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EINE DUNKLE MACHT DROHT SIE AUSEINANDERZUREISSEN
Nach der Rebellion gegen die Herrschenden von Ombrazia hoffen Roz und Damian, dass nun der Weg für mehr Gerechtigkeit geebnet ist. Doch es gibt noch immer zu viele, die das alte System des Unrechts aufrechterhalten und den Krieg an ihrer Grenze im Namen der Heiligen weiterführen wollen. Als ihre Freunde an die Front verschleppt werden, machen sich Roz und Damian auf, um sie aus den Fängen einer brutalen Generalin zu befreien. Aber je näher sie ihrem Ziel kommen, desto deutlicher bemerkt Roz, dass ihr sanfter Geliebter sich langsam verändert und einer dunklen Wut anheimfällt. Sie begreift bald: Der gefährlichste der Heiligen, Chaos, streckt seine Fühler nach ihnen allen aus ...
»Ein wunderbarer Abschluss der Geschichte, die einen mit ihrem atemberaubenden Tempo an die Seiten fesselt.« STEPH’S STORY SPACE
Abschlussband der SEVEN FACELESS SAINTS-Dilogie
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Seitenzahl: 555
Titel
Zu diesem Buch
Widmung
Prolog
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Epilog
Danksagung
Die Autorin
Die Romane von M. K. Lobb bei LYX
Impressum
M. K. Lobb
Seven Faceless Saints
RUF DES CHAOS
Roman
Ins Deutsche übertragen von Katrin Reichardt
Nach der Rebellion gegen die Herrschenden von Ombrazia hofft Roz, dass nun der Weg für mehr Gerechtigkeit geebnet ist. Doch es gibt noch immer zu viele, die das alte System des Unrechts aufrechterhalten wollen. Ihr Traum von einem neuen Ombrazia wird jäh zerstört, als ein Jünger der Heiligen mithilfe einer skrupellosen Generalin die Macht ergreift und Roz’ und Damians Freunde an die Front verschleppt, wo noch immer der Krieg gegen den Nachbarstaat tobt. Sofort machen sie sich auf, um die Gefangenen zu befreien. Aber je näher sie ihrem Ziel kommen, desto mehr bemerkt Roz, dass ihr sonst so sanfter Geliebter sich langsam verändert und einer unkontrollierbaren Wut anheimfällt. Die Zeichen mehren sich, dass Chaos, der gefürchtetste der Heiligen, seine Fühler nach ihnen allen ausstreckt. Und als sie hinter die feindlichen Linien gelangen, offenbart sich ihnen eine Wahrheit, die ganz Ombrazia erschüttern könnte. Um ihr Land und ihre Liebe zu retten, muss Roz ein Opfer bringen, das sie alles kosten könnte, wofür sie gekämpft hat …
Für die, die die Kunst gemeistert haben,
Kanten zu schärfen,
jedoch noch immer lernen, weich zu sein.
Die Nacht brach herein und der Wind zeigte die Zähne.
Milos schloss mit zitternden Fingern den oberen Knopf seiner Jacke und warf noch einmal einen letzten Blick auf das Haus hinter sich. In der hereinbrechenden Dämmerung waren kaum noch Details auszumachen, doch er kannte diesen Ort wie sein Spiegelbild – die einfachen, rechteckigen Fenster, den dahinwelkenden Garten und die Mauern mit dem rissigen Putz, aus dem hier und da die staubigen Steine hervorlugten.
Er wusste nicht, ob er noch einmal zurückkehren würde. Aus Gründen, die er nicht recht in Worte fassen konnte, war ihm das egal.
Er zog die Ledertasche auf seiner Schulter zurecht. Das Blut strömte wild durch seine Adern. Plötzlich konnte es ihm gar nicht schnell genug gehen. Etwas hatte sich in den vergangenen Tagen verändert. Er konnte es spüren, wie ein Jucken direkt unter der Haut, das sich nicht lindern ließ, und während die Stunden verstrichen, wurde er sich seiner Sache immer sicherer. Sein Körper hatte die Veränderung gespürt, bevor der Rest von ihm sie bemerkt hatte, und bis zum jetzigen Zeitpunkt war er nicht in der Lage gewesen, dieses Gefühl, das ihn plagte, zu identifizieren.
Doch nun wusste er es.
Es war der Drang, aufzubrechen.
Oder zumindest etwas in dieser Art. Sein Herz hämmerte im Käfig seines Brustkorbs, als würde er verfolgt, doch Milos hatte das seltsame, unerklärliche Gefühl, dass er auf etwas zulief. Es zog ihn an, und er hatte kaum eine andere Wahl, als diesem Sog zu folgen.
So ausgedrückt klang es sogar in seinen eigenen Ohren verrückt. Doch er konnte spüren, dass es der Wahrheit entsprach, genauso deutlich, wie er seine Magie spürte, die seine Knochen umschlang. Dieses Gefühl war es wahrscheinlich, das ihn antrieb, die gespannte Erregung, die in ihm brannte, anfachte. Er schluckte schwer und hob das Kinn zum sich verdunkelnden Horizont. Seine Lippen formten ein Gebet.
Falls er sich weiter in die von ihm eingeschlagene Richtung fortbewegte, würde er für derartige Gebete zwangsläufig im Gefängnis landen. Aber vorerst stellte er sich weiter seinen Schutzheiligen am Rande des Himmels vor, wie er ihm zuhörte. Auf ihn hinabblickte.
Die dunkle Landschaft erstreckte sich vor ihm wie Felder des Vergessens. Jenseits von ihr schlug die See gegen die Klippen am Rande der Durchfahrt, die Brechaat von Ombrazia trennte.
Milos malte sich aus, dass er, wenn er nur angestrengt genug lauschte, den Klang der Wellen hören könnte. Was selbstverständlich ein Ding der Unmöglichkeit war. Aber da er nur wenige Meter weit sehen konnte, wirkte die Welt mit einem Mal sehr klein.
War es sein Heiliger, der ihn gen Süden zog? Etwas Göttliches, das ihn an einer Art magischem Strick immer weiter zerrte?
Milos zitterte, jedoch nicht vor Kälte. Dieses Unbehagen war eine befremdliche Empfindung, doch durch Konzentration ließ sie sich unterdrücken. Er richtete den Blick nach Süden und ging weiter.
Geführt von Chaos, oder vielmehr auf ihn zu.
Als Kind hatte sich Damian Venturi immer danach gesehnt, mehr Geschichte als Junge zu sein.
Er hatte die Erzählungen über die Heiligen und die Jünger, die mit ihrer Magie gesegnet waren, praktisch mit der Muttermilch aufgesogen. Er hatte von Ruhm im Krieg hoch im Norden geträumt, und davon, Waffen zu halten, ohne dass seine Hände zitterten. Er hatte sich ausgemalt, als Kapitän Schiffe über sternenübersäte Gewässer zu steuern und am Rande der Welt zu stehen, erhobenen Hauptes, in heiliger Rechtschaffenheit. Er hatte sich vorgestellt, sich zu verlieben.
All das hatte er sich mit Strength an seiner Seite ausgemalt, in der Zuversicht, dass der Schutzheilige seines Vaters auch ihn eines Tages segnen würde.
Beim Gedanken daran verzog Damian die Lippen. Er kniete neben Batista Venturis Grabstein. Die glänzende Platte aus Marmor war höher, als sein Vater groß gewesen war, opulent und überflüssig. Ein großer Klotz aus Stein für einen Mann, der sich selbst ebenfalls für groß gehalten hatte.
Egal, wie oft er hierherkam – immer überkam ihn ein Anflug von Bitterkeit. Seine Enttäuschung war unversöhnlich. Als sein Vater gestorben war, hatte Damian Verzweiflung empfunden. Er hatte gesehen, wie sich das Blutrot auf dem strahlend weißen Boden des Palazzos ausgebreitet hatte, und die dumpfen, unentrinnbaren Vibrationen dieser Verzweiflung in seinen Knochen gespürt. Sie war ihm so vertraut wie der Klang seiner eigenen Stimme. Doch nun begann er, den Kummer abzustreifen, Schicht um Schicht, wie schlecht sitzende Kleidung, und an seine Stelle trat jahrelang unterdrückte Wut.
Er drückte die Fingerspitzen ins dichte Gras. Seine Fingernägel schabten über die Erde. Die Heiligen, sofern es sie irgendwo dort draußen gab, gewährten keine Erlösung. Jünger starben wie alle Wesen aus Fleisch und Blut. Der Tod machte alle gleich.
Damian musste es wissen. Er hatte höchstpersönlich einem Jünger eine Kugel verpasst. Vielleicht war das der Grund dafür, dass er immer wieder hierherkam: um sich selbst leiden zu lassen. Als eine Art Bestrafung, weil er erneut getötet hatte und es diesmal so schlimm gewesen war wie nie zuvor. Noch schlimmer als die schnellen Tode, deren er sich in seiner Zeit an der nördlichen Front schuldig gemacht hatte.
Weil es ihm dieses Mal so verdammt leichtgefallen war.
»Du wünschtest bestimmt, du hättest das mitansehen können, nicht wahr?«, murmelte Damian dem Grabstein zu, während sein Blick die vertraute Inschrift streifte: BATTISTA VENTURI – HOCHGESCHÄTZTER GENERAL, GEEHRT DURCH STRENGTH. Man würde seinen Vater nicht als liebenden Ehemann oder hingebungsvollen Vater in Erinnerung behalten, sondern seine Rolle und seinen Status. Wenn Damian bedachte, was für ein Mann er am Ende gewesen war, war das vermutlich angemessen.
Er wischte sich die Hände ab, stand auf und schluckte den galligen Geschmack in seiner Kehle hinunter. Als er sich bewegte, fiel Sonnenlicht auf den flachen Stein. Das Schimmern wirkte wie Hohn.
»Ich habe mich schon gefragt, ob ich dich hier finden würde.«
Roz Lacertosa trat neben ihn, die Lippen grimmig zusammengepresst.
Sie war so schön und lässig wie immer: Ihr hochgeschlossenes schwarzes Hemd entblößte kaum etwas von ihrem schlanken Hals, und das lange Haar war zu einem strengen Pferdeschwanz gebunden. Als sie Battistas Grab fixierte, nahm ihre Miene einen Ausdruck von vager, ungebrochener Abscheu an. Damian konnte es ihr kaum verübeln.
»Wie lange bist du schon hier?« Roz strich mit den Fingern über Damians unteren Rücken. Ihre Berührung ließ ihn erschauern. Er zuckte mit den Schultern.
»Nicht lange.«
Das war gelogen, und die Intensität ihres durchdringenden Blicks verriet ihm, dass sie das wusste. Sie legte die Finger an sein Kinn, umfasste es mit einem Griff, der keinen Widerspruch zuließ, und drehte sein Gesicht, bis er sie ansah.
»Er verdient keine … Mahnwache. Außerdem hat Enzo ihn getötet – und nicht du.«
Damian nahm sanft ihre Hand von seinem Gesicht, zog sie an seine Brust und atmete den Duft ihrer Haut ein. Dann drückte er die Lippen an ihren Hals.
»Damian, bitte«, sagte Roz und hielt ihn am Oberarm fest. In ihren Worten schwang allerdings ein gewisses Amüsement mit. »Nicht vor deinem Vater.«
Mit einem spöttischen Schnauben zog er sie vom kargen Friedhof des Palazzos fort. Seine Laune besserte sich bereits. Der Sommerwind war warm, strich wie eine sanfte Berührung durch sein Haar, und er konnte die tosenden Wellen des Meeres hören, die in unmittelbarer Nähe ans Ufer brandeten.
»Deine Hände sind schmutzig«, bemerkte Roz und hob ihre verschlungenen Hände hoch. Dieser Umstand schien sie nicht weiter zu beunruhigen, doch Damian zuckte zusammen und versuchte, sich von ihr loszumachen.
»Tut mir leid.«
Sie hielt ihn fest. »Was hast du denn gemacht?«
Er gab es auf, und außerdem wollte er sie sowieso nicht loslassen. »Das Chthonium, das Enzo bei den Leichen der Opfer zurückgelassen hatte. Ich habe es neben meinem Vater vergraben. Ich wollte es nicht mehr sehen.« Eigentlich verstand er nicht, weshalb er es überhaupt so lange behalten hatte. Er würde niemals den Anblick vergessen, wie es in den leeren Augenhöhlen der Menschen gesteckt hatte, die der Jünger ermordet hatte.
»Du hättest es ins Meer werfen sollen«, meinte Roz und drückte seine Hand fester. »Aber das ist gut – ich bin froh. Manche Dinge sollten lieber begraben und vergessen werden.«
Damian sparte es sich, ihr zu erklären, dass er niemals vergessen würde, was Enzo in ihrer Stadt angerichtet hatte. Stattdessen wechselte er das Thema. »Wie lief dein Treffen mit den Rebellen?«
Sie lief weiter neben ihm her und schien derweil über seine Frage nachzudenken. Ihre Stiefelsohlen klackerten auf dem Kopfsteinpflaster des breiten Weges, der zum Palazzo führte.
»Ich würde sagen, so gut, wie es eben zu erwarten war.« Sie schwang geringschätzig den Pferdeschwanz über die Schulter. »Einige von ihnen vertrauen mir noch immer nicht recht. Aber sie werden trotzdem zur Versammlung kommen.«
»Du meinst, sie vertrauen mir noch immer nicht.« Damit meinte Damian natürlich, dass Roz’ Freunde wenig begeistert gewesen waren, als sie erfahren hatten, dass sie sich mit einem Sicherheitsoffizier zusammengetan hatte.
Sie blinzelte in die Spätnachmittagssonne. Ihre Wimpern warfen lange, zarte Schatten auf ihre Wangen. »Sie vertrauen dir zumindest insofern, dass sie sich darauf verlassen, dass du bei der Versammlung ihre Sicherheit gewährleisten wirst. Außerdem wissen sie, dass du bei der Aufklärung der Morde geholfen hast und dass wir Freunde sind.«
»Entschuldige bitte«, sagte Damian und streckte den Arm aus, damit sie stehen bleiben musste. »Hast du gerade gesagt, wir wären Freunde?«
Roz’ blaue Augen verdunkelten sich, nahmen einen amüsierten, wilden Ausdruck an. »Wir waren schon immer Freunde, Venturi.«
»Ich denke, du weißt, dass ich das so nicht gemeint habe.«
Sie gab ein kehliges Brummen von sich, blickte zum Himmel auf und tat so, als würde sie angestrengt nachdenken. »Dann sind wir also keine Freunde?«
»Rossana …«, grummelte Damian. Sie befanden sich nun seitlich des Palazzos. Unvermittelt drängte Roz ihn zur Mauer, bis sich sein Rücken an den kühlen Stein drückte. Er hätte selbstverständlich Widerstand leisten können, tat es aber nicht.
»Willst du, dass alle erfahren, dass ich es nicht ertragen kann, von dir getrennt zu sein?«, murmelte sie und ließ die Hände forschend über seine Brust gleiten. Ihr Lächeln hatte etwas Verruchtes. »Willst du, dass alle erfahren, dass ich vom Klang deines Lachens und deiner weichen Haut besessen bin?«
Damian wollte antworten, doch Roz presste den Mund auf seinen. Das hätte eine völlig unschuldige Angelegenheit sein können, hätte sie sich nicht angeschickt, sich mit den Fingern unter den Saum seines Hemds zu stehlen. Eine einzige Berührung ihrer Lippen und er stand in Flammen. Er bekam nie genug davon, Roz zu küssen. Zu spüren, wie sich ihr Körper an seinen schmiegte. Vom vertrauten, süßen Duft ihres Haars, davon, wie ihre Münder zusammenpassten, als wären sie einzig für diese Berührung geschaffen worden … Doch sie machte sich zu schnell wieder von ihm los und nahm den Seufzer mit, den sie aus seiner Brust gelockt hatte.
Als sie zu ihm aufblickte, erkannte Damian, dass hinter ihren Augen noch immer die gleichen unausgesprochenen Gedanken brodelten. So war es schon seit Tagen, und doch hielt irgendetwas sie beide davon ab, das Thema anzuschneiden. So war es einfacher. Einfacher für Damian, seine Arbeit im Palazzo zu verrichten, sich nach dem Tod von Battista und Magistrat Forte so gut es ging dazu zu zwingen, einen Anschein von Ordnung zu wahren. Einfacher für Roz, Zeit mit ihrer Mutter in der Wohnung zu verbringen, die einst Piera gehört hatte, und sich darauf zu konzentrieren, wie es mit der Rebellion weitergehen würde.
»Sag es doch einfach«, bat Damian mit rauer Stimme und ließ die Arme hängen. »Ich merke, wie du es vor dir herschiebst. Also sag es, Roz.«
Sie musterte sein Gesicht mit grimmiger Miene. Nicht misstrauisch, aber forschend. »Ich dachte, du würdest es mir vielleicht übel nehmen.«
»Dass du erkennst, was mit mir nicht stimmt?«
»Es gibt nichts, was mit dir nicht stimmt.«
»Roz, bitte.« Damian fuhr sich mit der Hand seitlich übers Gesicht, das noch immer warm war von ihrem Kuss. Ihm fiel wieder ein, was sie in der vorigen Woche gesagt hatte: Ich sehe dich. Selbst deine dunklen Seiten. »Als ich Enzo getötet habe, hat es mir gefallen. Da ist etwas … Böses in mir.«
Sie reckte eigensinnig das Kinn. »Du hast schließlich geglaubt, er hätte mich ermordet. Ich wäre stinksauer auf dich, wenn du nicht zumindest ein bisschen Befriedigung dabei empfunden hättest.«
»Ich meine es ernst.«
»Ich auch.«
Damian wartete ab, ob sie noch mehr sagen würde. Ob sie einräumen würde, dass ihr die Ausbrüche wilden Zorns aufgefallen waren, die ihn packten, wenn er es am wenigsten erwartete. Er hatte diesen Zorn in jener Nacht gespürt, und seitdem war es immer häufiger passiert. Nach fast drei Jahren an der Front war er Flashbacks gewohnt, doch das hier war etwas vollkommen anderes. Es waren merkwürdige, erschreckende Augenblicke, in denen er das Gefühl hatte, als würde ihm seine Haut zu eng. Als müsse er sich seinen eigenen Körper herunterreißen, wie Enzo, als er aus der Gestalt des Magistrats herausgetreten war und die Illusion von Fleisch in blutigen Fetzen abgeworfen hatte. Nichts an diesem Gefühl war richtig. Während der Chaos-Jünger in den Gassen von Ombrazia umhergeschlichen war, hatte Damian geglaubt, den Verstand zu verlieren. Doch nun, da Enzo tot war, hätte diese Angst doch eigentlich mit ihm sterben müssen, oder?
Doch das war sie nicht. Im Gegenteil, sie war schlimmer als jemals zuvor.
»Wir haben eine Menge durchgemacht«, meinte Roz, verschränkte die Finger mit seinen und benutzte den Daumen, um die Rückseite seines Daumens zu streicheln. Diese Geste mochte tröstlich gemeint sein, ihre Worte waren es jedoch nicht. Sie gaben lediglich eine Tatsache wieder. Roz bemühte sich nur selten, jemanden zu trösten – sondern sprach aus, was sie als die Wahrheit empfand. »Du verbringst viel zu viel Zeit damit, dir darüber Sorgen zu machen, wie du reagieren solltest, anstatt den Verarbeitungsprozess einfach zuzulassen.«
Damian wollte ihr glauben. Doch ihm waren in seinem Leben schon Gräuel aller Art begegnet. Dinge, die ihn nicht losließen, Schuldgefühle und Leid, die eine Schlinge um seinen Hals zu formen schienen, die sich nach und nach zuzog. Das hier war anders, auf eine Art und Weise, die er nicht zu beschreiben vermochte. Er spürte, wie er sich auflöste, konnte jedoch, wenn es darauf ankam, lediglich Gleichgültigkeit für diesen Zustand aufbringen. Er fühlte sich gewaltbereit. Es gab kein anderes Wort dafür. Während dieser kurzen Episoden war er verstört, ohne Bewusstsein für Konsequenzen und sich stets sicher, den Verstand verloren zu haben. Er wurde das dumpfe Gefühl nicht los, dass sich etwas Furchtbares über ihn gelegt hatte, wie ein unsichtbares Tuch.
»Du hast recht«, sagte Damian zu Roz, weil er es nicht ertragen konnte, die Unterhaltung noch weiter fortzusetzen. Roz, die vermutlich seine Bestürzung bemerkt hatte, zog ihn in Richtung des Palazzos.
»Komm. Ich möchte mir für die Versammlung einen guten Platz sichern.«
Damian war sich nicht sicher, ob es bei einer Veranstaltung wie dieser überhaupt so etwas wie gute Plätze gab, doch er sparte sich die Worte. Stattdessen folgte er Roz zum wuchtigen Eingangstor des Palazzos. Das uralte, steinerne Gebäude schien den Wind, der den Geruch des Meeres mit sich trug, aufzufangen und ihn zum Schweigen zu bringen. Über ihnen erhoben sich seine Türme, deren metallene Spitzen sich in den grauen Himmel bohrten, der höchste von ihnen verhangen von schweren Wolken. Einst hatte Damian den Palazzo für wunderschön gehalten. Für eine glanzerfüllte Zuflucht vor der schlammigen Front, an der er seine Freunde und seine Unschuld verloren hatte. Doch nun wurde ihm allein bei seinem Anblick eiskalt bis in die Knochen. Death war ihm hierher gefolgt, und er schaffte es nicht, sie abzuschütteln. Sie mischte sich in den Widerhall seiner Stiefel auf dem Marmorfußboden und starrte ihn aus den Augen der Statuen an, die den Haupteingang säumten. Jedes Mal, wenn Damian über die Schwelle trat, sah er die Leiche seines Vaters am Fuße der Treppe liegen und roch den beißenden Gestank von Rost und Schießpulver.
Doch er zwang sich, den diensthabenden Offizieren Matteo und Noemi zuzunicken, bevor er sich von der kühlen Stille im marmornen Eingangsbereich umfangen ließ.
Die Stille war nicht von langer Dauer.
Damians Familienname gellte barsch durchs Foyer, in einem nasalen, ungehaltenen Tonfall, der ihm ein Seufzen abnötigte.
»Salvestro.« Damian wandte sich nach dem Jünger von Death um, warf seinen Namen scharf wie einen Peitschenhieb in den Raum zwischen ihnen. »Was kann ich für Sie tun?«
Obwohl Salvestro Agosti unter den Repräsentanten im Palazzo ein Neuzugang war, hatte er rasch die Führungsrolle übernommen, als wäre er praktisch dafür geboren worden. Vielleicht war dem tatsächlich so – unter den machtvollen Jüngern war das keine Seltenheit. Dank der Segnungen von Death konnte er allein durch eine Berührung die letzten Augenblicke eines kürzlich Verstorbenen lesen. Doch sein überlegenes Auftreten erweckte den Eindruck, als verstünde er es ebenso gut, die Lebenden zu lesen.
Salvestro kam die Treppe herunter, den Blick auf Roz gerichtet. Er sah makellos aus wie immer mit seinem perfekt sitzenden Anzug, seinem ordentlich frisierten dunklen Haar und den glänzenden Obsidianringen an seinen langen Fingern. Sein Mund dehnte sich zu einem breiten Lächeln, während der Rest seines Gesichts in eiskalter Beherrschung verharrte. Er schritt daher, als trüge er eine Krone über seiner von vorzeitigen Falten gezeichneten Stirn.
Damian kannte diesen Mann noch nicht lange, doch er wusste genug über ihn, um ihn zu hassen.
»Also wirklich, Venturi«, sagte Salvestro mit aufgesetzter Höflichkeit. »Sie hatten mir doch versprochen, dass bis zum Beginn der Zusammenkunft niemand das Gebäude betreten darf.« Die Worte waren an Damian gerichtet, doch sein Blick blieb auf Roz’ Gesicht geheftet. Es ließ sich zwar nicht erkennen, was er in diesem Augenblick dachte, jedoch unschwer erraten.
Damian hielt den Rücken gerade und den Kopf aufrecht. »Danke, Signor Agosti. Mein Sicherheitskonzept ist mir durchaus geläufig. Signora Lacertosa ist mein persönlicher Gast.«
»Ach so?« Salvestro bot ihr seine Hand an. »Salvestro Agosti der Dritte, Jünger von Death.«
Roz schloss ihre Finger um seine Hand, in einem festen Griff, der schmerzhaft aussah. »Rossana Lacertosa die Erste, Jüngerin von Patience.«
Salvestros Lippe zuckte. »Es ist mir eine Ehre.« Als er sich wieder dazu herabließ, Damian anzusehen, war sein Tonfall abgehackt. »Apropos Sicherheit. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass Sie recht hatten. Eine zu starke Präsenz seitens der Offiziere wird die Unerwählten nur beunruhigen.«
Damian runzelte die Stirn. Vor zwei Tagen, als Salvestro sich nach seinem geplanten Sicherheitskonzept für die Versammlung erkundigt hatte, hatten sie über dieses Thema eine kurze Auseinandersetzung gehabt. Der Jünger war der Ansicht gewesen, dass das Konzept nicht annähernd ausreichen würde, und hatte Damians Erklärung, die Unerwählten könnten sich durch zu viele Offiziere womöglich zu stark beobachtet fühlen, schlichtweg ignoriert. »Verdoppeln Sie alle Zahlen«, hatte Salvestro geblafft. »Das ist ein Befehl.«
Damian hatte es sich verkniffen, ihn auf das Offensichtliche hinzuweisen: Salvestro war nicht der Magistrat und hatte ihm entsprechend nichts vorzuschreiben. Dennoch hatte er sich gefügt, weil er wusste, dass Salvestro dadurch am Tag der Versammlung vermutlich besser gestimmt sein würde.
Nun war Damian verwirrt.
»Neulich haben Sie aber etwas anderes gesagt.« Er bemühte sich, seinen Tonfall nicht ins Anklagende abgleiten zu lassen. »Was hat Ihre Meinung geändert?«
Salvestro wedelte ungehalten mit der Hand. »Ich möchte, dass diese Versammlung reibungslos abläuft. Je weniger Unerwählte ihren Senf dazugeben, umso besser.«
Bevor Roz auch nur den Mund geöffnet hatte, wusste Damian bereits, dass sie ihm diesbezüglich gleich deutlich die Meinung sagen würde.
»Wenn Sie möchten, dass die Versammlung reibungslos abläuft«, sagte sie, und ihre Stimme troff geradezu vor aufgesetzter Freundlichkeit, »dann sollten Sie am besten so oft wie möglich den Mund halten.«
Salvestros Gesichtsausdruck ließ sich durchaus als amüsant bezeichnen, doch Damian wurde bei seinem Anblick flau im Magen. Das höfliche Interesse, das der Jünger eben noch an Roz gezeigt hatte, schlug jäh um in Fassungslosigkeit und Verachtung.
»Sie haben wohl eine Schwäche für die Unerwählten, was?« Salvestro blähte die Nasenflügel. »Von einer Jüngerin hätte ich eigentlich mehr erwartet, aber andererseits teilen Sie ja das Bett mit ihnen.« Sein kühler Blick fiel auf Damian, der so fest die Zähne zusammenbiss, dass sein Kiefer schmerzte.
Eine von Roz’ Augenbrauen zuckte kaum merklich nach oben. Ihr Lächeln war höhnisch. »Wenn Sie eifersüchtig sind, Signore, dürfen Sie das ruhig zugeben. Wer könnte es Ihnen verdenken?«
Damian wünschte sich sehnlichst, die Erde würde sich auftun und ihn verschlingen. Er wusste nicht genau, ob Salvestro ihn feuern konnte, und war auch nicht erpicht darauf, es herauszufinden. Falls der Mann, wie viele glaubten, der Favorit für die Nachfolge des Magistrats war, konnte diese ganze Angelegenheit ein böses Ende nehmen.
»Wir bitten um Verzeihung, mio Signore«, murmelte er, obwohl ihm die Entschuldigung fast im Halse stecken blieb. Hitze stieg in seine Wangen. »Es bleibt bei der ursprünglich geplanten Anzahl an Sicherheitskräften.«
Sein Versuch, das Gespräch auf das eigentliche Thema zurückzulenken, scheiterte kläglich. Salvestro richtete sich in einer einzigen fließenden Bewegung kerzengerade auf, und als sein Blick Damians traf, wurde sein Lächeln noch breiter. »Das ist alles bestimmt sehr angenehm für Sie, oder, Venturi? Eine schicke Uniform, eine Jünger-Freundin am Arm … Da fällt es Ihnen bestimmt fast zu leicht, zu vergessen, dass Sie unerwählt sind. Dass Sie nichts sind.«
»Für wen zur Hölle halten Sie sich –«, setzte Roz an, doch Damian brachte sie mit einem brüsken Kopfschütteln zum Schweigen.
Aber es war zu spät. Sie hatte den Köder geschluckt. Salvestro legte eine Hand über sein Herz, wobei seine Ringe leise klickten. »Haben Sie ihr beigebracht, für Sie zu sprechen, oder tut sie es aus Mitleid?« Er schnalzte mit der Zunge. »Ich kann mir vorstellen, wie beschämend es sein muss, nicht für sich selbst einstehen zu können. Aber es gehört zu Ihrem Job, den Mund zu halten, nicht wahr, Venturi? Und wir wissen doch alle, wie wichtig Ihnen dieser Job ist.«
Roz hatte endlich gemerkt, was vor sich ging, und stand wie erstarrt. Damian sagte noch immer nichts. Zorn verengte sein Blickfeld und ballte sich in seinem Inneren. Es war ein bösartiger Zorn von ungewohnter Heftigkeit. Damian hatte das Gefühl, dass er an seiner Selbstbeherrschung kratzte, an seiner Entschlossenheit nagte, ihn dazu trieb, die Kontrolle zu verlieren. Seine Finger wollten sich fest um Salvestros Hals schließen, die Nägel in sein Fleisch bohren und heißes Blut fließen lassen. Damian rang nach Atem, erfüllt von dem Verlangen, den schwachen Puls an der Kehle dieses Mannes zu spüren.
»Ich sagte«, wiederholte Salvestro gedehnt, als spräche er mit einem Geistesschwachen, »dass es Ihr Job ist, den Mund zu halten. Ist das korrekt?«
»Ja.« Damian presste die einzelne Silbe durch seine zusammengebissenen Zähne. Sie schmeckte nach Galle.
Salvestro wartete.
»Ja, mio Signore.«
Salvestro klopfte Damian empörend selbstgefällig auf den Arm. »Sie sind so ein guter Soldat.« Er blickte kurz zu Roz, deren Miene wie versteinert war. »Ich freue mich schon sehr auf diese Versammlung.«
Gleich darauf verklangen Salvestros hallende Schritte im Korridor, doch das schwelende falsche Gefühl tief in Damians Innerstem verlor nichts von seiner Intensität.
»Ich werde ihn umbringen«, verkündete Roz, während sie mit Damian zum Ratssaal lief.
»Es wäre mir lieber, wenn du das nicht tätest.« Damian sah sie beim Sprechen nicht an. War er wütend, oder dachte er noch über das nach, was Salvestro gesagt hatte? Sie allein war an diesem Schlamassel schuld gewesen, doch Salvestro hatte sie beide büßen lassen, indem er Damian vor ihr gedemütigt hatte. Bei allen Heiligen, Roz hasste diesen Mann. Sein arrogantes Grinsen hatte sich ihr tief eingeprägt, und sie sehnte sich danach, zu erleben, wie ihm just dieses Grinsen verging. Vorzugsweise durch Gewaltanwendung.
»Tut mir leid«, sagte sie. »Ich hätte nicht gedacht, dass er –«
»Reden wir nicht mehr darüber.« Damian presste fest die Lippen zusammen und zog die Holztüren zum Ratssaal auf. Er tat es kraftvoller, als nötig gewesen wäre, wodurch ein merklicher Luftzug entstand. »Du kannst drinnen warten. Die Unerwählten müssen auf der anderen Seite des Raums sitzen.«
Er wusste natürlich, dass sie nicht bei den anderen Jüngern sitzen wollen würde. Roz zögerte verwundert. »Du kommst nicht mit?«
»Ich komme wieder, sobald ich für Ordnung gesorgt habe. Ich muss die zusätzlichen Offiziere informieren – ihnen mitteilen, dass sie nicht mehr gebraucht werden.«
Roz musterte Damian eingehend. Sie hatte das Gefühl, ihn zum ersten Mal in dieser Woche richtig wahrzunehmen. Nach allem, was geschehen war, hätte sie erwartet, dass er dünner, erschöpfter aussehen würde. Doch stattdessen schien das Gegenteil zuzutreffen. Der Stoff seiner marineblauen Uniform spannte sich über seiner Brust, und er wirkte irgendwie größer, als bestünde er nur aus Muskeln und breiten Schultern. Seine Miene war stahlhart und er schob derart erbittert das Kinn nach vorn, dass eine Sehne an seinem Hals hervortrat. Das erinnerte sie daran, wie er in der Illusion ausgesehen hatte, die Enzo ihr gezeigt hatte. In der sie gesehen hatte, wie der Jünger von Chaos jede Facette seines Plans ausgeführt hatte, bis zu seinem Tod – bevor es in Wirklichkeit geschehen war.
Sie strich unbehaglich mit dem Finger über ihren Jüngerring. Kurz bevor die Illusion geendet hatte, hatte sie Damian angesehen. Eingehüllt in die erdrückende Dunkelheit des Schreins und mit einer Pistole in der Hand hatte sie nur tatenlos zusehen können, wie sich Damians Augen in schwärzesten Obsidian verwandelt hatten und ein fremdartiges Lächeln über seine Lippen gehuscht war.
»Na schön«, sagte Roz, weil es sonst nicht viel zu sagen gab.
Damian neigte den Kopf. »Deine Freunde sind schon da.«
Damit war er fort. Als Roz sich umdrehte, sah sie, dass Nasim Kadera und Dev Villeneuve in ihre Richtung blickten. Sie passierte die Sicherheitsoffiziere, die an den Wänden des riesigen Raumes postiert waren, und ging zu ihnen. Obwohl ein Tisch, der länger war als Bartolo’s Taverne, die Mitte dominierte, waren überall, wo man Platz gefunden hatte, noch zusätzliche Sitzplätze eingerichtet worden. An den dunkelroten Wänden hingen farbenfrohe Wandteppiche und Gemälde von Personen, bei denen es sich, wie Roz vermutete, um ehemalige Repräsentanten des Palazzos handeln musste. An der gewölbten Decke hing ein filigraner Kronleuchter, dessen geschliffenes Glas im Licht glitzerte wie Juwelen.
Hinter Nasim und Dev saßen Alix, Josef und Arman und unterhielten sich miteinander. Noch weiter hinten saßen Rafaella und Jianyu und dann Nicolina mit Zemin und Basit. Alix lächelte Roz freundlich und vorsichtig optimistisch zu. Arman nickte nur und Josef winkte halbherzig. Roz wusste, dass keiner von ihnen sich darüber freute, hier zu sein. Die Unerwählten – und insbesondere die Rebellen – vertrauten weder dem Palazzo noch dessen Jüngern. Doch sie waren gekommen, weil sie genau hierfür gekämpft hatten: für einen Platz am Tisch.
Neben Nasim, die in der ersten Reihe saß, war noch ein Platz für Roz freigehalten worden. Sie sank auf den Stuhl mit der ungepolsterten Rückenlehne, als könne er den Aufruhr in ihrem Inneren besänftigen.
»Was ist los mit dir?«, fragte Nasim. Ihr tintenschwarzes Haar war heute nicht wie üblich geflochten, sondern fiel offen um ihr Gesicht. Dev beugte sich zu Roz, um ihre Antwort besser hören zu können. Dabei drückte er die Schulter gegen Nasims.
»Mit mir ist alles in bester Ordnung. Aber bei Salvestro Agosti stimmt so einiges nicht – allem voran, dass er ein absoluter, kompletter Mistkerl ist.« Roz verschränkte die Arme und funkelte wütend die Tür an, als könne der Jünger von Death dort jeden Augenblick erscheinen.
»Du hast ihn kennengelernt?« Devs Augenbrauen schossen nach oben.
»Ich wünschte, ich hätte es nicht getan.«
Er verzog den Mund zu einem schiefen Grinsen. Nach dem Mord an seiner Schwester war Dev in tiefer, selbstzerstörerischer Trauer versunken, doch dank der Gewissheit, dass Enzo dafür verantwortlich gewesen war, schien es ihm inzwischen besser zu gehen. Sein Gesicht war noch immer eingefallen und seine Augen stumpf von den Wochen des Kummers, aber wenigstens war er nicht mehr permanent volltrunken. »Dann schätze ich, dass das hier hervorragend laufen wird.«
»Er ist nicht der Magistrat«, bemerkte Nasim.
Roz schürzte die Lippen. »Aber er scheint sich dafür zu halten. Ihr hättet hören sollen, wie er mit Damian geredet hat. Aber wenn wir Glück haben, wird es künftig gar keinen Magistrat mehr geben.« Wenn Ombrazias politisches System tatsächlich eine bedeutsame Veränderung erfahren sollte, war ein kompletter Neuanfang nötig. Eine Handvoll Jünger über die komplette Stadt herrschen zu lassen, angeführt von einem Magistrat, der vermeintlich den Willen der Heiligen zu erahnen vermochte, war rückblickend nicht gerade von Vorteil für die Unerwählten gewesen. Da sie über keine Magie verfügten, mit der sie zur Wirtschaft Ombrazias hätten beitragen können, wurden ihre Bedürfnisse kaum berücksichtigt. Gewöhnliche Schmiede oder Steinmetze konnten niemals so effizient arbeiten wie die Jünger von Patience und Strength. Schneider und Alchimisten brauchten sich keine Hoffnungen zu machen, mit den Jüngern von Grace oder Cunning mithalten zu können, und nicht magische Heiler waren nutzlos, wenn einem stattdessen die Fähigkeiten von Mercys Jüngern zur Verfügung standen. Ombrazia hatte längst entschieden, welche Fähigkeiten belohnt wurden, und die Unerwählten besaßen keine von ihnen.
Dev krauste die Nase. »Du glaubst, die derzeitigen Repräsentanten werden bereit sein, zurückzutreten?«
»Nein. Ich denke, man wird sie überzeugen müssen. Doch nach allem, was geschehen ist, haben sie mit Sicherheit Angst. Sie haben gesehen, zu was die Rebellion imstande ist, und sie werden nicht wollen, dass sich das noch einmal wiederholt.«
»Und du bist sicher, dass Damian seine Offiziere im Griff haben wird?«, fragte Nasim bestimmt schon zum fünften Mal in dieser Woche. Roz wusste, dass Nasim nicht die Einzige war, die in Betracht zog, dass dies alles eine Falle sein könnte. Eine Einladung an die Rebellen in den Palazzo, in dem es in allen Korridoren von Sicherheitskräften wimmelte? Hätte Roz Damian und seine Freunde nicht so gut gekannt, wären ihr womöglich selbst Zweifel gekommen. Doch nun, da der General und der Magistrat tot waren, war der Palazzo schwach. Die beste Lösung war, Frieden mit den Dissidenten zu schließen, bevor er komplett zerbrach.
»Ja«, sagte Roz. »Du kannst Damian vertrauen.«
Nasim sagte nichts, doch ihre Besorgnis war ihr deutlich anzumerken.
»Alles wird gut.« Roz drückte Nasims Handgelenk. »Wenn das Ganze aus dem Ruder läuft, werde ich mich für die Unerwählten einsetzen. Ich bin eine Jüngerin – mir werden sie nichts tun.« Sollte es zu einer Auseinandersetzung kommen, würde sie ohnehin nicht still sitzen bleiben können. Sie musste mitmischen, denn andernfalls bestand die Möglichkeit, dass ihr der Kopf explodieren würde.
»Roz.« Nasims Tonfall war entschlossen. »Nur weil du nicht mehr in Patience’ Sektor lebst, bedeutet das noch lange nicht, dass du öffentlich Partei für die Rebellion ergreifen kannst. Was, wenn die Zunft dich hinauswirft? Wie willst du dann Geld verdienen?«
»Ich wohne über einer Taverne«, erinnerte sie Roz, bekam aber trotzdem eine Gänsehaut. Konnte Patience’ Zunft sie tatsächlich ausschließen? Sie hatte noch nie davon gehört, dass es einem Jünger so ergangen wäre, außer wenn ein Verbrechen begangen worden war. Sie bemühte sich, ihre wahren Ansichten vor den anderen Jüngern geheim zu halten, aber es wäre naiv gewesen, zu glauben, dass ihr das für immer gelingen würde. Da konnte sie genauso gut gleich heute mit dieser Charade Schluss machen.
Dev konzentrierte sich auf seine Fingernägel. »Die Taverne läuft ganz gut, aber so viel Geld bringt sie auch wieder nicht ein. Außerdem können wir für uns selbst sprechen. Wir wollen nicht, dass du alles opferst.«
Nasim nickte. Roz mahlte mit den Zähnen. Wir hatte Dev gesagt und damit schmerzhaft deutlich zum Ausdruck gebracht, dass Roz keine von ihnen war. Doch sie war es einmal gewesen. Fast ihr ganzes Leben war sie eine Unerwählte gewesen. Sie wusste, wie es war, unter diesem Regime zu leiden – es hatte ihren Vater getötet. Doch jetzt, da sie eine Jüngerin war, sollte sie das alles … einfach hinter sich lassen? Sollte sie vergessen und dankbar sein für ihre Gabe? Sich über ihren neuen Status freuen und weitermachen, als wäre nichts geschehen?
Das konnte sie nicht.
Sie verstummten, denn weitere Personen begannen in den Ratssaal zu strömen. Jünger nahmen auf der anderen Seite des Raumes ihre Plätze ein. Roz versteifte sich, denn Vittoria trat mit einer Gruppe Freunde ein. Als ihre Ex-Freundin und die anderen Jünger von Patience bemerkten, wo sie saß, musterten sie sie neugierig. Roz lächelte ihnen im Gegenzug höflich zu, als gäbe es nichts Ungewöhnliches zu sehen. Sie hatte schon immer das Gefühl gehabt, nicht zu ihnen zu gehören, und inzwischen war die gefühlte Trennlinie zwischen ihnen eine echte. Die Zeiten, in denen sie in Patience’ Tempel Metallwaffen geschaffen hatte, waren vorbei.
Palazzo-Repräsentanten und Zunftmeister fanden sich nach und nach am Tisch ein. Die Repräsentanten trugen auffällige rote Jacken, die mit goldenen Sternen bestickt waren, doch Roz’ Blick blieb an Salvestro hängen. Er saß auf dem Ehrenplatz und schien sich dort so wohlzufühlen, als hätte man ihm bereits die Führung übertragen. Er hatte die Hände vor sich verschränkt und seine Ringe glitzerten im Licht des Kronleuchters. Der Ausschnitt seines Hemdes gab den Blick auf die blasse Vertiefung an seiner Kehle frei. Er musste Roz’ Blicke gespürt haben, denn seine Augen richteten sich kurz auf sie, bevor er sich völlig desinteressiert wieder abwandte.
Die Repräsentanten sahen sich etwas verwundert im Raum um. Trotz der offenen Einladung an den Rest der Stadt hatten sie offensichtlich nicht mit derart vielen Teilnehmern gerechnet. Der Saal war brechend voll und die Unterschiede zwischen den beiden Seiten des Raumes offenkundig. Die Jünger waren gut angezogen und trugen Kleidungsstücke, die von Grace-gesegneten Schneidern gefertigt worden waren. Es gab keine andere Erklärung dafür, dass sie so perfekt saßen und unabhängig von Stoff oder Textur weich fielen wie Seide. Falls sich einer von ihnen unwohl fühlen sollte, dann höchstens durch die unmittelbare Nähe zu den Unerwählten.
Die Unerwählten selbst wirkten angespannt. Obwohl die meisten ihre beste Kleidung trugen, zeugten ausgefranste Fäden und abgetragene Schuhe von ihrer Armut. Sie strahlten eine Härte aus, die den Jüngern fehlte. Die meisten waren wahrscheinlich Kriegsveteranen. Roz konnte es ihnen nicht verdenken, dass sie sich in Gegenwart derer, die sie dorthin geschickt hatten, unwohl fühlten.
Rechts von Salvestro räusperte sich ein älterer Herr im grauen Anzug.
»Wie sicherlich viele von Ihnen wissen«, sagte er, »bin ich Mediator D’Alonzo. Als Berater der Repräsentanten leite ich oft Versammlungen genau in diesem Raum. Es ist mir eine Ehre, dies auch heute zu tun, wenn auch unter betrüblicheren Umständen als sonst. Ich hoffe, dass Sie ebenso wie ich für die Seelen derer gebetet haben, die wir kürzlich verloren haben.«
Während der Mediator sprach, schlich sich Damian in den Raum. Er trug das zur Schau, was Roz als sein Offiziersgesicht bezeichnete: teilnahmslose Miene und fest aufeinandergepresste Lippen. Er neigte leicht den Kopf und heftete den Blick auf Salvestros Rücken. Noch immer schien ihn finstere Wut zu umgeben wie eine hartnäckige Gewitterwolke.
Gleich darauf stahlen sich auch Kiran und Siena in den Ratssaal. Im Vorbeigehen lächelte Kiran Roz kurz zu.
»Warum kommen sie zu spät?«, murmelte Nasim.
Roz zuckte mit den Schultern. Sie konzentrierte sich wieder auf Salvestro, der andauernd zur Tür blickte, als erwarte er, dass dort noch jemand erscheinen würde. Ein ungutes Gefühl befiel sie, doch sie wusste nicht genau, weshalb. Jeder aus Ombrazia, dessentwegen es sich lohnte, sich Sorgen zu machen, befand sich wahrscheinlich bereits in diesem Raum.
D’Alonzo hatte die Hände auf dem glänzenden Tisch gefaltet und sprach noch immer. »Es stehen eine Reihe von Punkten auf der Tagesordnung, die wir besprechen müssen. Die Wahrheit lautet, dass wir festlegen müssen, wie wir weitermachen.« Seine Stimme war rau und bebte leicht. »Tragischerweise sind unser General und unser Magistrat zu den Heiligen gegangen, doch wir können ihr Andenken ehren, indem wir in der Stadt, die den beiden so viel bedeutet hat, die Ordnung wiederherstellen.
Meine Kollegen und ich haben in den letzten Tagen eng mit den Palazzo-Repräsentanten zusammengearbeitet.« Den letzten Teil richtete er an die Zuschauer. »Sie alle behalten ihre derzeitigen Funktionen bei, wobei natürlich ein neuer Repräsentant von Grace gewählt werden muss. Durch den Tod von Magistrat Forte war diese Position in der vergangenen Woche vakant.« Drei Plätze weiter nickte eine Frau mit lockigem Haar – das Oberhaupt von Grace’ Zunft, wie Roz vermutete. »Selbstverständlich bedeutet das auch, dass die Position des Magistrats neu vergeben werden muss. Nach reiflicher Überlegung haben wir entschieden, dass Salvestro Agosti, Jünger von Death, perfekt für diese Aufgabe geeignet ist.«
Ein Raunen ging durch die Zuschauer. Roz fühlte sich, als hätte ihr jemand einen Ziegelstein an den Kopf geworfen. Sie sah Nasim und Dev mit weit aufgerissenen Augen an, die beide gleichermaßen entsetzt wirkten.
»Er macht wohl Witze«, zischte Nasim. Dev schüttelte nur den Kopf. Roz verfolgte benommen, wie Salvestro sich erhob und mit geschlossenen Lippen strahlend lächelte.
»Ich danke Ihnen«, sagte er, obwohl niemand applaudiert hatte. Nur eine Handvoll der Anwesenden sah zufrieden aus. Die anderen, so vermutete Roz, waren verärgert, weil die Wahl nicht auf den Repräsentanten ihrer eigenen Zunft gefallen war. Salvestro ließ den Blick durch den Raum schweifen und schaffte es, sogar noch aufgeblasener zu wirken. Roz schmeckte Galle. Was hatte sie noch damals an jenem Tag in der Basilica über Salvestro gedacht? Er sah aus wie ein Mann, der erwartete, dass man ihm Macht verlieh. Und jetzt, mir nichts, dir nichts, gab man sie ihm.
»Signor Agosti wird in einer Woche zum Magistrat ernannt werden«, sagte D’Alonzo. »Die Zeremonie wird in der Basilica stattfinden, nachdem er sieben Tage des Fastens und Betens vollendet hat. Dies wird ihm ermöglichen, eine Verbindung zu den Heiligen aufzubauen und sich auf seine neue Rolle vorzubereiten.«
Roz ballte die Fäuste im Schoß. So hatte das nicht ablaufen sollen. Das war nicht Sinn und Zweck dieser Versammlung.
Auf der anderen Seite des Raums begann die Maske von Damians Gesicht zu gleiten. Roz konnte sehen, dass sich seine dunklen Augen kaum merklich verengt hatten. Jeder, der ihn weniger gut kannte, hätte nichts bemerkt – er regte keinen Muskel und wandte den Blick keine Sekunde von Salvestro ab.
»Sollte nicht ein anderer Jünger von Grace der neue Magistrat werden?«, fragte die lockige Frau. »Nichts für ungut, Signore. Es ist nur so, dass Magistrat Forte nicht besonders lange im Amt war.«
»Es hat auch niemand behauptet, dass die Amtszeit lang sein muss«, entgegnete eine kurvige Jüngerin, die ihr gegenübersaß. Mariana – Oberhaupt von Deaths Zunft. Roz war der Frau im Rahmen ihrer Ermittlungen zu Enzos Tod begegnet und hatte nicht viel für sie übrig.
Salvestro runzelte ungehalten die Stirn. Bevor er jedoch etwas sagen konnte, nutzte Roz ihre Chance. Wenn andere offen ihre Meinung kundtaten, warum sie dann nicht auch?
»Ich dachte, der Zweck dieser Versammlung wäre, einen neuen Weg in die Zukunft zu finden. Möglicherweise sogar einen ganz ohne Magistrat«, sagte sie laut, wobei sie auf einen höflichen Tonfall achtete. »Offensichtlich sind die Menschen mit dem bisherigen Stand der Dinge unzufrieden. Wie kommen Sie darauf, dass es eine gute Idee sein könnte, alles beim Alten zu belassen?« Ihre Frage war nicht nur an D’Alonzo, sondern an den ganzen Tisch gerichtet. Sie sah im Augenwinkel, wie Nasim sich verkrampfte. Damian trat bestürzt einen Schritt nach vorne. Er hatte doch bestimmt nicht erwartet, dass sie den Mund halten würde?
D’Alonzo sah Roz verblüfft an, als wäre ihm gerade erst aufgefallen, dass die zweite Hälfte des Raumes ebenfalls besetzt war. »Und Sie sind?«
Salvestro brachte den Mediator mit einer Handgeste zum Schweigen. »Gestatten Sie, Signore.« Er beugte sich vor und richtete das Wort an Roz. »Veränderungen sind im Gange, ob sie uns nun gefallen oder nicht. Veränderungen beim Personal und an den Abläufen im Palazzo. Das System bleibt jedoch das gleiche.«
»Ich kann mich nicht erinnern, dass alle dem zugestimmt hätten«, argumentierte Roz. Zorn brodelte in ihr wie eine Chemikalie, die drohte, überzukochen.
Salvestro zuckte mit den Schultern, als wäre das alles eine Nichtigkeit und völlig unwichtig. »Entscheidungen wurden getroffen und dann geändert.« Er sah wieder Roz an. War da in seinem Gesicht etwa eine Art boshafte Freude? Oder hatte er sie beurteilt und für unwürdig befunden? »Sie wurden von Patience gesegnet, korrekt? Es würde Ihnen guttun, sich ebenfalls ein wenig in Geduld zu üben.«
»Ich war geduldig. Ich dachte, wir wären hier, um über ein neues Regierungssystem zu sprechen.«
»Es ist unnötig, ein System zu ändern, das gut funktioniert. Todesfälle kommen vor und Anführer werden ersetzt«, erklärte Salvestro, als wäre sie ein Dummkopf. Der Rest der aufmerksam lauschenden Zuschauer hätte sich ebenso gut in Luft aufgelöst haben können. »Das ist Politik. Probleme werden identifiziert und angegangen. Rebellionen erheben sich und werden zerschmettert.«
Eiseskälte schoss durch Roz’ Adern. Hätte sie es nicht besser gewusst, hätte sie glatt denken können, dass Salvestro Bescheid wusste. Die Art, wie er sprach, war fast schon zu vielsagend.
»Wäre es nicht besser, ein System zu haben, gegen das die Menschen erst gar nicht rebellieren möchten?«, entgegnete sie.
»Es wird immer jemanden geben, der unzufrieden ist.«
»Es gibt einen Unterschied zwischen Unzufriedenheit und so großer Verzweiflung, dass man bereit ist, einen regelrechten Angriff anzuzetteln.«
»Und doch sind die Rebellen nicht der Grund dafür, dass wir zu Veränderungen gezwungen sind. Das war das Werk dieses Chaos-Jüngers.« Salvestro legte die Hände flach auf den Tisch und sah Roz verächtlich an. »Halten Sie Ihre bösartige Zunge im Zaum, Kleines, und überlassen Sie die Politik denjenigen unter uns, die davon Ahnung haben.«
Roz’ Brauen zuckten nach oben. Sie konnte spüren, dass Nasim neben ihr vor Nervosität praktisch vibrierte, und sah, wie Damian sich auf der anderen Seite des Raumes versteifte.
»Ich denke«, warf Dev ein und wand sich beklommen unter den Blicken, die sich plötzlich auf ihn richteten, »das Problem, auf das Signora Lacertosa sich bezieht, ist das der Unerwählten. Derzeit können wir kaum mitbestimmen, wie Ombrazia regiert wird, und ich war der Ansicht, dass uns die Teilnahme an der heutigen Versammlung offensteht, damit wir Impulse geben können.« Mehrere Rebellen murmelten zustimmend.
»Und was wissen Sie darüber, wie man einen Stadtstaat regiert?«, meldete sich ein breitschultriger Palazzo-Repräsentant zu Wort und brachte damit eine Frau neben sich zum Kichern. »Wozu sollten Sie ein Mitspracherecht haben? Sie haben Ombrazia nichts zu bieten.«
»Weil Sie uns nicht gestatten, Ihnen etwas zu bieten«, blaffte Alix ungewohnt heftig. »Alles, was wir können, kann ein Jünger besser. Schneller. Zumindest glauben Sie das. Wir mussten praktisch unsere eigene Wirtschaft aufbauen, und das ist nicht zukunftsfähig.«
»Ihnen scheint es doch ganz gut zu gehen«, erwiderte der Repräsentant und sein Tonfall troff nur so vor Herablassung.
»Machen Sie Witze?« Der Einwurf kam von Josef – er war aufgesprungen und allein seine Körpergröße veranlasste einige Offiziere dazu, sich vorsichtig ein Stück nach vorn zu bewegen. »Wenn wir mal nicht um unseren täglichen Lebensunterhalt kämpfen müssen, dann nur, weil man uns per Schiff wegschafft, damit wir in Ihrem sinnlosen Krieg kämpfen.«
Mediator D’Alonzo schlug mit der Hand auf den Tisch. »Genug!«
Weder seine Anweisung noch der schallende Lärm zeigten Wirkung. Nasim war nun ebenfalls auf den Beinen. »Wie viele von uns sollen noch im Kampf gegen die Brechaaner sterben? Wie viele von uns sollen sich noch die bange Frage stellen, ob ihre Angehörigen noch am Leben sind?«
»Sie tun Ihre Pflicht!«, rief Mariana vom anderen Ende des Ratstisches. Ihre Wangen waren gerötet. »In Anbetracht Ihrer mangelnden Fähigkeiten ist das das Mindeste, was Sie tun können.«
Nun brach ein Tumult aus. Roz hätte nicht sagen können, wie viele Personen durcheinanderschrien. Es ließ sich unmöglich abschätzen. Normalerweise hätte sie sich ebenfalls in die Debatte eingemischt, doch ihr fiel auf, dass Salvestro aufgestanden war und sich in Richtung der Tür zurückzog, bei der Damian Wache stand, als wolle er die Flucht ergreifen.
Doch er floh nicht. Stattdessen sagte er etwas zu Damian, und was immer es war, ließ alle Farbe aus Damians Gesicht weichen. Damian warf einen Blick über die Schulter. Eine groß gewachsene Frau in Militäruniform stand auf der Schwelle. Auf ihrer Brust prangten mehr Abzeichen, als Roz es jemals bei irgendjemandem gesehen hatte. Ihre Miene war nüchtern und ihre ganze Körperhaltung drückte immenses Selbstbewusstsein aus. Ihr ergrauendes braunes Haar war zu einem strengen Haarknoten gebunden und ihr harter Blick unnachgiebig. Ein Ausdruck von Abscheu huschte über ihre scharfen Gesichtszüge. Sie blaffte einen Befehl, den Roz nicht hören konnte.
Doch sie erkannte, welche Worte ihre Lippen formten, als ein Haufen Offiziere hinter ihr auftauchte und in den Ratssaal strömte.
Festnehmen, hatte die Frau gesagt.
Damians Verstand weigerte sich, die Szene, die sich vor ihm abspielte, zu erfassen.
»Wir haben Gäste«, hatte Salvestro kurz zuvor zu ihm gesagt und dabei deutlich zu selbstzufrieden gewirkt. Damian hatte einen Moment gebraucht, um zu verstehen, was er damit gemeint hatte. Natürlich hatten sie Gäste – der ganze Ratssaal war voll von ihnen.
Doch als er Salvestros Blick gefolgt war und in den Korridor geschaut hatte, hatte dort eine ganze Armee Offiziere gestanden.
Keiner von ihnen gehörte zu seinen Leuten.
Er hatte die Frau gesehen mit den Rangabzeichen eines Generals auf den Schultern ihrer Uniform. Militärgrün, nicht Palazzoblau. Hatte ihren barschen Befehl gehört und sich gleich darauf an die Wand gedrückt, während sich die Offiziere in den Raum gedrängt hatten.
Es waren Dutzende. Mit Sicherheit mehr, als unter Damians Befehl standen. Sie marschierten schnurstracks auf die Seite des Raumes, auf der die Unerwählten saßen, und in diesem Moment begriff er, was vor sich ging. Er stieß einen Warnruf aus, doch es herrschte solches Chaos, dass ihn niemand hörte. Roz hörte ihn nicht. Das waren Militäroffiziere – solche, die oben im Norden die ombrazianischen Militärlager bewachten. Die Jagd auf Deserteure machten. Und die Frau, die bei ihnen war, war eine Militärgeneralin.
Damian kannte sie nicht, doch sie trug mehr Abzeichen, als sein Vater besessen hatte. Ein Militärgeneral war etwas anderes als ein General im Palazzo. Battista hatte vorwiegend administrative Aufgaben erfüllt. Diese Frau kam jedoch von der Front. Bestimmt hatte sie sich jahrelang nach oben gearbeitet und dabei zahllose Leben aufs Spiel gesetzt. Damian war sich ganz sicher, dass sein Vater sich, obwohl er streng genommen denselben Rang gehabt hatte, vor ihr verneigt hätte.
Die Frau verfolgte das Geschehen mit kühler Teilnahmslosigkeit. Überall im Raum nahmen Offiziere Unerwählte in Gewahrsam. Einige der Zivilisten trugen Waffen – wahrscheinlich Rebellen, wie Damian vermutete –, doch sie hatten trotzdem keine Chance. Die Offiziere gingen mit beängstigender Effizienz vor, ließen Handschellen um Handgelenke schnappen und wehrten mühelos Schläge ab. Einer von ihnen hatte Nasim verhaftet, die ihn zwar zähnefletschend ansah, sich jedoch nicht wehrte. Damian wurde flau im Magen. Im Geiste machte er sich bereits darauf gefasst, dass Roz sich gleich einmischen würde, doch sie war nirgends zu sehen. Zur Hölle, wo war sie?
Er stieß sich von der Wand ab und suchte in dem Meer aus Leibern nach ihrer großen Gestalt. Überall um ihn herum wurden die Jünger aus dem Raum geleitet. Die, die noch übrig waren, verfolgten verwirrt das Geschehen. Einige von Damians Sicherheitsoffizieren taten das Gleiche oder sie suchten Blickkontakt mit ihm, warteten offenbar auf irgendein Signal seinerseits. Kiran und Siena gehörten zu Letzteren. Sie sahen ihn mit entsetzten Mienen an, aber Damian konnte lediglich in entsetzter Fassungslosigkeit mit den Schultern zucken. Andere Offiziere hatten sich in den Tumult gestürzt und führten zusammen mit den Militäroffizieren Verhaftungen durch. Damian legte eine Hand an seine Waffe und ballte die andere zur Faust. Diesen Männern würde er später noch ordentlich die Leviten lesen.
»Damian!«
Er fuhr herum und versuchte hektisch auszumachen, von wo Roz’ Stimme gekommen war. Gleich darauf entdeckte er sie. Ein Offizier stand hinter ihr und ihr Messer lag vor ihren Füßen am Boden. Ihre Miene drückte blanke Wut aus, in die sich jedoch Fassungslosigkeit mischte. Damian wurde schlagartig klar, dass sie sich vermutlich fragte, ob er von alldem gewusst hatte. Er schüttelte hastig den Kopf und begann sich einen Weg durchs Getümmel zu bahnen. Der Offizier, der Roz verhaftet hatte, versuchte sie an den Rand des Raums zu führen, doch Roz bewegte sich nicht von der Stelle. Zumindest nicht, bis der Offizier sie ruckartig zur Seite stieß, sodass sie stolperte. Damians Zorn loderte weiß glühend auf. Er wusste selbst nicht, wie es ihm gelang, sich zu ihr durchzuschlagen, nur dass er es schaffte, und im nächsten Augenblick rammte er seine Faust gegen die Schläfe des Offiziers. Der Blick des Mannes verschwamm und er taumelte. Eine Hand zog Damian zurück. Als er herumfuhr, stand Kiran direkt vor ihm.
»Was tust du da?«, fragte sein Freund energisch und gänzlich ohne den sonst für ihn charakteristischen amüsierten Unterton.
Damian atmete schwer. Er wusste, dass es falsch war, einen anderen Offizier zu schlagen, doch er brachte es nicht über sich, sich deswegen Gedanken zu machen. »Sie wollen sie verhaften. Sie –«
Kirans Haare hatten sich aus dem Haarknoten, den er trug, gelöst, und während er sprach, strich er sich eine dunkle Strähne hinters Ohr. »Sie verhaften jeden, der zu den Unerwählten zu gehören scheint. Ich nehme an, du wusstest hiervon nichts?«
»Selbstverständlich nicht.«
Der Raum war fast leer. Nur Damians Offiziere, die Palazzo-Repräsentanten und eine Handvoll Militäroffiziere waren noch übrig. Die Jünger waren alle zum Gehen aufgefordert und die Unerwählten in Handschellen abgeführt worden. Damian fragte sich, wo sie hingebracht werden würden, doch er hatte den schrecklichen Verdacht, dass er es bereits wusste. Er sah sich wieder nach Roz um, aber dort, wo sie eben noch gestanden hatte, stand nun jemand anderes. Der Blick aus schiefergrauen Augen nagelte ihn förmlich fest. »Signor Venturi nehme ich an«, sagte die Generalin. »Ich habe schon viel von Ihnen gehört.«
Damian vollführte eine flache Verbeugung und zwang sich, den widerwärtigen Zorn, der ihm noch immer im Hals klebte, hinunterzuschlucken. Hatte sie gesehen, wie er diesen Offizier geschlagen hatte? »Es ist mir eine Ehre, Signora.«
Sie lächelte nicht, reagierte nicht einmal. Als sie sprach, tat sie es an den Rest des Raumes gerichtet und mit emotionsloser Stimme.
»Ich bin General Caterina Falco. Sie werden mich mit ›General‹ ansprechen. Ich habe meinen derzeitigen Rang seit fünf Jahren inne. Davor war ich neun Jahre Oberkommandant an der Front, wobei ich meine erste Beförderung während der Ausbildung erhalten habe. Ich habe beinahe mein ganzes Leben im Krieg zugebracht, und der einzige Grund, weshalb ich mich von der Front zurückziehe, ist, hier alles wieder auf Kurs zu bringen. Es tut mir leid, zu hören, dass Battista Venturi verstorben ist – er war ein hervorragender Mann. Behandeln Sie mich genauso, wie Sie ihn behandelt haben, solange ich mich in diesem Gebäude aufhalte, und wir werden gut miteinander auskommen.«
Eine kurze Pause entstand, doch dann nickten alle. Einige von Damians Offizieren sahen ihn vorwurfsvoll an, wahrscheinlich weil sie vermuteten, er hätte ihnen die Neuigkeiten über Falcos Ankunft vorenthalten. Salvestro stand an seinem Platz an der Tür und strahlte größte Zufriedenheit aus, als könne er sich nichts Schöneres vorstellen als die Gegenwart dieser barschen, unangenehmen Frau. Damian nickte mit einiger Mühe. Der kurze Augenblick unkontrollierter Gewalttätigkeit war vorbei, und nun, da er wieder klar denken konnte, begann er sofort, im Kopf einen Plan zu schmieden. Er würde sich mit Falco gut stellen. Er würde herausfinden, wo Roz hingebracht worden war, und er würde dafür sorgen, dass man sie verschonte. Schließlich gab es keine Beweise dafür, dass sie ein Verbrechen begangen hatte.
»Nun«, sagte Falco, »nicht wenige von Ihnen kennen mich bereits aus Ihrer Zeit oben im Norden. Ich habe meine eigene Verstärkung mitgebracht« – sie wies auf die grün gekleideten Offiziere –, »um Ihre Reihen zu vergrößern.« Nun richteten sich ihre grauen Augen wieder auf Damian, doch er wusste den Ausdruck, der in ihnen lag, nicht zu deuten. Erwartete sie etwa, dass er ihr in dieser Angelegenheit unter die Arme griff? Warum hatte ihn niemand vorab benachrichtigt?
»Mit Ihrer Unterstützung«, fuhr sie fort, »werden wir zweifellos in der Lage sein, die Ordnung in Ombrazia wiederherzustellen.« Sie verschränkte die Finger und ihr Jüngerring blitzte im Licht. Bestimmt gehörte sie, wie Battista, zu Strength. Und falls nicht, dann wahrscheinlich zu Cunning. »Ich möchte Signor Agosti danken, dass er mich über die lokalen Umstände informiert hat. Mein Brief mit meiner Antwort auf sein Hilfegesuch ist zwar erst heute früh hier eingetroffen, aber wie Sie sehen, stehen wir Ihnen gern zur Seite. Momentan sind unsere Kräfte vielleicht etwas verstreut, aber ungeachtet dessen verfolgen wir die gleichen Ziele.«
Damian wurde eiskalt. Salvestro hatte General Falco in den Palazzo geholt? Er hatte an die Front geschrieben, ohne irgendjemandem etwas davon zu sagen? Zweifellos hatte er deshalb die Anweisung, das Sicherheitspersonal bei der Versammlung zu verstärken, zurückgenommen. Durch Falcos Ankunft wären zusätzliche Offiziere nur im Weg gewesen.
»Warum wurden wir hiervon nicht unterrichtet?«, fragte Eoin, der muskulöse Repräsentant von Strength, der sich während der Versammlung zu Wort gemeldet hatte. Er hatte ein breites Gesicht, rotbraunes Haar, war Anfang zwanzig und besaß die leidliche Angewohnheit, ständig alles laut auszusprechen, was ihm durch den Kopf ging.
»Ich hatte vor, es Ihnen zu sagen, sobald ich mir sicher sein konnte, dass die Generalin Hilfe schickt«, erklärte Salvestro und ignorierte Eoins finstere Miene. »Wissen Sie, ich kenne sie persönlich und habe sie über die jüngsten Ereignisse benachrichtigt. Darüber, dass wir offenbar das Vertrauen des Volkes verloren haben. Oder«, fügte er hinzu und verzog die Lippen zu einem Grinsen, »zumindest eines Teils des Volkes. Nach der letzten Woche konzentriert sich der Großteil von Ombrazias Macht im Norden und nicht im Palazzo. Ich denke, Sie sind mit mir einer Meinung, dass sich das ändern muss. Außerdem wird General Falco Battista Venturis Aufgaben in dessen Abwesenheit übernehmen können.« Aus seinem Mund klang es, als befände sich Damians Vater in einem ausgedehnten Urlaub und läge nicht tot unter der Erde.
Mercys Repräsentant Lekan schob sich dichter an Eoin heran. »Trotzdem scheint mir das eine Angelegenheit zu sein, über die man uns vorab hätte informieren sollen.«
»Ich hatte eine Idee, von der ich dachte, dass sie dieser Stadt nützen würde. Ich habe meine Beziehungen spielen lassen, um sie in die Tat umzusetzen. Wir beide wollen doch sicher das Gleiche? Ihre oberste Priorität ist doch bestimmt auch die Sicherheit und Ordnung in Ombrazia?« Salvestro musterte Lekan mit einem Blick, der Glas hätte schneiden können. Es war keine Frage, sondern eine Herausforderung.
»Selbstverständlich«, antwortete Lekan geschmeidig.
Damian wurde klar, dass Salvestro sich tatsächlich schon als Autorität etabliert hatte. Selbst die anderen Palazzo-Repräsentanten waren nicht willens, sich gegen ihn aufzulehnen. Neben Lekan standen die Jünger von Cunning und Patience in undurchschaubares Schweigen gehüllt. Soweit Damian es beurteilen konnte, wusste keiner der Repräsentanten so recht, was von den Ereignissen der vergangenen Woche zu halten war. Diese Leute sollten die Stadt führen, doch ohne jemanden, der sie anführte, hatten sie keine Ahnung, was sie tun sollten. Da Magistrat Forte abwesend war, schienen sie sich nun bereitwillig Salvestro zu fügen.
»Genug«, sagte Falco leise. Damian hatte das dumpfe Gefühl, dass sie nicht erst die Stimme heben musste, um Angst zu schüren. »Es war richtig von Salvestro, mich zu kontaktieren. In meiner Jugend kannte ich seinen Vater gut – wissen Sie, wir waren beide Jünger von Death.« Sie musterte nacheinander jeden der Repräsentanten. Damian ignorierte sie geflissentlich. »Nun, Sie müssen sich wegen der Verhaftungen, die wir heute Abend hier vorgenommen haben, keinerlei Gedanken machen. Meine Offiziere werden sich um alles kümmern. Die Unerwählten werden im Gefängnis gründlich befragt, damit wir die Namen der Rebellen herausfinden, die für den Angriff in der vergangenen Woche verantwortlich gewesen sind.«
»Und wenn sie unschuldig sind?«, wagte Siena, die bei den anderen Sicherheitsoffizieren des Palazzos stand, zu fragen. »Lassen Sie sie dann frei?«
Falco schüttelte barsch den Kopf. »Das bringt mich zum zweiten Grund, weshalb ich nicht allein hierhergekommen bin. Momentan ist es wichtiger denn je, unsere Truppen im Norden zu verstärken. Wissen Sie, Brechaats General ist kürzlich an einer Erkrankung verstorben. In Brechaat erhält man einen Rang nicht durch Verdienst, sondern er wird vererbt, was bedeutet, dass sein Sohn nun die südliche Front befehligt. Er ist jung und unerfahren, und wir kontrollieren weiterhin den wichtigsten Handelshafen am nördlichen Fluss. Ganz egal, was die Ketzer versuchen, uns zu nehmen, wir werden nicht zulassen, dass sie damit Erfolg haben. Wenn wir es schaffen, die Einberufungen zu verdoppeln oder vielleicht sogar zu verdreifachen, könnten wir ein für alle Mal den Sieg erringen.«
Einige der Repräsentanten nickten zufrieden, doch Damian wurde flau im Magen. Wie viele Unerwählte würde man noch für diesen angeblichen Sieg opfern? Hatte irgendjemand schon einmal darüber nachgedacht? Interessierte es überhaupt irgendjemanden? Menschen wie Salvestro und Eoin waren an diesem Kampf nicht wirklich beteiligt. Ihre Familien kämpften und starben nicht an der nördlichen Front. Für sie war der Zweite Krieg der Heiligen nichts als eine weit entfernte Schlacht, die sie aus Geschichten und Nachrichtenmeldungen kannten.
»Dann werden also alle, die Sie heute Abend hier verhaftet haben, in den Krieg geschickt?«, hörte sich Damian fragen, bevor er es verhindern konnte. »Egal, ob sie sich nun rebellischen Aktivitäten schuldig gemacht haben oder nicht?«
»Korrekt«, bestätigte Falco, und ihr unnachgiebiger Blick bohrte sich in ihn hinein. »Das ist ihre Pflicht dieser Stadt gegenüber.«
Er dachte an Roz und wusste, dass sie sich gemeinsam mit ihren Freunden in den Norden verschiffen lassen würde. Wenn die Rebellen leiden müssten, würde sie mit ihnen leiden.
Als ihm das klar wurde, fühlte sich Damian, als hätte man ihm etwas injiziert, das ihm seine Kraft nahm. Sein Puls schnellte in die Höhe und sein Blick verschwamm. Als es wieder vorbei war, blieb nichts übrig als Zorn und das inzwischen so vertraute Gefühl von Falschheit. Ihm lief der Schweiß über den Rücken. »Eine der Personen, die Sie heute verhaftet haben, war keine Unerwählte. Sie ist eine Jüngerin – und saß nur zufällig unter ihnen.«
Als Jüngerin hatte Roz die Wahl, ob sie kämpfen wollte oder nicht. Damian musste sie lediglich überzeugen, dass es das nicht wert war.
Die Mundwinkel von Falcos schmalen Lippen hoben sich. »Das ist mir bekannt.«
»Es ist – was?«
»Ich weiß, wer sie ist. Was sie getan hat.«
Die Welt stand still, und gleich darauf wurde Damian der Boden unter den Füßen weggezogen. Niemand wusste, dass Roz die Anführerin der Rebellion war. Niemand außer ihm und den Rebellen selbst. Kiran und Siena wussten, dass sie etwas mit ihnen zu tun hatte, weil Damian es nicht geschafft hatte, es ihnen zu verheimlichen, doch sie hatten zähneknirschend eingewilligt, Stillschweigen zu wahren. Falco konnte unmöglich so kurz nach ihrer Ankunft über Roz Bescheid wissen, außer Salvestro hatte etwas herausgefunden und sie in seinem Brief darüber informiert.
»Ich weiß, dass diese Frau Sie vom Boot geholt hat, Venturi. Ich gebe zu, ich hatte eigentlich vor, das unter vier Augen zu klären, aber das Spiel ist vorbei. Ein Deserteur, der sich als ehrenhafter Anführer ausgibt?« Falco schüttelte ernst den Kopf. Ihr Blick war vernichtend. Damians Mund wurde trocken, und sein Gehirn schien die Verbindung zu seinem Körper verloren zu haben.
Was zur Hölle geschah hier? Niemand, der Damian hätte wiedererkennen können, hatte ihn gesehen, als er das Schiff in Richtung Norden verlassen hatte. Doch eines war ganz sicher: Sie wusste es. Aus irgendeinem Grund wusste Falco, dass er von diesem Schiff geflohen war, um nicht wieder in den Krieg zu müssen. Er war für sie schon ein Feigling, ein Verräter gewesen, bevor sie ihn überhaupt zum ersten Mal gesehen hatte.
Blut stieg ihm ins Gesicht und seine Wangen brannten heiß. Obwohl er das Gewicht der Blicke der anderen spürte, nahm er nichts anderes wahr als die teilnahmslose Miene der Generalin. Als sie keinerlei Anstalten traf, das Schweigen zu brechen – ihm zu ersparen, es zu erdulden –, wusste Damian, dass es an ihm war, etwas zu sagen.
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