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Was kann das erkaltende Liebesleben eines Paares wirklich aufpeppen oder gar retten? Gewiss nicht nur ein paar heiße Nächte, in der möglichst viele Tabus gebrochen werden. Denn was danach immer noch bleibt, ist die heimliche Sehnsucht nach gegenseitiger, bedingungsloser Annahme; und zwar auf allen Ebenen. Körper, Geist und Seele müssen gleichermaßen angesprochen und befriedigt werden, damit die Erfüllung nachhaltig ist und die Bindung innig bleibt. Somit schenkt dieses Buch seinen Leserinnen und Lesern weit mehr als die gängigen Rezepte für 'besseren Sex': Es macht mit dem großen, heilenden Potenzial der Sexualität vertraut, mit einer Liebe, die nicht nur beglückt und tief erfüllt, sondern die Partner auch innerlich wachsen lässt.
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Seitenzahl: 314
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GERTI SAMEL
SEXDER GLÜCKLICH MACHT
Wie Mann und Frau
1. eBook-Ausgabe
© 2013 Scorpio Verlag GmbH & Co. KG, Berlin · München
Umschlaggestaltung: © Guter Punkt, München unter
Verwendung eines Motivs von Thinkstock
Satz: BuchHaus Robert Gigler, München
eBook-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheimwww.brocom.de
ePub-ISBN: 978-3-943416-50-3
Das eBook einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Nutzer verpflichtet sich, die Urheberrechte anzuerkennen und einzuhalten.
Alle Rechte vorbehalten.
www.scorpio-verlag.de
Inhalt
Neue Zeit – neuer Sex
Teil1: WIE ES IST
Der Sex, von dem wir träumen
Träume – und die Realität
Was passiert da gerade in unserer Gesellschaft?
Warum können wir sexuell nicht natürlich sein?
Die sexuelle Dauerverwirrung
Brauchen wir wirklich Abgründe?
Die Zeit für eine sexuelle Revolution ist – jetzt!
Wovon reden wir eigentlich?
Sexueller Overkill versus Lustflaute
Spiel mit, oder du bist raus
Diese erbärmlichen Sextipps!
Wie Körper beim Sex kommunizieren
Das Minenfeld zwischen Mann und Frau
Wie treu müssen wir sein?
Gegen Feminismus und für Weiblichkeit
Der Papst in unserem Kopf
Holen Sie Gott in Ihr Leben – machen Sie Sex!
Teil 2: WIE ES HEILT
Sexual healing
Beseelter Sex ist sexy!
Spirituelle Basics
Die Zeit des dunklen Sex ist vorbei
Schluss mit der Arroganz des Intellekts
Mit der Kunst der Entspannung fing alles an
Unsere Realität ist ein Mythos
Das Geheimnis des verbundenen Liebens
Sinnlich und übersinnlich lieben
Warum wir unsere Sexpartner gut wählen sollten
Ein Kurs in Selbstliebe
Sich selbst liebend lieben
Heute liebe ich meinen Taillenspeck
Gesundgekuschelt
Achtsam lieben heißt intensiv lieben – nicht heilig
Ein lehrbeispiel für den offenen Geist
Entschleunigter Sex
Echtes sexual healing
Springen Sie in das neue Sexbewusstsein
lebendig und bewusst statt stimuliert und erregt
Das Märchen vom nicht orgasmischen Sex
Teil 3: WIE ES UNS ERLEUCHET
Göttliches Lieben
Genitaler Sex kann nicht göttlich sein
Der göttliche Liebesatem
Die magische Kraft aus der Mitte
Raus aus der Ejakulationsspirale!
Die drei weiblichen Höhepunkte
Der göttliche kleine Tod
Ekstase – ein paradiesischer Ausnahmezustand
Wenn Shiva und Shakti sich küssen
Die eigenwilligen Wege der Kundalini
Auf der Erleuchtungsleiter
Sie sind göttlich
Gott und Göttin in Menschengestalt
Mein Aufruf, den Geschlechterkampf zu beenden
Wie Mann und Frau sich göttlich liebten
Einladung
Danke!
Literaturhinweise
Liebe Männer,
ich gehe davon aus, dass viele von Ihnen dieses Buch nicht selbst gekauft haben. Wahrscheinlich bekamen Sie es von Ihrer Frau, Ihrer Freundin oder Ihrer Freizeitgefährtin in die Hand gedrückt und wurden dazu verdonnert, es zu lesen.
Tun Sie es! Schon allein deswegen, weil Sie guten Sex mögen und ein souveräner Liebhaber sein möchten. Ich bin mir sicher, dass Sie hier Dinge erfahren, die Sie noch nie gehört haben. Oder hat Ihnen schon mal jemand gesagt, dass Sie bei dem Sex, den Sie praktizieren, weit unter Ihren Möglichkeiten bleiben? Na also.
Dabei ist dieses Buch kein Sexbrevier. Es geht auch nicht um die Steigerung Ihrer Manneskraft, sondern um eine sexuelle Horizonterweiterung, Es heißt ja immer, Sex fände im Kopf statt. Ich finde, das muss anders werden. Sex sollte vor allem in unseren Herzen und in unseren Körpern stattfinden. Wenn das passiert, werden Sie, liebe Männer, Ihre Frauen endlich verstehen. Und damit beginnt die wirkliche sexuelle Revolution. Die Zeit dafür ist überfällig! Also … bleiben Sie dran!
Liebe Frauen,
Sie haben zu diesem Buch gegriffen, weil Sie von Natur aus neugierig sind. Vielleicht spüren Sie, dass Sexualität eine geistige Dimension hat, die Sie besser kennenlernen möchten. Außerdem wollen Sie beim Sex rundum glücklich sein. Das ist Ihr gutes Recht.
Viel zu lange haben wir Frauen uns einreden lassen, dass Sex und Liebe nichts miteinander zu tun haben. Wir haben versucht, uns damit zu arrangieren. Aber richtig akzeptiert haben wir es nie. Wir möchten lieben, wenn wir Sex haben. Wir möchten Sex mit Seele. Drücken Sie Ihrem Mann, Ihrem Geliebten, Liebhaber oder Freizeit-Lover dieses Buch also wirklich in die Hand, oder lesen Sie sich gegenseitig daraus vor. Machen Sie die Übungen – ich weiß, dass sie wirken. Auch Sie, liebe Frauen, werden in diesem Buch hinzulernen – zum Beispiel, warum es Ihnen sehr gut tut, im Bett eine Frau zu sein, auch wenn Sie tagsüber Ihren Mann stehen.
Meine große Hoffnung ist es, hiermit einen Beitrag zum Ende des Geschlechterkampfs zu leisten. Wäre es nicht schön, wenn wir begreifen würden, dass Männer und Frauen beim Sex letztlich die gleichen Bedürfnisse haben? Wir möchten lieben und geliebt werden. Fangen wir damit an.
Neue Zeit – neuer Sex
Schon beim Schreiben meines ersten Buches über Liebe in der neuen Zeit hatte ich das Gefühl, dass es einen zweiten Band geben würde. Damals war mir zwar noch nicht klar, zu welchem Aspekt, aber das würde sich schon entwickeln. Und tatsächlich kam die Idee eines Tages wie aus dem Nichts angeflogen.
Es war zur Sommersonnenwende, die Natur stand in voller Blüte, die Kirschen waren reif. Ich saß mit einem Freund unter dem alten Birnbaum in meinem Garten, wir plauderten angeregt über mein gerade erschienenes Buch. Irgendwann, in einer Gesprächspause, erwähnte ich beiläufig: »Ich plane übrigens schon einen Nachfolgeband.«
Mein Freund schaute mich überrascht an. »Interessant«, meinte er, »und worüber willst du als Nächstes schreiben?«
»Über Sex«, antwortete ich, ohne nachzudenken. »Es wird um eine Sexualität gehen, die Menschen wirklich glücklich macht.« Wo auch immer die Idee hergekommen war – jetzt stand sie voll präsent im Raum. Ehrlich gesagt, war ich über meine eigenen Worte erstaunt, aber irgendwie gefielen sie mir auch. Es fühlte sich stimmig an – und stark!
Nach langen Sekunden des Schweigens fragte mein Freund vorsichtig: »Meinst du nicht, es könnte deinem Ruf schaden, wenn du über Sex schreibst? Du bist schließlich eine seriöse Autorin. Wer weiß, wie die Branche das aufnimmt.«
»Das kann niemand einschätzen«, entgegnete ich, »außerdem möchte ich ja nicht über Sexpraktiken schreiben, sondern über Sexualität an sich.«
Nach außen hin mag das noch recht selbstsicher geklungen haben, aber tief drinnen verließ mich schon wieder der Mut. Erste Zweifel tauchten auf. Wahrscheinlich hatte mein Freund recht. Ich als Expertin für Sexualität! War ich das wirklich? Konnte ich das sein?
Fast zwei Jahre sollte mein innerer Kampf dauern. Inzwischen war Shades of Grey einmal um die Welt gegangen. Der Erotikroman über eine sado-masochistische Liebesbeziehung hatte Millionen von Paaren animiert, Fesselspielchen auszuprobieren, und den Verkauf einschlägiger Sexspielzeuge rasant in die Höhe getrieben. Und ich … sorgte mich immer noch um meinen Ruf.
Im Nachhinein weiß ich, dass mein Zögern mir geholfen hat. Ich konnte abwarten, bis der Medienhype um die Liebesgeschichte zwischen dem charmanten, aber gestörten Millionär Christian Grey und seiner naiven Gespielin Anastasia vorbei war, und ich konnte mich einmal mehr darin bestätigt fühlen, wie viele ungestillte erotische Sehnsüchte in Frauen und Männern schlummern.
Allerdings bin ich mir sicher, dass keine Handschelle, keine Vaginalkugel und keine Gerte der Welt das ersterbende Liebesleben eines Paares aufpeppen oder gar retten kann. Und da wir schon Klartext reden: Sollten Sie sich von diesem Buch Ideen für weitere, prickelnde Sexpraktiken erhoffen, werden Sie mit Sicherheit enttäuscht. Keine neuen Spielchen also. Aber was dann?
Sie werden etwas finden, das Ihnen sehr viel mehr schenkt als den Rausch einer tabufreien Nacht: eine vollkommen neue, überraschende und viel aufregendere Sexualität. Sie werden Zusammenhänge begreifen, die Sie vielleicht erst schockieren, aber dann zutiefst glücklich machen. Der Sex, um den es hier geht, kann weit mehr als Ihren Körper für ein paar Stunden entspannen. Er kann das Herz weiten, die Seele öffnen. Völlig unbeschwert lieben, dabei tief und intensiv empfinden – aus ganzem Herzen das Leben umarmen! Wie klingt das? Die Sexualität, die ich meine, ist frei. Frei von ihren Schatten.
O je, höre ich schon einige von Ihnen aufjaulen, jetzt will sie uns den Spaß am Abgründigen verderben. Ist es nicht gerade die dunkle Seite des Sex, die den Menschen erregt und fasziniert? Die Lust am Verbotenen, am Brechen von Tabus, am Spiel mit Grenzüberschreitungen, die Lust an Schmerz und Perversion. Mag sein. Aber wie wäre es stattdessen, wenn Sie beim Sex lieben würden? Wenn Sie höchste Ekstase erlebten, statt in Abgründe zu stürzen?
In meinem Buch geht es nicht um Dinge, die Sie in einschlägigen Filmen, Büchern und im Internet finden. Nein, Sie werden nichts auch nur annähernd Pornografisches lesen. Stattdessen lernen Sie eine Sichtweise kennen, über die Sie vielleicht noch nie etwas gehört oder gelesen haben. Diese Sichtweise ist gefärbt von persönlichen Erfahrungen und das Ergebnis eines jahrzehntelangen Prozesses.
Ich bin in einer Zeit aufgewachsen, als es sehr wichtig war, sexuell frei zu sein. Ich weiß also, wovon ich rede, wenn es um sexuelle Freizügigkeit geht. »Wer zweimal mit demselben pennt, gehört schon zum Establishment« – Sie kennen diesen Spruch? Er hat meine Pubertät geprägt, und erst viele Jahre später wurde mir bewusst, was diese Haltung mit mir und vielen anderen aus meiner Generation gemacht hat. Wie viele Bedürfnisse und heimliche Sehnsüchte habe ich verdrängen müssen, um dem Ideal der sexuell befreiten Frau zu entsprechen! Wie viele Gefühle musste ich unterdrücken, um mitspielen zu können im Zirkus der sexuellen Revolution! Wie sehr hätte ich mir gewünscht, dass der eine oder andere, in den ich verliebt war, mir treu geblieben wäre.
Nie werde ich die Szene zwischen mir und einem meiner Lebensgefährten vergessen, als er mich bei einem Streit im Tonfall höchster Empörung anfauchte: »Du willst doch nur heiraten und Kinder kriegen!« O weia, ertappt! Lange genug war es mir gelungen, meinen Wunsch nach Familie und einem warmen Nest zu verheimlichen, jetzt fühlte ich mich entsetzlich reaktionär und hatte ein schlechtes Gewissen.
Wie Sie sich denken können, ging die Beziehung bald danach auseinander. Zwei Jahre später fand ich den Mann, mit dem ich meine Lebenswünsche verwirklichen konnte. Ich habe ein Kind in die Welt gesetzt, ein Haus gebaut, Bäume gepflanzt, Bücher geschrieben. Das hat mich beseelt. Aber dann ging es schon weiter mit dem verqueren Selbstverständnis. Waren alle diese Taten nicht eigentlich dem Manne zugedacht? Langsam dämmerte mir, dass ich mich in eine männliche Rolle hineinbefreit hatte. Mehr und mehr hatte mein Verhalten dominante, männliche Züge angenommen. Ich trug viel Verantwortung, verdiente Geld und glaubte, mir dafür herausnehmen zu können, was mir gefiel. Spielte mit Männern, probierte meine Macht aus. Und war oft unglücklich.
So wie viele Autoren letztlich über sich selbst schreiben, wurde dieses Buch auch für mich zu einer tiefen Auseinandersetzung mit meiner sexuellen Entwicklung. Erst heute, nach vielen ebenso lustwie schmerzvollen Erfahrungen, fühle ich mich wirklich frei von Dogmen und gesellschaftlichen Strömungen. Ich bin weicher, weiblicher geworden und gerade dadurch stärker. Und gottlob reif genug, um der Faszination eines schillernden, aber gestörten Liebhabers nicht mehr zu erliegen.
Sexualität ist ein machtvolles Instrument. Sie kann manipulieren, abhängig machen und zerstören. So manche von Ihnen befinden sich auch in diesem Augenblick im Gefühlsstrudel einer unheilvollen Liaison.
Dieses Buch macht Sie mit dem großen, heilenden Potenzial der Sexualität vertraut. Ich glaube, dass genau jetzt die Zeit dafür reif ist. Und glauben Sie mir: Sie brauchen keinen Schmerz und keine psychisch zerstörenden Praktiken auf sich zu nehmen. Sie werden vielleicht schreien – aber vor Glück und Seligkeit.
Im ersten Teil werden sich viele von Ihnen wiederfinden, die schon einmal in eine verhängnisvolle sexuelle Beziehung verstrickt waren. Wie Sie daraus ausbrechen und sich von Abhängigkeiten befreien, erfahren Sie in Teil zwei. In Teil drei folgt dann die hohe Form einer Sexualität, die jedes Leben krönt und die zu erleben ein großes Geschenk ist.
Wenn Sie schon ein Buch von mir gelesen haben, dann wissen Sie: Ich bin keine Missionarin, aber ich habe Botschaften. In meinen Büchern geht es stets um Heilung. Die Sexualität der neuen Zeit bietet die wohl lustvollste Möglichkeit der umfassenden Heilung Ihres Lebens. Allerdings müssen Sie sich für die Idee öffnen, dass in unserer Welt nichts zufällig geschieht und alles mit allem verbunden ist. Wenn Sie also der Meinung sind, dass Ihr Sex nichts mit dem Rest Ihres Lebens zu tun hat und schon gar nichts mit dem Rest der Welt, werden Sie hier nicht bestätigt. Ich behaupte nämlich, dass Sie bei der körperlichen Liebe sogar mit dem Universum kommunizieren.
Ich wünsche Ihnen inspirierende Lesestunden.
Herzlich
Ihre Gerti Samel
Teil 1:
WIE ES IST
Warum der Orthopäde an diesem Montagmorgen so gesprächig war, weiß ich nicht. Jedenfalls war ich die Letzte im Wartezimmer, und als ich dann endlich auf seiner Behandlungsliege lag, schien der Doc ein wenig Zeit zu haben. »Worüber schreiben Sie eigentlich Ihr neues Buch?«, wollte er wissen, den Blick auf mein Kniegelenk gerichtet, das er prüfend in verschiedene Richtungen bewegte. »Über Sex«, sagte ich, »genauer gesagt, über eine von ihren Schatten befreite Sexualität. Die kann nämlich ordentlich Kraft ins uns freisetzen, sie ist mit das größte Potenzial, das wir haben.« Der Arzt schaute auf. »Das glaub ich gern«, meinte er. »Aber gelebt wird es ja meist nicht so, oder? So ohne Schatten.« Gerade vor einer Stunde habe er so einen Fall behandelt. Eine Frau mit gebrochenem Handgelenk. Sie wollte ihm weismachen, sie sei gestürzt, aber nachdem der Bruch so gar nicht nach einem Sturz aussah, habe er nachgebohrt, worauf die Patientin die delikate Wahrheit gestand: Sie hatte sich das Handgelenk bei einem Fesselspiel gebrochen.
Da war es also wieder, mein Thema. Es begegnete mir in diesen Tagen überall. Die ganze Welt schien verrückt nach Bondage-Spielen, nach Knebeln und nach Peitschenhieben, und die Medien heizten kräftig mit. Fast in jeder Talkshow wurden Experten zum Thema Sadomaso (SM) befragt, kaum ein Magazin, das nicht mit Titelzeilen wie »Fessle mich« oder »Ich will es härter, Baby« seine Auflage in die Höhe trieb. Der Bestseller Shades of Grey hatte eine Sadomaso-Lawine von einem Ausmaß losgetreten, das selbst Fachleuten Rätsel aufgab. Noch über ein Jahr nach Erscheinen der Trilogie türmten sich die Bände auf den Tischen der Buchhandlungen und fanden reißenden Absatz. Was geschah da gerade in unserer Gesellschaft? Literatur über den Kitzel von Lust, Schmerz, Bestrafung und Demütigung gibt es ja schon seit Jahrhunderten. Spätestens der gute alte Marquis de Sade hat die Züchtigungsspiele publik gemacht, allerdings nur in den Salons der Bourgeoisie. Das jetzt schien etwas anderes zu sein. Es war Unterhaltungsstoff für alle Schichten der Gesellschaft: ein erregender Mix aus Anregung und Aufregung, Schmutz und Schmerz für den Mainstream, eine massentaugliche Softversion für Liebespaare rund um den Planeten. Für Gerd und Greta Mustermann, für Bob und Barbie Brown, für Oki und Yuuki Osawa. »Shades of Grey hat das globale Liebesleben verändert«, unkten die Zeitungen in der üblich übertreibenden Art. Die Erotikläden stockten zwar blitzschnell ihr Gerätearsenal in der SM-Abteilung auf, trotzdem mussten viele bedauernd Lieferschwierigkeiten melden.
Nun weiß ich nicht, ob auch Sie, liebe Leserin, lieber Leser, Ihren Keller zum Spielzimmer ausgebaut haben. Aber ich bin mir sicher, dass einige von Ihnen zu den 31 Millionen Menschen gehören, die den Liebesroman gelesen haben. Monatelang beobachtete ich in meiner Stadt junge Frauen, mit hochroten Wangen in die Lektüre vertieft. Im Zug, in der Straßenbahn, in der Mittagspause auf der Parkbank. Auch die Verkäuferin in der Boutique, wo ich meine Pullis kaufe, hatte das Buch auf dem Tresen liegen: »Nicht besonders toll geschrieben, aber irre spannend«, sagte sie, sie lese es jetzt zum dritten Mal und fiebere der Verfilmung entgegen.
Ich gestehe, ich habe mir erlaubt, das Buch zu überspringen. Um mitreden zu können, musste man ja nur die Zeitungskommentare verfolgen. Aber irgendwann las ich dann doch eines der Nachfolgewerke, mit denen viele Verlage auf den Trend aufgesprungen sind. Schließlich bin ich angetreten, die Schattenseiten der Sexualität zu erforschen. Und was geschah? Obwohl er mit heißer Nadel gestrickt war, fand ich den Roman richtig spannend! Es handelte sich um eine Geschichte zwischen einer, wie soll es anders sein, armen, aber experimentierfreudigen Studentin und einem hochrangigen Wirtschaftsboss. Der liebte zwar seine Familie, aber er liebte es auch, mit jungen Frauen zu »spielen«, wie er es nannte. Das tat er heimlich und mit bewundernswerter Perfektion. Er war ein erfahrenes Mitglied der harten SM-Szene und wusste seiner »Sub« gekonnt Schmerzen zuzufügen. Langsam und präzise steigerte er die Dosis seiner Demütigungen, bis er befand, dass seine gelehrige Gespielin reif war für die große SM-Party. Und da ging es natürlich erst richtig los.
Ich las das Buch in einer einzigen Nacht, und in dieser Nacht wunderte ich mich über mich selbst. Es machte etwas mit mir. Wie bei Millionen von Leserinnen und Lesern erzeugte der voyeuristische Blick in sexuelle Abgründe auch in mir die beschriebene Mischung aus Staunen, Abscheu und Faszination. Immer wieder musste ich das Buch angewidert zuschlagen und mir sagen: »Nein, ich kann so etwas nicht weiterlesen«, aber nach ein paar Minuten hatte ich es wieder in der Hand. Welch ein Sog! Nun halte ich mich gewiss nicht für sexuell unerfahren, aber mit den Gepflogenheiten in SM-Studios hatte ich mich bisher nicht befasst. Jetzt durchlief ich also die gesamte Gefühlspalette wie alle anderen Konsumenten von SM-Literatur. Entsetzt und mit klopfendem Herzen erfuhr ich beispielsweise, was bei der lebensgefährlichen Praktik der Atemkontrolle vor sich gehen kann: einer Frau wurde mit kurzen Zwischenpausen, in denen sie in Todespanik nach Luft rang, minutenlang der Kopf in kaltes Wasser getaucht, während sie von hinten von zwei Männern genommen wurde. Tagelang ging mir das Bild nicht aus dem Kopf.
Um der Faszination dieser Art von Lektüre zu erliegen, muss man weder sadistisch noch masochistisch veranlagt sein. Auch gilt die Lust auf Unterwerfung schon lange nicht mehr als Zeichen für eine devote Persönlichkeit. Von den Leuten, die solche Spiele ausprobieren, sind nur wenige in diese Richtung geprägt. Worum aber geht es dann? Sexualpsychologen behaupten: um den Kick! Um die Würze des Sex mit scharfem Pfeffer. Tabus zu brechen macht geil und erzeugt den verführerischen Angst-Lust-Schmerz-Kitzel, den die Massen jetzt entdecken.
Um mich intensiv in die Gefühlswelt der SM-Leser hineinzuversetzen, habe ich mich während des Lesens beobachtet. Penibel wie ein Seismograf registrierte ich die Achterbahn meiner Gedanken und Reaktionen. Es war beeindruckend. Eine Passage zum Beispiel hat mich berührt, und zwar als die junge Studentin sich daran berauschte, Regie und Verantwortung abgeben zu dürfen, nicht mehr entscheiden zu müssen, was gespielt wird, sondern nur zu gehorchen. »Ach je«, dachte ich bei mir, »das habe ich mir auch schon so manches Mal gewünscht. Sich nicht mehr schwertun zu müssen mit großen Entscheidungen, für die man hinterher die Verantwortung tragen muss.« Aber dafür hätte ich doch nicht den Preis einer Demütigung bezahlt!
Ich bin mir bewusst, dass viele von uns nicht mehr wissen, was es heißt, demütig zu sein. Sicher hätte es schon so manchen Krieg verhindert, wenn wir uns mehr darin übten. Demut vor dem Leben, vor allem Lebendigen – eine wundervolle, erstrebenswerte Lebenshaltung. Auf Ihrer Reise durch dieses Buch werden Sie noch erfahren, wie heilsam sich Demut sogar auf die Sexualität auswirken kann. Aber Demut durch Demütigung zu erzeugen und dabei gezielt den Willen und die Seele des Gedemütigten zu brechen, das ist ganz sicher der Weg in die falsche Richtung.
Dass sich viele Paare trotzdem von SM-Romanen zu eigenen Experimenten inspirieren lassen, ist ihnen nicht zu verdenken. So ein bisschen mit der Peitsche spielen kann ja auch lustig sein. Man stelle sich also vor: Frau Mustermann möchte einmal Anastasia sein und die Lust der Unterwerfung spüren. Am Wochenende will sie ihren Mann mit einer Einladung zum »Spielen« überraschen. Da er ein ausgemachter Macho ist, ahnt sie, dass er es mögen wird. Sie geht ins Internet, findet beim Erotikversand die Seite mit den einschlägigen Toys und liest: »Kitzeln, necken und quälen Sie Ihren Partner oder Ihre Partnerin, erzeugen Sie einen erregenden Mix aus Lust- und Schmerzgenuss. Genießen Sie Ihre lustvolle Strafe mit einem leichten Klaps auf die Haut.« Kann ja nicht so schlimm sein, denkt sie und scrollt sich durch das Angebot. Da ihre finanzielle Lage etwas angespannter ist als bei Christian Grey, entscheidet sie sich nicht für die gesamte »50-Shades-of-Grey-Collection«, sondern für einzelne Accessoires. Sie bestellt die Satinpeitsche »Please Sir«, ein Paddel zum Poklatschen, einen Analplug »Something Forbidden«, Vaginalkugeln »Inner Goddess«, den Dildo »drive me crazy«, und da sie ihrem Lover zeigen möchte, wie verdammt mutig sie ist, den »Tantric binding love-intimate-spreader«, ein Spreizstab, der die Lady an allen vieren fesselt und in eine gebückte Haltung zwingt.
Das Wochenende naht. Man trinkt sich etwas Mut an, vereinbart das Codewort, das »Stopp!« aufhören bedeutet, und beginnt zu »spielen« … Wer weiß schon, wer was mit sich hat machen lassen oder wer was mit jemandem gemacht hat. Partner und Partnerinnen möchten von ihren Partnerinnen und Partnern geliebt werden, sie tun vieles, um für den anderen sexuell attraktiv zu bleiben, und wollen keine Spielverderber sein, oder? Was auch immer passiert ist – man hat sich über Grenzen gewagt, und es war der pure Wahnsinn. Irgendetwas ist mit einem durchgegangen und hat sich verselbstständigt.
Nächste Szene: Der Morgen danach. Ich stelle mir vor, wie Frau Mustermann neben ihrem schlafenden Mann aufwacht. Sie schaut ihn an und fühlt sich zum ersten Mal in ihrem Leben Meilen von ihm entfernt. »Was für ein Untier er ist! Wie er es genossen hat, mich zu erniedrigen«, geht es ihr durch den Kopf, »als hätte er mir endlich alles Mögliche heimzahlen dürfen.« Die Bilder der letzten Nacht haben einen bitteren Geschmack in ihr hinterlassen, sie fühlt sich miserabel. Was ist da nur mit ihnen passiert! Er wollte sie weinen sehen. Erst als sie das Codewort sagte, ließ er ab von ihr. So hat sie ihn noch nie erlebt! Welche Anteile sind da in ihm zum Vorschein gekommen? Wer oder was hat sie beide geritten?
Sie schlurft ins Badezimmer, schaut ihr Gesicht im Spiegel an. Eine verwundete Seele sieht ihr in die Augen. Wie konnten sie nur so weit gehen, was hatten sie sich erhofft? Kopfschüttelnd begutachtet sie ihre blauen Flecken. Jetzt, da die Lust vorbei ist, bleibt nur übrig, was ihr Schmerzen bereitet hat. Vorsichtig tupft sie etwas Wundgel auf die Striemen, die die Peitschenhiebe auf ihrer Haut hinterlassen haben. Vielleicht ergeht es ihr sogar wie der Patientin meines Orthopäden und sie hat ein dick angeschwollenes Handgelenk, muss sich beim Arbeitgeber krank melden und einen Arzt aufsuchen.
Und nun zur Wahrheit über diese Geschichte: Sie ist leider nicht meiner Fantasie entsprungen. Sie wurde mir genau so von einer Frau geschildert, die ich auf meiner Reise durch die Schattenwelt der modernen Sexualität getroffen habe. Man kann sich vorstellen, dass das Paar nicht mehr lange zusammengeblieben ist. Die Nacht der Nächte hat sie seelisch voneinander getrennt. Er treibt sich inzwischen hobbymäßig in SM-Kreisen herum, sie ist inzwischen überzeugter Single und hat seit einem Jahr keinen Sex mehr.
So weit dieser eine Fall. Sicher müssen nicht alle Selbstversuche mit einem moralischen Kater enden. Es gibt Menschen, die den Kitzel von Lust und Schmerz geschickter dosieren können und damit spannende Nächte inszenieren. Jeder kann das halten, wie er mag. Trotzdem würde ich den einschlägigen Tools in den Erotikläden gern einen Warnhinweis verpassen: »Vorsicht! Der Gebrauch dieser Werkzeuge kann seelischen Schaden zur Folge haben.« Ich frage mich, ob insbesondere die Frauen nicht spüren, was sie mit ihrer Würde, ihrem Selbstwertgefühl anstellen. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass eine halbwegs sensible Frau sich sexuell demütigen lässt, ohne in einen inneren Konflikt zu geraten. Haben wir nicht lange genug unsere Fähigkeit bewiesen, Demütigungen zu ertragen? Sind wir nicht lange genug geknechtet worden? Und gerade jetzt, da wir uns endlich frei und sexuell selbstbestimmt fühlen dürfen, lassen wir die Peitsche durch die Hintertür wieder hereinknallen?
Etwas kann mit unserem Liebesleben nicht stimmen. Oder was ist der Grund, dass wir uns ständig auf die Suche nach dem ultimativen Wahnsinnssex machen? Unser Leben ist so bunt und so vielfältig. Wir können so vieles erreichen und erfahren. Beruflichen Erfolg genießen, tolle Reisen machen, eine Familie gründen, eine Eigentumswohnung erwerben, uns Flüge in der Businessclass gönnen, Drogenpartys feiern, Klosterurlaub machen, was auch immer. Dass bei all der Umtriebigkeit der Sex hin und wieder auf der Strecke bleibt, ist nicht verwunderlich. Da wir aber immer alles wollen und das möglichst sofort, erheben wir auch hier Anspruch auf die optimale Version. Sex muss ein Brüller sein. Und so suchen wir mit allen Mitteln nach Erfahrungen, die uns um den Verstand bringen, wir verführen, lassen uns führen, sind frustriert, lassen ganz davon ab und nehmen nach einer Weile wieder teil am großen Spiel. Alles vollkommen in Ordnung. So ist das Leben. Wir alle machen eine Menge durch auf der Suche nach erfüllender Erotik. Doch offensichtlich landen viele dabei auf Irrwegen, stecken in Sackgassen fest oder haben sich schon in Abgründen verloren.
Der Sex, von dem wir träumen
Dabei gibt es das, wonach wir suchen. Wir haben die Möglichkeit, unsere Sexualität anders auszuleben – so, dass sie uns verbindet, statt uns zu trennen, dass sie uns energetisiert, statt uns Kraft zu rauben, dass sie unsere Würde und Selbstliebe vermehrt, statt uns beides zu nehmen. Und ja, es gibt eine Sexualität, die uns sogar persönlich reifen lässt, uns bewusster macht und den Geist beflügelt.
Liebe Leserin, lieber Leser, ich habe mir vor vielen Jahren vorgenommen, nur das zu predigen, was ich wirklich lebe, und nur noch über Dinge zu schreiben, die ich persönlich erfahren habe. Diese Erfahrungen gebe ich nach bestem Wissen reflektiert und auf meine Art weiter. Mit diesem Buch verbinde ich ein ganz besonderes Anliegen, das mir sehr am Herzen liegt. Ich wünsche mir, dass so viele Menschen wie möglich ihre Sexualität als eine Kraft entdecken, die ihnen den Himmel näher bringt und nicht die Hölle. Sex kann in der Tat ein Himmelsfahrzeug sein. Auf ganz moderne Art und Weise. Ich weiß das und viele andere auch. Aber wie es aussieht, sind die meisten von uns eher in die entgegengesetzte Richtung unterwegs.
Ich bin in meinem Leben nur wenigen Liebespaaren begegnet, die von sich behaupten, eine zutiefst erfüllende, Körper und Seele befriedigende sexuelle Beziehung zu haben, durch die sie sich persönlich weiterentwickeln. Uns ist offensichtlich kaum bekannt, dass Sex genau das bewirken kann. Und weil wir dieses ungeheure Potenzial nicht kennen, können wir es nicht ausschöpfen. Stellen Sie sich einmal vor, Sie machten eine Wanderung und kämen an eine Abzweigung. Links geht ein bequemer, breiter Weg leicht bergab. Rechts führt ein schmaler Pfad den Berg hoch. Wenn Sie tun, was alle tun, dann wählen Sie natürlich den breiten Weg. Er ist eine Zeit lang ganz bequem, aber nach ein zwei Kilometern führt er durch ein Sumpfgebiet mit vielen Stechmücken, das mühsam zu durchqueren und dabei nicht ganz ungefährlich ist. Jetzt haben Sie ein Problem. Umkehren? Aber alle sind doch diesen Weg gegangen, irgendwo wird er doch wohl hinführen, oder? Sie gehen also weiter, kämpfen sich durch, es muss wohl so sein.
Muss es das wirklich? Sie hätten auch zurückgehen und sich für den schmalen Pfad entscheiden können, aber Sie haben diese Möglichkeit gar nicht in Erwägung gezogen. Man sah ihm doch an, dass er nicht oft begangen wurde, und mühsam war er zudem, schließlich hätte man den Berg hinaufmüssen. Ach, hätten Sie es doch nur gewagt! Oben wären Sie an einem Hochplateau mit einer wunderschönen Aussicht angekommen, Sie hätten auf einer herrlichen Bergwiese Rast machen können und sogar eine Quelle gefunden, die Ihren Durst stillt. Warum haben Sie diesen Weg nicht gewählt? Das Problem an unserer Sexualität ist, dass wir keinen kennen, der den Weg nach oben schon gegangen ist. In diesem Buch aber möchte ich Ihnen einen Geschmack von dieser herrlichen Bergwiese vermitteln.
Göttlicher Sex ist in sauren Sümpfen nicht möglich. Sie müssen dazu den breiten Weg, den Generation für Generation gegangen ist, verlassen und die andere Abzweigung nehmen. Für den Sex der neuen Zeit, den ich hier propagiere, ist es nicht nötig, sich im Morast zu verirren und sich den Attacken lästiger Insekten auszusetzen. Und wenn es schon passiert ist, können Sie immer noch umkehren. Nichts muss so bleiben, wie es war. Die blühende Bergwiese mit ihrer labenden Quelle scheint uns nur deswegen zu schön, um wahr zu sein, weil wir davon ausgehen, dass wir wie alle durch den Sumpf müssen. Und genau dort landen wir dann auch.
Träume – und die Realität
Die meisten Paare, die sich gefunden haben und gemeinsam eine Existenz aufbauen, meinen, nun könne endlich der schönste Teil des Lebens beginnen. Der eigentliche Teil sozusagen, auf den so viele junge Menschen innerlich warten. Man möchte sich angekommen, angenommen fühlen, und tatsächlich wirkt der Rausch der Verliebheitshormone wie ein Paradies. Der Sex ist zuerst großartig, dann gut bis befriedigend. Bis die ersten Probleme auftauchen. Dann beginnt der Teilabschnitt mit den Stechmücken, und es wird unangenehm. Was tun? Umkehren? Nein, es wird weitergekämpft, und wie das bei den Sümpfen so ist: Je verzweifelter man sich zu retten versucht, desto tiefer sinkt man ein. Ich denke oft, dass es für Paare eine Art Liebesschule geben sollte, in der sie den schmalen, aber äußerst lohnenden Weg nach oben gezeigt bekommen. Dorthin, wo die Blumen blühen.
Eigentlich könnte es so schön mit uns sein, sagen sich viele Paare im Streit, wenn du nicht immer jedes Mal … ja wenn! Und dann beginnen die gegenseitigen Vorwürfe, die Schuldzuweisungen und Projektionen. In einer Liebesschule würde man lernen, dass die inneren Themen eines Menschen sich genau dann zeigen, wenn er zu lieben beginnt. Das ist ein ehernes Gesetz. Man kann darauf warten, dass es irgendwann kracht. Je näher sich zwei Menschen kommen, je inniger sie sich verbinden, je mehr sie sich beim Sex öffnen, desto schneller und heftiger kommen ihre Probleme zum Vorschein. Mit der Öffnung der Herzen fließen Gefühle, und mit den Gefühlen brechen die alten Wunden auf. Jeder ist in seinem Leben verletzt worden und hat daraufhin Schutzmechanismen entwickelt, um die schmerzhafte Situation nicht wieder zu erleben. Diese Schutzmauern beginnen durch Liebesgefühle zu bröckeln. Eine ganz wunderbare Sache, eigentlich. Könnten wir damit umgehen, wäre sexuelle Intimität die beste Gelegenheit, die alten Wunden zu heilen. Doch das hat uns keiner beigebracht.
Nie werde ich den Vortrag des spirituellen Psychologen Chuck Spezzano über die Wunden der Liebe vergessen. Er gab seinen Zuhörern folgenden Rat: Wenn ihr einen neuen Liebespartner kennengelernt habt und euch nicht sicher seid, ob er zu euch passt, verrate ich euch einen hundertprozentigen Tipp. Liebt diesen Menschen mit aller Kraft, die ihr habt. Öffnet euer Herz, lasst alle Liebesenergie fließen, die euch zur Verfügung steht. Haltet nichts zurück, schenkt dem anderen einfach alles. Haltet das zwei Wochen durch, und ich schwöre: Spätestens dann werdet ihr wissen, woran ihr mit ihm seid.
Ist das nicht ein unglaubliches Testverfahren? Sobald ein potenzieller Liebespartner mit wirklich tiefer Liebe und einem offenen Herzen »konfrontiert« wird, ist er gezwungen, Farbe zu bekennen. Er zeigt sein wahres Gesicht und seine Absichten. Ist er bereit, sich zu binden? Steht er zu seinem Wort? Ich habe diesen Liebestest ausprobiert und war erstaunt, wie perfekt er funktioniert! Es dauerte nicht einmal zehn Tage, dann war der fragliche Lover aus meinem Leben verschwunden.
Gäbe es doch mehr von diesen Liebeslehrern, die uns die Gesetze des Paarungsverhaltens beibringen! Dann müssten wir nicht immer wieder in die alten Verhaltensmuster zurückfallen. Mauern errichten, innere Türen zuschließen, verletzt reagieren. Den breiten Weg gehen.
Ich bin diesen Weg lange genug gegangen. Habe Liebesbeziehungen gelebt, in denen rückblickend von Liebe keine Rede sein konnte, weil jeder im Nahkampf nur seine Muster auslebte und seine Probleme auf den anderen projizierte. Wie gut erinnere ich an meine allererste große Liebe. So zumindest nannte ich sie. Ich war blutjunge 15, nicht besonders verliebt, eher furchtbar aufgeregt. Mein erster Freund! Ich fühlte mich großartig und allen Freundinnen überlegen, denn ich war die Erste, die über sexuelle Erfahrungen berichten konnte. »Wie war es, sag schon«, drängte mich die burschikose Ulrike, und dann fing ich an, in den höchsten Tönen davon zu schwärmen. In Wirklichkeit war mein erstes Mal so banal, wie man es sich banaler nicht vorstellen kann. »War das schon alles?«, mein anschließender Kommentar. Aber die Wahrheit ging ja keinen etwas an. Die Beziehung hielt über zwei Jahre, aber wahrscheinlich nur, damit ich mit aller Gründlichkeit und Konsequenz mein erstes großes Problemmuster ausagieren konnte. Ohne zu wissen, was mit mir geschah, begann ich die Beziehung zwischen meiner Mutter und meinem Stiefvater zu wiederholen. Allerdings nahm ich nicht den Part des Opfers ein, was in diesem Fall meine Mutter war, sondern ich spielte die Rolle des Täters, meines despotisch veranlagten Stiefvaters, unter dem meine Mutter ganz furchtbar litt. Die ganze Geschichte ist nun schon sehr lange vorbei, trotzdem erinnere ich mich noch genau an die Gedanken und Gefühle, die ich meinem Freund gegenüber entwickelte. Was für ein Biest doch in mir steckte! Es bereitete mir ein geradezu sadistisches Vergnügen, meinen Freund so lange mit Worten fertigzumachen, bis er in die Kissen schluchzte – und das war Jahrzehnte vor der heutigen SM-Welle. Kaltblütig wie ein Racheengel quälte ich ihn mit allen Tricks, die eine 15-Jährige draufhaben konnte. Wenn wir über alte Zeiten reden, erzählt mir meine Schwester heute noch, wie grausam ich damals war. Als ich mich von dem bemitleidenswerten jungen Mann trennte, fiel er sogar durchs Abitur. Aber ich konnte damals nicht anders. Wer weiß schon in so jungen Jahren, welche unbewussten Kräfte sein Liebesverhalten steuern! Jedenfalls musste mein armer erster Freund für so ziemlich alles büßen, was mein Stiefvater meiner Mutter angetan hat, und das war wohl eine ganze Menge.
In einer sexuellen Beziehung möchten wir als die Person gesehen, anerkannt und geliebt werden, die wir sind. Wir spüren sehr genau, wenn der Partner oder die Partnerin uns nur durch die Brille der eigenen Muster wahrnimmt und behandelt. Ich wage sogar zu behaupten, dass mustergesteuertes, stereotypes Verhalten einer der häufigsten Trennungsgründe ist. »Sie behandelt mich wie einen dummen, kleinen Jungen«, beklagte sich ein Mann, der kürzlich bei mir Rat wegen seines schieflaufenden Liebeslebens suchte, »wenn ich nicht mache, was sie will, verweigert sie sich einfach und schläft so lange nicht mehr mit mir, bis sie mich wieder da hat, wo sie mich haben will.« Ein klassischer Fall von strafender Mutter, dachte ich. Bei einer anderen Frau lief es genau umgekehrt: »Er sieht in mir nur das niedliche Kätzchen. Er will einfach nicht wahrhaben, dass ich seit vier Jahren meine Tochter allein großziehe und mein Leben prima auf die Reihe bekomme. Jedes Mal, wenn wir miteinander schlafen, nennt er mich Pussycat und gurrt und schnurrt um mich herum wie ein läufiger Kater.« Die Frau fühlte sich nicht gemeint. Sie hatte das Gefühl, dass ihr Freund, sobald er erregt war, ein inneres Muster auslebte, für das sie die Vorlage sei. Ihr ging das befremdliche Liebesgebaren ihres Freundes so auf die Nerven, dass sie kurz davor war, ihm den Laufpass zu geben. »Schade eigentlich«, meinte sie bedauernd, »dabei ist er im normalen Leben ein toller Typ. Absolut alltagstauglich.« Ich weiß, wie schwer es ist, Störfaktoren aus dem sensiblen Intimleben zu thematisieren, aber oft ist genau das die einzige Rettung. Die Frau hat es immerhin versucht. Soviel ich weiß, ist sie heute noch mit ihrem Freund zusammen.
Vielleicht tue ich Männern unrecht, aber mich beschleicht manchmal das Gefühl, dass sie – bis auf rühmliche Ausnahmen natürlich – für solche Themen noch nicht besonders sensibilisiert sind. Fast immer sind es die Frauen, die großen Wert darauf legen, in ihrem tiefsten Wesen gesehen zu werden. Oder täusche ich mich? Wer weiß schon, ob im Herzen der Frauen nicht der in der Bibel erwähnte Satz weiterlebt: »Als Abraham Sara erkannte, zeugte er dabei Isaak.« Man stelle sich nur vor, welche Menschen auf dieser Erde lebten, wenn alle so gezeugt würden. Doch vorerst zeugen und gebären wir Kinder, die ihre intimen Beziehungen nach den Mustern leben, die wir ihnen vormachen. So wie die meisten Menschen nach den Mustern leben, die ihnen vorgemacht wurden.
Eine weitere Klage vieler Frauen lautet, der Partner schenke ihnen nicht genügend Aufmerksamkeit, eigentlich sei er kaum noch für sie da. Sie befürchten, sich aus den Augen und bald auch aus dem Herzen zu verlieren. Tatsächlich verliert sich die Liebe eines Paares rasch, wenn die Alltagsprobleme überhandnehmen und die Zweisamkeit nicht mehr bewusst gepflegt wird. Wenn Sex ohne wirkliche innere Berührtheit stattfindet, sondern nur, damit »es wieder mal passiert ist«, wenn die Frau beginnt, den Orgasmus zu faken, damit sie es bald hinter sich gebracht hat, dann ist es mit echter Intimität nicht mehr weit her. Bald werden die Männer- oder die Mädelsabende häufiger als die Paarabende, und eines Tages spricht er oder sie den Satz aus, der als Warnhinweis für jede Beziehung gelten sollte: »Ich spüre dich nicht mehr.« Der nächste Satz wäre dann: »Ich glaube, wir haben uns auseinandergelebt.«
Freunde von mir, beide Psychologen, halten ihr Paarleben mit einem Spiel auf Trab. Sie necken sich gegenseitig mit ihren Mustern. Sobald er in ein stereotypes Verhalten abgleitet, tönt es sofort vom Gegenüber »O Klaus, ich sehe seine Mutter.« Im Gegenzug kommt bei der nächsten Gelegenheit von ihm ein: »O Maria, das war doch jetzt dein Vater, oder?« Wenn man bei den beiden zu Besuch ist, mutet der Schlagabtausch nach einer Weile zwar ein wenig befremdlich an, aber Klaus und Maria macht es nun mal Spaß, sich gegenseitig mit Wortwitz und Humor auf ihr ferngesteuertes Verhalten aufmerksam zu machen und liebevoll zur Ordnung zu rufen.
Was passiert da gerade in unserer Gesellschaft?
Wie wir wissen, leben viele von uns einen Alltag, der eine bewusste Selbstreflexion sogar torpediert. Wer zum Beispiel viel Zeit damit verbringt, in viereckige Fenster zu schauen, sei es in