio Signore, ich finde, Sie sollten mich nicht des Mordes beschuldigen. Sie sollten sich Gedanken machen, ob ich vielleicht die Nächste bin.«

3

ROZ

Rossana Lacertosa hasste Menschenansammlungen.

Sie hasste dieses nervtötende Gefühl absoluter Anonymität, wenn sie sich ihren Weg durch die Leute bahnte, sie hier und da aus dem Weg schubste, weil sie nicht schnell genug Platz machten. Menschenmassen waren so ärgerlich träge. Roz tat nie etwas in gemächlichem Tempo.

Sie ließ den Blick über den bunten Nachtmarkt schweifen, der sich von der Piazza aus bis in die Seitenstraßen ausbreitete. Zwischen den Verkaufsständen sah man Grüppchen von Jüngern, deren freudige Stimmen durch die Nacht schallten. Der Mercato, der jedes Wochenende von der Abenddämmerung bis zum Morgengrauen abgehalten wurde, war eine der vielen Einrichtungen in Ombrazia, die ausschließlich auf Jünger ausgerichtet waren. Dort konnte man eine Vielzahl an magischen Waren erwerben: Gewänder, die mit einem Flammen abwehrenden Zauber belegt waren, Messer, die niemals geschärft werden mussten, Schlösser, die sich nur durch die Berührung einer bestimmten Person öffneten. Letzteres war etwas, woran Roz selbst wochenlang mit Unterbrechungen gearbeitet hatte. In Anbetracht der aktuellen Rebellenaktivitäten waren die Schlösser heiß begehrt, weswegen sie und die anderen Jünger von Patience die Herstellung von Kriegsnachschub zurückgefahren hatten, um die Nachfrage zu befriedigen.

Das fand Roz am Leben als Jüngerin am schlimmsten: Diese Erwartungshaltung, dass man so viel von seiner Zeit für die Herstellung magischer Gegenstände aufwandte. Sie hatte kein Interesse daran, ihre Affinität zu Metall zur Förderung von Ombrazias ohnehin boomender Wirtschaft einzusetzen. Im Grunde war ihr die Wirtschaft schnurzegal, denn sie kam nur einem Bruchteil der Bevölkerung zugute.

Mit zusammengebissenen Zähnen drängte sie sich durch eine weitere Menschentraube. Auf dem Mercato gab es nicht nur magische Gegenstände. Es wurden auch normale Waren angeboten: Waffen und teure Teppiche, handgeschnitzte Statuetten und Kräuterelixiere. Lauter Dinge, die Jünger ungefähr doppelt so schnell fertigen konnten wie die, die keine magische Affinität besaßen. Lauter Dinge, die als Exportwaren ordentliche Summen einbrachten.

Wunderschön war er, dieser Teil von Ombrazia, wo das Mondlicht die Pflastersteine an den Stellen, wo die Laternen nicht hinreichten, silbrig leuchten ließ. Wo diejenigen, die von den Heiligen abstammten, so tun konnten, als würden die weniger ansehnlichen Stadtteile nicht existieren.

Auf der anderen Seite des Weges erspähte Roz eine von Cunnings Jüngerinnen, die hinter einer Auslage kleiner Fläschchen stand, in denen eine undurchsichtige schwarze Flüssigkeit waberte. Ihr Duft, ein intensiver Geruch von Zucker und Eisen, schlug ihr entgegen. Sie ließ sich von ihm zum Stand hinüberlocken, wobei die Absätze ihrer Stiefel auf dem Kopfsteinpflaster klackerten. Als sie schließlich vor der Verkäuferin stand, bedachte sie sie mit einem schroffen Lächeln. »Das Übliche.«

Die rothaarige Jüngerin wechselte einen Blick mit dem finster dreinblickenden Mann, vor den Roz sich gedrängt hatte – und der eigentlich als Nächster an der Reihe gewesen wäre. Doch sie protestierte nicht, sondern griff unter den Warentisch und holte eine Phiole mit schimmernder Flüssigkeit hervor. Roz nahm sie entgegen und bezahlte. »Danke.« Den innerlich vor Wut brodelnden Mann hinter ihr sah sie mit niedergeschlagenen Lidern an und sagte: »Bitte verzeihen Sie, Signore. Ich bin in Eile.«

Das stimmte zwar nicht, doch als sie ihn direkt ansprach, straffte er sich und wirkte gleich ein wenig besänftigt. »Schon gut.«

Er schien sich Hoffnungen zu machen, dass sie noch mehr sagen würde, doch Roz schenkte ihm lediglich ein weiteres angedeutetes Lächeln, bevor sie sich auf dem Absatz umdrehte. Als sie die Phiole in ihre Jackentasche steckte, berührte ihr Daumen flüchtig den Pfropfen aus Wachs.

Feuer tanzte am Rande ihres Sichtfeldes, als sie einen weiteren Verkaufsstand passierte, an dem Jünger, die wie sie zu Patience’ Zunft gehörten, Dienst taten. Um den Stand herum waberte der typische metallische Geruch ihrer Magie. Roz ging schneller, um nicht von ihnen bemerkt zu werden. Erst als ihr am Rande der Piazza zwei Sicherheitsoffiziere auffielen, verlangsamte sie ihren Schritt und schützte Interesse an einer Auswahl Seidenkleider vor. Während sie zu belauschen versuchte, worüber die beiden redeten, gesellte sich ein Dritter zu ihnen, der einen Jugendlichen mit sich zerrte. Der Junge war ungefähr in Roz’ Alter, hatte rotes Haar und eine Stupsnase. Seine Kleidung war so staubig, dass sie grau aussah. Die Offiziere ignorierten sein Gezeter und seine Bemühungen, sich von den Handschellen, die von Patience’ Zunft hergestellt worden waren, zu befreien.

Dummkopf, dachte Roz betrübt. Eigentlich hätte er wie alle anderen wissen müssen, dass diese Handschellen sich nur von dem Offizier, dem sie zugeteilt worden waren, wieder öffnen lassen würden.

»Ich gebe dir fünf Sekunden, um meine Frage zu beantworten«, blaffte der dritte Offizier, woraufhin Roz einen verstohlenen Blick auf ihn riskierte. Er war ein großer Mann mit ernstem Gesicht und einem schwarzen Haarschopf. Zweifellos ein ehemaliger Soldat. Genau wie die meisten Sicherheitsleute des Palazzos.

Doch es war nicht er, stellte Roz fest und entspannte sich ein wenig.

Sie wusste, dass Damian Venturi hier war – sie hatte ihn im Lauf des Jahres aus der Ferne gesehen –, doch die Vorstellung, ihm hier zu begegnen, brachte ihr Herz stets zum Rasen. Sie fragte sich, was die anderen Sicherheitsoffiziere davon hielten, dass Damian zu ihrem Kommandanten ernannt worden war. Ob sie ihn so fürchteten, wie die Leute seinen Vater fürchteten. Sie hegte keinen Zweifel daran, dass ihre Jugendliebe inzwischen in Battista Venturis blutgetränkte Fußstapfen trat.

Der staubige Junge riss seine gefesselten Hände los. »Was denn, wollt ihr nicht erst mal ›Guter Polizist, böser Polizist‹ spielen?«

Roz grinste hinter den Kleidern. Der Offizier schaute mürrisch drein und ließ sich nicht zu einer Antwort herab. »Warum schleichst du auf dem Mercato herum?«

»Ich bin nicht herumgeschlichen!«

»Für mich sah es aber ganz danach aus.« Der Offizier unterbrach sich, um den Kopf vor einem vorbeigehenden Jünger von Mercy zu neigen, bevor er sich wieder mit dem Jungen befasste. »Kein Ring, kein Zutritt.«

Roz senkte automatisch den Blick auf den schmalen Ring an ihrem Zeigefinger, der sie als Jüngerin auszeichnete. Wie immer verzog sie bei seinem Anblick das Gesicht. Sie hatte ihre Affinität erst später als die meisten anderen entdeckt – als sie und Damian mit dreizehn Jahren gemeinsam getestet worden waren, hatten sie beide keine Anzeichen von Magie gezeigt. Ihre Verbindung zu Metall hatte sich erst drei Jahre später bemerkbar gemacht. Zu diesem Zeitpunkt war Damian schon an der Front gewesen, und ihr Vater war getötet worden, weil er von ebenjener Front desertiert war. Roz hätte es vielleicht schaffen können zu verbergen, was sie war, aber ohne Jacopo Lacertosas mageren Sold blieb ihr als einzige Möglichkeit nur noch Patience’ Zunft. Sie mochte hassen, was sie war, aber wenigstens konnte sie sich selbst und ihre Mutter ernähren. Wenn man eine Jüngerin war – ungeachtet dessen, ob man einen Verräter zum Vater hatte –, ließ einen niemand verhungern.

Die Stimme des Offiziers erregte wieder ihre Aufmerksamkeit, als er den Jungen fragte: »Was weißt du über die Rebellion?«

Also, das war neu. Roz regte sich nicht. Adrenalin rauschte durch ihre Adern. Soweit sie wusste, betrachteten der Magistrat und der Palazzo die Rebellion nicht als ernsthafte Bedrohung.

»Ich weiß nichts«, entgegnete der Junge scharf.

Der Offizier musterte ihn mit zusammengekniffenen Augen. »Hmm«, lenkte er schließlich ein. »Bezahl die Strafe, und du kannst gehen.«

Anstatt erleichtert zu sein, wirkte der Junge plötzlich noch nervöser. »I-ich habe kein Geld.«

Bevor der Offizier etwas erwidern konnte, wandte sich Roz um und schlenderte gemächlich auf ihn zu. Dabei zog sie die Kapuze vom Kopf. Ihr dunkler Pferdeschwanz kam zum Vorschein und fiel ihr auf die Brust. Sie schenkte den drei Offizieren ein, wie sie wusste, entwaffnendes Lächeln.

»Ich kam nicht umhin zu hören, worüber Sie sprachen. Wenn Sie ihn dadurch endlich loswerden, werde ich mit Freuden die Strafe übernehmen.« Sie krauste theatralisch die Nase und hoffte, der Junge würde es nicht persönlich nehmen. Schließlich hatte sie so etwas schon öfter gemacht. »Wie viel?«

Als der Offizier Roz’ Ring bemerkte, verwandelte sich sein finsterer Gesichtsausdruck in ein höfliches Lächeln, und er wich von dem Jungen zurück. »Nicht nötig, Signora. Sie müssen sich nicht mit derlei belasten.«

Wahrscheinlich wollte er nur höflich sein, doch seine Worte klangen auf eine Art beschwichtigend, die Roz nicht gefiel. Sie neigte den Kopf und sah den Mann verächtlich an. »Er hat gesagt, dass er kein Geld hat. Nehmen Sie mein Angebot an oder lassen Sie ihn gehen.«

Etwas an ihrem Tonfall hatte ihn offenbar überzeugt, denn der Offizier nahm dem Jungen die Handschellen ab und scheuchte ihn geradezu von der Piazza.

Roz lächelte wieder, diesmal jedoch weniger höflich. »Barmherzigkeit ist eine ehrenwerte Eigenschaft. Habe ich gehört.« Sie erwähnte nicht, dass sie selbst kaum damit gesegnet war.

Unter den entgeisterten Blicken der Offiziere zog sie wieder die Kapuze über den Kopf und verschwand in der Dunkelheit.

Als sie ihren Weg fortsetzte, wurden die kunstvoll gefertigten Säulen und schmiedeeisernen Details zusehends von eintöniger Architektur und klapprigen hölzernen Toren abgelöst. Die beißende Luft brannte in ihren Nasenlöchern. Hier gab es keine Straßenlaternen mehr, und überall, wo das Mondlicht nicht hingelangte, breitete sich Finsternis aus. Ombrazia war in sechs Sektoren aufgeteilt, einen für jeden der verbliebenen ursprünglichen Heiligen, wodurch die Unerwählten gezwungen waren, irgendwo dazwischen ihr Leben zu fristen. Aus diesem Grund hatten sie auch den aufgegebenen Sektor, der einst dem siebten Heiligen zugedacht gewesen war, für sich vereinnahmt.

Jeder Jünger stammte von einem der ursprünglichen Heiligen ab: Strength, Patience, Cunning, Grace, Mercy, Death und Chaos. Gelegentlich wurde allerdings auch ein Jünger geboren, dessen Kräfte es mit denen des ursprünglichen Heiligen aufnehmen konnten. In diesem Fall galten sie als Reinkarnation – praktisch als eigenständige Gottheit.

Roz wusste, dass die Geschichte gezeigt hatte, dass es gefährlich war, wenn ein Heiliger auf Erden wandelte. Vor siebzig Jahren hatten gleich zwei Reinkarnationen gleichzeitig existiert: Strength und Chaos. Beide hatten um die Macht gewetteifert und das Land dadurch zweigeteilt. Der nördliche Teil – inzwischen ein unabhängiger Stadtstaat mit Namen Brechaat – hatte eine schreckliche Niederlage erlitten. Sie hatten dort auf Chaos’ Seite gekämpft, doch er war gefallen, genau wie jeder seiner Vorgänger seit Anbeginn der Zeit. Hinterher hörte man allseits, dass es zum Besten gewesen wäre: Chaos’ Jünger waren Illusionisten mit einer Affinität zum menschlichen Geist und damit schlicht zu mächtig. Man durfte nicht riskieren, dass noch einmal eine Reinkarnation von Chaos geboren würde. Und so waren seine überlebenden Jünger vernichtet worden und sein Ebenbild von allen Darstellungen des Götterpantheons entfernt worden. In Ombrazia – dem südlichen und siegreichen Teil – galt allein die Erwähnung des gefallenen Heiligen als Ketzerei.

Das war der Erste Krieg der Heiligen gewesen.

Nun tobte ein zweiter.

Obwohl das Gebiet der Unerwählten ein weniger erfreulicher Anblick war, spürte Roz, wie die Anspannung von ihr abfiel. Ihre Schritte hallten auf dem Stein und trugen ihr die verstohlenen Blicke zweier vorbeigehender Jugendlicher ein. Ihre Kleider waren abgetragen und ihre Mienen furchtsam. Roz fragte sich, ob sie es geschafft hatten, die Einberufung in den Krieg zu umgehen, oder ob ihre Zeit einfach noch nicht gekommen war. Sie bedachte sie mit einem Nicken, das jedoch keiner von ihnen erwiderte.

»An eurer Stelle würde ich mich nicht so spät hier draußen herumtreiben.« Roz bemühte sich, die ruhig ausgesprochenen Worte nicht wie eine Drohung klingen zu lassen, war sich jedoch nicht sicher, ob es ihr gelang. »Ich gehe davon aus, dass ihr wisst, wie es Amélie Villeneuve ergangen ist.«

Einer der Jugendlichen wurde blass und zog den Kragen seiner Jacke enger. Der andere, der der Mutigere von den beiden zu sein schien, sah sie vorwurfsvoll an.

»Sie sind doch auch so spät noch unterwegs.« Er musste etwa dreizehn Jahre alt sein, im gleichen Alter, wie Amélie es gewesen war. Als Roz zur Antwort ein Lachen ausstieß, wich er einen Schritt zurück.

»Ja«, stimmte Roz zu. »Aber ich lasse mich auch nicht so leicht umbringen wie die meisten anderen.«

Der Junge verzog das Gesicht, und sein Begleiter zerrte wortlos an seinem Arm. Selbstverständlich hatten sie von Amélie gehört – wer hatte das nicht? Davon, wie man vor zwei Monaten ihre Leiche gefunden hatte, kalt und vergessen, in einer unbeleuchteten Gasse in der Nähe ihres Zuhauses.

Undniemand hatte irgendetwas deswegen unternommen.

»Verschwindet von hier«, drängte Roz die beiden, die inzwischen regelrecht entsetzt aussahen. »Geht nach Hause.«

Sie gehorchten, rannten geradezu davon. Roz sah ihnen nach, bis sie schließlich am Ende der Straße um eine Ecke bogen und verschwanden. Sie verspürte ein ungutes Gefühl in der Magengrube.

Dummköpfe. Amélie war gerade erst begraben worden, und schon schossen die Leute alle Vorsicht in den Wind. Sie war auch nicht das einzige Opfer gewesen – kürzlich war außerhalb von Patience’ Sektor am Flussufer ein junger Mann unbestimmter Herkunft tot aufgefunden worden. Zwar bestand kein Anlass zu glauben, dass die beiden Vorfälle in Zusammenhang miteinander standen, doch Roz war aufgefallen, wie wenig Mühe man sich dabei gegeben hatte, den Täter aufzuspüren. Der Palazzo hatte die beiden Todesfälle bisher nicht einmal öffentlich gemacht.

Da es keine Jüngerwaren, sind sie auch nicht wichtig, dachte Roz und spuckte auf die Straße. Wie würde man sie wohl behandeln, wenn sie das nächste Opfer wäre? Würde ihr Tod Schlagzeilen machen und in Ombrazia Wellen schlagen? Oder würde man sie im Palazzo als Tochter eines Verräters identifizieren und sich freuen, sie losgeworden zu sein?

Schließlich verlangsamte sie ihren Schritt und steuerte auf Bartolo’s zu, eine heruntergekommene Taverne ohne ein Schild, das sie als selbige kennzeichnete. Draußen vor dem Haus saßen drei Kinder – zweifellos Straßenkinder, deren Eltern eingezogen worden waren –, die anscheinend darauf hofften, dass die Wirtin der Taverne ihnen etwas zu essen geben würde. Als Roz auf die Tür zuschritt, starrten sie sie an, ihre Augen riesenhaft in ihren verhärmten Gesichtern.

Aus dem Inneren der Taverne drangen laute, lallende Stimmen. Roz griff nach dem Türgriff und wappnete sich für den Lärm, der ihr entgegenschlagen würde, fand sich jedoch plötzlich einem Betrunkenen gegenüber, der gerade das Gebäude verließ.

Der Mann musterte sie mit vom Alkohol vernebeltem Blick und stieß einen Pfiff aus. »Sieh an, sieh an. Guten Abend.« Er streckte die Hand aus, um sie auf ihre Hüfte zu legen, doch bevor er sie berühren konnte, packte Roz sein Handgelenk. Er war kleiner als sie – was auf viele Leute zutraf – und zu schmächtig, um eine ernsthafte Bedrohung darzustellen.

»Schauen kostet nichts«, sagte sie kühl und zückte in einer einzigen fließenden Bewegung ihr Messer. »Aber Anfassen kostet einen Finger.«

Der Mann wich zurück, wobei er fast über seine eigenen Füße stolperte, und sein ohnehin gerötetes Gesicht lief noch dunkler an. »Dreckige Hure.« Seine Worte klangen verwaschen.

Roz schnalzte mit der Zunge. »Sollte ich mir vielleicht lieber deine Zunge holen?«

Als er sein eigenes Messer zog, tat er das so ungeschickt, dass sie lachen musste. Konnte sie in dieser verdammten Stadt denn nirgendwo hingehen, ohne Männern zu begegnen, die glaubten, ein Anrecht auf sie zu haben?

So betrunken, wie er war, gedachte Roz nicht, sich auf einen echten Kampf mit ihm einzulassen. Stattdessen packte sie ihn am Kragen, zog ihn auf die Straße und versetzte ihm einen Tritt in den Magen. Keuchend taumelte er einen Schritt rückwärts, bevor er auf dem Hintern landete.

Roz ließ ihn sitzen und knallte die Tür der Taverne hinter sich zu.

Als sie eintrat, stürmten Lichter und Lärm auf sie ein. Die Luft war verraucht und stank nach Alkohol. Im Bartolo’s war meistens viel los, insbesondere an den Wochenenden. Roz blinzelte, während sich ihre Augen an das Schummerlicht gewöhnten, und bahnte sich an den Gästen vorbei einen Weg zur Bar, wo eine dunkelhaarige Frau wartete.

»Nasim.« Roz sprach mit erhobener Stimme, um sich trotz des Lärms Gehör zu verschaffen. Die forsche und stets loyale Nasim Kadera gehörte zu den wenigen Menschen, die Roz als Freunde betrachtete. »Wo ist Dev?«

Nasim stieß einen leisen Seufzer aus und wies mit dem Kopf in den hinteren Bereich des Raums, wo ein blonder, junger Mann allein am Tisch saß.

Devereux Villeneuve, der trauernde ältere Bruder von Amélie, war auf seinem Stuhl zusammengesackt. Auf dem Tisch vor ihm standen eine Menge leere Gläser. Roz’ Brust zog sich unangenehm zusammen. Zweifellos saß er schon den ganzen Tag dort, genau wie gestern und tags zuvor. Ihn so zu sehen schmerzte. Er war derjenige gewesen, der Amélie, kalt und starr, auf der Straße gefunden hatte, und seitdem hatten sie ihn nicht mehr lächeln sehen.

»Ach, verflucht.« Roz stützte sich mit den Ellenbogen auf die Theke und signalisierte dem Mann, der dort bediente, dass er ihr einen Drink bringen sollte. Er tat es, ohne ihre Bestellung aufnehmen zu müssen.

»Genau«, stimmte Nasim zu und stieß mit ihrem Becher gegen Roz’. »Na dann: Salute.«

Roz trank einen Schluck. Der Wein schmeckte bitterer als gewöhnlich. »Wann hat er heute mit dem Trinken angefangen?«

»Zu früh.«

»Kurz vor der Mittagszeit«, mischte sich der Barkeeper, der ihr Gespräch mitangehört hatte, grimmig ein und wischte dabei mit einem schmutzigen Lappen über die Theke. »Er hat schon eine ordentliche Zeche beisammen.«

Diesmal war es Roz, die seufzte. Nasim hatte den Blick wieder auf Dev gerichtet und biss sich auf die Unterlippe. »Er bemüht sich noch immer nicht besonders, mit jemandem zu reden.«

»Kann man ihm das verübeln?«, entgegnete Roz. Sie musste wieder an die Nacht denken, in der sie Dev kennengelernt hatte. Er war zufällig auf sie gestoßen, als sie bei Dunkelheit Messer auf die seitliche Außenmauer der Taverne geworfen hatte. Damals hatte er sich an die Mauer gelehnt und sie frech gemustert. Sie hatte schon befürchtet, er würde ihr ein unschickliches Angebot machen, doch stattdessen hatte er gesagt: Wenn du willst, dass sie stecken bleiben, solltest du dir vielleicht ein weicheres Ziel suchen. Dann hatte er mit dem Kopf in Richtung eines Mannes genickt, der gerade aus dem Gebäude gekommen war. Wie wäre es mit ihm?

Seine Worte hatten Roz so verblüfft, dass sie hatte lachen müssen, und seitdem waren sie Freunde. Sie und der unbekümmerte, spitzbübische Dev, der nicht mal wusste, wie man Ernsthaftigkeit buchstabierte.

Bis jetzt.

Er hatte um Zeit zum Trauern gebeten, und Roz hatte sie ihm gewährt. Doch es ging ihm einfach nicht besser, und sie würde verdammt noch mal nicht herumsitzen und zusehen, wie er sich jeden Tag ins Delirium trank.

Sie packte ihr eigenes Getränk aggressiver, als es nötig gewesen wäre. »Komm mit«, sagte sie zu Nasim, die freudlos auflachte.

»Vielleicht solltest du allein mit ihm reden.« Nasim wechselte das Glas von einer Hand in die andere und wich Roz’ Blick aus. »In letzter Zeit wollte er nicht wirklich etwas mit mir zu tun haben.«

»Ich bin mir sicher, dass das nicht stimmt.«

Nasim spähte mit niedergeschlagenen Lidern zu Dev hinüber. »Roz, ich merke es, wenn mich jemand nicht um sich haben will. Ist schon gut.«

Nein, es war nicht gut. Roz hatte erlebt, wie Nasim und Dev sich auf eine Art nähergekommen waren, die sie nicht ganz verstand. Einem kleinlichen, egoistischen Teil von ihr behagte das nicht recht. Wen hatte sie denn sonst noch außer den beiden?

Neuerdings schien Devs Kummer jedoch irgendwie ansteckend zu sein. Seine Beziehungen zu anderen Menschen zerbrachen, und Nasim schien es nicht zu stören, ihn ziehen zu lassen.

Roz dagegen schon.

Es bedurfte einiger Geschicklichkeit, sich zwischen den Tischen und Gästen hindurchzuschlängeln, weswegen sie auf ihrem Weg zum hinteren Teil der Taverne auf einige Füße trat. Trotz des Lärms und des allgegenwärtigen Gestanks fühlte sie sich hier wohl. Sie kannte jeden Fleck auf den Holztischen und merkte es immer, wenn Piera die Bilder an den Wänden austauschte.

»Dev«, begrüßte Roz ihn, als sie endlich seinen Tisch erreicht hatte. »Stört es dich, wenn ich mich zu dir geselle?«

Dev zuckte unelegant mit den Schultern.

Das genügte Roz als Zustimmung. Sie ließ sich auf den Stuhl ihm gegenüber fallen, schob die leeren Gläser beiseite und stellte ihr eigenes mit einem dumpfen Laut auf den Tisch. »Du kannst so nicht weitermachen.«

Dev ignorierte ihre Feststellung. Seine Haare waren ungewöhnlich strubbelig und seine Lider halb geschlossen. »Hat Nasim dich hergeschickt, damit du mir auf die Nerven gehst?«

»Nasim hat mich nicht geschickt, um irgendetwas zu tun.« Roz verschränkte die Arme auf der Tischplatte und kam direkt zum Punkt. »Weißt du, keine noch so große Menge an Alkohol wird Amélie zurückbringen.«

»Was du nicht sagst«, lallte Dev und hob den Becher an seine Lippen, bevor er feststellte, dass er leer war. »Wenn das so ist, sollte ich vielleicht aufhören, aus nekromantischen Gründen zu trinken. Ab sofort trinke ich nur noch aus Spaß. Entschuldigung!« Er reckte einen Finger in die Luft, um den Barkeeper auf sich aufmerksam zu machen. Roz schlug seine Hand herunter.

»Ich weiß, was du tust.«

Er sah sie trübsinnig an. »Was soll das heißen?«

»Du glaubst, dass du dich mit dem, was geschehen ist, nicht auseinandersetzen musst, wenn du permanent betrunken bist.« Roz wusste, wie grob ihre Worte klangen, aber sie hatte ihren Freund schon seit Wochen nicht mehr nüchtern gesehen. »Du glaubst, es war deine Schuld, weil du nicht da warst, um sie zu beschützen. Korrigiere mich, wenn ich mich irre.«

»Nicht«, bat Dev grimmig, leise. »Du verstehst nicht –«

»Ich verstehe nicht?« Roz lachte ungläubig auf. Sie knallte die Faust auf den Tisch, sodass er aufschreckte und sie ansah. »Du weißt, was meinem Vater passiert ist. Glaubst du etwa, ich hätte nicht in meinem Elend versinken wollen, als sein Kopf auf unserer Türschwelle lag? Oder als meine Mutter deswegen beinahe den Verstand verlor?« Ihre Stimme war ein Zischen. Sie bemühte sich sehr, ihre Verärgerung im Zaum zu halten.

Dev ließ die schmalen Schultern hängen und schien in sich zusammenzusinken. Als er sprach, klang in seinen Worten eine Giftigkeit mit, die Roz nur zu gut kannte.

»Sie haben nichts getan, Roz. Ich weiß, dass die Leichenbeschauerin sie untersucht hat, doch meine Eltern und ich durften den Bericht nicht einsehen. Wir wissen noch immer nicht, wie sie gestorben ist.« Er bewegte die Hände, unter deren durchscheinender Haut sich die Adern deutlich abzeichneten. »Der Palazzo hat keine Sicherheitsoffiziere auf den Fall angesetzt. Niemand hat mit den potenziellen Zeugen gesprochen. Amélie war keine Jüngerin, weswegen …« Dev schluckte. »Es ist, als wäre sie unwichtig. Du weißt wenigstens, wer deinen Vater getötet hat.«

Roz atmete aus und stieß mit der Luft auch ihren Zorn aus. »Du hast recht. Ich weiß es. Und was macht das für einen Unterschied? Er stolziert im Palazzo herum, unter permanenter Bewachung, und wird niemals die Konsequenzen tragen müssen.«

General Battista Venturi – Damians Vater – war es gewesen, der, nachdem Jacopo von der Front geflohen war, den Befehl gegeben hatte, auf ihn Jagd zu machen und ihn wie ein Tier abzuschlachten.

Ein Schatten legte sich kurz über Devs aquamarinfarbene Augen. Nachdenklich und mit angespannter Miene fuhr er mit dem Finger über den Rand eines Glases, das vor ihm stand. »Was hat das alles für einen Sinn, Roz, wenn wir nicht einmal für die, die uns am nächsten stehen, Gerechtigkeit erringen können?«

Das war der Moment, in dem er zusammenbrach. Er verbarg das Gesicht hinter den Händen, seine Schultern bebten, und er atmete plötzlich schwer. Roz versuchte erst gar nicht, ihn mit nutzlosen Worten zu trösten. Sie wusste, dass er sie nicht würde hören wollen. Sie saß nur da und wartete ab, bis er fertig war.

»Wir werden für Gerechtigkeit sorgen«, sagte Roz leise. »Für meinen Vater. Für Amélie.«

Als sich ihre Blicke trafen, sah sie, dass Devs Augen trocken waren. Dann hatte sie ihn also noch nicht ganz verloren. Sie waren zwei Seiten derselben Münze: Sie beide hatten ihr Elend geschliffen und poliert und in etwas Bösartiges, Gefährliches verwandelt. Jetzt musste sie ihm nur noch in Erinnerung rufen, dass Rache süßer schmeckte als Alkohol.

4

DAMIAN

Am Ende ließ Damian Giada frei.

Für diesen Schritt hätte sein Vater ihn bestimmt gerügt. Battista hielt nichts davon, seinem Bauchgefühl zu folgen. Er handelte ausschließlich aufgrund von Beweisen und stellte erst hinterher Fragen.

Außerdem kannte er keine Barmherzigkeit. Er hätte Giada angeschaut, die vor Angst so bleich wie der Mond gewesen war, und nichts dabei empfunden.

Wir haben eine Aufgabe zu erfüllen, pflegte Battista zu sagen. Wenn wir zulassen, dass unsere Emotionen ins Spiel kommen, steigt die Gefahr, dass wir Fehler machen.

Damian war klar, dass das stimmte. Er wusste aus erster Hand, was passieren konnte, wenn man zögerte oder jemandem einen Vertrauensbonus gewährte. Doch auch wenn er sich noch so sehr bemühte, die Worte seines Vaters im Kopf zu behalten, wurden sie stets von der Erinnerung an seine Mutter verdrängt.

Du hast Mitgefühl mit anderen, hatte sie einige Tage vor ihrem Tod betrübt zu ihm gesagt. Das ist eine Fähigkeit, die ebenso machtvoll ist wie das Wissen darum, wie man eine Waffe abfeuert. In der Welt geht es rau zu, Damian, aber lass dir diese Fähigkeit trotzdem nicht von ihr nehmen. Kannst du mir dein Wort geben, dass du das nicht zulassen wirst?

Selbstverständlich hatte er es getan. Wie hätte er es nicht tun können? Er hätte ja wohl kaum dort sitzen, ihre vom Tod gezeichnete Hand halten und das Versprechen verweigern können. Damian fragte sich, ob er einen Schwur geleistet hatte, den er womöglich nicht würde halten können. Er hatte seinen Vater immer als schroff und kaltschnäuzig empfunden, aber wie hätte es auch anders sein können? Wie konnte man von jemandem, der so viel Tod und Leid gesehen hatte wie Battista, erwarten, dass er ein weiches Herz behielt? Während seines Kriegseinsatzes hatte es Zeiten gegeben, in denen Damian sich am liebsten seine Gefühle aus dem Körper gerissen und in die kalte nördliche See geschleudert hätte.

Allerdings hatte er Giada nicht aus Mitleid gehen lassen. Er hatte sie freigelassen, weil er glaubte, dass sie die Tat nicht begangen hatte. Sie hatte kein echtes Motiv. Und obwohl er es nur ungern zugab, gingen ihm ihre Worte nicht aus dem Kopf.

Sie sollten sich Gedanken machen, ob ich vielleicht die Nächste bin.

Damian hatte keine Beweise dafür, dass es jemand auf die ausgewählten Jünger abgesehen hatte, doch die Vorstellung allein war ebenso furchterregend wie die, dass er bei der Erfüllung seiner Aufgabe versagen könnte.

Gedankenverloren durchschritt er die Eingangshalle des Palazzos. Im Gebäude war es still, und in der riesigen Halle lauerten Schatten. An einem Morgen wie diesem konnte man die Geheimnisse des Palazzos förmlich in der Luft schmecken. Sie schienen so greifbar, dass man versucht war, die Hand auszustrecken und nach ihnen zu greifen, nur um festzustellen, dass sie einem wie Rauch durch die Finger glitten. Ein Rundbogen trennte die offene Decke von einem überdachten Laufgang mit gemustertem Fliesenboden, dessen Farben bereits verblasst waren. Mitten im Raum plätscherte fröhlich ein kleiner Brunnen mit einem Podest, auf dem sich die gesichtslosen Heiligen in Kreisformation an den Händen hielten. Hier und da machten sie einen Schritt gegen den Uhrzeigersinn: Ein sicheres Anzeichen dafür, dass sie von einem Jünger von Strength geschaffen worden waren.

»Wo willst du denn hin, Venturi?«

Damian hatte nicht gemerkt, wie Kiran Prakash sich zu ihm gesellt hatte. Die Schultern der Uniformjacke seines Kollegen wurden von Wappen mit einem flammenden Schwert darauf geziert, die ihn als Sicherheitsoffizier des Palazzos auswiesen. Obwohl er sogar noch größer war als Damian, war er dafür bekannt, sich stets flüsterleise zu bewegen. Sein strubbeliges Haar kräuselte sich um seine Stirn, und er hatte ein gutmütiges Gesicht. Kiran war in Begleitung von Siena Schiavone, einer jungen Frau mit zu kunstvollen Zöpfen geflochtenem, dunklem Haar und einem unbeschwerten Grinsen auf den Lippen. Oben im Norden hatte Siena zu Damians Einheit gehört. Damian versuchte, nicht zu oft darüber nachzudenken, dass sie ihr Trauma besser zu bewältigen schien als er seines.

Andererseits dachten Außenstehende womöglich genau das Gleiche über ihn. Er kannte das wahre Ausmaß von Sienas Leid nicht.

»Hey«, erwiderte Damian und ging langsamer, damit die beiden mit ihm Schritt halten konnten. »Ich bin auf dem Weg in die Krypta.«

Siena legte eine Hand an ihren Gürtel und verzog vielsagend das Gesicht. »Wir haben gehört, dass Forte dir wegen Leonzios Tod zugesetzt hat.« Bevor Damian nachfragen konnte, fügte sie hinzu: »Enzo.«

Damian stöhnte. Er hätte ahnen können, dass Enzo ihren Freunden alles weitererzählen würde. »Gerechterweise muss man sagen, dass Forte sich mehr oder weniger so verhalten hat, wie es zu erwarten gewesen ist. Außerdem hat er recht – ich habe Mist gebaut.«

Als sie nach draußen traten, blickte Kiran zum Himmel auf. Es sah nach Regen aus. »Du weißt schon, dass du auch Siena und mich zum Mercato hättest schicken können.«

»Ich weiß. Aber ich habe mich dort nicht lange aufgehalten. Ich bin gegangen, als Matteo anfing, Unerwählte aufzugreifen, die dort herumlungerten.« Damian seufzte. »Ich musste mal raus. Wenn man zu viel Zeit im Palazzo verbringt, fühlt man sich irgendwann …«

»Klaustrophobisch?«, schlug Siena vor.

Ganz genau, dachte Damian. Als würde man umso schwerer Luft bekommen, je länger man sich zwischen den vergoldeten Wänden des opulentesten Gebäudes der Stadt aufhielt. »Stimmt.«

Sie sah ihn wieder verhalten an. Was immer sie in Damians Gesicht las, schien sie zu beunruhigen, denn sie sagte: »Du siehst grauenvoll aus, Venturi.«

»Bei allen Heiligen, Siena«, tadelte Kiran lachend und schüttelte den Kopf. Eine dunkle Strähne fiel ihm auf die Wange, und er griff nach hinten, um den Knoten, der seine Haare zusammenhielt, wieder festzubinden.

»Was denn? Es stimmt doch.«

Ihre Beobachtung überraschte Damian nicht im Geringsten. Er ging davon aus, dass er die meiste Zeit grauenvoll aussah. Seitdem er aus dem Norden zurückgekehrt war, verzichtete er darauf, sich sein Spiegelbild genauer zu betrachten, weil er sich vor dem fürchtete, was er vielleicht zu sehen bekäme. Weil er Angst hatte, dass er, falls er sich tatsächlich auf die Art und Weise verändert hatte, wie er es vermutete, diese Veränderungen nicht mehr länger ignorieren könnte. Er merkte, wie die anderen ihn ansahen – als stünden ihm seine Sünden ins Gesicht geschrieben.

Und das konnte durchaus sein. Jeder kannte die Geschichte, wie er zugesehen hatte, als sein bester Freund an der Front gestorben war. Wie er, in einer sinnlosen Vergeltungsaktion, drei feindliche Soldaten gleichzeitig ausgeschaltet hatte. Heldenhaft nannten sie es. Aber auch: entsetzlich.

Damian merkte, dass Siena noch immer auf eine Antwort wartete, und zuckte mit den Schultern. »Ich schätze, so ist das eben, wenn man zwei Tage am Stück wach ist.«

»Du musst schlafen. Du brichst sonst noch zusammen.«

»Ich glaube, das ist schon passiert«, bemerkte Kiran. »Damian, blinzle zweimal, wenn du nicht bei vollem Bewusstsein bist.«

Damian starrte Kiran ostentativ an, wobei er darauf achtete, kein einziges Mal die Augen zu schließen.

Sie gingen die sich verjüngende Vordertreppe des Palazzos hinunter und liefen auf dem breiten Weg weiter, der durch den Garten führte. Oben auf dem mit kunstvollen Steinmetzarbeiten verzierten Dach des Gebäudes drehte sich ein Wasserspeier ein Stück zu Seite, um sie auf ihrem Weg zu beobachten. Wieder eine Schöpfung von Strenghts Jüngern.

»Glaubst du, die Rebellen hatten etwas damit zu tun?«, wechselte Kiran netterweise das Thema.

Damian musste nicht erst nachhaken, worauf er anspielte. Er hatte sich selbst bereits die gleiche Frage gestellt: Hatten die Rebellen durch den Mord an Leonzio vielleicht ihren Abscheu gegen das System ausdrücken wollen? »Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie so gut organisiert sind«, sagte er ehrlich. »Wer immer Leonzio getötet haben mag, war clever. Niemand hat gemerkt, dass er im Palast war. Die Rebellen sind eher … chaotisch.«

Siena hob eine gepflegte Augenbraue. »Du meinst, weil man einige von ihnen bei einem versuchten Einbruch ins Stadtgefängnis erwischt hat? Ich bin mir nicht sicher, ob das wirklich bedeutet, dass sie chaotisch sind. Das war das erste Mal überhaupt, dass wir einige ihrer Mitglieder identifizieren konnten.«

»Je mehr Unerwählte in den Norden geschickt werden, desto unruhiger werden sie«, meinte Kiran. »Weil sie gegen den Krieg sind und so weiter.«

Der Wind ließ Damian einen Schauer über die Haut laufen. Warum verstanden die Leute nicht, dass der Palazzo existierte, um sie zu beschützen? Um sie zu repräsentieren? Neuerdings beklagten sich die Rebellen vor allem darüber, dass die Unerwählten eingezogen wurden, um im Zweiten Krieg der Heiligen zu kämpfen, die Jünger hingegen nicht dazu verpflichtet wurden. Aber wieso hätte man das tun sollen? Ihre Fähigkeiten waren das Rückgrat von Ombrazias Wirtschaft. Selbst Damian war dieser Unterschied bewusst.

»Wie können sie nur denken, dass der Krieg vergeblich ist?« Damian richtete die Frage mehr an sich selbst als an Kiran und Siena. »Brechaat versucht, in unser Territorium vorzudringen. Sie verbreiten Ketzerei!«