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Regula Stämpfli, laStaempfli auf Twitter, Insta, Clubhouse, gehört zu den scharfsinnigsten Intellektuellen im deutschsprachigen Raum. Von 2011 bis 2018 nahm laStaempfli ihr Publikum mit ihrer wöchentlichen Kultkolumne mitten hinein in die Zeitgeschichte und darüber hinaus. Sie gehört zu den wenigen Menschen, die gleichzeitig schlüssig über die Repräsentation von Zahnbürsten im postkolonialen Diskurs und die unterschiedlichen Krählaute spanischer Hähne im Vergleich zu bärndüütschen fabulieren können. «Ich bin Regula Stämpfli – who else» antwortet sie auf die Frage nach ihrem Werdegang, der, wenn en detail aufgeführt, viele Zeitgenossen akademisch und praktisch in den Schatten stellt. Die Haltbarkeit der Kolumnen von laStaempfli ist unbeschränkt: Ihre Denkstücke sind Dokumente aus der Vergangenheit für die Zukunft.
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Seitenzahl: 218
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Die Kult-Kolumnen von Regula Stämpfli
Impressum
© 2021 Edition Königstuhl
Alle Rechte vorbehalten.
Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert werden, insbesondere nicht als Nachdruck in Zeitschriften oder Zeitungen, im öffentlichen Vortrag, für Verfilmungen oder Dramatisierungen, als Übertragung durch Rundfunk oder Fernsehen oder in anderen elektronischen Formaten. Dies gilt auch für einzelne Bilder oder Textteile.
Bild Umschlag:
Selfie von Regula Stämpfli
Lektorat:
Manu Gehriger
Gestaltung Umschlag:
Lukas Vogelsang, interwerk gmbh
Gestaltung Inhalt:
Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Bern
Icon (S. 11):
Anouk Estermann
CPI books GmbH, Ulm
Verwendete Schriften:
Regular bold, Adobe Garamond Pro
ISBN 978-3-907339-07-7
eISBN 978-3-907339-22-0
www.editionkoenigstuhl.com
laStaempflis Kultkolumnen in der BAZ
A wie «Algorithmisierung der Welt»
B wie Banksprech
C wie Corpus Delicti
D wie Damien Hirst
E wie EU
F wie Facebook et al.
G wie Gene
H wie Huhn
I wie «Ich, ich, ich»
J wie Xi Jinping
K wie Kuhschweizer
L wie Lost Poets
M wie Merkel Angela
N Wort wie Zuhören
O wie Oxytocin
P wie Postmoderne
Q wie Quantenmechanik
R wie Roboter
S wie SEO
T wie Technik oder Trans
U wie Übermenschen oder Uber
V wie Vergewaltigung
W wie Wichtigtuer
X wie XX Chromosom
Y wie Yoga
Z wie Zeit
Postscriptum
Ein paar Literaturhinweise
«Der Mensch ist frei geboren und überall knechten sie die Daten.»
laStaempfli
laStaempfli ist die Expertin für Klartext. In der BAZ schrieb die Politphilosophin sieben Jahre DIE deutschschweizerische Kultkolumne. In dieser Zeit traten Politiker zurück, Feministinnen wechselten ihren Beruf und öffentliche Institutionen wackelten: laStaempfli war als Meinungsmacherin mit Faktenbelegen ganz vorne mit dabei. Gesundheitswahn, die Zuger Affäre, Islamismus, Klimawandel, Abschaffung des Bargeldes, digitaler Überwachungsstaat, Täterkuscheln, soziale Kreditsysteme, chinesische Viren, Rechtspopulismus, Bullshit-Jobs, Codediktatur, staatsnahe Dadaisten, you name it, laStaempfli wrote it. Kult erreichten Sätze wie: «Demokratie ist handeln, nicht labern», «Personalisierte Werbung ist die Furunkel des digitalen Zeitalters», «Korruption ist in der Politik immer im Angebot», «Boulevard ist der Wahrheit so verpflichtet wie der Vatikan der Frauenquote», «Biologie ist nie ohne Politik zu haben» und «Der kategorische Imperativ der digitalen Welt lautet: Vergleiche und messe Dich!»
laStaempfli erkennt die zeitgenössische Welt als «Tasten- und Wischverhältnis», das nach dem Willen der Herrschenden nicht mit «Verben, politischer Partizipation, Chancengleichheit und Freiheit» belastet werden sollte. Regula Stämpfli denkt schon länger über die Schattenseiten des Internets nach, obwohl sie als Influencerin davon profitiert. Doch hinsichtlich Frauen gilt: «Der kleine Unterschied und seine großen digitalen Folgen.» Schon fast prophetisch erwies sich ihr Satz: «Nicht die Roboter werden uns knechten, sondern Menschen, die sich wie willenlose Automaten benehmen.» Denn, so Regula Stämpfli: «Demokratien gleichen sich, Diktaturen sind immer anders.» Manchmal sogar so, dass neue Wörter erfunden werden müssen, die laStaempfli dann mit «Banksprech» entlarvt.
Die Neue Zürcher Zeitung NZZ nannte sie die «Nervensäge aus Brüssel», von ihren Studierenden der Journalistenschule wurde sie anerkennend «Lara Croft der Politologie» genannt. Mittlerweile gilt laStaempfli als Person der Zeitgeschichte, deren Evaluationen, Rezensionen, Analysen und Kolumnen ebenso gefürchtet wie geschätzt werden. Die Texte hier sind entscheidende Zeitdokumente einer Intellektuellen, die mit ihrem scharfen Geist wahrhaftige und eindrückliche Chronistin der Zukunft ist.
Der Verkauf der Tageszeitung sowie der Onlinemedien beendete die von spitzer Feder, feiner Ironie und großer Menschlichkeit geprägten Texte in der Tagespresse: Es waren die Männer, die das Feld wieder für sich behaupteten. Die Leerstelle, die laStaempfli im Tagesgeschäft hinterließ, ist bis heute nicht gefüllt. Das Schema «Jungkolumnistin an der Seite alter Hasen» hält sich stattdessen ungebrochen und sorgt für massiven Gedächtnis- und Geschichtsverlust öffentlicher Angelegenheiten.
2016 wurde die Hannah Arendt-Expertin Stämpfli unter die 100 einflussreichsten Businessfrauen gewählt. Seitdem widmet sie sich noch mehr dem eigenen Medienunternehmen, initiiert und organisiert Konferenzen und Kongresse, unterhält einen renommierten Literaturblog beim «Magazin für Kunst und Kultur» ensuite, doziert an der Universität St. Gallen, entwirft Installationen für den öffentlichen Raum und erklärt wöchentlich, gemeinsam mit der Bestsellerautorin Isabel Rohner, in «Die Podcastin» die Welt. Zudem betätigt sich Regula Stämpfli erfolgreich als Kunsthändlerin und -kennerin, u. a. mit dem Podcast «Art is a Piece of Cake».
Staempflisch von A bis Z ohne Anspruch auf Vollständigkeit.
«Ideologien sind das, was nicht weggeht, selbst wenn die Realität zurückschlägt.»
laStaempfli
Als die linke Wochenzeitung WOZ Regula Stämpfli im Wahljahr 2011 danach fragte, was denn ihre größte Zukunftsangst wäre, antwortete sie: «Die Eroberung der Welt als Zahl». Damit meinte sie die zahlenbasierten Phrasendrescher und deren Deutungshoheit. Diese errechnen Menschen- und Politikbilder wie es ihnen grad so gefällt. «Der Mensch im Zeitalter seiner digitalen Reproduktion» bringt laStaempfli diesen Prozess auf den Punkt. Sie redete von algorithmischen Vorurteilen als alle anderen noch von Lochkarten sprachen. Codes, Programme, Zahlenreihen bilden die Welt nicht ab, sondern sie sind Vorstellungen von WELT. Somit erobern die Codes mit den Algorithmen die real existierende Welt nicht unähnlich einer mächtigen Religion, Ideologie und/oder ständig repetierten Fiktionen. Theoretisch ausgeführt hat dies Regula Stämpfli schon 2007 in ihrem Hannah Arendt-Buch mit dem Titel: «Die Macht des richtigen Friseurs. Über Bilder, Medien und Frauen». Praktisch, also im realen Leben wurde sie für diese Gedanken zunächst mal öffentlich hingerichtet, bis sich die Journalisten bei der präzisen Vorhersage der globalen Bankenkrise bei Regula Stämpfli nicht nur entschuldigten, sondern ihr sofort die Meinungsseite in ihren Verlagen überließen.
Normalerweise habe ich es ja nicht so mit konservativen Werten, außer es geht ums Kindermachen. Da ist auf klassische Positionen, was gut und was böse ist, auch als Philosophin meist Verlass. Dies sieht auch der Bundesrat so. In seinem Bericht zur Leihmutterschaft hält er fest, dass diese unter anderem deshalb verboten werden soll, weil mit dem Verkauf von gemischten Menschenzellen im Reagenzglas inklusive des Angebots des menschlichen Brutkastens die Gefahr der «Verletzung der Würde der Leihmutter» und die «Gefährdung des Kindeswohls» bestünde. Sofort widersprachen die Professorin für Privatrecht (sic!) der Uni Zürich, Andrea Blücher, und die «Sternstunde»-Moderatorin Barbara Bleisch. In der «Neuen Zürcher Zeitung NZZ» plädierten beide leidenschaftlich FÜR den freien Kauf und Verkauf von Menschen. In einer unnachahmlichen Verballhornung der kantschen Position, dass ein Mensch nie des anderen Menschen Zweck sein soll, setzen sie den «Körpereinsatz» von Models, Tänzerinnen und Sportlerinnen mit demjenigen von Leihmüttern gleich. Den Handel mit Babys verglichen die Autorinnen zusätzlich mit der ganz «normalen» Organspende. Wenn Sie jetzt fassungslos sind, gut so. So betrachtet unterscheiden sich Hunde-, Katzen-, Rind- und Menschenfleisch nicht. In letzter Konsequenz frage ich deshalb: «Weshalb all diese Fleischsorten nicht auch, lecker zubereitet, essen?» So weit wollen die Autorinnen dann doch nicht gehen. Aber sie finden es «anmaßend», dass es Menschen wagen «ein moralisches Urteil» über Leihmutterschaft zu fällen. Wie bitte? Seit wann ist der Kauf und Verkauf von Menschen eine moralische statt eine rechtliche und politische Frage? Die Sklaverei wurde nicht moralisch, sondern gesetzlich aufgehoben. Leihmutterschaft, dies übersehen die Meisten, ähnelt der Sklaverei, die sich in Wikipedia als «Zustand, in dem Menschen vorübergehend oder lebenslang als Eigentum oder Handelsware anderer behandelt werden».
Die Autorinnen nennen es feministisch, die «Herstellung» von Föten, Embryos und Babys «gesellschaftlich neu überdenken» zu wollen. Schließlich, so Blücher und Bleisch, sollten wir uns alle von «tradierten Vorstellungen» verabschieden. Wie gruselig! Wer den Artikel liest, kriegt endlich eine Ahnung vom Geistesklima der 1930er-Jahre. Auch damals schlossen sich viel zu viele Intellektuelle der Idee der medizinischen, hygienischen und rassischen Auslese von Menschen an.
Was damals der Staat verordnete, setzt heute der Markt fort. Die urfeministische Forderung nach weiblicher Selbstbestimmung missbrauchen die Autorinnen für den Verkauf von weiblichen Körpern. Sie verschweigen, dass es sich hierbei um die Legitimation einer neuen Ideologie handelt, die entlang der Auflösung von Materie im digitalen Zeitalter, unterschiedliche Arten von Menschen für unterschiedliche Tätigkeiten kategorisieren will. Da sollen Kinder «leiblich» genannt werden, die außerhalb des Körpers der Frau und «Mutter» herangezüchtet wurden, die biologisch nicht einmal mit ihr verwandt sein müssen. Der Vergleich mit Tierfabriken drängt sich auf. Die Autorinnen implizieren, dass sich die neun Monate unter dem Herzen einer Inderin getragenen Lebewesen in nichts von einem mit leckerem Curry genährten Zellklumpen unterscheidet. Leihwagen, Leihmütter: Mittels «geliehenen» Müttern sollen Kinder in Auftrag gegeben werden können, die nachträglich vom Herkunftsland der zahlenden Kundinnen den Stempel «leiblich» verpasst kriegen sollen. Schweizer Babys frisch ab indischer Presse sozusagen. Diese Einschätzung ist nicht moralisch, sondern praktisch gemeint.
Vor mir streckt sich das Mittelmeer bis zum Horizont. Meine langen braunen Beine plantschen im Meer und in meinen Ohren klingt Raoul Schrott, der mir Homers Epos in moderner Sprache erzählt. So fühlen sich Ferien an. Trotzdem: Unbequem ist er schon, dieser «Trojanische Krieg». Denn damals unterscheidet sich nicht so sehr von heute, obwohl ich mir dies doch wünschte. Die Ähnlichkeiten sind verblüffend: Bei Homer verraten und manipulieren immer wieder die eifersüchtigen, machtbewussten und in ihrem Stolz verletzten Götter des Olymps das Kriegsgeschehen. 2014 übernehmen diesen Job Washington, Brüssel und Moskau. Ebenso mächtig wie irrational greifen sie mal in diese und mal in jene Region ein, bewaffnen – wie Athene die von ihr geliebten Griechen – den jeweiligen Favoriten und kreieren auf dem Schlachtfeld der Menschen unendliches Leid. Willkommen in den Todesepen des 21. Jahrhunderts!
Ich blende zurück: 2001 bot den Auftakt für junge, religiöse und gewaltfanatisierte Männer, die sich nicht darauf spezialisierten, die schönste Frau der Welt zu entführen wie einst Paris, sondern dem Rest der Welt ihre nihilistischen Todesutopien namens Islamismus aufdrängten. 9/11 war die Lunte, die den Flächenbrand im Nahen Osten bis heute am Brennen erhält. Dieses tödliche Gemisch von Terror und Erdöl zerstört nicht nur diese, sondern auch unsere Gegenden. Wie damals bei Homer begannen sich dann die selbst ernannten Halbgötter – sprich die Weltmedien – mit einer solchen Wortakrobatik einzumischen, dass völlig in Vergessenheit geriet, wer hier eigentlich den Krieg begonnen hatte. Wie auf dem Schlachtfeld vor Troja werden kurzfristige Siege zelebriert. Dabei gäbe es heute – wie damals im Trojanischen Krieg – unzählige Chancen, den Krieg von Menschen gegen Menschen unter Ausschalten der parteiischen Götter, zu beenden. Beispiele gefällig? Seit Monaten ziehen die auch vom «moderaten» Islam hochgezüchteten Barbarenhorden durch die aufgelöste arabische Welt. Den Wegfall der korrupten Autoritäten übernehmen nun die von Washington militärisch aufgerüsteten und von Katar und Saudi-Arabien finanzierten Fanatiker. Getreu dem Motto «Der Feind meines Feindes ist mein Freund» wird die endlose Spirale der Gewalt weiter angeheizt. Die «Terrormiliz IS» verkörpert dabei die moderne islamistische Vergewaltigungs- und Mordmaschine, die aber immer wieder von den Waffenexporteuren in den USA und in der EU beliefert wird.
Und statt beispielsweise die Türkei an die Kandare zu nehmen, damit sie sich nicht mehr als Transitland für die IS-Kämpfer hergibt, gratuliert der Westen Recep Tayyip Erdoğan. Der Welt-Flächenbrand wird von der deutschen Bundeskanzlerin Merkel als «alternativlos» bezeichnet, als ob die Türkei, Katar und Saudi-Arabien nicht gezwungen werden könnten, die Finanzierung der Terroristen aufzugeben. Diese Würdelosigkeit westlicher und arabischer Eliten erschüttert. Homer ist mausetot. Denn angesichts dieses Elends würde sich der Dichter als Surfer verdingen und das Ende der Poesie ausrufen. Es gibt in den Kriegen des 21. Jahrhunderts keine noblen Krieger, keine Helden mehr, die es wert wären, sie noch Jahrhunderte später zu besingen.
Nach dem Willen der EU sollen die Warnhinweise auf den Zigarettenpackungen noch grösser und noch drastischer werden. Ich finde dies total scheinheilig. Schließlich klebt man auch keine Bilder asiatischer Legebatteriehühner auf die spottbilligen Poulets aus den Supermärkten. Es wird auch nicht diskutiert, ob man Fotos von Schweinen in Todesangst in einem europäischen Industrieschlachthof auf jede Wurst kleben muss. Es kleben auf den Freihandelspapieren mit China auch keine Fötelis von durch unzählige Lebensmittelskandale vergifteten toten Babys. Neben den mit Nervengift rot gespritzten Tomaten steht auch nie ein Hinweis à la «Beim Verzehr dieses Lebensmittels verändern Sie Ihre Genstruktur bis in die siebte Generation». Wo kämen wir denn hin, wenn der menschenverachtende Profit plötzlich den über Jahrzehnte erkämpften sozialen und ökologischen Mindeststandards in Europa geopfert werden sollte? Deshalb stecken auch bei den entworfenen Verträgen zwischen Brüssel und Washington keine Panini-Bilder etwa eines dicken Sigmar Gabriel, die klar darauf hinweisen, wie viele Europäer aussehen werden, wenn das US-EU-Freihandelsabkommen durchkommt.
Und auf den Wahlunterlagen für die Europawahl vom letzten Wochenende lag auch kein Bild des Brüsseler Kommissionsgebäudes bei auf dem in fetten Lettern stand: «Hier wird Europa an den Meistbietenden verkauft», oder täusche ich mich vielleicht? Europa hat gewählt, und die Bürger haben bewiesen, dass sie mehr von Politik verstehen, als ihnen dies die Brüsseler Bürokraten und die Mainstreammedien erlauben wollten.
In den Niederlanden musste der Rechtspopulist Geert Wilders eine schwere Schlappe einfahren, nachdem ihn alle europäischen Medien hochgeschrieben haben. In Frankreich gewann Marine Le Pen, und alle geben sich schockiert. Nach dem Motto «Kopiere dir deine Meinung» beteuern die meisten Journalisten, wie furchtbar der überwältigende Wahlsieg der Vatertochter Le Pen sowohl für Frankreich als auch für Europa sei. Sie übersehen dabei das Offensichtliche: Vor zwei Jahren war François Hollande Hoffnungsträger dafür, Frankreich wieder von den Franzosen und nicht von Brüssel oder der Wall Street regieren zu lassen. Nachdem Hollande jedes seiner Wahlversprechen gebrochen hat, ist es nun die fremdenfeindliche Le Pen, die vielen Franzosen verspricht, laut und deutlich «Non» in Richtung Bruxelles zu schreien. Keiner hat gemerkt, dass Le Pen in vielen Bereichen ähnlich klingt wie Alexis Tsipras, der griechische Kandidat der Linken und der bestgewählte Volksvertreter im neuen EU-Parlament.
Die Europäer haben letztes Wochenende mal ganz links, mal ganz rechts, in jedem Fall nationalistisch und gegen Brüssel gewählt. Paradoxerweise stärken sie dadurch das Europa: Denn die Brüsseler Eurokratie kann nicht mehr einfach so nolens volens den Interessen der globalen Konzerne dienen. Die kleinen europakritischen Parteien sind nun die Gegensprechanlage zu den verschwiegenen Hinterzimmern, in denen viel zu oft Politik gemacht wird. Die rechtspopulistischen Schreihälse wie Wilders, Le Pen und Konsorten sind so quasi wie eine paradoxe Intervention, die die Politiker dazu zwingt, die Demokratie zu stärken, wollen sie die nächsten Wahlen nicht noch stärker an die Rechten verlieren.
Der Warnhinweis an die Verantwortlichen für die Politik der Zukunft wird nun jedenfalls lauten: «Vorsicht! Denkende Wähler.»
«Falsch erzählt, ist die Demokratie schnell gekreuzigt.»
laStaempfli
«Falsch erzählt, ist die Demokratie schnell gekreuzigt» meint laStaempfli in einer ihrer Kolumnen zu einer Sprache, die sie auch auf TWITTER mit dem Hashtag «Banksprech» kennzeichnet. Hintergrund dazu ist George Orwells dystopischer Klassiker «1984» aus dem Jahre 1949. Dieser widmet sich dem Überwachungsstaat, der über eine eigene Sprache verfügt. Dieses «Neusprech» soll im Ansatz verhindern, dass Menschen kritisch denken können. Denn «worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen» wusste schon Ludwig Wittgenstein. Jede Sprachgrenze bezeichnet auch politische Grenzen. 2015 verwendeten Franco Moretti und Dominique Pestre anhand der Weltbank-Jahresberichte den Begriff BANKSPEAK – BANKSPRECH. Damit meinten sie die Ökonomisierung der Sprache: Statt Verben und handeln, wurden im Laufe der Zeit Substantive und nicht-handeln modern. Ihre Beispiele: Statt «Hunger bekämpfen» will die Weltbank nur noch «die Nahrungsmittelversorgung sichern». Statt Stipendien für Studierende, gibt es nur noch «Studienkredite», statt Demokratie und Rechtsstaat existiert «Good Governance», von der niemand genau weiß, was sie ist. laStaempfli verfeinerte das Konzept von Moretti/Pestre und zeigte in «Trumpism. Ein Phänomen verändert die Welt», wie Sprechakte wichtiger bewertet werden als reales Handeln. Dies zeigt sich in den Medien: Statt über Politik wird über das Aussehen einer Politikerin diskutiert. Wer Sprechakte wichtiger wertet als Taten, macht sich der Umwandlung der Demokratie in totalitäre Systeme schuldig. Die Architektur der Sprache ist nie Nebensache. Sie steht oft im Dienste der Verschleierung statt der Wahrheit. Deshalb sind die Kriege um Gendersternchen eminent politisch: Sie verschleiern oft wahre Macht, entlarven trotzdem gleichzeitig Akteure, die längst in die Mumienkiste für Diskriminierung gehören. In der Sprache gilt wie in der Politik: Nicht der Anpassung, sondern der Kontrolle und dem Widerstand sei Macht gegeben.
Im unfassbar komischen Kapitel «Kryptik der reinen Vernunft» von Marc-Uwe Kling treffen sich Autoren inklusive vietnamesisches Philosophen-Känguru in der Bertelsmann-Zentrale. «Alle Macht geht vom Finanzministerium aus», sagt das Känguru. An diese Episode fühlte ich mich kürzlich in einer Diskussion über die Inzest-Propaganda des deutschen und des schweizerischen Ethikrats erinnert.
«Einvernehmlicher Sex zwischen erwachsenen Geschwistern soll nicht mehr unter Strafe gestellt werden», meint der deutsche Ethikrat. Frau Schwenzer, Gutachterin für das schweizerische Justizdepartement und Professorin für Privatrecht (sic!), schlägt vor, das Inzestverbot und das Verbot polygamer Ehen «kritisch» zu überprüfen. Vor einigen Jahren wurden Ethikräte plötzlich hip. Aufgabe des Ethikrates für öffentliche Statistik beispielsweise ist die Überprüfung wichtiger öffentlicher Zahlenreihen. Eine gute Sache, wenn man bedenkt, dass die öffentlichen Statistiken Mindestlöhne, Sozialhilfen, Steuersätze, Pharmapreise und Landwirtschaftssubventionen definieren. Ebenso klar ist deshalb, dass solch wichtige Gremien nur noch mit Menschen besetzt werden, die sich sicher nicht der Ethik, sondern den politischen Gefälligkeiten verpflichtet fühlen. Ethikräte legitimieren deshalb oft genau das Gegenteil, wofür sie eigentlich eingesetzt wurden.
Ethikräte tummeln sich dort, wo sie nichts zu suchen haben: in unseren Betten. Ethikräte sind dort unerwünscht, wo sie tatsächlich intervenieren sollten: bei Freihandelsabkommen, bei Fragen der Personenfreizügigkeit, der Arbeits- und Sozialrechte. Kehren wir zurück zum Inzestverbot. Selbst im alten Ägypten, wo Geschwisterehe das Blut der Pharaonen reinhalten sollte, war sie für «normale» Menschen geächtet. Wenn Bruder und Schwester miteinander Sex haben, selbst wenn dieser erst nach 18 Jahren «einvernehmlich» stattfindet, ist was faul in der Familie. Mit der gleichen Argumentation könnte man ja auch den «einvernehmlichen» Sex zwischen Vater und Tochter und Mutter und Sohn freigeben.
Es gibt diese seltenen Fälle, wo Geschwister sich erst im Erwachsenenalter kennenlernen und sich ineinander verlieben. Klar: Es gibt polyamore Beziehungsformen, die Privatpersonen so leben sollen, wie sie dies können. Doch wegen dieser seltenen Fälle, die von den Gerichten in der Praxis je nach Fall und Sachlage durchaus gütlich beurteilt werden könnten, Polygamie und Inzest zu einem Freiheitsrecht umzuwandeln, ist der Hammer. Ethikräte sollten sich um die menschenunwürdigen Bedingungen bei Freihandelsverträgen kümmern. Ethikräte sollten durchaus zu Frauen- und Kinderhandel klar und ethisch Stellung nehmen. Tun sie aber eben nicht. Dies weckt den Verdacht, dass die Ethikräte die neuen Großinquisitoren sind. Denn sind Inzest, Polygamie und wie kürzlich gefordert auch die Leihmutterschaft freigegeben, dann wird es nicht lange dauern, bis all die Menschen, die sich derartigen ethisch geforderten «Freiheiten» verweigern, monetär oder juristisch benachteiligt werden.
In der «Distributiven Seite der Macht» meint das Känguru bei Marc-Uwe Kling: «Wir verkaufen Bücher nach Metern. Unsere Kunden können selbst bestimmen, in welchen Bereichen sie gebildet und belesen erscheinen möchten.» Die meisten Kunden findet das Känguru mit hundertprozentiger Sicherheit bei den Mitgliedern der diversen «Ethik»räte.
Vom Theatererfinder Aischylos ist die bemerkenswerte Botschaft überliefert: «Menschliches Handeln ist notwendigerweise schuldhaft. Trotzdem ist der Mensch stets für sein Handeln verantwortlich. Selbst dann, wenn die Götter, denen Rache ebenso fremd ist wie Mitleid, sich eingemischt haben!» – Ein wunderbarer Gedanke; leider etwas aus der Mode gekommen. Wie oft hören wir bei all den politischen Verfehlungen und Bausünden – hier sei nur das absurde Stück der Pleitegemeinde Leukerbad erwähnt –, dass sie eigentlich von niemandem begangen wurden? Dass vor allem unglückliche Verknüpfungen und Umstände dazu geführt hätten?
Gemäß den Recherchen des «Tages-Anzeigers» hat das SECO, das Staatssekretariat für Wirtschaft, 2013 das ganze Jahr über Millionenaufträge unter der Hand vergeben. Über 34 Millionen Schweizer Franken, um präzise zu sein. Die Namen der begünstigten Firmen werden unter Verschluss gehalten. Offiziell heißt es: wegen Wettbewerbsverzerrung. Inoffiziell flüstern böse Zungen, dass ja eventuell ein Vetter, ein Freund, ein alter Militärkumpel, die Ex-Geliebte oder Studienkollegin, eine ehemalige SECO-Angestellte oder sonstiges Beigemüse, das in solchen Fällen in normalen Krimis zum Zuge kommt, involviert gewesen seien. Süffisant ist deshalb auch die Auskunft der Medienstelle vom SECO, die aufgrund der gesetzlich erzwungenen Transparenz der Fehlvergabe von öffentlichen Aufträgen meint: «Die Nicht-Publikation habe auf einem ‹falschen Verständnis› der gesetzlichen Grundlagen beruht.» (»Newsnetz», 15.1.2014). Ist der Hammer, oder? Was ist an der gesetzlichen Grundlage für öffentliche Aufträge «falsch zu verstehen»?
Lesen wir den Text im Original, Artikel 4: «Güter, Dienstleistungen und Bauleistungen sind im freien Wettbewerb zu beschaffen.» Freier Wettbewerb bedeutet eine öffentliche Ausschreibung und eine transparente Beurteilung der Wettbewerbsteilnehmer, an deren Schluss dann die klare und nachvollziehbare Auftragserteilung erfolgt. Können Sie mich aufklären, was a) daran falsch verstanden werden kann und b) wie das SECO 43 Aufträge im Umfang von über 34 Millionen Franken für die Informatiksysteme der Arbeitslosenversicherung nicht öffentlich ausschreiben kann und c) die Hälfte dieser Aufträge (immer gemäß der wohlverdienten Recherche des klugen «Tages-Anzeiger»-Rechercheteams) an eine einzige Firma lief und d) diese Rechtsmissachtung absolut keine politischen oder rechtlichen Folgen nach sich zieht? Selbstverständlich haben auch die Aufsichtsorgane wie die Finanzdelegationen von National- und Ständerat versagt, gemäß dem Motto: «Wir befassen uns nicht im Detail mit der einzelnen Vergabepraxis!» Roger Schawinski würde vielleicht hier rufen: «Who cares?» – aber hallo! Irgendwer muss im Rechtsstaat gradestehen, oder etwa nicht?
Bei Aischylos endete das Trauerspiel von Schuld und Sühne im genialen Schachzug der Göttin Pallas Athene, die entschied, dass niemand mehr allein über Schuld und Verrechnung entscheiden dürfe, sondern nur noch die Gemeinschaft. Dies nannten die alten Griechen damals schon: Legitimation durch Verfahren. Es wäre so schön, wenn wir 2014 keinen Rückschritt zu 500 Jahre vor Christus machen müssten, selbst wenn es sich um das an Tragödien eher arme Land wie die Käseschweiz handelt.
Wer braucht eigentlich eine Marine Le Pen, wenn sie François Hollande hat? Wer ängstigt sich vor Frauke Petry, wenn er punkto Ekel bei Sigmar Gabriel gut bedient ist? Wer ärgert sich eigentlich noch über die neoliberalen Stahlfrauenfraktion à la Petra Gössi und Katja Gentinetta (Debatte zum bedingungslosen Grundeinkommen), wenn diese vom aalglatten Alain Berset locker rechts außen überholt wird?
Seit sich viele Sozialdemokraten in Europa und in der Schweiz nur deshalb so nennen, weil sie mit Parteibuch unverdient Karriere in Verwaltung, Universität und Kultur machen durften, steigt der Anteil rechtspopulistischer Parteien.
Es ist ja nicht so, dass es seit 2007 keine warnenden Stimmen von Intellektuellen gegeben hätte. Leider wurden diese oft totgeschwiegen, aus den Gremien entfernt und ins innere oder äußere Exil getrieben.
Die Finanzkrise erschütterte damals die Menschen. In den USA spülten sie deshalb den ersten schwarzen Präsidenten ins Amt. Doch was geschah? Statt dass Barack Obama als Erstes – wie versprochen – mit dem Finanzkapitalismus aufräumte, nahm er eine Gesundheitsreform in Angriff mit dem Resultat: Banken wurden noch grösser und die Menschen hatten kein Kapital mehr, sondern sie wurden zum Kapital. Dies sowohl real, hinsichtlich ihrer Organe, Eier, Samen etc., als auch virtuell, hinsichtlich der Daten. Zur selben Zeit transformierten eifrige sozialdemokratische Verwaltungsbeamte in Brüssel ganz Europa in eine Art «DDR für Kapitalisten». Allein die Schweiz blieb ob alledem äußerst wacker – wie schon so oft in den letzten Jahrhunderten. Aber die Sozialdemokraten dachten sich wohl: Jetzt erst recht und wählten ausgerechnet einen Alain Berset in den Bundesrat. Ein Mann, der beim Wort «Sozialdemokratie» oder «soziale Politik» wie auswendig gelernt rüberkommt. Bersets Gesundheitspolitik ist die der privaten Krankenversicherer, sein Menschenbild, das eines Waren- und Datenlagers. Schon letztes Jahr schwärmte Berset von der Option: «Embryo2go». In seiner Ethikkommission sitzt eine prominente Leihmutterschafts-Befürworterin und wir dürfen gespannt sein, welch andere Sklavenmärkte im Namen der Gesundheit unter Berset noch zusätzlich erschlossen werden sollen. Kein Wunder denkt man in schlechten Stunden zynisch: Wer braucht denn noch Glyphosat bei einem solchen Gesundheitsminister?
Sie finden dies ein bisschen übertrieben? Diese Zeilen sind Didiers Eribons großartigem Roman «Rückkehr nach Reims» geschuldet. Eribons Erkenntnis, die eigene Proletenherkunft nie von sich streifen zu dürfen, und seine Wut über die Kollegen, die dumpfes Anpassen, hohe Löhne, Snobismus über jedes menschliche Prinzip setzen, erschüttert. Eribon macht in seinem Buch auch nicht in erster Linie Le Pen für den Erfolg des Front National verantwortlich, sondern das Versagen der Salonlinken. Sozialdemokratische Pantoffeltierchen haben eben definitiv zu wenig Gewicht in der Auseinandersetzung gegen neoliberale Medien und Politikmaschinen. Da müssen ganz andere Kaliber her. Wie meinte Daniel Häni zur Initiative des bedingungslosen Grundeinkommens? «Die eigentliche Frage ist nicht, ob die anderen aufhören zu arbeiten. Die eigentliche Frage ist, ob Sie es ertragen, wenn ein anderer bekommt, was er zum Leben braucht, ohne dafür Ihre Vorstellung von einem produktiven Mitglied der Gesellschaft zu erfüllen.»
Womit zur Krise der Sozialdemokratie und dem Aufschwung der rechtsnationalen Bewegungen überall in Europa eigentlich alles gesagt wäre.
Wer die reale Welt als Modell errechnet, wird überrascht, wenn sie sich nicht modellhaft benimmt.
laStaempfli
Die französische Feministin Luce Irigaray beschrieb in den 1970er Jahren, dass Frauen und Männer nicht nur unterschiedlich, sondern auch hierarchisch unterteilt werden. Frauen sind dabei immer weniger, Männer mehr. In: «Unsichtbare Frauen. Wie eine von Daten beherrschte Welt die Hälfte der Bevölkerung ignoriert» erzählt Caroline Criado-Perez prägnant wie die internationale Forschung, Versicherungen, Medizin, Architektur und viele andere Wissenschaften, Frauen schlicht ausklammern. 2007 formulierte Regula Stämpfli die Theorie der LEERSTELLEN, die sie damals die Theorie der BLINDSPIRALE nannte. Die Leerstellen in Wissenschaft, Ökonomie, Politik führen zum Tod von Hunderttausenden von Frauen. Sie diskriminieren Frauen, Kinder und alte Menschen in allen Bereichen des Lebens. Diese Leerstellen wiederholen sich in den Codes, konstruieren misogyne und demokratiefeindliche Datenlöcher. Nicht nur werden Frauen abgewertet, sie werden mittels hochwissenschaftlicher Methoden unsichtbar gemacht. So unsichtbar, dass deren Vernichtung gar nicht bemerkt wird. Das Problem an der Gleichstellung ist, dass sie mit Gendersternchen, Geschlechtsanpassung und sogenannten «Sex-Skandalen» polarisiert, skandalisiert, personalisiert und so völlig lächerlich gemacht wird. Dadurch entsteht ein von Algorithmen getriebener Hass, der als Clickbaiting für noch mehr Frauenhass sorgt und letztlich zu den ansteigenden Femiziden auch im Westen führt. Corpus Delicti beschreibt also nicht nur das Mängelwesen Frau, sondern das zu vernichtende, das zu verschwindende Lebewesen. Corpus Delicti ist gleichzeitig ein sehr lesenswerter Krimi von Juli Zeh, in dem sie schon vor Jahren auf die Gefahr der biometrischen Herrschaft über Menschen hinwies. Sie sehen: Alles hängt mit allem zusammen oder in den Worten von laStaempfli «Die Welt als Beziehung versus Code».